Dicke Luft im Klassenzimmer

Donnerstag, 14. Januar 2016
ZÜRICH UND REGION
19
Neuö Zürcör Zäitung
Wie Alzheimer-Patienten zu pflegen sind –
ohne Scheuklappen und Tabus SEITE 20
Das Polizei- und Justizzentrum ist bewilligt –
mit zahlreichen Auflagen SEITE 21
Propaganda oder
Aufklärung?
Wann Regierungen vor Initiativen
warnen dürfen und wann nicht
cn. V Das Nein des Zürcher Regierungs-
Gymnasiasten aus dem Zürcher Oberland demonstrieren vor der Kantonsschule Uster mit einem Lichtermeer gegen Sparmassnahmen in der Bildung.
KARIN HOFER
Dicke Luft
im Klassenzimmer
rats zur Durchsetzungsinitiative muss
SVP-Überfigur Christoph Blocher gewaltig geärgert haben. Auf seinem persönlichen Fernsehkanal Tele Blocher
lässt er seinen Eckermann Matthias
Ackeret jedenfalls wissen, dass die beiden Zürcher SVP-Regierungsräte Ernst
Stocker und Markus Kägi in dieser
Frage auf Parteilinie seien und sich einfach einem Gremiumsentscheid hätten
beugen müssen. Weniger erstaunt haben
dürfte ihn der jüngste Beschluss des seit
20 Jahren SVP-losen Zürcher Stadtrats.
Wie das Gremium am Mittwoch mitgeteilt hat, hätte die Annahme der Initiative tiefgreifende Auswirkungen. Sie
verletze die Grundregeln der Demokratie, sei schädlich für die Wirtschaft und
gefährde den Rechtsstaat.
Politische Abstimmungsempfehlungen von Exekutivmitgliedern geben in
der Schweizer Politik immer wieder zu
Kritik Anlass, sie sind aber nicht gesetzeswidrig. Allerdings verlangen sie ein
gewisses Fingerspitzengefühl. Im Gesetz
über die politischen Rechte heisst es:
«Staatliche Organe (. . .), die öffentliche
Aufgaben erfüllen, können sich sachlich
und mit verhältnismässigem Einsatz von
Mitteln an der Meinungsbildung beteiligen, sofern sie vom Thema direkt betroffen sind.» So wandte sich etwa der Zürcher Stadtrat bereits im Jahr 2006 in corpore gegen das revidierte Asylgesetz
und das Ausländergesetz, da es den
Interessen der Stadt zuwiderlaufe. Der
Vorwurf, die Regierungen missbrauchten ihre zentrale Stellung und brächten
sich zu stark in den politischen Diskurs
ein, gipfelte 2008 in der von der SVP
portierten «Maulkorbinitiative» (Volkssouveränität statt Behördenpropaganda), die vom Stimmvolk aber klar abgelehnt wurde.
Der Kanton Zürich erlebt einen friedlichen, aber populistischen Tag der Bildung
Die Zürcher Bildungseinrichtungen haben mit Kundgebungen und Veranstaltungen
erfolgreich die Spardebatte
gesucht. Der Realitätstest
kommt in den nächsten Monaten.
WALTER BERNET, CORSIN ZANDER
UND NINA KUNZ
Das an der abgesagten Schlusskundgebung in Zürich geplante Lichtermeer
ist doch noch zustande gekommen: Die
Schülerorganisationen der Kantonsschulen von Uster und Wetzikon und
wohl auch die Lehrer haben mit einer
Erfindergeist
tut not
Kommentar auf Seite 13
spontanen Alternativveranstaltung am
Mittwochabend dafür gesorgt (siehe
separaten Text). Damit haben sie einen
friedlich verlaufenen Bildungstag abgerundet, in dessen Mittelpunkt eine
Podiumsdiskussion an der Kantonsschule Enge mit 30 Teilnehmern aus
allen Stufen des Schulwesens, aus der
Politik und der Wirtschaft stand. Zahlreiche Schüler aus dem ganzen Kanton
sassen im Publikum.
Konstruktiver Austausch
Dass aus der Mammutveranstaltung ein
informativer und konstruktiver Austausch von Meinungen wurde, ist nicht
zuletzt der hervorragenden Moderation
der Publizistin Esther Girsberger zu verdanken. So kamen die Redner alle
schnell auf den Punkt. Den wohl kräftigsten Applaus erntete Nationalrat und
KV-Schweiz-Präsident Daniel Jositsch,
der sagte, es gehe nicht darum, nur für
das Halten des Niveaus zu kämpfen,
sondern dafür, dass die Bildung Priorität
geniesse. Das Kämpfen lohne sich, das
habe sich nach 2003 gezeigt. Ziel müsse
jetzt sein, die Bildungsdirektorin zu stärken, damit diese die Anliegen der Bildung im Regierungsrat durchsetzen
könne.
Bildungsdirektorin Silvia Steiner
nahm es dankend zur Kenntnis. Sie hatte
zu Beginn versichert, dass sie sich gegen
einen Qualitätsabbau in den Schulen
wehren werde, sich aber zugleich für
eine auch in Zukunft finanzierbare Bil-
dung einsetze. Wo und wie sie die verlangten 49 Millionen Franken einsparen
will, sagte sie nicht. Sie werde in der
kommenden Woche ihre Vorstellungen
an Workshops mit Vertretern von Verbänden aus dem Bildungsbereich erörtern und offen sein für andere Sparvorschläge – sofern diese die Sparvorgaben einhielten.
30 Schüler auf engem Raum
Diese haben einige Kantonsschulen am
Mittwoch nachvollziehbar zu machen
versucht. Das Wirtschaftsgymnasium in
Hottingen sei hier herausgepickt. Es
wehrt sich wie die anderen 19 Mittelschulen im Kanton Zürich gegen die geplanten Sparvorgaben des Kantons. Die
eher kleine Schule müsste rund 600 000
«Gebt Gas und setzt euch ein!»
sho./zac. V Die Schülerorganisationen
der beiden Oberländer Kantonsschulen
in Wetzikon und Uster machten aus der
Absage der grossen Kundgebung das
Beste. Flugs organisierten sie eine
eigene und konnten dafür Künstler gewinnen, die ursprünglich in Zürich auftreten sollten. Um 18 Uhr, als die Temperatur sich dem finanzpolitischen Klima näherte, versammelten sich mehrere
hundert Schülerinnen und Schüler zwischen den Containern der Kanti Uster.
Es gab Musik, Poetry-Slam, und der
Komiker Fabian Unteregger ermunterte
die Jugendlichen: «Gebt Gas und setzt
euch ein!» Der Ustermer Rektor Patrick
Ehrismann beschrieb die Situation – als
Privatperson – mit deutlichen Worten.
Da alle Sparvorschläge nicht ausreich-
ten, um die Vorgabe zu erfüllen, gehe es
um die Senkung der Aufnahmequote:
«Das bedeutet, die nächste Generation
erhält weniger Bildungschancen als ihr.»
In Zürich hatten sich gegen 17 Uhr 30
mehrere hundert Personen zu einer inoffiziellen Demonstration auf dem
Bürkliplatz versammelt, unter ihnen
Schüler, Studenten, vereinzelt auch Eltern und Lehrer. Mit Dialog und einem
Lichtermeer verhindere man keinen Bildungsabbau, nur mit dem Kampf auf der
Strasse, sagte ein Redner. Der Zug
führte dann, flankiert von einem grossen
Aufgebot der Polizei samt zwei Wasserwerfern, durch die Börsenstrasse zum
Tessinerplatz und über den GeneralGuisan-Quai zurück. Es blieb friedlich,
vereinzelt wurden Böller gezündet.
Franken einsparen, wie Rektor Peter
Stalder sagt. Bei einem Budget von 14,8
Millionen Franken sei dies ein «erheblicher Anteil». Natürlich könne er Freifächer und spezielle Arbeitswochen abschaffen, doch substanziell sparen könne eine Kantonsschule nur bei den Personalkosten, die zwei Drittel des Budgets ausmachten. Und weil er die Anzahl Schulstunden nicht reduzieren könne, sei die naheliegendste Sparmassnahme, weniger und dafür grössere
Klassen zu unterrichten, sagt Stalder.
Wie das aussehen würde, demonstriert die Schule eins zu eins: In ein 56
Quadratmeter grosses Klassenzimmer
zwängen sich 30 Schülerinnen und Schüler. Dabei wird die kantonale Vorgabe,
dass jedem Schüler ein Raum von mindestens 2,5 Quadratmetern zusteht,
grob missachtet. Die Luft ist stickig, die
Stimmung unruhig. Die Aktion ist etwas
populistisch. Dessen ist sich auch Rektor Stalder bewusst: «Natürlich ist
unsere Vorführung übertrieben, aber so
darf es auf keinen Fall werden.»
Die Hottinger Lehrer sind sich einig,
dass eine Vergrösserung der Klassen die
gravierendste Sparmassnahme wäre.
Auf die Frage, ob es im Schulbetrieb
nicht doch Bereiche gebe, wo gespart
werden könne, kommt von einem unter
ihnen die belehrende Antwort: «Die
Frage ist falsch gestellt.» Die Schüler
hingegen scheinen offener zu sein. Auf
einer Stellwand können sie ihre Erfahrungen mit der Grossklasse aufschreiben. Nach der Pause ist dort zu lesen:
«Es isch eich easy chillig gsi.»
www.nzz.ch/zuerich
40 000 Zürcher
in Miniwohnung
Statistische Zahlen der Stadt
ak. V In der Stadt Zürich leben knapp
40 000 Einwohner mit weniger als 20
Quadratmetern Wohnfläche – bei
gleichzeitig weniger als einem Zimmer
pro Person. Dies entspricht etwa einem
Zehntel der Stadtzürcher Bevölkerung.
Rund 14 000 Personen haben sogar
lediglich 15 Quadratmeter zur Verfügung. Gemäss einer Einschätzung des
Bundesamts für Wohnungswesen gilt
eine Situation, bei der die Zahl der Personen die Zahl der Zimmer übersteigt,
als «Indiz einer unzulänglichen Wohnungsversorgung». Die Stadt Zürich betrachtet eine Wohnfläche von unter 20
Quadratmetern als «unzumutbar».
Diese doch recht überraschenden
Zahlen entstammen einer Antwort des
Zürcher Stadtrats auf eine schriftliche
Anfrage der beiden Gemeinderatsmitglieder Cordula Bieri und Matthias
Probst (beide GP). Meist wird über das
andere Ende der Skala berichtet und
lamentiert – und damit über diejenigen
Zeitgenossen, die zu viel und «immer
mehr» Wohnraum brauchen. Diese Entwicklung wurde allerdings in der Regel
nur über die Durchschnittswerte vermittelt, die alles einebnen. Laut diesen Werten brauchen Herr und Frau Zürcher im
Schnitt 39,5 Quadratmeter Wohnraum –
was tatsächlich wieder etwas weniger ist
als in den Jahren zuvor. Mit dem Alter
steigt die Zahl kontinuierlich an, von
25,8 auf 57,5 Quadratmeter. Wer mehr
verdient, lebt – wenig erstaunlich – auf
mehr Wohnfläche. Am meisten haben
die Leute in den Stadtkreisen 7 und 8,
am wenigsten im Kreis 12.