25 Jahre Freiheit und Einheit 25 Jahre Freiheit und Einheit Inhalt Grußwort der Bundeskanzlerin 6 Kapitel 1: „Wir sind das Volk!“ 9 Kapitel 2: Das Jahr der Wiedervereinigung 23 Kapitel 3: Neue Strukturen schaffen 33 Kapitel 4: Unrecht benennen und aufarbeiten 47 Kapitel 5: Erfolgsstory Aufbau Ost 55 Kapitel 6: Stadtumbau und Denkmalschutz 73 Kapitel 7: Reiche Kulturlandschaft erhalten 81 Kapitel 8: Wissen schafft Wohlstand 89 Kapitel 9: Die Sanierung der Umwelt 99 Kapitel 10: Bessere Gesundheitsversorgung 111 Kapitel 11: Auf gute Nachbarschaft 117 Kapitel 12: Eine Bilanz 125 Anhang: 134 Impressum Karten von Deutschland und Berlin 138 wer Anfang 1989 vorhergesagt hätte, im Laufe des Jahres werde das SED-Regime in der DDR seine Macht verlieren und die Berliner Mauer fallen, hätte bestenfalls ungläubiges Kopfschütteln geerntet. Doch nach den Kommunalwahlen im Mai entwickelte die Protestbewegung nach und nach mehr Kraft. Am Ende waren es Hunderttausende, die gegen staatliche Bevormundung, Repression und Misswirtschaft auf die Straßen gingen. Sie zwangen das Regime mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ in die Knie. Und es geschah, was kaum jemand so schnell für möglich hielt: Die innerdeutsche Grenze öffnete sich. Danach sollte es kein Jahr mehr dauern, bis die Deutsche Einheit vollendet war – eine geradezu zwangsläufige Konsequenz vorangegangener Ereignisse und doch angesichts vieler Unwägbarkeiten ein Glücksfall, der einem feinen politischen Gespür für die Gunst der Stunde und großem diplomatischen Geschick zu verdanken war. Was zeigt uns der Blick zurück auf die vergangenen 25 Jahre? Ob es um Lebensqualität im Allgemeinen oder um Infrastrukturen im Besonderen geht – heute sind zwischen den neuen und alten Bundesländern kaum noch Unterschiede festzustellen. Wir haben die Folgen der sozialistischen Misswirtschaft weitgehend überwunden. So kurz und nüchtern diese Feststellung auch sein mag, dahinter stehen Jahre gewaltiger Kraftanstrengungen und großer Solidarität in unserem Land. 6 G R U S S W O RT D E R B U N D E S K A N Z L E R I N Besonderen Respekt haben diejenigen verdient, die beruflich wieder ganz von vorn anfangen mussten. Die schlechte wirtschaftliche Ausgangslage zog einen langwierigen Strukturwandel nach sich, was einen Neustart vielfach schwieriger machte als anfangs gedacht. Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit erheblich gesunken. Dennoch fällt sie im Osten immer noch höher aus als im Westen. Daher hält die Bundesregierung an ihrer Zusage weiterer Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen des Solidarpakts II fest. Im Laufe der Jahre haben sich die Aufgaben gewandelt, vor denen unser Land steht. Die demografische Entwicklung erfordert ebenso neue Antworten wie die digitale Revolution, um nur zwei innenpolitische Beispiele zu nennen. Deutschland ist aber auch gefragt, in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Schon allein aus eigenem Interesse an Frieden und Freiheit sind wir gefordert, an der Lösung von Konflikten mitzuwirken. Die friedlich wiedererlangte Deutsche Einheit, die von Erfolg gekrönte Zivilcourage, die viele mutige Menschen vor 25 Jahren bewiesen, nähren auch heute unsere Zuversicht, dass, wo auch immer auf der Welt, keine Mauer so hoch und kein Graben so breit sein kann, um nicht überwunden zu werden. Nichts muss so bleiben, wie es ist – diese tiefgreifende Erfahrung nach jahrzehntelanger Teilung ist uns auch heute Ansporn und Inspiration, um Dinge zum Guten zu wenden. Diese Erfahrung zählt wohl mit zu den besten, die wir Deutsche jemals gewinnen durften. Bundeskanzlerin 7 KAPITEL 1 Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. 8 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ Kapitel 1 „Wir sind das Volk!“ 7. Mai 1989: Kommunalwahlen in der DDR. Als die staatlich gelenkten Medien am Abend die Ergebnisse präsentieren, ahnt niemand, dass dieser Tag ein Meilenstein ist – ein Meilenstein auf dem Weg zur Freiheit und zur Deutschen Einheit. Denn zum ersten Mal gelingt es Bürgerrechtlern nachzuweisen, dass die SED Wahlen fälschen lässt. In der DDR beginnt eine Welle des Protests. Nur ein Jahr später finden die ersten freien Kommunalwahlen statt – in einer völlig veränderten DDR. Denn deren Bevölkerung hat am 18. März 1990, bei der ersten freien Volkskammerwahl, der Herrschaft der SED ein Ende bereitet. Das geteilte Deutschland Es lässt sich darüber streiten, wann das Ende der SED-Diktatur begann. Mancher hat dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ schon bei der Gründung 1949 kaum Überlebenschancen eingeräumt. Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 sahen sich die Skeptiker bestätigt. Spätestens der Mauerbau am 13. August 1961 kam in den Augen vieler Beobachter einer Bankrotterklärung des SED-Staates gleich. Denn der eigentliche Zweck des „antifaschistischen Schutzwalls“ bestand darin, die Menschen mit aller Gewalt an der Flucht in den Westen zu hindern, nachdem die Flüchtlingszahlen in den Monaten davor erheblich gestiegen waren. Volksaufstand am 17. Juni 1953. 9 KAPITEL 1 Nach dem Mauerbau können sich getrennte Familien und Freunde nur noch zuwinken. Dennoch war nicht vorherzusehen, dass ein gutes Vierteljahrhundert später die Mauer und die DDR verschwinden würden. Die SED-Herrschaft, gestützt durch die Sowjetunion, schien zementiert. Nach Jahren der Konfrontation hatte die „neue Ostpolitik“ der Bundesregierung ab Anfang der 1970er Jahre die Tür für ein Nebeneinander der beiden deutschen Staaten geöffnet – ohne die DDR damit völkerrechtlich anzuerkennen. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt erhielt für seine Entspannungspolitik 1970 den Friedensnobelpreis. Doch nicht nur zwischen den beiden deutschen Staaten begann sich dadurch der Umgang zu entspannen. Es gelang der DDR, binnen eines knappen Jahrzehnts mit rund 200 Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Auch ökonomisch schien die DDR zu erstarken. Selbst im Westen nahmen viele die geschönten Wirtschaftsstatistiken für bare Münze, wonach die DDR eine der zehn wirtschaftsstärksten Industrienationen der Welt sei. Die böse Überraschung sollte erst nach dem Ende der SED-Diktatur kommen. Der bundesdeutschen Politik ging es nach dem Mauerbau vorrangig um menschliche Erleichterungen. Die Passierscheinabkommen in den 1960er Jahren sowie der Grundlagenvertrag von 1973 ermöglichten es den Deut10 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ schen in Ost und West, sich trotz der Teilung zu begegnen. Die DDR zeigte Entgegenkommen, auch weil sie Devisen brauchte. Die Zunahme im Reiseund Besucherverkehr hatte für die Machthaber in Ost-Berlin einen unwillkommenen, von der Bundesregierung erhofften Effekt: Sie erhielt und förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Das Interesse an der Bundesrepublik nahm in der DDR nicht ab, sondern zu. West-Fernsehen und -Rundfunk waren für viele DDR-Bürger die Hauptinformationsquellen. Zugleich schuf die KSZE-Schlussakte von 1975 mit ihrem Passus zu Menschenrechten und Grundfreiheiten eine legitime Grundlage für Ausreiseanträge. Ihre Zahl stieg ständig an – auch weil sich ab Mitte der 1970er Jahre die Wirtschaftsund Versorgungslage verschlechterte. Dem Ziel, die Folgen der Teilung erträglicher zu machen, dienten das VierMächte-Abkommen über Berlin, die innerdeutschen Verträge und letztlich auch die Gegeneinladung des DDR-Staatschefs und SED-Parteichefs Erich Honecker nach Bonn – nach Helmut Schmidts Besuch am Werbellinsee und in Güstrow 1981. Für den gebürtigen Saarländer ging mit seinem Besuch ein Lebenstraum in Erfüllung. Allerdings musste er sich von Bundeskanzler Helmut Kohl beim offiziellen Abendessen anhören, dass die Bundesrepublik am Ziel der Deutschen Einheit festhalte, „weil sie dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht“. 7. September 1987: Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vor dem Bundeskanzleramt mit militärischen Ehren. 11 KAPITEL 1 DIE MAUER UND DIE INNERDEUTSCHE GRENZE IN ZAHLEN Todesopfer an der Berliner Mauer Todesopfer an der innerdeutschen Grenze insgesamt Gesamtlänge der innerdeutschen Grenze Innerstädtische Grenze zwischen Ost- und West-Berlin Gesamtlänge der Berliner Mauer mindestens 138* rund 1.000** 1.378 km 43,1 km 167,8 km Anzahl der Wachtürme Selbstschussanlagen (zwischen 1971 und 1984) Verlegte Minen an der Grenze auf Menschen abgerichtete Hunde (bis 1980er Jahre) 302 55.000 rund 1,3–1,4 Millionen rund 3.000 * Ergebnis eines Forschungsprojekts der Gedenkstätte Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam ** Offizielle Zahlen liegen nicht vor; die Schätzungen reichen bis zu 1.129 (Forschungsverbund SED-Staat, Stand: November 2013) Wachsende Unzufriedenheit In den 1980er Jahren nahm die Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung dramatisch zu, vor allem unter den Jüngeren. Zeitgleich wuchs der Mut der Menschen. Selbst bei offiziellen Demonstrationen, wie der alljährlichen Kranzniederlegung am Grab von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde, trauten sich einige Bürgerrechtler 1988, Plakate und Spruchbänder mit dem Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ hochzuhalten. Das Ministerium für Staatssicherheit zwang die Protestierenden, die Plakate einzurollen und verhaftete sie sowie andere vermeintliche „Staatsgegner“, die gar nicht teilgenommen hatten. Dank eines ARD-Kamerateams waren die Bilder allerdings umgehend in den Nachrichten zu sehen. Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 und der oft unfreiwilligen Ausreise mehrerer namhafter Schriftsteller und Künstler war 12 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ Wolf Biermann bei seinem Konzert in der Kölner Sporthalle am 13. November 1976. Drei Tage später hört er im Radio, dass die DDR ihn ausgebürgert hat. langsam, aber stetig eine Oppositionsund Bürgerrechtsbewegung entstanden. Das Regime ging dagegen mit allen Mitteln vor, wie Hunderttausende von Stasi-Berichten zeigen. In vielen Städten bildeten sich – häufig unter dem schützenden Dach der Kirchen – Jugendgruppen, die sich gegen die Politik des SED-Regimes auflehnten. Friedensbewegte Gruppen kritisierten den neu eingeführten Wehrkundeunterricht und das Fehlen eines zivilen Ersatzdienstes. Unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ wandten sie sich zudem gegen die Stationierung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa. Zunehmend wurde auch die allgegenwärtige Verschmutzung der Umwelt zum Anstoß für Protest. Bürgerrechtsgruppen forderten die Wahrung der Menschenrechte, und Ausreisewillige schlossen sich zusammen, um sich für ihre Rechte einzusetzen. Mit Verboten sowie durch Verfolgung oder Verhaftung versuchte das Regime, diese Entwicklung einzudämmen. Seit 1985 führte der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow tiefgreifende Reformen unter den Schlagwörtern Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) durch. Die hartnäckige Weigerung der SEDFührung, in der DDR einen ähnlichen Reformprozess zu vollziehen, führte zu immer größerem Missmut – selbst innerhalb der SED, der in den 1980er Jahren über zwei Millionen Mitglieder angehörten. Abstimmung mit den Füßen Im Sommer 1989 begann der Ansturm auf die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin und die bundesdeutschen Botschaften in den Nachbarländern Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Auslöser war, dass Ungarn am 2. Mai begonnen hatte, die elektrische Grenzsicherung abzu13 KAPITEL 1 DDR-Flüchtlinge klettern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag (Oktober1989). bauen. Zahlreiche DDR-Bürger flüchteten im Sommer auf diesem Weg nach Österreich und in die Bundesrepublik. Zehntausende hielten sich in Budapest auf und hofften auf eine Ausreisemöglichkeit; allein auf das Prager Botschaftsgelände flüchteten rund 6.000 Menschen aus der DDR. Am 10. September 1989 öffnete die ungarische Regierung die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger. Innerhalb von 72 Stunden nutzten 15.000 Ostdeutsche die Chance zur Flucht in den Westen. Die DDR erlebte mit dem Massenexodus einen Aderlass wie schon einmal kurz vor dem Mauerbau. Erich Honeckers herablassende Bemerkung, den Flüchtlingen solle man keine Träne nachweinen, heizte die Stimmung zusätzlich an. Am 30. September 1989 gelang es Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, für die Botschaftsflüchtlinge in Prag die freie Ausreise in den Westen auszuhandeln. Die Bilder von Genschers umjubelter Ankündigung auf dem Botschaftsbalkon sind unvergesslich. In den kommenden Wochen und Monaten überschlugen sich die Ereignisse. Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 wurden von Protesten begleitet. In Ost-Berlin gab es die ersten Verletzten, als Volkspolizei und Stasi die Demonstranten mit Gewalt zurückdrängten. Zuvor hat14 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ Michail Gorbatschow am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, in Ost-Berlin. ten die Ost-Berliner den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow begeistert gefeiert und mit „Gorbi, hilf uns!“-Rufen empfangen. Seine mahnenden Worte an die reformunwillige DDR-Führung – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – sind in die Geschichte eingegangen. Montagsdemonstrationen In Leipzig hatten bereits am 4. September 1989 die montäglichen Demonstrationen begonnen. Bald gingen auch in anderen Städten die Menschen mutig und entschlossen auf die Straßen und riefen: „Wir sind das Volk!“ Am 9. Oktober versammelten sich in der Messestadt über 70.000 Teilnehmer zur größten Protestaktion seit dem 17. Juni 1953. Das Großaufgebot an Sicherheitsorganen bekam keinen Einsatzbefehl und hielt sich angesichts der Masse der friedlichen Demonstranten zurück. Für die Bürgerrechtler war das ein Signal – und der entscheidende Wendepunkt. Die sowjetischen Panzer blieben, anders als 1953, in den Kasernen. Moskau kam der SEDMontagsdemo am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Führung nicht mehr zu Hilfe. 15 KAPITEL 1 Schon eine Woche später, am 18. Oktober, trat Erich Honecker als SED-Generalsekretär und von seinen weiteren Funktionen als Staatsratsvorsitzender und Chef des Verteidigungsrates zurück. Sein Nachfolger wurde Egon Krenz. Er nahm gleich telefonischen Kontakt zu Bundeskanzler Helmut Kohl auf und suchte wenig später Michail Gorbatschow im Kreml auf, um Unterstützung für einen halbherzigen Reformprozess zu erhalten. Krenz wollte die SED weiterhin als führende Kraft in der DDR erhalten. Er versuchte sogar, sich mit der SED an die Spitze der Reformbewegung zu setzen, um den DDR-Sozialismus zu retten. Am 6. November fragte die neue DDR-Führung in Bonn nach der Möglichkeit, Kredite in ganz neuer Dimension zu bekommen. Bundeskanzler Helmut Kohl antwortete mit der Forderung nach durchgreifenden Reformen: Verzicht auf das Machtmonopol der SED, Zulassung demokratischer Parteien, freie Wahlen. Es waren dieselben Forderungen, die auch die Demonstranten erhoben. Die Mauer fällt Wie sehr der Staatsführung das Heft des Handelns bereits entglitten war, zeigte die gewaltige Massendemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Hunderttausende forderten mehr Demokratie und Reformen ein und brachten ihre Unzufriedenheit mit dem neuen Staatschef zum Ausdruck. Die Menschen feiern die Grenzöffnung auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. 16 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ Berlin, Grenzübergang Bornholmer Straße, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss das Politbüro ein Reisegesetz, das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz am frühen Abend des 9. Novembers 1989 mit einem Nebensatz in Kraft setzte. Er löste damit noch in der Nacht einen Ansturm auf die Berliner Grenzübergangsstellen aus, so dass den Grenzposten, die keine Anweisungen erhalten hatten, nichts anderes übrigblieb, als die Schlagbäume zu öffnen. Nach 28 Jahren trennten Mauer und Todesstreifen Deutsche nicht mehr von Deutschen. „Wahnsinn!“, riefen die Ersten, die in dieser Nacht über den Grenzübergang an der Bornholmer Straße von Ost- nach West-Berlin kamen. Fernsehsender aus aller Welt schalteten, so schnell sie konnten, live zu den Ereignissen an der Berliner Mauer. Eine solche Revolution, ausgelöst durch friedliche Proteste gegen die ständige Bevormundung, gegen Unfreiheit und die Verletzung elementarer Menschenrechte, hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben. 17 KAPITEL 1 Das rasante Tempo, in dem die DDR zerfiel, überraschte nicht nur die SEDFührung, sondern auch die Bundesregierung und die Opposition in Bonn. Helmut Kohl befand sich am Tag der Maueröffnung auf einem offiziellen Besuch in Polen und erfuhr telefonisch von dem historischen Ereignis. Er versuchte, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren, ohne die polnischen Gastgeber vor den Kopf zu stoßen. In Bonn unterbrach der Bundestag seine Haushaltsberatungen, in der Parlamentslobby verfolgten die Abgeordneten die Berliner Ereignisse am Fernsehschirm. Als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth die Maueröffnung verkündete, stimmten die Abgeordneten spontan die Nationalhymne an. Versuche, den DDR-Sozialismus zu retten In der DDR trat schon wenige Tage nach der Grenzöffnung Willi Stoph als Vorsitzender des Ministerrats zurück. Sein Nachfolger wurde der Dresdner SED-Chef Hans Modrow, den zu dieser Zeit auch im Westen einige als Hoffnungsträger ansahen. Aber auch Modrow ging es in erster Linie darum, mit Reformen die DDR als sozialistischen Staat zu erneuern. Der Zentrale Runde Tisch im Ost-Berliner „Dietrich-Bonhoeffer-Haus“. 18 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ Im Dezember formierte sich der Zentrale Runde Tisch mit 33 Mitgliedern aller politischen Gruppen und Parteien. Den Vertretern der Parteien, die in der „Nationalen Front“ zusammengeschlossen waren, jetzt aber nach und nach aus dem Parteienblock ausbrachen, saßen die Abgesandten des FDGB und der Oppositionsgruppen gegenüber – Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, der Sozialdemokratischen Partei, von Demokratie Jetzt und dem Neuen Forum, der Initiative für Frieden und Menschrechte, dem Unabhängigen Frauenverband und der Vereinigten Linken sowie der Grünen Partei und der Grünen Liga. Die Moderation der Treffen lag in den Händen von drei Kirchenvertretern. Kohls Zehn-Punkte-Programm Ende November 1989 ging Helmut Kohl mit einem Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands in die Offensive. Darin mahnte der Bundeskanzler, wie er es schon am 7. und 8. November getan hatte, die Aufhebung des Machtmonopols der SED an. Im Zentrum von Kohls Deutschlandplan stand der Vorschlag, in einem stufenweisen Vorgehen die Wiedervereinigung Deutschlands anzustreben – mit der Zwischenetappe „konföderativer Strukturen“ und eingebettet in die gesamteuropäische Entwicklung. „Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand“, sagte Kohl vor dem Bundestag. „Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“ Damals war Helmut Kohl noch davon überzeugt, dass die Einheit erst in drei oder vier Jahren kommen werde, „auf jeden Fall erst nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes“, wie er später in seinen Memoiren schrieb. Die Dynamik des Vereinigungsprozesses sollte diese Erwartung schnell überholen. Entscheidend aber war: Das Thema Deutsche Einheit stand nun auf der internationalen Tagesordnung. Bundeskanzler Kohl trägt im Deutschen Bundestag sein „Zehn-Punkte-Programm“ vor (28. November 1989). 19 KAPITEL 1 „Wir sind ein Volk!“ In den Städten der DDR demonstrierten die Menschen indes weiter für demokratische Veränderungen. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“ wurde jedoch zunehmend „Wir sind ein Volk!“. Die Umfragen unter der DDR-Bevölkerung widersprachen sich allerdings. Während die Befragungen der Westmedien ergaben, dass die Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung wolle, war das Ergebnis bei den DDR-Demoskopen genau entgegengesetzt. Nach ihren Umfragen wollte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt vor allem eine bessere DDR. Ein Transparent mit der Aufschrift „Wir sind ein Volk!“ bei einer Montagsdemonstration in Leipzig. 20 „W I R S I N D DA S V O L K ! “ 19. Dezember 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden. Die Bilder sprachen allerdings eine deutliche Sprache: Drei Wochen nach dem Zehn-Punkte-Programm begrüßten Hunderttausende Bundeskanzler Helmut Kohl begeistert vor der Dresdner Frauenkirche – mit Deutschlandfahnen und sogar mit Transparenten wie „Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler“. Endgültige Klarheit brachte dann die Volkskammerwahl vom 18. März 1990. 21 KAPITEL 2 Silvesterparty 1989/90 am Brandenburger Tor. 22 DA S J A h R D E R W I E D E RV E R E I N I G U N G Kapitel 2 Das Jahr der Wiedervereinigung Es war eisig kalt, als sich am Brandenburger Tor Hunderttausende aus Ost und West zu einer riesigen Silvesterparty versammelten. Noch wenige Wochen zuvor hätte sich das niemand vorstellen können. Es ließ sich bereits ahnen, dass die Böllerschüsse der bevorstehenden Einheit galten. 1990 sollte für Deutschland zum geschichtsträchtigsten Jahr seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden. Massenexodus Ein neuer Slogan machte insbesondere unter jungen Ostdeutschen die Runde: „Kommt die DM, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Um die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren und den anhaltenden Massenexodus zu stoppen, bat die Regierung Modrow um Finanzhilfen der Bundesrepublik. Doch damit stieß sie bei der Bundesregierung auf taube Ohren. Einen „Lastenausgleich“ von rund 15 Milliarden DM lehnte sie strikt ab – auch beim Februar-Treffen in Bonn, als Hans Modrow mit 17 Vertretern von Parteien und Gruppierungen zu Kohl an den Rhein kam. Die Bundesregierung wollte zuerst die Ergebnisse der ersten freien Wahlen abwarten, um dann mit einer legitimierten Regierung verhandeln zu können. Stattdessen bot die Bundesregierung eine deutsche Wirtschafts- und Währungsunion an und drängte darauf, möglichst bald über die Schritte zur Demonstranten fordern die Einführung der D-Mark während einer Montagsdemonstration im Januar 1990 in Leipzig. 23 KAPITEL 2 Verwirklichung der Einheit zu sprechen. Dafür waren inzwischen auch in der DDR alle politischen Parteien und Gruppen mit Ausnahme der Grünen und der SED/PDS. Einen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 lehnte aber zum Beispiel der Zentrale Runde Tisch zu diesem Zeitpunkt noch ab. Besonders in Reihen der Oppositionsgruppen befürworteten viele ein Zusammengehen beider Staaten nach Artikel 146, der die Ausarbeitung einer gemeinsamen neuen Verfassung vorsah. Der Zentrale Runde Tisch beschloss jedoch, die ersten freien Volkskammerwahlen vom 6. Mai auf den 18. März 1990 vorzuziehen. Die wirtschaftliche Lage entwickelte sich in den ersten Januar-Wochen so dramatisch, dass es notwendig war, so zügig wie möglich eine handlungsfähige Regierung zu bekommen. Im ganzen Jahr 1989 waren knapp 344.000 Menschen aus der DDR in den Westen übergesiedelt, vom 1. Januar bis zum 17. Februar 1990 waren es bereits 89.000. Die Folge war, dass vielerorts plötzlich Fachkräfte fehlten. Eins kam zum anderen: In vielen Betrieben kam es zu Arbeitsniederlegungen, weil die Beschäftigten verhindern wollten, dass die SED Macht behielt oder sogar wiedergewinnen konnte. Ab Februar streikten sie auch für höhere Löhne. Zwischen Parteien und politischen Gruppen entbrannte ein Streit um den Umgang mit dem „Volkseigentum“, den verstaatlichten Betrieben. Die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern verschlechterte sich zusehends. Erste Subventionen entfielen. Auf dem Schwarzmarkt kostete eine D-Mark bis zu 18 DDR-Mark. Alle Versuche der Regierung, die Entwicklung in den Griff zu bekommen, scheiterten im Ansatz. Die Verunsicherung in der Bevölkerung wuchs – und hatte zur Folge, dass sich jetzt, bei einer Umfrage im Februar 1990, drei Viertel für eine Wiedervereinigung Deutschlands aussprachen, 27 Prozent mehr als im Herbst 1989. Vorbehalte im Ausland zerstreuen In den folgenden Monaten standen die Bedingungen für eine mögliche Wiedervereinigung im Fokus der bundesdeutschen Außenpolitik. Der Bundeskanzler 24 DA S J A h R D E R W I E D E RV E R E I N I G U N G Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs und Außenminister am 28. April 1990 in Dublin. war insbesondere damit beschäftigt, den westlichen Verbündeten, aber auch den deutschen Nachbarn, Vorbehalte und Ängste zu nehmen. Unterstützung erhielt Kohl dabei vor allem von der US-Regierung. Am 13. Februar 1990 beschlossen die einstigen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die beiden deutschen Staaten in Ottawa, Schritte auf dem Weg zu einer möglichen Deutschen Einheit einzuleiten. Damit war der Prozess der Zwei-plus-VierVerhandlungen eingeleitet. Die erste freie Volkskammerwahl Zu dieser Zeit hatte der Wahlkampf längst begonnen. 19 Parteien und fünf Listenverbindungen wetteiferten um die Stimmen von 12,2 Millionen Wählern. Einige Vertreter der DDR-Opposition wandten sich vergeblich gegen eine Beteiligung der westdeutschen Parteien. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach auf Kundgebungen in sechs DDRStädten. Auch Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und andere bundesdeutsche Spitzenpolitiker absolvierten zahlreiche Wahlkampfauftritte. Willy Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt am 4. März 1990 in Erfurt. 25 KAPITEL 2 Brandt kam zum Beispiel nach Erfurt und besuchte das Hotel „Erfurter Hof“, wo er sich 1970 mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph getroffen hatte. Die Erfurter hatten den damaligen Bundeskanzler mit ihren Rufen „Willy Brandt ans Fenster!“ begeistert empfangen. Die Wahl am 18. März mit einer Beteiligung von 93,4 Prozent endete anders, als es die Demoskopen vorausgesagt hatten. Wahlsiegerin war die „Allianz für Deutschland“, ein Wahlbündnis von CDU, DSU und DA. Es erhielt 48,1 Prozent aller Stimmen. Die SPD wurde mit einem Stimmenanteil von 21,9 Prozent zweitstärkste Partei. Die PDS belegte mit 16,4 Prozent den dritten Rang. Volkskammerwahl am 18. März 1990: Wahllokal im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. ERGEBNISSE DER DDR-VOLKSKAMMERWAHL VOM 18. MÄRZ 1990 Partei (bzw. Liste) Prozent Mandate Allianz für Deutschland Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) 26 40,8 163 Deutsche Soziale Union (DSU) 6,3 25 Demokratischer Aufbruch (DA) 0,9 4 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 21,9 88 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 16,4 66 Bund Freier Demokraten 5,3 21 Bündnis 90 2,9 12 Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) 2,2 9 Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband 2,0 8 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) 0,4 2 Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) 0,3 1 Aktionsbündnis Vereinigte Linke 0,2 1 Sonstige 0,3 0 DA S J A h R D E R W I E D E RV E R E I N I G U N G Votum für die Wiedervereinigung Das Wahlergebnis bedeutete ein klares Votum für eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands. Jetzt ging es in Bonn und Ost-Berlin um den konkreten Fahrplan dorthin. Lothar de Maizière, Chef der Ost-CDU und damit der stärksten Partei in der Allianz, übernahm die Regierungsbildung. Er wollte angesichts der bevorstehenden Aufgaben eine möglichst breite Mehrheit in der Volkskammer. Deshalb bildete er eine Große Koalition mit der SPD und dem „Bund Freier Demokraten“. Die Regierungen in Ost und West einigten sich schnell auf den 1. Juli als Starttermin für die Wirtschafts- und Währungsunion, damit die Ostdeutschen rechtzeitig zu Urlaubsbeginn im Besitz der D-Mark sein würden. Mit der Ankündigung sollte gleichzeitig der Strom der Übersiedler eingedämmt werden. Streitpunkt blieb jedoch lange der Umtauschkurs. Der von der Bundesbank vorgeschlagene Umtauschkurs von 2:1 sorgte – wegen anderer Versprechen im Wahlkampf – bei der ostdeutschen Bevölkerung für eine Welle des Protests. Auch der neue Regierungschef Lothar de Maizière wehrte sich entschieden dagegen. Wilhelm Ebeling, Rainer Ortleb, Lothar de Maizière, Markus Meckel und Rainer Eppelmann am 11. April 1990, einen Tag vor ihrer Vereidigung. Unterzeichnung des Vertrags über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 18. Mai 1990: DDR-Finanzminister Walter Romberg, Ministerpräsident Lothar de Maizière, Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesfinanzminister Theo Waigel. 27 KAPITEL 2 Die D-Mark ist da. Warten auf den Geldumtausch in Görlitz. Am Ende kamen beide Seiten überein, dass alle laufenden Zahlungen – Löhne und Gehälter, Renten, Stipendien und Sozialleistungen – im Verhältnis 1:1 in D-Mark umgewandelt werden sollten. Jeder DDR-Bürger zwischen 14 und 59 Jahren sollte von seinen Ersparnissen 4.000, Rentner 6.000 und Kinder 2.000 Ost-Mark 1:1 umtauschen können. Die darüber hinausgehenden Beträge wurden im Verhältnis 2:1 getauscht. Im Gesamtdurchschnitt ergab sich ein Verhältnis von 1,8:1. Am 18. Mai 1990 wurde im Bonner Palais Schaumburg der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterzeichnet. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR. 28 „Die Volkskammer, auch wenn sie nur wenige Monate existierte, war ein wichtiger Bestandteil des Demokratisierungsprozesses in der DDR. Die Bürger konnten nicht nur erstmals frei wählen, sondern auch über den Weg entscheiden, den ihr Land künftig gehen soll.“ DA S J A h R D E R W I E D E RV E R E I N I G U N G Beseitigung internationaler Hindernisse Während zwischen den beiden deutschen Staaten die Verhandlungen zur Wiedervereinigung auf Hochtouren liefen – immer mehr befürworteten einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes –, galt es auch, die internationale Zustimmung zu gewinnen. Denn nach wie vor hielten die vier Alliierten des Zweiten Weltkriegs Souveränitätsrechte über die beiden deutschen Staaten. Und es gab – insbesondere bei der britischen Premierministerin Margaret Thatcher – Vorbehalte gegenüber der Deutschen Einheit. Dass es letztlich gelang, diese zu überwinden, lag vor allem an der Unterstützung durch den amerikanischen Präsidenten George Bush sen. sowie an der veränderten Haltung Moskaus. Lange hatte der Kreml auf einen Austritt des vereinigten Deutschlands aus der NATO bestanden. Sonst gerate das Kräfteverhältnis in Europa aus dem Gleichgewicht, lautete die Begründung. Kreml-Chef Michail Gorbatschow brachte sogar eine doppelte Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und in der NATO ins Gespräch. Die geringe Neigung Moskaus zu einem Kompromiss überschattete die erste Runde der Zwei-plus-Vier-Gespräche im Mai in Bonn. Diese Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten sollten die außenpolitischen Voraussetzungen für die Einheit schaffen. Am 31. Mai gab Gorbatschow bei einem Gipfeltreffen mit US-Präsident Bush erstmals seine Bereitschaft zu erkennen, den Deutschen die Wahl ihrer Bündniszugehörigkeit selbst zu überlassen. Der endgültige Durchbruch gelang Mitte Juli bei einem Treffen von Kohl und Gorbatschow im Kaukasus. Dabei sicherte der sowjetische Präsident dem vereinigten Deutschland nicht nur die sofortige volle Souveränität zu, son- Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und HansDietrich Genscher am 16. Juli 1990 im Kaukasus. 29 KAPITEL 2 dern gab auch seine Einwände gegen eine NATO-Mitgliedschaft auf. Allerdings dürften die Bündnisstrukturen nicht auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgedehnt werden, solange dort sowjetische Truppen stationiert seien. Für deren Abzug versprach die Bundesregierung Unterstützung beim Wohnungsbau und bei Umschulungsprogrammen für Soldaten. Am Ende machte das einen zweistelligen Milliardenbetrag aus. Der Einigungsvertrag Der 900-seitige Einigungsvertrag. Nach dem erfolgreichen deutsch-sowjetischen Gipfel im Kaukasus nahm der Vereinigungsprozess weiter Fahrt auf. „So schnell wie möglich und so gut wie nötig“, war die Maxime de Maizières. Unmittelbar nach Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion starteten die Verhandlungen über den Einigungsvertrag. Ostdeutscher Partner von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble war der spätere Bundesverkehrsminister Günther Krause. Nach nur vier Sitzungen stand das zweite große Vertragswerk der Deutschen Einheit. Die DDR sollte gemäß Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten. Beide Seiten waren sich einig, dass dies der unkomplizierteste und zügigste Weg zur Einheit war – und dass man ihn beschreiten musste, solange die internationale Situation, vor allem in Moskau, günstig war. 30 DA S J A h R D E R W I E D E RV E R E I N I G U N G 23. August 1990, 2.47 Uhr morgens: Die DDRVolkskammer hat den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen. Die Volkskammer machte in der Nacht zum 23. August nach einer turbulenten Sitzung mit der nötigen Zweidrittelmehrheit den Weg frei. Von den 363 anwesenden Abgeordneten stimmten 294 für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, 62 votierten dagegen, sieben enthielten sich. So konnte der Einigungsvertrag am 31. August unterzeichnet werden. Am 20. September ratifizierten ihn der Deutsche Bundestag und die Volkskammer. Rund drei Wochen vor dem Tag der Deutschen Einheit wurden in Moskau die Zwei-plus-Vier-Gespräche abgeschlossen. Der Vertrag machte den Weg frei für die Wiedervereinigung und die volle Souveränität Deutschlands. Noch ein Jahr zuvor hätte wohl niemand davon zu träumen gewagt. Am 3. Oktober 1990 war die 40-jährige Teilung Geschichte. Für Deutschland bedeutet das: Zum ersten Mal zugleich in Freiheit, Einheit und in Frieden mit all seinen Nachbarstaaten zu leben. Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau. 31 KAPITEL 3 Schilder in Görlitz. 32 NEUE STRUKTUREN SchAffEN Kapitel 3 Neue Strukturen schaffen Schon bald nach der Wiedervereinigung wurde deutlich, welche Herkulesaufgabe Deutschland zu bewältigen haben würde. Zwar sollte der Einigungsvertrag alle weiteren Schritte regeln, doch die Probleme zeigten sich bei der Umsetzung der fast 1.000 Seiten. Jetzt galt es vor allem, nach der staatlichen Einheit auch das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West zu fördern. Deutschland sei nun zwar eins, aber noch nicht einig, wurde zu einem geflügelten Wort unter Politikern. Die knappe Entscheidung des Bundestages im Juni 1991 für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung galt als Zeichen des Willens, rasch die innere Einheit zu erreichen. Auch andere Institutionen mussten umziehen, um die Bundeseinrichtungen fair auf die alten und neuen Länder zu verteilen. So wurde das Umweltbundesamt von Berlin nach Dessau verlegt, Leipzig erhielt das Bundesverwaltungsgericht und einen Teil des Bundesgerichtshofes, Erfurt das Bundesarbeitsgericht. Die weitaus größeren Herausforderungen kamen auf die Menschen in den neuen Ländern zu. Kaum etwas blieb, wie es gewesen war. 33 KAPITEL 3 VERLAGERUNG VON BUNDESINSTITUTIONEN IN DIE NEUEN LÄNDER (in Klammern die bisherigen Standorte) Brandenburg Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) (1.500 der neuen Stellen) Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (Außenstelle Berlin, 114 Stellen) Bundesrechnungshof (Außenstelle Berlin, ca. 100 Stellen) Mecklenburg-Vorpommern Bundesversicherungsanstalt (BfA) (2.000 der neuen Stellen) Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (Berlin, 326 Stellen) Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (Hamburg, Präsident und ca. 150 Stellen) Sachsen Bundesverwaltungsgericht; Oberbundesanwalt; BGH: 5. Strafsenat und neue Senate (Berlin, 250 Stellen). Neue Zivilsenate gehen nach Karlsruhe, dafür geht jeweils ein bestehender Strafsenat von Karlsruhe nach Leipzig. Zentrum für Telekommunikation (Berlin, ca. 1.087 Stellen) Eine Berufsgenossenschaft, bis zu 500 Stellen Archiv für die Deutsche Einheit (Außenstelle des Bundesarchivs) Sachsen-Anhalt Umweltbundesamt (Berlin, 837 Stellen) Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost (Berlin, 243 Stellen) Thüringen Bundesarbeitsgericht (Kassel, 140 Stellen) Bundesversicherungsanstalt (BfA), Abteilung Rehabilitation (Berlin, ca. 1.000 Stellen) Bundesanstalt für Wasserbau (Berlin, 168 Stellen) Quelle: Bundestags-Drucksache 12/2853 Kommunale Selbstverwaltung Manches Grundlegende war schon vor der Vereinigung in Angriff genommen worden. So hatte bereits die erste demokratisch gewählte DDR-Volkskammer im Mai 1990 eine Kommunalverfassung erlassen, mit der die Kreise und Gemeinden ihren Status der Selbstverwaltung zurückerhielten. Damit war die Dezentralisierung der Macht eingeleitet, und die gerade gewählten kommunalen Parlamente 34 NEUE STRUKTUREN SchAffEN wurden mit den nötigen Rechten und Befugnissen ausgestattet, um das gesellschaftliche Leben in den Städten und Gemeinden zu gestalten. Die Bürgerbeteiligung erhielt durch die kommunale Selbstverwaltung einen neuen Stellenwert. Unterstützung erhielten die ostdeutschen Städte und Gemeinden beim Aufbau ihrer neuen Verwaltungsorganisation vor allem von ihren westdeutschen Partnerkommunen und -ländern. Schon bald bestand ein flächendeckendes Netz von Beziehungen, das sich dann auch beim Aufbau der neuen Länderstruktur bewährte. Beispielhaft war die Partnerschaft von Bonn und Potsdam. Die ehemalige Bundeshauptstadt kümmerte sich nicht nur um die Verwaltungsorganisation, sondern half auch mit ganz praktischen Dingen wie Rettungswagen für die Feuerwehr, Funktelefonen oder Kopiergeräten. Fünf neue Länder 1952 hatte die DDR die Länder abgeschafft und in 14 Bezirke umgewandelt. Doch schon bei den Demonstrationen während der Friedlichen Revolution tauchten alte Landesflaggen wieder auf. Deshalb trieb die Regierung de Maizière die Wiedereinführung der Länder voran. Es gab Vorschläge zur Schaffung von zwei bis zu elf Ländern, darunter der Länder Vorpommern und Lausitz. Einig waren sich die Volksvertreter, dass der föderale Aufbau nicht nur eine gute Voraussetzung für die Wiedervereinigung schaffen, sondern auch die Demokratie fördern und der kulturellen Vielfalt bessere Entfaltungsmöglichkeiten als der Zentralismus bieten würde. Am 22. Juli 1990 verabschiedete die Volkskammer mit Zweidrittelmehrheit das Ländereinführungsgesetz. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober entstanden dadurch die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Die Wahl der Landeshauptstädte sollte Sache der einzelnen Länder sein. Ost-Berlin wurde mit der Westhälfte Berlins vereinigt. Die wiedergegründeten Länder Sachsen und Thüringen führten die alte Bezeichnung „Freistaat“ wieder ein, was so viel bedeutet wie „Republik“, aber keine verfassungsrechtliche Sonderstellung mit sich bringt. 35 KAPITEL 3 DDR-BEZIRKE 14 Bezirke: Rostock, Schwerin, Magdeburg, Karl-MarxStadt, Cottbus, Dresden, Leipzig, Halle, Erfurt, Gera, Suhl, Potsdam, Frankfurt/Oder, Neubrandenburg BUNDESLÄNDER 5 Länder: Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern *Der Ostteil Berlins war kein DDR-Bezirk. Für Ost-Berlin galt wie für West-Berlin bis zum 3. Oktober 1990 der alliierte Sonderstatus. Aus 14 Bezirken wurden fünf Länder, aus West- und Ost-Berlin der Stadtstaat Berlin. Während der Länderbildung erhielt der Osten tatkräftige Hilfen aus dem Westen. Ähnlich wie bei den Kommunen bildeten sich enge Partnerschaftsbeziehungen zwischen den alten und den neuen Ländern. Das sollte garantieren, dass die Strukturen nach den rechtsstaatlichen Maßstäben der alten Bundesrepublik entstanden. Eigentumsfragen Als einer der schwierigsten Punkte des Einigungsprozesses sollte sich die Klärung der Eigentumsverhältnisse erweisen. Das war bereits am Runden Tisch deutlich geworden. So hatte die Regierung Modrow schon vor der Volkskammerwahl erklären lassen, die Eigentumsordnung, die durch die „Bodenreform“, die Zwangsenteignungen zwischen 1945 und 1948, entstanden 36 NEUE STRUKTUREN SchAffEN sei, stehe nicht zur Disposition. Diesen Standpunkt vertrat Modrows Delegation auch bei den Gesprächen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn im Februar 1990. Danach sollte das Recht der DDR-Bauern auf ihr „Bodenreformland“ auch nach der Wiedervereinigung als unantastbar gelten. Ministerpräsident Lothar de Maizière blieb bei dieser Haltung und machte in seiner Regierungserklärung deutlich, dass es keinen Einigungsvertrag gebe, sollte eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor der „Bodenreform“ beabsichtigt sein. Dabei konnte sich der CDU-Politiker sowohl der Mehrheit der DDRBevölkerung als auch der Unterstützung Moskaus sicher sein. Gerade der Kreml legte Wert darauf, dass die Enteignungen aus der sowjetischen Besatzungszeit nicht rückgängig gemacht würden. In Bonn war das nicht unumstritten. Bundesinnenminister Schäuble war jedoch überzeugt, dass eine Rückabwicklung der „Bodenreform“ nicht durchsetzbar sei. Für Enteignungen aus DDR-Zeiten sollte jedoch die Rückgabe Vorrang haben. Doch hier steckte der Teufel im Detail. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ führte im Alltag oft zu Problemen und verursachte auch lange Verzögerungen bei der Sanierung innerstädtischer Gebäude – zum Beispiel, wenn sich Erbengemeinschaften nicht über Verkauf oder Nutzung ihrer Immobilien einigen konnten. Die Alternative – Entschädigung vor Rückgabe – wäre allerdings einer nachträglichen Zustimmung zur Enteignungspolitik des SEDRegimes gleichgekommen. Das sogenannte Investitionsvorranggesetz von 1992 brachte eine gewisse Erleichterung für Investitionen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Regelung der offenen Vermögensfragen hat jedoch bei vielen Betroffenen bis heute Wunden hinterlassen. Unabhängige Justiz 1958 hatte SED-Generalsekretär Walter Ulbricht die Devise ausgegeben: „Unsere Juristen müssen begreifen, dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dienen, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen.“ 37 KAPITEL 3 Von einer unabhängigen Justiz konnte in der DDR keine Rede sein. Die SED nahm auf unterschiedliche Art Einfluss auf die Rechtsprechung. Dies reichte von der Personalpolitik über allgemeine ideologische „Anleitungen“ der Justizangehörigen bis hin zur Inszenierung einzelner politischer Strafprozesse und der Vorgabe konkreter Urteile. Nach der Wiedervereinigung gelang es rasch, in allen neuen Ländern unabhängige Gerichte zu etablieren und damit der Gewaltenteilung Geltung zu verschaffen. Sichtbarster Ausdruck der neuen rechtsstaatlichen Ordnung war die Einführung von Verwaltungsgerichten. Zu DDR-Zeiten waren sie abgeschafft, so dass sich Bürgerinnen und Bürger nur mit Hilfe von „Eingaben“ an staatliche Stellen gegen falsches Verwaltungshandeln zur Wehr setzen konnten. Die Entscheidungen darüber waren nicht gerichtlich nachprüfbar, letztlich also willkürlich. Eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit dagegen zwingt die öffentliche Verwaltung zu sorgfältigen und nachprüfbaren Entscheidungen in jedem Einzelfall. Finanzgericht des Landes Brandenburg in Cottbus. 38 NEUE STRUKTUREN SchAffEN Die Aufarbeitung des SED-Unrechts Als massives Problem stellte sich die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen zu DDR-Zeiten heraus. Sie strafrechtlich zu ahnden, gelang wegen des sogenannten Rückwirkungsverbots in den seltensten Fällen: Was in der DDR nicht strafbar war, ließ sich nicht im Nachhinein bestrafen. Selbst der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, wurde nicht wegen der systematischen Verfolgung Andersdenkender verurteilt, sondern wegen eines Doppelmordes, an dem er 1931 beteiligt gewesen war. Ex-Stasi-Chef Mielke vor dem Landgericht Berlin (1993). Die Bürgerrechtler verzweifelten geradezu daran, dass die Machthaber von einst ungeschoren davonkommen sollten. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, klagte die Mitbegründerin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, die seit Anfang der 1980er Jahre von der Stasi verfolgt worden war. Das wiedervereinigte Deutschland konnte das Leid, das die Verfolgten erlitten hatten, zwar nicht ungeschehen machen, und die Täter ließen sich in den seltensten Fällen zur Rechenschaft ziehen, aber mit den Unrechtsbereinigungsgesetzen haben viele SED-Opfer zumindest einen Anspruch auf straf-, verwaltungs- und berufsrechtliche Rehabilitierung und Wiedergutmachung erhalten. Mit der Einführung der sogenannten SED-Opferpension im Sommer 2007 ist der Deutsche Bundestag einer jahrelangen Forderung der Opferverbände nachgekommen. Jetzt können Menschen, die aus politischen Gründen mindestens 180 Tage Freiheitsentzug erlitten haben, eine monatliche Unter39 KAPITEL 3 stützung in Höhe von 250 Euro beantragen. 2013 hatten rund 46.000 Personen einen Anspruch auf die SED-Opferpension. Auch das Leid ehemaliger DDR-Heimkinder, die in den Jahren 1949 bis 1990 in einem Heim der Jugendhilfe oder in einem Dauerheim für Säuglinge und Kleinkinder Unrecht erfahren haben, ist inzwischen anerkannt: durch den 2012 eingerichteten Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1945 bis 1990“. Bei Folgeschäden, die heute noch nachwirken, und/oder einer Minderung von Rentenansprüchen stehen Fondsleistungen für Hilfen und Unterstützungsleistungen zur Verfügung. Grundlage für die Einrichtung des Fonds war der Bericht „Aufarbeitung der Heimerziehung der DDR“. Ein Expertengremium hat ihn nach dem Abschlussbericht des „Runden Tisches Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren“ von Bund und Ländern verfasst. Aufarbeitung wird auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen und eine gesamtdeutsche Aufgabe bleiben, denn die Diktatur in der SBZ/DDR zählt zum historischen Erbe des wiedervereinten Deutschlands. Damit jeder Generation die Lehren aus diesen Kapiteln unserer Geschichte immer wieder neu vermittelt werden, gilt es, auch diesen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte konsequent aufzuarbeiten. So lässt die Bundesregierung beispielsweise derzeit wissenschaftlich untersuchen, unter welchen Bedingungen im Strafvollzug der DDR Arbeit geleistet werden musste. Im Mittelpunkt steht dabei die Behandlung politischer Häftlinge. Ein weiteres Beispiel ist die finanzielle Förderung eines Forschungsvorhabens, das alle Arzneimittelversuche in der DDR im Auftrag von Westfirmen erfasst. Die „Armee der Einheit“ Gravierend waren die Veränderungen für die Angehörigen der Nationalen Volksarmee (NVA). Während die ostdeutsche Armee im Frühjahr 1990 noch eine Truppenstärke von rund 175.000 Mann hatte, waren es zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung nur noch 90.000. Sie wurden am 3. Oktober 1990 zunächst in die Bundeswehr eingegliedert. Später wurden rund 50.000 NVAAngehörige übernommen. 40 NEUE STRUKTUREN SchAffEN Fahrzeugkontrolle an der Bundeswehrkaserne „Albertstadt“ bei Dresden. Auf dem Weg zur „Armee der Einheit“ hat die Bundeswehr rund 6.000 Offiziere und rund 11.200 Unteroffiziere der früheren NVA zunächst für zwei Jahre übernommen. Nach einem Auswahlverfahren übernahm die Bundeswehr dann 3.000 Offiziere und 7.600 Unteroffiziere der NVA als Berufssoldaten. Am 2. Oktober 1992 ernannte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe in Leipzig die ersten 20 ehemaligen NVA-Soldaten zu Berufssoldaten der Bundeswehr. Im Zuge der Zusammenführung beider Streitkräfte wurden auch 15 Einrichtungen von West nach Ost verlegt. So erhielt Berlin die Bundeswehrverwaltungsschule und die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Die Offiziersschule des Heeres und das Militärhistorische Museum fanden in Dresden eine neue Heimat, Rostock-Warnemünde wurde der neue Standort für das Marineamt. Insgesamt fanden so rund 8.000 Bundeswehrangehörige in den neuen Ländern eine Beschäftigung. 41 KAPITEL 3 Vereint über den Wolken: eine von der NVA übernommene MiG-29 (o.) zusammen mit Alpha Jet, Tornado und Phantom (v. l.). Die nüchternen Zahlen lassen allerdings kaum erahnen, welche Integrationsleistung die Bundeswehr nach der Wiedervereinigung erbracht hat: Immerhin waren die Soldaten in den beiden deutschen Staaten dazu ausgebildet, im Ernstfall aufeinander zu schießen. Dank umsichtiger Kommandeure der einzelnen Armeeeinheiten gelang es, die Soldaten aus Bundeswehr und Nationaler Volksarmee ohne nennenswerte Konflikte zusammenzuführen. Die „Armee der Einheit“ konnte als eine der ersten staatlichen Institutionen im Einigungsprozess Vollzug melden. Gemessen an der Bevölkerungszahl, ist die Bundeswehr heute in den neuen Ländern deutlich stärker vertreten als in den alten. Auch nach der laufenden Bundeswehrreform wird das so bleiben. So werden in Mecklenburg-Vorpommern 6,4 Bundeswehrangehörige auf 1.000 Einwohner kommen. Der Bundesdurchschnitt liegt dann bei 2,4 Dienstposten pro 1.000 Einwohner. 42 NEUE STRUKTUREN SchAffEN Medienlandschaft im Umbruch Gewaltige Veränderungen vollzogen sich auch im Medienbereich. Spätestens mit dem Beschluss der Volkskammer vom 5. Februar 1990, Pressefreiheit zu gewähren, änderte sich die Arbeit für Journalisten in der DDR grundlegend. Die Zeitungen der SED (17), der CDU (6), der LDPD (5), der NDPD (6), der Bauernpartei (1) und der Massenorganisationen (3) hatten sich im Verlauf der Friedlichen Revolution aus der Kontrolle ihrer Herausgeber gelöst. Zugleich mussten die Tageszeitungen in der DDR durch den Wegfall der Subventionen ihre Preise erhöhen – bislang hatten Tageszeitungen 15 DDR-Pfennig und ein Monatsabonnement höchstens 3,15 DDR-Mark gekostet. Jetzt mussten sie sich im Wettbewerb mit den West-Medien behaupten. Vor allem in grenznahen Gebieten gaben westdeutsche Verlage lokale Nebenausgaben heraus. Versuche des Runden Tisches, einen „Medienkontrollrat“ zu schaffen, blieben erfolglos. Zeitungskiosk 1991. 43 KAPITEL 3 Stattdessen waren die auflagenstarken SED-Bezirkszeitungen ab Ende 1989 begehrte Kooperationspartner der großen Verlagshäuser aus den alten Ländern. Nachdem sie von der Treuhand zum Verkauf ausgeschrieben worden waren, gingen sie dann vielfach in deren Besitz über. Die Blätter haben daher heute oft monopolartige Positionen in ihren Verbreitungsgebieten. Neugründungen konnten sich bis auf wenige Ausnahmen nicht am Markt behaupten. Mäßigen Erfolg hatten die mit großem Aufwand betriebenen Versuche der großen überregionalen Zeitungen Westdeutschlands, im Osten Fuß zu fassen. Ihre verkauften Auflagen dort blieben unterdurchschnittlich. Die Bürger der neuen Länder vertrauten mehrheitlich „ihren“ Medien, die, aus dem Zwang politischer Vorgaben befreit, mit kritischem Blick die Themen beleuchten konnten, die den Menschen im Osten wichtig waren. Für Hörfunk und Fernsehen sah der Einigungsvertrag die Bildung öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten vor. So entstand in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Mecklenburg-Vorpommern schloss sich dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) an. Für Brandenburg wurde zunächst der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) gegründet, der 2004 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) fusionierte. Unbelastete Mitarbeiter des DDR-Rundfunks konnten teilweise beim Deutschlandradio und der Deutschen Welle weiterarbeiten, ebenso wie große Teile der Journalisten beim West-Berliner „RIAS“, der in der DDR der mit Abstand meistgehörte West-Sender war. 44 NEUE STRUKTUREN SchAffEN Kinderkanal KI.KA. 1997 ging in Erfurt der „Kinderkanal“ (KI.KA) auf Sendung – ein Angebot von ARD und ZDF für junge Zuschauer, deren Eltern Wert auf ein werbe- und gewaltfreies Programm legen. Daneben hat sich in den neuen Ländern eine Vielzahl privater Hörfunksender etabliert. 45 KAPITEL 4 Gedenkstätte Bautzen im ehemaligen Stasi-Gefängnis Bautzen II. 46 U N R E c h T B E N E N N E N U N D AU fA R B E I T E N Kapitel 4 Unrecht benennen und aufarbeiten Als ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes am Morgen des 4. Dezember 1989 in einem Hörfunkinterview bestätigte, dass die Stasi angefangen hatte, Akten zu vernichten, reagierten Bürgerrechtler sofort: Sie besetzten die ersten Stasi-Außenstellen. Fünf mutige Frauen machten in Erfurt den Anfang. Bürgerkomitees begannen damit, die Stasi vor Ort aufzulösen. Knapp sechs Wochen später, am 15. Januar 1990, zogen tausende DDR-Bürger in die Berliner Normannenstraße, riefen „Stasi raus!“ und besetzten jetzt auch die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Damit versetzten sie dem Spitzelapparat des SED-Regimes den endgültigen Todesstoß und retteten unzählige Akten vor der Vernichtung. Rund 40 Millionen Karteikarten und 111 Kilometer Akten befinden sich heute in den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienstes. Hinzu kommen Millionen Fotos, Film- und Tonaufnahmen. Die Dokumente belegen, mit welchen Methoden die SED die Bevölkerung ausforschen und politisch Andersdenkende mundtot machen ließ. Selbst Übersiedler und Ausgewiesene konnten vor „Zersetzungsmaßnahmen“, also Zermürbungsversuchen, nicht sicher sein: Die Stasi schreckte nicht davor zurück, sie bis nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik zu verfolgen. 47 KAPITEL 4 Zerstörte Stasi-Akten. Die Stasi-Akten bergen nicht nur Zeugnisse, die Täter überführen. Sie machen die Unterdrückung ebenso deutlich wie die Zivilcourage der DDR-Bürger. Sie belegen, mit wie viel Mut und Kreativität Menschen versucht haben, ihr Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen. Sonst wäre der ungeheure Aufwand, den die Stasi betrieb, nicht notwendig gewesen. Zudem enthalten die Unterlagen viele Hinweise darauf, mit wie viel Phantasie sich Bürger den Anwerbeversuchen der Stasi entzogen haben, weil sie Verwandte, Freunde, Nachbarn und Kollegen nicht bespitzeln wollten. Was tun mit den Stasi-Akten? Bürgerrechtler nehmen Einsicht in ihre Stasi-Akten. Von links: Eva-Maria Hagen, Pamela Biermann, Katja Havemann, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann. 48 Es hat sich als richtig erwiesen, die Akten des DDR-Geheimdienstes nicht wegzuschließen. Das zeigt das große Interesse der Ostdeutschen an ihrer Vergangenheit. Seit Inkrafttreten des Stasi-UnterlagenGesetzes am 20. Dezember 1991 haben rund 2,7 Millionen Privatpersonen Anträge auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Stasi-Unterlagen gestellt. U N R E c h T B E N E N N E N U N D AU fA R B E I T E N DIE „STASI-UNTERLAGEN-BEHÖRDE“ IN ZAHLEN Umfang aller Unterlagen mit Schriftgut rund 111 Kilometer Antragszahlen seit 1992 insgesamt 6.876.003 Darunter 2005 2009 2011 2012 2013 Anträge von Bürgern auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe* 2.982.571 80.574 102.658 80.611 88.231 64.246 Ersuchen zur Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes 1.755.134 50.946 175 210 317 296 Sonstige Überprüfungen 457.782 Anträge von Journalisten und Wissenschaftlern 29.049 1.079 1.930 1.501 1.430 1.319 492.760 6.736 11.419** 6.482 5.547 4.069 Anträge zu Fragen der Rehabilitierung, Wiedergutmachung, Strafverfolgung Ersuchen zu Rentenangelegenheiten 1.158.707 * Angabe umfasst Erst- und Wiederholungsanträge, Anträge auf Decknamenentschlüsselung und Herausgabe von Kopien ** davon 5.662 Ersuchen zur Opferrente Auch jetzt noch, nach mehr als zwei Jahrzehnten, registriert der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, der einstige Stasi-Häftling Roland Jahn, zahlreiche Anfragen. Vor allem das Interesse von Journalisten und Wissenschaftlern an Akteneinsicht ist nach wie vor hoch. Dass dabei Personen der Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit von besonderem Interesse sind, liegt auf der Hand. Ihre Akten können nach einer Novellierung des Gesetzes 2006 auch weiterhin eingesehen werden. Roland Jahn, nach dem jetzigen Bundespräsidenten Joachim Gauck und Marianne Birthler der dritte Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, sagte bei seiner Amtseinführung 2011: „Je besser wir begreifen, wie die Diktatur in der 49 KAPITEL 4 DDR im Alltag funktioniert hat, desto besser können wir, hier und heute, Demokratie gestalten.“ Die Bundesregierung will in dieser Legislaturperiode entscheiden, in welcher Form die Aufgaben der Stasi-Unterlagen-Behörde dauerhaft fortgeführt werden sollen. Eine Expertenkommission soll dazu Vorschläge erarbeiten. Erinnerung wachhalten Wie wichtig es ist, die Erinnerung an die SED-Diktatur vor allem bei der Jugend wachzuhalten, machen Umfragen deutlich. So haben Wissenschaftler des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin 2008 bei einer Befragung unter Schülern erhebliche Wissenslücken festgestellt. Ähnliche Lücken gibt es auch im Wissen über den Nationalsozialismus. Wegen dieser Defizite haben die Regierungsparteien in ihrer Koalitions vereinbarung festgelegt, dass die Information über die beiden deutschen Diktaturen ein Schwergewicht in der politischen Bildung sein soll. Das Grenzmuseum in Mödlareuth. Zu DDR-Zeiten wurde der Ort auch „Klein-Berlin“ genannt, weil er durch die Grenze geteilt war. 50 U N R E c h T B E N E N N E N U N D AU fA R B E I T E N Das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie richtet sich gerade auch an Jugendliche, die das SEDRegime und die Mauer nicht mehr erlebt haben. Mehr als 2.300 Projekte, die nicht nur für die Menschen in den neuen Ländern gedacht sind, hat die Bundesstiftung Aufarbeitung seit ihrer Gründung 1998 gefördert. Die Erinnerung an die deutsche Teilung wachzuhalten und der Opfer von Mauerbau und Diktatur zu gedenken, das ist die Aufgabe zahlreicher Stiftungen und Gedenkstätten. Sie sind nicht nur in Berlin und entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu finden, sondern auch an vielen anderen Orten in Deutschland. Zu den wichtigsten Erinnerungsorten für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft gehört das ehemalige Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Dort waren von 1951 bis 1989 vor allem politische Gefangene inhaftiert – oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Auch in der Sonderhaftanstalt „Bautzen II“, die das Mielke-Ministerium ab 1956 zu einem Untersuchungsgefängnis mit 200 Plätzen für Regimekritiker, Gefangene aus Westdeutschland und Spione ausgebaut hat, befindet sich heute eine Gedenkstätte, die der Bund fördert. 51 KAPITEL 4 Die Berliner Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Über die Geschichte der Berliner Mauer und die Fluchtbewegungen aus der DDR informieren die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße und das Notaufnahmelager Marienfelde. Beide Orte spiegeln wichtige Aspekte der deutschen Teilung wider: Die Bernauer Straße wurde nach dem Mauerbau am 13. August 1961 durch dramatische Fluchtversuche zum Symbol der Teilung Berlins, die Familien, Freunde und Nachbarn über Nacht auseinandergerissen hatte. Das Notaufnahmelager Marienfelde passierten bis zum Ende der DDR 1,35 Millionen Flüchtlinge. Eine Ausstellung erinnert heute an Ursachen, Verlauf und Folgen der deutschen Teilung. 52 U N R E c h T B E N E N N E N U N D AU fA R B E I T E N Wie die SED mit Jugendlichen umging, die sich der Erziehung zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ widersetzten, lässt sich in Torgau nachempfinden. Dort befand sich von 1964 bis 1989 ein „Geschlossener Jugendwerkhof“, in den über 4.000 14- bis 18-Jährige zur „Anbahnung eines Umerziehungsprozesses“ eingewiesen wurden, die sich in anderen Einrichtungen widerspenstig verhalten hatten. Die Jugendlichen hatten keine Straftaten begangen, und es gab keine richterlichen Anordnungen für die Einweisung. Faktisch handelte es sich jedoch um eine Art Gefängnis. Paramilitärischer Drill, strikte Regeln und drakonische Strafen, die auch aus mehrtägigem Arrest bestehen konnten, sollten die Jugendlichen dazu bringen, „vollwertige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft“ zu werden. Heute ist das Gebäude eine Gedenkstätte. Dunkelzellentrakt im ehemaligen Jugendwerkhof Torgau, heute eine Gedenkstätte. 53 KAPITEL 5 Die neue Strelasundbrücke. 54 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Kapitel 5 Erfolgsstory Aufbau Ost Die DDR hat ihre Wirtschaftslage, die in den 1980er Jahren immer aussichtsloser wurde, lange zu verheimlichen versucht. Die zentrale Lenkungswirtschaft der DDR – im Volksmund „Planwirtschaft“ – war ein einziger Misserfolg. Es gelang weder, die Bevölkerung ausreichend mit Waren des täglichen Bedarfs zu versorgen, noch, innovative Produkte für den internationalen Markt herzustellen. Andererseits leistete sich die SED-Diktatur die Subventionierung mancher Grundnahrungsmittel und einen riesigen Staats- und Funktionärsapparat. Selbst für dringende Investitionen in Produktionsmittel fehlte das Geld. Noch kurz nach dem Mauerfall beschönigten ostdeutsche Spitzenpolitiker, oft auch aus Unkenntnis, gegenüber ihren westdeutschen Gesprächspartnern die Situation. Dabei wussten sie, dass der Chef der Staatlichen DDR-Planungskommission, Gerhard Schürer, schon Mitte der 1970er Jahre vor einer rasant steigenden Verschuldung bei westlichen Banken gewarnt hatte. Im Mai 1989 schlug er noch einmal Alarm und verwies darauf, dass die DDR auf unverantwortliche Weise über ihre Verhältnisse lebe und ihre Verschuldung monatlich um eine halbe Milliarde Ost-Mark zunehme. Wenn so weiter gewirtschaftet werde, so Schürer, sei das Land schon 1991 zahlungsunfähig. Außenhandelsminister Gerhard Beil und sein Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski errechneten kurz vor dem Mauerfall, dass sich ein Stopp der Verschuldung nur durch die Verringerung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erreichen lasse. Damit werde die DDR aber unregierbar. 55 KAPITEL 5 Die Treuhandanstalt Wie nahe die DDR am Abgrund gestanden hatte, wurde erst richtig sichtbar, als die Treuhandanstalt ihre Arbeit aufnahm und hinter die Kulissen der volkseigenen Kombinate und Betriebe blicken konnte. Ihren Vorläufer hatte bereits die Regierung Modrow auf Empfehlung des Runden Tischs ins Leben gerufen. Sie sollte „volkseigene“ Unternehmen in Aktiengesellschaften umwandeln sowie die Kombinate entflechten und in kleine und mittlere Betriebe umwandeln. Detlev Karsten Rohwedder, Chef der Treuhandanstalt bis zu seiner Ermordung im April 1991. Mit der Wirtschaftsunion am 1. Juli 1990 wurde die Treuhandanstalt neu strukturiert. Mit einem Mandat der frei gewählten Volkskammer nahm sie ihre Arbeit auf. Ihre Aufgabe: über 8.000 Betriebe mit über vier Millionen Beschäftigten zu privatisieren und ihnen so neue Chancen auf dem Markt zu eröffnen. Die Devise von Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder lautete: schnell privatisieren – entschlossen sanieren – behutsam stilllegen. Auch die Treuhandanstalt startete allerdings mit einer grandiosen Fehleinschätzung. So rechneten ihre Chefs mit einem Industrievermögen der DDR von etwa 600 Milliarden DM. Als die Treuhandanstalt Ende 1994 ihre Arbeit beendete, beliefen sich ihre Schulden auf rund 250 Milliarden DM. Die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft und damit der Wert des DDR-Vermögens waren durchgängig, auch im Westen, überschätzt worden. 56 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Prototyp eines modernen „Wartburg“, der nicht in Serie ging. Die meisten Betriebe erwiesen sich als kaum sanierungsfähig. Die Maschinen waren größtenteils völlig veraltet, der produktionstechnische Rückstand auf die alten Bundesländer betrug mitunter mehrere Jahrzehnte. Neue Produkte, etwa neue Fahrzeugmodelle, auf den Markt zu bringen, war immer wieder an fehlenden Werkstoffen gescheitert. Wegen des chronischen Devisenmangels konnte sich die DDR nicht die erforderlichen Rohstoffe im Ausland besorgen. Vor allem fehlten den Betrieben nach 40 Jahren der Abschottung international wettbewerbsfähige Produkte und Kunden außerhalb der einstigen Ostblockstaaten. Dazu kam der Zusammenbruch des Handels mit diesen Ländern. Noch 1991 gingen Kohl und Gorbatschow von Warenlieferungen aus Ostdeutschland nach Russland im Wert von 25 Milliarden DM aus. Schon ein Jahr später waren es weniger als fünf Milliarden DM. Zur nüchternen Abschlussbilanz des SEDStaates gehört auch: Weil das Regime um jeden Preis Vollbeschäftigung organisieren wollte, war ein Teil der Betriebsangehörigen faktisch beschäftigungslos. 57 KAPITEL 5 Gleichwohl ist die Kritik an der Arbeit der Treuhand bis heute nicht verstummt. Der Hauptvorwurf lautet, dass unter Detlev Karsten Rohwedder, der am 1. April 1991 von RAF-Terroristen ermordet wurde, und seiner Nachfolgerin Birgit Breuel überlebensfähige DDR-Unternehmen zu schnell abgewickelt worden seien. Dabei sei es auch darum gegangen, unliebsame Konkurrenz etablierter West-Firmen auszuschalten. Richtig ist, dass etliche Privatisierungen misslangen, weil sich Investoren als unseriös oder übermütig herausstellten. Und unbestreitbar ging bei etlichen Unternehmensverkäufen Schnelligkeit vor Gründlichkeit. Allerdings gab es für die Umwandlung einer sozialistischen in eine soziale Marktwirtschaft weder Modelle noch Lehrbücher. Gleichwohl hat die Treuhand alles in allem wesentlich dazu beigetragen, dass die ostdeutschen Betriebe überhaupt in die Marktwirtschaft einsteigen konnten. Schmerzhafte Veränderungen Einen Schock für die Ostdeutschen löste die Preisentwicklung aus. Jahrzehntelang hatte die DDR die Preise festgesetzt und unter anderem Grundnahrungsmittel subventioniert. Was abstruse Blüten trieb: Wer im Wald Beeren sammelte und verkaufte, bekam dafür mehr, als er für die gleichen Beeren auf dem Markt zahlen musste. Dieses System konnte auf Dauer nicht funktionieren. Jetzt fielen diese Subventionen weg, zwangsläufig wurden beispielsweise Brot oder Milch um ein Vielfaches teurer. Auch mit dem bislang unbekannten Problem der Arbeitslosigkeit wurden die Ostdeutschen plötzlich konfrontiert. Sie hatte es offiziell in der DDR nicht gegeben. Schon Mitte Februar 1990 wurde das erste Arbeitslosengeld gezahlt. Da hielt sich die Zahl der Arbeitslosen mit rund 142.000 noch im Rahmen. Allerdings stieg die Zahl der Menschen ohne einen Job bereits im Herbst 1990 auf rund eine halbe Million. Bis 1996 ging etwa die Hälfte der vier Millionen Arbeitsplätze in den Betrieben, die zur Treuhand gehört hatten, verloren. 58 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Der Solidarpakt Aufgrund der Wirtschaftsschwäche und des enormen Investitionsbedarfs zur Modernisierung der maroden Infrastruktur war von Anfang an klar, dass der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern nur mit einem enormen finanziellen Kraftakt zu stemmen war. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Unterstützung der ostdeutschen Länder aus dem Fonds Deutsche Einheit. Es wäre zu risikoreich gewesen, die neuen Länder sofort in den sogenannten Länderfinanzausgleich einzubinden. Zu stark unterschied sich ihre Finanzkraft von den westdeutschen Ländern. Insgesamt erhielten die ostdeutschen Länder in den Jahren von 1990 bis 1994 über den Fonds rund 160 Milliarden DM, von denen 40 Prozent den Kommunen zugute kamen. Von 1995 bis 2004 erfolgte die Hilfe über den Solidarpakt I, den der Bund und die Länder ausgehandelt hatten. Die neuen Länder wurden mit gleichen Rechten und Pflichten in den Länderfinanzausgleich einbezogen, erhielten darüber hinaus jedoch jährliche Transferzahlungen des Bundes in Höhe von 20,6 Milliarden DM. Schon bald wurde klar, dass der Solidarpakt weiter bestehen musste, um die Wirtschaftskraft und die Beschäftigung zu fördern und Infrastrukturlücken weiter zu schließen. Der Solidarpakt II ist 2005 in Kraft getreten und gilt bis 2019. Er hat ein Gesamtvolumen von 156,5 Milliarden Euro und wird vom Bund finanziert. Die bereitgestellten Mittel nehmen Jahr für Jahr ab. Der Solidarpakt II stellt den finanziellen Rahmen für den Aufbau Ost dar und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die ostdeutschen Länder binnen weniger Jahre eine beispiellose Entwicklung erlebt haben. Längst gibt es nicht nur im Osten strukturschwache Regionen, sondern auch im Westen. Die Bundesregierung will deshalb strukturschwache Regionen in Ost und West auch nach 2020 weiter unterstützen. Das Ziel ist es, „gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland“ zu erreichen. 59 KAPITEL 5 Aufholjagd am Telefon Neue und alte Telefonzelle in Brandenburg 1994. Zu Beginn der 1990er Jahre gab es unter anderem bei der Telekommunikation einen besonders gravierenden Rückstand. Es war noch zur Zeit der Wiedervereinigung geradezu abenteuerlich, über die ehemalige innerdeutsche Grenze hinweg zu telefonieren. Oft ging wertvolle Arbeitszeit damit verloren, eine Telefon- oder Faxverbindung herzustellen. Zum Ende der DDR kamen auf 100 Haushalte gerade einmal 16 Anschlüsse. Knapp sieben Jahre später, als die Telekom den Aufbau Ost offiziell für abgeschlossen erklärte, waren es 50 Anschlüsse. Das bedeutete nahezu Gleichstand mit dem Westen, wo auf 100 Einwohner 52 Anschlüsse entfielen. Aus dem maroden Telefonnetz des Ostens war schon zur Mitte der 1990er Jahre eines der modernsten Netze der Welt geworden. Mittlerweile hat auch die Mobilfunk-Infrastruktur nachgezogen. Die Breitbandstrategie des Bundes hat eine flächendeckende Versorgung mit Breitbandanschlüssen von mehr als 50 Mbit/s bis Ende 2018 zum Ziel. Gerade in den ländlichen Regionen der neuen Länder herrscht hier noch dringender Handlungsbedarf. 60 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Ausbau der Verkehrsinfrastruktur Auch beim ostdeutschen Straßennetz galt es, einen deutlichen Rückstand aufzuholen. Zu DDR-Zeiten wurden neue Autobahnen nur zwischen Berlin und Hamburg (als Transitverbindung vom Westen finanziert) sowie von Berlin nach Rostock gebaut. Erneuerungen auf den bestehenden Vorkriegs-Autobahnen gab es kaum. In der alten Bundesrepublik wurde hingegen im gleichen Zeitraum das Autobahnnetz von rund 2.200 auf rund 8.800 Kilometer erweitert. Autobahnbaustelle bei Wandersleben in Thüringen 1995. Die Mängel des Verkehrsnetzes wurden unerträglich, als die Zahl der Autos in den neuen Ländern geradezu explodierte. Die Folge war eine deutliche Zunahme der Verkehrsunfälle. Das Bundesverkehrsministerium startete ein Sofortprogramm. Durch Leitplanken und Standstreifen wurden Unfallschwerpunkte beseitigt. Die Verkehrssicherheit in den neuen Ländern verbesserte sich rasch, die Zahl der Verkehrstoten auf ostdeutschen Straßen sank wieder und hat sich mittlerweile an den Westen angeglichen. Im April 1991 beschloss die Bundesregierung 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE), die zum Rückgrat einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern wurden. Die neun Schienen- und sieben Autobahnvorhaben sowie ein Wasserstraßenprojekt hatten ein Gesamtinvestitionsvolumen von rund 40 Milliarden Euro. Sie galten als Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung und für das Zusammenwachsen von Ost und West. Dauerte beispielsweise Ende der 1980er Jahre eine Bahnfahrt von Hannover nach Berlin noch mehr als vier Stunden, beträgt die Reisezeit heute nur noch rund eineinhalb Stunden. 61 KAPITEL 5 Einfahrt zum Tunnel Rennsteig auf der neu gebauten Autobahn 71. Bislang sind neun VDE-Projekte vollständig fertiggestellt. Von den anderen acht Projekten sind bereits viele Streckenabschnitte in Betrieb genommen. Insgesamt 1.890 Kilometer neu- oder ausgebaute Bundesautobahnen sind für den Verkehr freigegeben, weitere 60 Kilometer sind im Bau. Damit sind heute rund 97 Prozent der Straßenvorhaben verwirklicht oder in der Umsetzung. Heute gehört Ostdeutschland mit seinem Verkehrsnetz, mit leistungsfähigen Binnen- und Seehäfen sowie europäischen Logistikzentren und Drehkreuzen namhafter Unternehmen zu den dynamischsten Logistik-Standorten Europas. Schätzungsweise acht Prozent der versicherungspflichtig Beschäftigten sind in diesem Sektor tätig. 62 Wasserstraßenkreuz Magdeburg: Mittellandkanal führt über die Elbe. E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T VERKEHRSPROJEKTE DEUTSCHE EINHEIT/AUTOBAHNEN Quelle: BMVI, Stand: Dezember 2013 63 KAPITEL 5 Aufholprozess weit gediehen Die Ausstattung der Wohnungen mit langlebigen Konsumgütern hat sich dem westdeutschen Niveau längst weitgehend angeglichen. Wirtschaftsexperten sprechen im Hinblick auf die neunziger Jahre von einer „nachholenden Wohlstandsexplosion“ in den neuen Ländern. Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner stieg zwischen 1991 und 2013 von 43,3 Prozent des Westniveaus auf 71,0 Prozent. Das verfügbare Einkommen je Einwohner hat rund 82 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht. Allerdings hat sich die Angleichung in den letzten Jahren verlangsamt. Gründe für das anhaltende West-Ost-Gefälle sind die kleinteilige Wirtschaftsstruktur und der Mangel an Unternehmenszentralen. So hat kein DAX-Konzern seinen Sitz in Ostdeutschland. Viele Firmen unterschiedlicher Größe sind nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Beginn des Kalten Krieges aus der Sowjetischen Besatzungszone oder dem geteilten Berlin in den Westen gegangen. Auch wenn viele dieser Unternehmen heute wieder Betriebe im Osten führen, sind die Zentralen doch im Westen geblieben – und damit auch die meisten gut dotierten Stellen. Daran wird sich nur sehr langfristig etwas ändern. Gleichwohl hat in jüngster Zeit eine beeindruckende Re-Industrialisierung der neuen Bundesländer stattgefunden. Die Bruttowertschöpfung der Industrie hat zwischen 2000 und 2010 im Osten um 42 Prozent zugenommen, im Westen nur um 17 Prozent. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung liegt in Ostdeutschland mittlerweile knapp über dem EUDurchschnitt und weit vor Frankreich, Großbritannien oder auch den USA. Wachstum auf Zukunftsfeldern Die ostdeutsche Wirtschaft musste in der Marktwirtschaft nicht nur die Geschäftsprozesse optimieren und Produkte entwickeln, die deutschlandweit absetzbar waren. Jene Zeit stand auch im Zeichen einer zunehmenden Globalisierung, so dass die Herausforderung darin bestand, international wettbewerbsfähige Produkte und Strukturen zu schaffen. 64 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T ENTWICKLUNG DES BRUTTOINLANDSPRODUKTS IN DEN NEUEN LÄNDERN Quelle: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014, Wirtschaftsdaten S. 4 Die Unternehmen in den neuen Ländern haben diese Herausforderungen angenommen. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, in der Chemieindustrie, im Maschinenbau und insbesondere auf zukunftsorientierten Wirtschaftsfeldern einen Spitzenplatz zu erobern. Das gilt für die Umwelttechnologien wie für die Medizintechnik, Gesundheitswirtschaft, Nanotechnologie oder optische Technologien. Die Unternehmen, die sich in diesen Bereichen engagiert haben, werden sowohl von der Bundesregierung als auch von den Ländern besonders gefördert. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Mikroelektronikforschung durch die Staatsregierung in Sachsen. „Wir sind sehr weit gekommen. Wir haben eine sehr gute Infrastruktur geschaffen. Wir haben kleinere Unternehmen, aber zum Teil auch schon international wettbewerbsfähige kleine Unternehmen. Und man muss eben wissen: Es dauert lange.“ Klaus von Dohnanyi, ehemaliger Hamburger Bürgermeister, sanierte und privatisierte nach der Wiedervereinigung das Schwermaschinenkombinat TAKRAF in Leipzig. 65 KAPITEL 5 Die neuen Länder haben zugleich an Attraktivität für ausländische Investoren gewonnen. Schon die geografische Lage im Herzen Europas macht Ostdeutschland interessant. Aber auch die hohe Qualifikation der ostWissenschaftlerinnen im Satellitentestraum deutschen Facharbeiter und die von Jena-Optronik, 2013. duale Berufsausbildung haben nach den Worten des früheren Chefs der Standortmarketinggesellschaft Germany Trade and Invest, Michael Pfeiffer, viele Firmen etwa aus Asien und Amerika dazu gebracht, sich in den neuen Ländern anzusiedeln. Ein weiteres Plus sei die inzwischen gute Vernetzung von Unternehmen mit Universitäten und Forschungseinrichtungen. Die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der neuen Länder zeigt sich auch an der Zunahme des Exports. Er wuchs bis zum Ausbruch der internationalen Finanzmarktkrise schneller als im alten Bundesgebiet. So nahmen die Ausfuhren im Osten zwischen 2002 und 2008 um 127 Prozent zu, im Westen dagegen nur um 60 Prozent. Auch danach stieg die Exportquote der ostdeutschen Industrie. Sie liegt mit 36 Prozent allerdings immer noch deutlich hinter der westdeutschen von gut 49 Prozent (Stand 2013). Mitarbeiterin im Kaltwalzwerk von ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt, 2013. 66 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Beliebte Reiseziele im Osten Der Tourismus gehörte zu den Wirtschaftszweigen, die nach dem Mauerfall zunächst einen besonders heftigen Einbruch verkraften mussten. Den Ostdeutschen, die bisher zwischen Rügen und Erzgebirge ihren Urlaub verbrachten, stand plötzlich die Welt offen. Westliche Touristen dagegen wurden vom meist niedrigen Standard der Hotellerie und Gastronomie abgeschreckt. Touristische und gastronomische Fachkräfte zogen in großer Zahl in den Westen, insbesondere nach Bayern, aber auch nach Österreich und in die Schweiz, wo sie sehr gefragt waren. Viele von ihnen sind mittlerweile zurückgekehrt, denn der Fremdenverkehr in den neuen Ländern hat einen beeindruckenden Neustart hingelegt. Schon nach wenigen Jahren zog Mecklenburg-Vorpommern mehr Sommerurlauber an als jedes andere deutsche Bundesland. Mit seiner Ostseeküste, der Mecklenburger Seenplatte und den alten Hansestädten, die in neuer Pracht erstrahlen, ist das Land im Nordosten bei West- wie Ostdeutschen ein beliebtes Urlaubsziel. Aber auch Wandern und Wintersport im Thüringer Wald, im Erzgebirge oder im Harz sowie Wassersport im Spreewald erfreuen sich neuer Beliebtheit. Und für Städtereisende gehören Berlin/Potsdam, Dresden und Weimar zu den gefragtesten Zielen. Wassertouristen im Naturpark Uckermärkische Seen bei Lychen, 2013. 67 KAPITEL 5 Weimar, Goethes Gartenhaus. Das ostdeutsche Konzept für den Landtourismus hat sogar bundesweit Vorbildcharakter, obwohl „Ferien auf dem Bauernhof“ in der DDR völlig unbekannt waren. Inzwischen bieten zahlreiche Betriebe Urlaub auf dem Land an. Die Palette reicht von Bio-Höfen, Kneipp-Ferienhöfen, Obst-, Spargel-, Winzer- und Ziegenhöfen bis hin zu Reiterferien, Kochkursen und Kräuter-Akademien. Sogar Urlaub im Planwagen wird geboten. Damit sind die neuen Länder beim Landurlaub nach Einschätzung von Tourismusexperten deutlich vielfältiger als die Konkurrenz im Westen. 68 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Saaleradweg, im Hintergrund die Dornburger Schlösser. Landwirtschaft behauptet sich Zu den Erfolgsgeschichten des Einigungsprozesses gehört die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft. Ihre Produktivität ist seit der Wiedervereinigung ständig gestiegen. So nahm die Durchschnittsernte bei Weizen von rund 5.200 Kilo pro Hektar im Jahr 1990 auf über 7.600 Kilo zu, die Milchleistung der Kühe verdoppelte sich sogar. Allerdings sank die Zahl der Beschäftigten erheblich. 1990 waren in der DDRLandwirtschaft rund 850.000 Menschen tätig, bereits im April 1991 war fast eine halbe Million ausgeschieden. 2012 gab es in den land- und forstwirtschaftlichen Betrieben der neuen Länder nicht einmal mehr 130.000 Beschäftigte. Die nach wie vor großen zusammenhängenden Flächen bieten für die Landwirtschaftsbetriebe in den neuen Ländern erhebliche Kostenvorteile. So können die Betriebe leistungsstarke Erntemaschinen nutzen und benötigen weniger Arbeitskräfte. Damit haben die Ostdeutschen auch auf dem zukunftsträchtigen Feld der nachwachsenden Rohstoffe die Nase vorn. 69 KAPITEL 5 Landwirtschaft in Egeln, Sachsen-Anhalt, 2013. Ebenso spitze sind die neuen Länder beim Bio-Anbau. Gleich hinter dem wesentlich größeren Bayern mit 191.000 Hektar ökologisch bewirtschafteter Fläche folgen Brandenburg mit 140.000 und Mecklenburg-Vorpommern mit 117.000 Hektarn. Beide liegen damit vor Baden-Württemberg mit 98.000 und Niedersachsen mit 74.000 Hektarn. Als wichtigste Ursache für die Aufwärtsentwicklung der Landwirtschaft in den neuen Ländern gilt, dass die Landwirte wieder Eigenverantwortung tragen. Deshalb hat bereits die Volkskammer im Juni 1990 das erste sogenannte Landwirtschaftsanpassungsgesetz verabschiedet. Es schuf die Rechtsgrundlage zur Wiederherstellung und Gewährleistung des Privateigentums. Mit der Novellierung des Gesetzes rund ein Jahr später durch den Bundestag konnten dann die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als Unternehmen fortbestehen. 70 E R f O LG S S TO Ry AU f B AU O S T Neben den LPG gab es in der DDR umfangreiche „volkseigene“, das heißt staatliche Ländereien. Deren Privatisierung ist weit vorangeschritten. Bis Ende 2012 wurden 745.000 Hektar landwirtschaftliche und 554.000 Hektar forstwirtschaftliche Flächen veräußert. Nur 268.000 Hektar land- und 49.000 Hektar forstwirtschaftliche Flächen verblieben bis 2013 im Bestand der Bodenverwertungs- und -verwaltungs-GmbH. Erfolge am Arbeitsmarkt Der Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt nieder. Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Jahren zwar in ganz Deutschland gesunken, im Osten aber besonders stark. Dort waren 2006 im Jahresdurchschnitt noch fast 1,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, 2009 nur noch 1,1 Millionen und 2013 lediglich 870.000. Erstmals konnte 2013 ein ostdeutsches Flächenland eine niedrigere Arbeitslosenquote melden (Thüringen mit 8,2 Prozent) als ein westdeutsches (Nordrhein-Westfalen mit 8,3 Prozent). Heute liegt die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern auf dem niedrigsten Niveau seit der Wiedervereinigung. Im Schnitt ist sie aber im Osten mit rund 10,3 Prozent noch immer deutlich höher als im Westen mit 6,0 Prozent (Stand 2014). 71 KAPITEL 6 Bürgerhäuser in der Altstadt von Naumburg, Sachsen-Anhalt. 72 S TA DT U m B AU U N D D E N K m A L S c h U T Z Kapitel 6 Stadtumbau und Denkmalschutz Oberste Priorität hatte in der DDR das ehrgeizige Neubauprogramm Erich Honeckers. Überall schossen Betonbauten mit vorgefertigten Bauelementen, sogenannte Plattenbauten, aus dem Boden. Diese Bauweise, die im Westen der 1960er und 1970er Jahre bei Großsiedlungen ähnlich war, zog in der DDR alle Kapazitäten an Personal und Material auf sich. Die Devise lautete: „Jedem eine eigene Wohnung“. Allerdings verpflichtete die „Wohnraumlenkungs verordnung“ die Wohnungsämter, die Bürger zu bevorzugen, „die sich durch herausragende Leistungen bei der Stärkung, Festigung sowie zum Schutze der … Republik“ verdient gemacht hatten. Für die Sanierung der Altstädte fehlte zum einen Geld; die – aus politischen Gründen – extrem niedrig gehaltenen Mieten deckten nicht die Kosten, und es mangelte an Material. Am Ende waren ganze Dörfer und Stadtviertel dem Verfall preisgegeben. Wie katastrophal der Zustand der Gebäude wirklich war, dokumentierte eine Reportage im DDR-Fernsehen unter dem Titel „Ist Leipzig noch zu retten?“. In dem Beitrag, der am 6. November 1989 auf dem Programmplatz der abgesetzten Propaganda-Sendung „Der Schwarze Kanal“ lief, wurde zum ersten Mal das Thema Verfall der Altbausubstanz am Beispiel der Messestadt von den DDRMedien offen angesprochen. Denn Leipzig hatte trotz enormer Kriegsschäden den wohl größten Bestand an Gründerzeit-Häusern in Deutschland. Doch anstatt die Gebäude zu sanieren und zu erhalten, verfielen sie immer mehr. „Bei vielen Gebäuden glaubte ich nicht, dass sie jemals neu entstehen könnten“, sagte der Leipziger Fotograf Armin Kühne, der den Verfall Leipzigs mit der Kamera festhielt. „Die Dächer waren kaputt, an den Fassaden war kaum noch Putz, und in den Wohnungen breitete sich Schimmel aus. Ich dachte eher, ich mache noch ein Foto, bevor die Abrissbirne kommt.“ 73 KAPITEL 6 Die Universitätsbibliothek (Albertina) in Leipzig – Anfang der 1990er Jahre und heute. 74 S TA DT U m B AU U N D D E N K m A L S c h U T Z Rettung in letzter Minute Umso mehr bewundert Fotograf Armin Kühne heute den Mut der Bauherren und Architekten, „aus dieser Substanz wieder bewohnbare und nutzbare Gebäude geschaffen zu haben, in denen sich die Menschen wohlfühlen“. Solche „Schönheitsoperationen“ haben in den 25 Jahren Deutscher Einheit in fast allen Städten und Dörfern Ostdeutschlands stattgefunden. Und es geht weiter, denn der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Zwischen Ostsee und Erzgebirge präsentieren sich inzwischen Kirchen und Klöster, Burgen und Schlösser, ja ganze Stadtviertel und Dorfstraßen in neuer Pracht. Sie sind buchstäblich in letzter Minute gerettet worden. Anders als in den meisten Städten Westdeutschlands, wo in den 1960er und frühen 1970er Jahren manches verschandelt oder abgerissen wurde, was den Krieg überlebt hatte, war in Ostdeutschland von der historischen Bausubstanz noch sehr viel erhalten. Insofern hatte die Mangelwirtschaft sogar ihr Gutes. Inzwischen sind selbst Wohnviertel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg behutsam restauriert und in alter Schönheit wiedererstanden. Alte Häuser aus Renaissance, Barock und Klassizismus erstrahlen heute in neuem Glanz. Die Michaelisstraße im Erfurter Andreasviertel, das 1989 kurz vor dem Abriss stand. 75 KAPITEL 6 Wirksamer Denkmalschutz Zum Beispiel in Naumburg in Sachsen-Anhalt: Die Stadt ist voll von historisch wertvollen Gebäuden, die nach den Plänen der DDR flächendeckend abgerissen werden sollten. Inzwischen sind 65 Prozent der Häuser saniert – dank des Bund-Länder-Programms „Städtebaulicher Denkmalschutz“. Rund 90 Millionen Euro wurden seit der Wiedervereinigung in das einzigartige baukulturelle Erbe Naumburgs investiert. Weitere 30 Projekte werden noch umgesetzt. Die Stadt atmet Geschichte, steht für Lebensqualität und hat ein einzigartiges, attraktives Image. Im Rahmen des Denkmalschutz-Programms, das 1991 in den neuen Ländern eingeführt und 2009 auch auf die alten Länder übertragen wurde, hat der Bund allein für Ostdeutschland bis Ende 2013 rund 2,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Davon ist beispielsweise auch ein Teil in die Restaurierung der Altstadt von Güstrow geflossen. Der Stadtkern gilt als einer der schönsten in Mecklenburg-Vorpommern und ist inzwischen zu einem beliebten Ziel für Touristen geworden. Über 90 Millionen Euro haben Bund, Land und Stadt dort bereits investiert. Die Stadt rechnet damit, dass die Sanierung noch bis 2020, also insgesamt drei Jahrzehnte, andauern wird. Deutschlandweit bekannt wurde Güstrow 1981, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt nach einem Gespräch mit DDR-Staatschef Erich Honecker das Atelier des berühmten Künstlers Ernst Barlach (1870–1938) besuchte. Eine Begegnung des Kanzlers mit der Güstrower Bevölkerung wollte das SED-Regime verhindern, also ersetzte es die Einwohner weitestgehend durch Stasi-Mitarbeiter. Eine makabre Inszenierung. 76 S TA DT U m B AU U N D D E N K m A L S c h U T Z Stadtumbau Neben dem Erhalt der Bausubstanz ist für die meisten ostdeutschen Städte der Bevölkerungsverlust eine große Herausforderung. Während die Einwohnerzahl im früheren Bundesgebiet (ohne Berlin) zwischen 1990 und 2012 um 6,7 Prozent gestiegen ist, ist sie in Ostdeutschland um 13,5 Prozent gesunken. Immerhin ist die Abwanderung 2012 fast zum Stillstand gekommen, es zogen also nahezu genauso viele Menschen in den Osten wie weggingen. Auch liegt die Geburtenrate wieder, wie vor dem Mauerfall, über Westniveau. Doch diese Entwicklung kann bisher nicht ausgleichen, dass es mittlerweile sehr viel weniger junge Menschen gibt und im Verhältnis dazu sehr viele alte. Deshalb ist in den neuen Bundesländern bis 2030 mit einem weiteren Bevölkerungsrückgang um 14 Prozent zu rechnen. Bemerkbar machte sich das vor allem durch den wachsenden Wohnungsleerstand in den Plattenbaugebieten. In Güstrow beispielsweise waren zeitweise bis zu 15 Prozent solcher Wohnungen unbewohnt. Rund 1.000 von ihnen wurden abgerissen, die anderen saniert. Der Leerstand sank auf drei bis vier Prozent. Ein Beispiel für gelungenen Stadtumbau: Die „Ahrensfelder Terrassen“ in Berlin-Marzahn. 77 KAPITEL 6 Die Neustadt von Hoyerswerda, Sachsen. Zu verdanken hatte Güstrow diese Entwicklung auch dem Förderprogramm „Stadtumbau Ost“. Im Jahr 2000 standen rund eine Millionen Wohnungen in den neuen Ländern leer, weshalb die Bundesregierung 2002 dieses Programm startete. Bis heute ist es eines der wichtigsten Instrumente der Stadtentwicklung in den neuen Ländern. Ziel des Programmes ist die Aufwertung der Innenstädte durch den Abriss leerstehender Wohnungen. Beides greift ineinander und ist daher als Doppelstrategie angelegt. Auch die Zersiedelung des Umlandes soll so gebremst werden. Gemeinsam haben Bund, Länder und Gemeinden von 2002 bis 2013 nahezu drei Milliarden Euro für den „Stadtumbau Ost“ bereitgestellt, dazu hat der Bund knapp die Hälfte beigesteuert. 78 S TA DT U m B AU U N D D E N K m A L S c h U T Z Gefördert wurden beispielsweise über 450 Gemeinden mit demografisch bedingten Strukturproblemen. Darunter sind drei viertel aller ostdeutschen Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern und die meisten Großstädte. Das bedeutet: Etwa jeder zweite Einwohner in den neuen Ländern lebt in einer Stadtumbau-Gemeinde. Mittlerweile sind mehr als 300.000 überzählige Wohnungen abgerissen. Auch das zweite Ziel – die Aufwertung der Städte – ist schon in vielen Fällen erreicht. Die Lebensqualität hat sich in zahlreichen Stadtquartieren spürbar verbessert. Aufgrund der positiven Ergebnisse des Programmes wurde die Förderung des Stadtumbaus bereits 2004 auf die alten Länder ausgedehnt. Sie profitieren nun von den Erfahrungen der neuen Länder. 79 KAPITEL 7 Residenzschloss in Dresden. 80 R E I c h E K U LT U R L A N D S c h A f T E R h A LT E N Kapitel 7 Reiche Kulturlandschaft erhalten Seit Anfang der 1970er Jahre durfte die DDR-Hymne nicht mehr gesungen werden, sondern nur instrumental erklingen. Denn im Text hieß es: „Deutschland, einig Vaterland“. Das passte nicht mehr zur Abgrenzungspolitik des SEDRegimes. Auf die Orientierung der Menschen in Richtung Westen hatte das jedoch ebenso wenig Einfluss wie Mauer und Stacheldraht, Propaganda und die ständigen Versuche, die Menschen vom „Westfernsehen“ abzubringen. Radio und Fernsehen, aber auch die Begegnungen durch mehr Westreisen und Westbesuche in der späteren DDR ließen das unsichtbare Band zwischen Ost und West nie reißen. Dabei ging insbesondere von der westlichen Jugendkultur eine große Anziehungskraft aus. Junge Leute in der DDR begeisterten sich genauso für Blues, Jazz und Rock wie Gleichaltrige in der Bundesrepublik. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre ließ das SED-Regime sogar DDReigene Jeans produzieren, um dem wachsenden Bedürfnis nach dieser Hose zu entsprechen. Doch blieben die Originale stets die Objekte der Begierde. Die Anziehungskraft des Westens war sicherlich ein wichtiger Faktor, warum es in der Endphase der DDR praktisch keinen Widerstand in der Bevölkerung gegen den Untergang des SED-Regimes gab. Der Westen dagegen bekam lange Zeit wenig davon mit, welche Musikszene sich in der DDR entwickelte. Bis in die kleinsten Städte entstand eine Vielzahl von Bands, die häufig nur in kirchlichen Räumen auftreten konnten. Benefizkonzert in der Berliner Erlöserkirche 1988. 81 KAPITEL 7 Die SED begegnete dieser Szene mit einer Mischung aus Misstrauen und Förderung. Das Misstrauen gegen die „kapitalistischen“ angelsächsischen Einflüsse führte dazu, dass die Bands bis in die 1960er Jahre nicht auf Englisch singen durften. Deshalb entstand, lange vor der „Neuen Deutschen Welle“ im Westen, eine vielfältige deutschsprachige Rock- und Pop-Szene. Um westliche Einflüsse zurückzudrängen und die Jugendlichen unter ihrer Kontrolle zu halten, versuchte die SED immer wieder, Trends aufzugreifen und ihnen „sozialistische“ Alternativen entgegenzusetzen. Das berühmteste Beispiel ist der Tanz „Lipsi“, das Gegenmodell zum Rock ’n’ Roll. Mit der „FDJ-Singebewegung“ wollte das Regime eine Antwort auf die westliche Folk-Bewegung geben. Doch die Jugendlichen ließen sich durch die staatlich gelenkte Kultur nicht gewinnen. Wie stark das Denken und Fühlen vom „sozialistischen Bewusstsein“ abwich, zeigte sich 1988 – beim Auftritt Rio Reisers in Ost-Berlin, als Tausende „Dieses Land ist es nicht“ mitsangen, und beim Bruce SpringsteenKonzert, bei dem der Song „Born in the USA“ ein hunderttausendfaches Echo fand. Von der Zensur zum freien Schaffen Auch jenseits der Jugendkultur gab es in der DDR eine vielfältige Kunst- und Kulturlandschaft. Sie konnte sich aber immer nur in dem Rahmen entfalten, den die argwöhnische Zensur ihr ließ. Das galt für die bildenden Künste, für die Musik und natürlich in besonderem Maße für Literatur, Theater und Film. Manche der Autoren und Regisseure waren tatsächlich überzeugte Kommunisten, andere nur angepasste Staatsbürger. Viele aber entwickelten großes Geschick darin, bis an die Grenzen des gerade noch Möglichen zu gehen. Und das Publikum war geübt darin, die zwischen den Zeilen versteckte Kritik zu verstehen. Nicht wenige Kulturschaffende zahlten für ihren Freiheitswillen aber auch mit Verfolgung, erzwungenen Ausreisen oder Ausbürgerung. Nach der Wiedervereinigung trugen Film und Fernsehen zu einem besseren gegenseitigen Verständnis bei. Das im Januar 1991 angelaufene Roadmovie „Go, Trabi, Go“, in dem zahlreiche ost- und westdeutsche Kabarett-Größen auftraten, nahm auf zwerchfellerschütternde Weise die unterschiedlichen 82 R E I c h E K U LT U R L A N D S c h A f T E R h A LT E N Mentalitäten in Ost und West auf die Schippe. Später boten Filme wie die Tragikomödie „Good bye, Lenin!“ und das Oscar-gekrönte Drama „Das Leben der Anderen“ dem westlichen Publikum Einblicke in die Schwierigkeiten, die das Leben in der DDR und dann auch die Veränderungen 1989/90 für die Menschen mit sich gebracht hatten. Doch die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung waren für die Kulturschaffenden im Osten auch eine große Herausforderung. Einerseits fielen die alten Beschränkungen weg, andererseits musste man auch damit zurechtkommen, dass plötzlich (fast) alles erlaubt war. Teile der Literaturszene taten sich besonders schwer mit den veränderten politischen Verhältnissen. Erst 1998 vereinigten sich die P.E.N.-Zentren Ost- und Westdeutschlands. Im Allgemeinen aber fand die Kulturgemeinde sehr schnell zusammen. Vor allem in der bildenden Kunst und der Musik spielten die Kategorien Ost und West schon sehr bald keine Rolle mehr. Die Förderung der Kulturlandschaft Eine große Herausforderung war der Erhalt der Kultureinrichtungen, die es in der DDR in ansehnlicher Zahl gegeben hatte. Mit dem Engagement der Bürger und mit Unterstützung der Bundesregierung sowie westdeutscher Partnerländer und -kommunen gelang es, die Kulturlandschaft in den neuen Ländern nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln. Für den Bund stellt bis heute der Erhalt historischer Kulturdenkmäler, die es in den neuen Ländern in ungewöhnlicher Dichte gibt, einen Schwerpunkt seiner Förderung dar. Etliche davon sind sogar als UNESCO-Welterbe anerkannt. Ein großer Teil dieser Gebäude und Anlagen war zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in einem beklagenswerten Zustand. Sie wurden mit großem Aufwand hergerichtet und strahlen heute wieder in neuem, altem Glanz. Damit es künftig so bleibt, stellt die Bundesregierung auch weiterhin Mittel zur Verfügung. 83 KAPITEL 7 Zu den von der Kulturstaatsministerin geförderten Einrichtungen gehören die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin/Potsdam, die Klassik Stiftung Weimar, die Stiftung Bauhaus Dessau, die Franckeschen Stiftungen in Halle, die Stiftung Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau, die Stiftung Deutsches Meeresmuseum in Stralsund, die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Wittenberg, Eisleben), die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz („Gartenreich“) und die Wartburg-Stiftung Eisenach. Für die Erhaltung und Modernisierung dieser „Leuchttürme“ setzte die Bundesregierung 2013 rund 35 Millionen Euro ein. Kulturstiftung des Bundes im Ensemble der Franckeschen Stiftungen in Halle. 84 R E I c h E K U LT U R L A N D S c h A f T E R h A LT E N Mehr als 67 Millionen Euro gingen von 2004 bis 2014 in das Programm „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“. Von ihm profitierten in der Vergangenheit beispielsweise das Bachhaus in Eisenach, die Staatlichen Museen in Schwerin, das Barocke Universum Gotha und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Gefördert wurde zuletzt auch der Neubau des Kunstmuseums Ahrenshoop in Mecklenburg-Vorpommern, die Erweiterung des Kleist-Museums Frankfurt/Oder und die Sanierung des Klosterstifts Neuzelle in Brandenburg – um nur einige Beispiele zu nennen. Barockes Universum, Schloss Friedenstein in Gotha. Kultur belebt Aber nicht nur die großen, ins Auge stechenden Kulturschätze sind dem Bund wichtig. Gerade für die Menschen abseits der großen Zentren sind kulturelle Angebote ein wesentlicher Beitrag zur Lebensqualität. Das gilt umso mehr, wenn sie selbst daran mitwirken. Die Bereitschaft dazu ist gerade in kleineren Ortschaften in bewundernswertem Maße vorhanden. Seit 2002 fördert die Kulturstiftung des Bundes solche Aktivitäten mit dem „Fonds zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern“. Dieser Fonds unterstützt insbesondere Initiativen in strukturschwachen Gebieten, die „in besonderem Maße zur Aktivierung der Bevölkerung in ihrem lokalen Umfeld beitragen und ihre Region kulturell beleben“, wie die Kulturstiftung schreibt. Dabei werden „die Projektträger so gewählt, dass ein breites Spektrum kultureller Handlungsfelder (Musik, Theater, Ausstellungen, Jugendkultur etc.) möglichst gleichmäßig verteilt über alle neuen Bundesländer gefördert wird“. 85 KAPITEL 7 Kunst der Galerie Neue Meister und der Skulpturensammlung im Albertinum können junge Besucher in Dresden hautnah erleben. Mehr als 160 Einrichtungen und Projekte hat die Kulturstiftung über diesen Fonds bereits gefördert. Eines davon ist das „Kulturprojekt Stadtinsel Havelberg e. V.“ im nördlichen Sachsen-Anhalt. Die Mitglieder des Vereins wollen durch umfangreiche Kulturangebote die Havelberger Altstadtinsel beleben, die akut von Leerstand und Verfall bedroht ist. Dazu werden leerstehende Ladenlokale kulturell genutzt und günstige Wohn- und Arbeitsbedingungen für Kulturschaffende eingerichtet. Ein anderes Beispiel ist der „Kulturverein schwarzwurzel e. V.“ in Steinach im Thüringer Wald. Er organisiert Ausstellungs- und Theaterprojekte rund um die Themen Heimat, Regionalität, Arbeit und Identität. Dabei geht es vor allem darum, Menschen aus der Region zum Mitwirken zu bewegen. Das Reformationsjubiläum Ein besonderer kultureller Höhepunkt in Deutschland wird das Reformationsjahr 2017, in dem sich der Thesenanschlag Martin Luthers zum 500. Mal jährt. Da Luther vor allem im heutigen Ostdeutschland gewirkt hat (Wittenberg, Eisleben, Wartburg/Eisenach), wird dort auch ein Schwerpunkt der Veranstaltungen liegen. Zusammen mit Kirchen, Ländern und Gemeinden beteiligt sich die Bundesregierung an der Vorbereitung und Gestaltung des Jubiläums. 86 R E I c h E K U LT U R L A N D S c h A f T E R h A LT E N Denkmal von Martin Luther in Wittenberg. Nach Überzeugung der Bundesregierung stellte die Reformation zwar in erster Linie ein religiöses Ereignis dar, ist aber weit darüber hinaus auch heute noch von prägender geistesgeschichtlicher, gesellschaftspolitischer und kultureller Bedeutung. Sie gehört zu den geistigen Wurzeln unseres Gemeinwesens. Das Jubiläum und die vorausgehende Lutherdekade ermöglichen eine Verständigung über grundlegende Werte unserer Gesellschaft wie Redeund Gedankenfreiheit sowie religiöse Toleranz. Die Auseinandersetzung auch mit den schwierigen Seiten Luthers und der Reformation will die Bundesregierung dabei nicht ausklammern. Die Bundesregierung begleitet das Jubiläum kulturpolitisch, indem sie Veranstaltungen, die im Bundesinteresse liegen, wie Symposien, Konferenzen, Ausstellungen, Konzerte und Maßnahmen der kulturellen Bildung, unterstützt. Zudem fördert sie das touristische Marketing im In- und Ausland. Möglichst viele Gäste sollen zum Reformationsjahr in die neuen Länder kommen und sehen, wie reich an Kultur diese Landschaften sind. 87 KAPITEL 8 Auf dem Beutenberg-Campus in Jena arbeiten zehn Forschungsinstitute. Im angegliederten Technologie- und Innovationspark sind 50 Firmen zu finden. 88 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D Kapitel 8 Wissen schafft Wohlstand Es soll sie immer noch geben, die westdeutschen Studienanfänger, die nur mit Vorbehalten in die neuen Länder kommen. Doch die Erfahrung lehrt: Wenn sie erst mal da sind, wollen sie kaum noch weg. Die Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen zwischen Rostock und Ilmenau sind nicht nur viel moderner, auch die Betreuung ist besser, und die Hörsäle sind nicht heillos überfüllt. Das heißt: In den neuen Ländern sind die Studienbedingungen deutlich besser als in den alten. Diese Einschätzung belegen Untersuchungen des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), das die Bertelsmann-Stiftung und die Hochschulrektorenkonferenz finanzieren. Das Ergebnis einer Umfrage unter 75.000 Studierenden ist bemerkenswert: Der Osten liegt im Vergleich zum Westen fast durchweg an der Spitze. Bewertet wurden der Zustand der Räume, der vorhandene Platz pro Student, die Qualität der Bibliothek und die technische Ausstattung. Als Spätfolge des Geburtenrückgangs und der Abwanderung nach dem Mauerfall sind die ostdeutschen Hochschulen von Jahr zu Jahr mehr auf Studienanfänger aus dem alten Bundesgebiet angewiesen. Bund und Länder tragen dieser Sondersituation im Hochschulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätssicherung der Studienplätze im Osten fördern und damit zugleich die westdeutschen Flächenländer entlasten. Allein der Bund stellt dafür von 2011 bis 2015 rund 950 Millio- Hörsaal in der Universität Leipzig. 89 KAPITEL 8 nen Euro bereit. Voraussetzung ist, dass die Zahl der Studienanfänger konstant bleibt. Deshalb rühren die Ost-Hochschulen in der Hochschulinitiative Neue Bundesländer, gemeinsam mit dem Bund und den Ländern, kräftig die Werbetrommel – im Westen und im Ausland. Unterstützung für Studienanfänger In den ersten Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung hat die Studentenzahl an den ostdeutschen Hochschulen sogar kräftig zugenommen – und das, obwohl mehr ostdeutsche Studienanfänger in den Westen gingen als umgekehrt. Während im Wintersemester 1990/91 nur 106.960 Studierende an Hochschulen in den neuen Ländern (ohne Berlin) immatrikuliert waren, gab es 2000/01 bereits 223.156 und 2013/14 sogar 310.895 Studenten. Denn wesentlich mehr Schüler eines Jahrgangs konnten nach der Wiedervereinigung ihr Abitur machen und anschließend ein Studium aufnehmen. Campus der Friedrich-Schiller-Universität am Ernst-Abbe-Platz in Jena. 90 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D STUDIERENDE IN DEN NEUEN LÄNDERN – WINTERSEMESTER 1990 / 91 BIS WINTERSEMESTER 2013/14 1990/01 2000/01 2008/09 2013/14 106.960 223.156 307.902 310.895 Brandenburg 5.415 33.015 50.941 50.272 MecklenburgVorpommern 13.160 27.646 39.562 39.274 Sachsen 53.813 84.516 109.761 113.394 Sachsen-Anhalt 20.861 38.227 54.078 55.954 Thüringen 13.711 39.752 53.587 52.001 Neue Länder insgesamt (ohne Berlin) Quelle: Statistisches Bundesamt Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen war die Vergabe von Studienplätzen nicht mehr – wie zu DDR-Zeiten – von staatlicher Bedarfsplanung und leistungsfremden Kriterien wie der politischen Einstellung abhängig. Zum anderen ist bei vielen die Überzeugung gewachsen, dass ein Studium die beste Grundlage für berufliche und materielle Sicherheit bietet. Auffällig war auch die Änderung der Studienfächer: Während die Zahl der Studenten in den Ingenieurwissenschaften abgenommen hat, gab es in den Sprachund Kulturwissenschaften sowie den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften größeren Zulauf. Neue Strukturen im Bildungssystem Die positive Entwicklung ist auch darauf zurückzuführen, dass die Umstrukturierung des Bildungssystems in Ostdeutschland weitgehend reibungslos verlief. Gleich die erste frei gewählte Volkskammer hat zahlreiche Gesetze und Verordnungen des DDR-Bildungssystems abgeschafft. Da mit der Vereinigung der Bildungsbereich unter die Hoheit der neu gegründeten Länder fiel, haben alle fünf das einheitliche Bildungssystem der DDR durch ein 91 KAPITEL 8 gegliedertes ersetzt. Am Abitur nach zwölf Schuljahren haben die meisten neuen Länder festgehalten. Auch in der Berufsausbildung teilen sich, wie in den alten Ländern, Staat und Wirtschaft die Verantwortung. Alle Berufsschulen sind seit der Wiedervereinigung in kommunale Trägerschaft überführt. Jugendlichen eine Chance beim Einstieg in das Berufsleben zu geben, war Sinn und Zweck des Ausbildungsplatzprogramms Ost. Der Bund und die neuen Länder haben es von 1996 bis 2013 mit insgesamt 2,55 Milliarden Euro finanziert. Es hat einen erheblichen Beitrag zur Entlastung des ostdeutschen Lehrstellenmarktes geleistet. Rund 188.000 zusätzliche Ausbildungsplätze ließen sich so in den neuen Ländern für bislang unvermittelte Jugendliche bereitstellen. Da sich die Ausbildungssituation im Osten wegen der demografischen Entwicklung und der sinkenden Bewerberzahlen entspannt hat, ist das Programm inzwischen ausgelaufen. In vielen Berufen sind mittlerweile nicht die Ausbildungsplätze knapp, sondern die Lehrlinge. Auch an den Hochschulen hat sich vieles verändert. In der DDR waren sie hauptsächlich für die Lehre zuständig, forschen konnten sie nur am Rande. Mit der Wiedervereinigung sind die Hochschulen in die Hoheit der Länder übergegangen, ihre Strukturen haben sich den westdeutschen angepasst. Dennoch ist die Rolle der Hochschulen eine etwas andere: Wegen der fehlenden Großunternehmen gehören die 24 staatlichen Universitäten und die 53 staatlichen Fachhochschulen häufig nicht nur zu den wichtigsten Arbeitgebern in den Regionen, sie sind gleichzeitig ein wichtiger Innovationsmotor. 92 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D Neue Forschungslandschaft Große Veränderungen gab es nach der Wiedervereinigung in Wissenschaft und Forschung. Die meisten ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen, die der Wissenschaftsrat 1991 positiv bewertet hat, sind heute in eine der ursprünglich westdeutschen Forschungsgemeinschaften integriert. Wissenschafts- und Forschungsstandort Berlin-Adlershof. FORSCHUNGSEINRICHTUNGEN IN DEN NEUEN LÄNDERN* Leibnizgemeinschaft Berlin Max-PlanckGesellschaft FraunhoferGesellschaft HelmholtzGemeinschaft 12 5 4 2 Brandenburg 9 3 2 1 MecklenburgVorpommern 5 2 0 0 Sachsen 6 6 10 2 Sachsen-Anhalt 5 3 2 0 Thüringen 3 3 3 0 40 22 21 5 Summe * Nur Institute und Einrichtungen ohne Nebenstellen, Projektgruppen etc., Stand Anfang 2014 93 KAPITEL 8 So gibt es allein im Osten Deutschlands 40 Leibniz-Einrichtungen. Sie werden zur einen Hälfte vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beziehungsweise acht weiteren Bundesressorts, zur anderen Hälfte von dem jeweiligen Sitzland sowie der gesamten Ländergemeinschaft finanziert. Zu den Glanzlichtern gehören das Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, das den Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland herausgibt, das Forscherteam zur Identifizierung des SARS-Coronavirus am Berliner Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Zur Helmholtz-Gemeinschaft gehört das GeoForschungsZentrum Potsdam, das durch die Entwicklung eines Tsunami-Frühwarnsystems weltweit bekannt geworden ist. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig erforscht Ursachen und Folgen von Umweltveränderungen und erarbeitet Handlungskonzepte für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Inzwischen beschäftigt das UFZ 1.100 Mitarbeiter, davon 145 am Standort Halle Am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (Leipzig) arbeiten Wissenschaftler unter anderem an einer dreidimensionalen Darstellung von Atmosphärendaten. 94 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D und 90 in Magdeburg. 2011 ist das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf mit den Forschungsschwerpunkten Energie- und Ressourceneffizienz sowie Krebsforschung neu in die Helmholtz-Gemeinschaft aufgenommen worden. Erfolgreich haben sich auch die Einrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in den neuen Ländern entwickelt, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung ins Leben gerufen wurden. Heute hat die MPG mit 22 Instituten und Forschungsstellen eine Dichte wie im Westen erreicht. Der hohe Anteil an ausländischen Direktoren (42 Prozent) und wissenschaftlichen Mitarbeitern (30 Prozent) in den Max-Planck-Instituten unterstreicht deren hohe Attraktivität – auch international. Das Großprojekt „Wendelstein 7X“ des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Greifswald ist – zusammen mit einem japanischen – der weltgrößte Fusionsreaktor des Stellarator-Typs. Es liefert wichtige Forschungsergebnisse für den Fusionsreaktor ITER, der unter internationaler Beteiligung in Frankreich entsteht. Das Bundesforschungsministerium plant, diese und andere Max-Planck-Einrichtungen in den neuen Ländern 2014 mit 169 Millionen Euro zu unterstützen. Erfolgreich in der ostdeutschen Forschungslandschaft ist auch die Fraunhofer-Gesellschaft, die dort 21 Einrichtungen mit etwa 6.000 Mitarbeitern unterhält. Der Deutsche Zukunftspreis beispielsweise wurde in der jüngsten Vergangenheit (2011 und 2013) an Forscherteams verliehen, in denen ostdeutsche Fraunhofer-Institute mitarbeiteten. Besonders für Industrie und Hochschulen sind die Fraunhofer-Einrichtungen wichtige Forschungspartner. An den Standorten Halle und Potsdam existieren Forschungsnetzwerke, in denen Fraunhofer-Institute mit einer Universität und Max-Planck-Instituten zusammenarbeiten. Das Bundesforschungsministerium hat die Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft in den neuen Bundesländern 2013 mit rund 138 Millionen Euro gefördert. 95 KAPITEL 8 Halle an der Saale ist seit 1878 Sitz der deutschen Akademie der Naturforscher Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam. Leopoldina. Sie ist die älteste medizinisch-naturwissenschaftliche Akademie der Welt. Im Februar 2008 wurde sie zur Nationalen Akademie der Wissenschaften ernannt, die in internationalen Gremien die deutschen Wissenschaftler vertritt. Schirmherr der Leopoldina ist der Bundespräsident. Die Einrichtung wird zu 80 Prozent vom Bund und zu 20 Prozent vom Land Sachsen-Anhalt finanziert. 96 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D Die Exzellenzinitiative von Bund und Ländern fördert besonders solche Hochschulen, die über zukunftsweisende Konzepte, Forschungscluster mit externen Partnern und herausragende Graduiertenschulen verfügen. Im Rahmen der Wettbewerbe waren auch Hochschulen in den neuen Ländern erfolgreich. Derzeit läuft die Förderung der Zukunftskonzepte der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität Berlin und der Technischen Universität Dresden. Vier Exzellenzcluster an Berliner Universitäten, zwei an der Technischen Hochschule Dresden und eines in Chemnitz arbeiten bereits. Die dritte Förderlinie sind Graduiertenschulen, von denen zwölf in den neuen Bundesländern beheimatet sind, davon neun in Berlin sowie je eine in Dresden, Leipzig und Jena. 97 KAPITEL 9 Ehemaliges Uranerz-Bergbaugebiet der SDAG Wismut bei Ronneburg in Thüringen. 98 D I E S A N I E R U N G D E R U m W E LT Kapitel 9 Die Sanierung der Umwelt „Und seh’n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bitterfeld.“ Das alte Sprichwort aus dem späten 19. Jahrhundert kursierte unter WestJournalisten, die in der Nachwende-DDR Umweltthemen recherchierten. Die Schornsteine des Kraftwerks in Bitterfeld, „die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreckladung Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Stadt schießen, nicht mit Gedröhn, nein sachte wie Schnee, der langsam und sanft fällt, der die Regenrinnen verstopft, die Dächer bedeckt, in den der Wind kleine Wellen weht“ – diese Schornsteine, wie sie Monika Maron 1981 in ihrem Roman „Flugasche“ beschrieben hat, gibt es heute nicht mehr. Aus der einst dreckigsten Stadt Europas, in deren Umgebung bis 1990 mehr als 300 Millionen Tonnen Braunkohle aus der Erde gebaggert wurden, ist eine rund 60 Quadratkilometer große Seen-, Natur- und Kulturlandschaft geworden – eine der weltgrößten überhaupt. Bitterfeld-Wolfen hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Nach erfolgreichem Strukturwandel ist eine Freizeitlandschaft mit hohem Erholungswert entstanden, ohne dass der Chemiestandort an Bedeutung verloren hätte. Die Rückstände aus Produktionen der Filmfabrik VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen sind 1989 für jedermann sichtbar. 99 KAPITEL 9 Auf dem sanierten Gelände des ehemaligen Chemiekombinats haben sich ein großer deutscher Pharma- und Chemiekonzern sowie etwa 360 kleinere Firmen der Chemie- und Pharmabranche angesiedelt. Daneben hat sich ein Cluster der Solarindustrie etabliert, in dem trotz der inzwischen hart gewordenen Konkurrenz aus Asien noch immer fast 2.000 Menschen Arbeit finden. Mehrere tausend weitere Arbeitsplätze sind in anderen Bereichen der erneuerbaren Energien entstanden. Die enormen Veränderungen, die sich seit der Einheit vollzogen haben, sind eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur den Wandel der Chemieregion Halle-Leipzig-Bitterfeld von der einstigen Dreckschleuder zum Standort modernster Umwelttechnologien betrifft, sondern alle neuen Länder. Dank gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen wurden Umweltgefahren beseitigt und moderne Strukturen aufgebaut. Das im Einigungsvertrag festgeschriebene Ziel, „die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Niveau zu fördern“, ist inzwischen erreicht. Katastrophale Ausgangslage Doch der Weg zur Umwelt-Einheit war nicht einfach. Die ökologischen Schäden, die das SED-Regime dem vereinten Deutschland aufgebürdet hatte, waren katastrophal. Vier Jahrzehnte lang hatte die sozialistische Wirtschaftslenkung kurzfristige Planerfüllung vor notwendige Umweltschutzmaßnahmen gestellt. Die Folgen waren überall sichtbar: akute Gesundheitsgefahren, vor allem durch belastetes Trinkwasser und hohe Luftverschmutzung in den Industrie- und Ballungszentren. Hinzu kamen militärische und industrielle Altlasten sowie die hohe Belastung von Flüssen und Seen durch Industrie und Landwirtschaft, die nicht nur eine Umweltgefahr, sondern auch ein riesiges Investitionshemmnis waren. Die ökologische Bilanz der DDR war verheerend. Das hat auch das Umweltgutachten bestätigt, das die Generalstaatsanwaltschaft im Februar 1990 in 100 D I E S A N I E R U N G D E R U m W E LT Werksgelände des ehemaligen VEB Chemische Werke BUNA, 1990. Auftrag gegeben hat: Es verzeichnet für 1989 2,2 Millionen Tonnen Staubund 5,2 Millionen Tonnen Schwefeldioxid-Ausstoß – die höchste Belastung aller europäischen Länder. In den Industrieregionen litt bereits jeder vierte Bewohner unter der hohen Luftverpestung, fast jedes zweite Kind hatte Atemwegserkrankungen und jedes dritte Kind Ekzeme. Hochgradig verseucht waren auch Flüsse und Seen. Besonders die östliche Elbe mit ihren Nebenflüssen war eine einzige Industriekloake. Sie galt als meistvergifteter Fluss Europas. Bei der ersten gesamtdeutschen Gewässergütekarte zur Beschreibung der Wasserqualität der Elbe musste sogar eine zusätzliche Güteklasse, „ökologisch zerstört“, eingeführt werden. Über 1,2 Millionen Menschen konnten nicht mehr mit sauberem Trinkwasser versorgt werden. Silbersee bei Wolfen, 1990. 101 KAPITEL 9 Geheimhaltung in der DDR Enorm belastet waren auch die Wälder. Über die Hälfte des Bestandes war geschädigt. Doch in den DDR-Medien war von all dem nichts zu lesen – weder von den verseuchten Gewässern noch von der verpesteten Luft und den vergifteten Böden. Zwar hatte die DDR-Regierung bereits 1968 als einer der ersten Staaten in Europa den Umweltschutz als Staatsziel in die DDR-Verfassung aufgenommen, doch die jährlichen Umweltschutzberichte wurden ab Anfang der 1980er Jahre zur „Geheimen Verschlusssache“ erklärt, so dass nur wenige Menschen das gesamte Ausmaß der Umweltverschmutzung kannten. Die offizielle Begründung: Die Umweltdaten würde der Klassenfeind nutzen, um der DDR zu schaden. Unter strenger Geheimhaltung standen Informationen über die Atomkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986. Während die Medien der Bundesrepublik sofort über den Unfall im ukrainischen Kernkraftwerk und über eingeleitete Schutzmaßnahmen berichteten, erschien in den Zeitungen der DDR erst nach vier Tagen eine kurze Mitteilung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Die DDR-Medien verschwiegen, dass beispielsweise in SachsenAnhalt die Radioaktivität von Milchproben den Grenzwert mit 700 Prozent überschritten hatte. Stattdessen gab Erich Honecker den verängstigten Müttern den Rat, Salat vorher zu waschen, bevor sie ihn den Kindern zum Essen gäben. Rasche Verbesserungen In den 1980er Jahren hatte sich in der DDR eine unabhängige Umweltbewegung entwickelt, der es trotz aller Stasi-Repressalien gelang, Informationen über Umweltschäden zu verbreiten. Im Gemeindehaus der Ost-Berliner Zionskirche hatten Bürgerrechtler sogar eine Umweltbibliothek eingerichtet. Doch erst nach der Friedlichen Revolution konnten sich die Bürger ein umfas102 Umweltbibliothek im Gemeindehaus der Ost-Berliner Zionskirche. D I E S A N I E R U N G D E R U m W E LT sendes Bild von den Umweltschäden in der DDR machen. Das drückte sich auch in Umfragen zur Umweltsituation aus. 1991 hielten lediglich vier Prozent der Befragten die Umweltbedingungen für gut oder ausgezeichnet, im Westen waren es 49 Prozent. Schon fünf Jahre später jedoch waren die Befragten in den neuen Ländern (51 Prozent) und in den alten Ländern (52 Prozent) gleichermaßen mit ihrer Umweltsituation zufrieden und schätzten sie als gut ein. Diese positiven Werte sind auf die rasche Beseitigung der Umweltschäden zurückzuführen. Die Luftschadstoff-Emissionen waren bereits Mitte der neunziger Jahre beträchtlich gesunken. Heute werden in den neuen Ländern Schwefeldioxid-Konzentrationen gemessen, die denen in den alten Ländern entsprechen. In Sachsen-Anhalt beträgt die Luftbelastung durch Schwefeldioxid nur noch 0,5 bis ein Prozent der Belastungen zu DDR-Zeiten. Die Wasserqualität stieg durch die Stilllegungen veralteter Industriewerke und den Neubau von Kläranlagen bis 1995 in den Flussabschnitten, die am stärksten verschmutzt waren, gleich um mehrere Stufen. Kläranlagenbau bei Calbe, 1993. 103 KAPITEL 9 Schon im Februar 1990 ergriff das Bundesumweltministerium die Initiative und beschloss zusammen mit der damaligen DDR-Regierung in einer gemeinsamen Umweltkommission ein Sofortprogramm, um akute Gefahren zu beheben. Dazu gehörten die Stilllegung der Atomkraftwerke sowjetischer Bauart in Greifswald und Rheinsberg sowie der Baustopp einer weiteren Anlage in Stendal. Auch wurden Smog-Frühwarnsysteme und Trinkwassermessnetze erarbeitet. Zum 1. Juli 1990, gleichzeitig mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, entstand mit dem Umweltrahmengesetz die Umweltunion: Wesentliche Bestimmungen des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland erlangten so auch auf dem Gebiet der DDR Geltung. Die Bundesregierung legte gleich nach der Wiedervereinigung im November 1990 konkrete „Eckwerte für die ökologische Sanierung und Entwicklung in den neuen Ländern“ fest, mit dem Ziel, „bis zum Jahr 2000 gleiche Umweltbedingungen auf hohem Niveau in ganz Deutschland zu schaffen“. Um das bestehende Umweltgefälle zwischen Ost und West auszugleichen, erhielten die Umweltministerien in den neuen Ländern finanzielle Unterstützung. Auch Beraterfirmen wurden ihnen zur Seite gestellt. Von 1990 bis 1998 hat der Bund allein für Investitionen im Bereich der Wasserversorgung rund 6,7 Milliarden Euro aufgewandt (Umweltgutachten 2000). Neue Chancen für die Natur Gravierende Schäden hat der großflächige Braunkohleabbau hinterlassen. Die Sanierung von etwa 100.000 Hektarn, die sich nicht privatisieren ließen, liegt in der Verantwortung des Bundes und der Braunkohleländer Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Inzwischen ist die bergtechnische Sanierung abgeschlossen, die Tagebauseen werden bis 2015 bis auf wenige Ausnahmen geflutet sein. Jetzt stehen nur noch Nacharbeiten an – etwa zur langfristigen Sicherung der Wasserqualität und der Böschungen. Bis Ende 2017 werden in die Braunkohlesanierung 10,5 Milliarden Euro geflossen sein, 75 Prozent davon vom Bund, der Rest von den Ländern. 104 D I E S A N I E R U N G D E R U m W E LT Aus der größten Landschaftsbaustelle Europas in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier um Leipzig sind neue ökologische Seenlandschaften mit hohem Freizeitwert und neue Standorte für Industrie und Gewerbe geworden. Das „Lausitzer Seenland“ und das „Leipziger Neuseenland“ sind die ersten großräumigen Naturschutzprojekte auf ehemaligen Tagebauen. Die wissenschaftlich-technologischen Kompetenzen, die sich Fachleute bei der Braunkohlesanierung erworben haben, sind nun auch international gefragt. Der Markkleeberger See im Leipziger Neuseenland, früher ein Braunkohle-Tagebaugelände. Wie in der Braunkohle stehen auch die Sanierungsarbeiten im Uranerzbergbau der ehemaligen sowjetisch-deutschen Wismut AG vor dem Abschluss. Zu DDR-Zeiten hatte die Wismut unter anderem das Uran für die sowjetischen Atomwaffen gefördert. Seit 1991 ist sie als Wismut GmbH im Besitz des Bundes. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Stilllegung, Sanierung und Rekultivierung von Urangewinnungs- und Uranaufbereitungsbetrieben. Die größten Arbeiten sind inzwischen abgeschlossen, das Sanierungsprogramm läuft noch bis 2040. Bis dahin wird der Bund nach jetzigem Stand rund 7,1 Milliarden Euro dafür aufwenden. Noch beschäftigt die Wismut GmbH gut 1.000 105 KAPITEL 9 Mitarbeiter. Anfang 2013 haben die letzten Auszubildenden ihre Abschlusszeugnisse erhalten. Seit 1993 hatte die Wismut GmbH mehr als 1.400 Jugendliche ausgebildet und ihnen damit in schwierigen Zeiten eine Perspektive geboten. „Das hätte sich zu DDR-Zeiten niemand vorstellen können: dass nicht nur der Uranbergbau beendet wird, sondern tatsächlich eine Sanierung passiert, in die wirklich viel investiert wird. Das ist wirklich ein Glücksfall für alle Menschen, die dort leben.“ Michael Beleites, Mitbegründer der Umweltbewegung in der DDR. Früher Uran-Abbaugebiet, heute Erholungspark: die Holzbrücke Drachenschwanz über dem Gessetal ist Teil des Ronneburger Bundesgartenschau-Areals. Einen besonderen Stellenwert im Umweltschutz nimmt die Sicherung des wertvollen Naturerbes ein. Gerade die neuen Länder verfügen über einen großen Reichtum an Naturschätzen. Von den 14 deutschen Nationalparks befinden sich sieben, von den 13 Biosphären-Reservaten acht ganz oder teilweise in den neuen Ländern. 106 D I E S A N I E R U N G D E R U m W E LT Vor allem der frühere Todesstreifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, das „Grüne Band“, das sich über 1.393 Kilometer von der Ostsee bis zum sächsischen Vogtland erstreckt, hat einen unerwarteten Reichtum an gefährdeten Tier- und Pflanzenarten offenbart. Er macht heute einen wesentlichen Teil des nationalen Naturerbes aus. DAS „GRÜNE BAND“ VON FINNLAND BIS ZUM SCHWARZEN MEER Ehemaliger Grenzstreifen bei Behrungen (Thüringen). 107 KAPITEL 9 Hightech für die Umwelt Dank gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen führt eine ökologisch orientierte Industriepolitik zu Erfolgen. Anreize schuf das Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG). Dadurch haben sich neue Industriefirmen angesiedelt, die schon nach kurzer Zeit zu den Großen ihrer Branche aufgestiegen sind. Ein Beispiel ist ENERCON. Der ostfriesische Hersteller von Windkraftanlagen übernahm 1998 die aus dem Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ (SKET) hervorgegangene, insolvente SKET Maschinen- und Anlagenbau GmbH in Magdeburg und sicherte rund 2.000 Arbeitsplätze. In Rackwitz bei Leipzig produziert die SES Energiesysteme GmbH moderne Blockheizkraftwerke. Um Unternehmen, die im zukunftsträchtigen Bereich umwelt- und klimafreundlicher Technologien („Cleantech“) tätig sind, besser zu vernetzen, hat der damalige Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Christoph Bergner, 2011 die „Cleantech-Initiative Ostdeutschland“ (CIO) ins Leben gerufen. Mit ihrer Hilfe soll die kleinteilige und wenig kooperierende Cleantech-Wirtschaft in den neuen Ländern zu einer international wettbewerbsfähigen Struktur zusammenfinden. 108 W I S S E N S c h A f f T W O h L S TA N D Linienfertigung für Gondeln und Schaltschränke von Windenergieanlagen bei der Firma Nordex in Rostock. 109 KAPITEL 10 Das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf entwickelt neue Geräte zur Früherkennung von Krebs. 110 BESSERE GESUNDhEITSVERSORGUNG Kapitel 10 Bessere Gesundheits versorgung Es gibt wohl kaum einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens der ehemaligen DDR, der so überschätzt wurde wie das staatliche Gesundheitswesen. Zwar verfügten die Polikliniken und Krankenhäuser über gut ausgebildete Ärzte und Schwestern, oft fehlte es jedoch nicht nur an modernen medizinischtechnischen Geräten, sondern auch an simplen Dingen wie Spritzen oder Verbandsmaterial. Selbst in der renommierten Berliner Charité mussten Studenten benutzte Gummihandschuhe immer wieder reinigen, um sie aus Kostengründen mehrfach verwenden zu können. Es waren überproportional viele junge Ärzte und Schwestern, die mit ihren Familien 1989 über Budapest, Warschau oder Prag der DDR den Rücken kehrten und so das ostdeutsche Gesundheitswesen zusätzlich schwächten. Pro 100.000 Einwohner gab es im Jahr des Mauerfalls im Osten 245 Ärzte, im Westen dagegen 303. Heute sind es in den neuen Ländern 383, und mit 433 bleibt die Ärztedichte in den alten Ländern trotz der Aufholjagd immer noch beträchtlich höher. Bei Zahnärzten war die Versorgung von jeher geringfügig besser als im Westen, und es ist mit 90 (West: 85) bis in die Gegenwart so geblieben. Zahnärztin mit mobiler Zahnarztpraxis in der Uckermark, Brandenburg. 111 KAPITEL 10 Soforthilfe Die Experten sind sich einig, dass es gelungen ist, schon in den frühen Jahren nach der Wiedervereinigung im Gesundheitsbereich eine Ost-West-Annäherung zu erreichen. Es erwies sich als Vorteil, dass der Umbau des Gesundheitswesens noch in der Amtszeit der letzten DDR-Regierung begann. Damals stellte die Bundesregierung der DDR rund drei Milliarden D-Mark zur Verfügung, um schnell die wichtigsten Unzulänglichkeiten in der medizinischen Versorgung zu beseitigen. Das betraf vor allem die bessere Ausstattung der Arztpraxen mit Geräten und Material sowie den Austausch der veralteten Betten in Krankenhäusern. Bereits Mitte der 1990er Jahre war der Standard des westdeutschen Gesundheitswesens nahezu komplett und ohne größere Probleme auf den Osten übertragen. Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin in Rostock. Wie erfolgreich die Angleichung war, zeigt sich beispielhaft an der gestiegenen Lebenserwartung. Neben der verbesserten Umweltsituation und anderen Faktoren hat die bessere Gesundheitsversorgung wesentlich dazu beigetragen. Noch 1990 starben Ostdeutsche im Schnitt sechs Jahre früher als ihre Landsleute im Westen. Diese Unterschiede haben sich deutlich verringert. So lag die Lebenserwartung bei Frauen 2011 im Osten bei 82,58 und im Westen bei 82,77 Jahren. Die entsprechenden Werte für Männer betrugen zu diesem Zeitpunkt 76,64 in den neuen und 77,97 Jahre in den alten Ländern. 112 BESSERE GESUNDhEITSVERSORGUNG ENTWICKLUNG DER LEBENSERWARTUNG BEI GEBURT SEIT 1990 Mittlere Lebenserwartung bei Geburt und fernere Lebenserwartung (mit 65 Jahren) im Zeitvergleich Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden 2014 Polikliniken in neuer Form Der Erneuerung des Gesundheitswesens fielen zunächst auch Einrichtungen zum Opfer, die sich bewährt hatten. Das eine waren die Polikliniken. 2004 wurden sie als „Medizinische Versorgungszentren“ (MVZ) wieder zugelassen. Seitdem sind sie bundesweit im Kommen. Von 341 MVZ im Jahr 2005 hat sich ihre Zahl bis 2011 bereits auf 1.814 erhöht. Auch das Modell der Gemeindeschwester, das früher in Ostdeutschland verbreitet war, ist unter dem Namen AGnES* wiedererstanden und hat in ganz Deutschland Schule gemacht. Medizinisches Zentrum in Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern. * AGnES = Arztentlastende Gemeindenahe E-Health-gestützte Systemische Intervention 113 KAPITEL 10 Mehr und bessere Pflegeheime Einen besonderen Nachholbedarf gab es bei der Ausstattung der Heime für Senioren, speziell für Pflegebedürftige. Der bauliche Zustand sowie die technische Ausrüstung der meisten Feierabend- und Pflegeheime mit Mehrbettzimmern waren unzumutbar. Deshalb sah das Pflegeversicherungsgesetz von 1995 Finanzhilfen des Bundes von 3,3 Milliarden Euro zur Verbesserung der Pflegeinfrastruktur vor. Damit konnten allein 1.025 neue Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern in Betrieb genommen werden. Zusätzlich wurden für besondere Projekte zur Verbesserung der Versorgung pflegebedürftiger Senioren noch einmal 80,4 Millionen Euro bewilligt. Pflege- und Seniorenheim in Kleinmachnow, Brandenburg Hohes Rentenniveau Die gesetzliche Rentenversicherung hat sich als erste Säule der Alterssicherung auch in den neuen Ländern bewährt. Am 1. Januar 1992 trat das sogenannte Rentenüberleitungsgesetz in Kraft. Damit wurde die gesetzliche Rentenversicherung für alle Bestands- und Zugangsrentner in den alten und neuen Ländern auf eine einheitliche Rechtsgrundlage (Sozialgesetzbuch VI) gestellt. Besonderheiten des DDR-Rechts, die der Systematik der beitrags- und lohnbezogenen westdeutschen Rente fremd sind, wurden stufenweise verändert. Die umfangreichen Zusatz- und Sonderversorgungssysteme sind in die Rentenversicherung überführt worden. 114 BESSERE GESUNDhEITSVERSORGUNG Die Rentner in den neuen Ländern haben von den neuen Regeln profitiert. In der DDR betrugen ihre Altersbezüge nicht mehr als 30 Prozent des früheren durchschnittlichen Arbeitseinkommens. Gesetzlich garantierte Rentenanhebungen waren in der DDR nicht vorgesehen, von einer dynamischen Rente, wie sie 1957 in der Bundesrepublik eingeführt wurde, ganz zu schweigen. Entscheidungen über Rentenerhöhungen behielt sich das SED-Politbüro vor, das dabei weder die Gewerkschaften noch das zuständige Arbeitsressort einbezog. So gab es zwischen der Staatsgründung 1949 und dem Mauerbau 1961 nur vier Erhöhungen der Altersruhegelder, die zudem bescheiden ausfielen. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hoben die Machthaber die Renten einheitlich um zehn Mark an. Zum Zeitpunkt der Vereinigung beliefen sich die Altersruhegelder der ostdeutschen Rentner auf etwa 37 Prozent der Bezüge im Westen. Die durchschnittliche Rente belief sich Ende der 1980er Jahre gerade einmal auf rund 400 Mark. Zwischen 1990 und 1999 haben sich die Bezüge der Rentner etwa vervierfacht. Inzwischen sind die Renten auf 91,5 Prozent des Westwertes gestiegen; seit dem 1. Juli 2014 liegt der Wert bei 92,2 Prozent. Ein guter Beleg für die Funktionsweise des solidarischen Systems der deutschen Sozialversicherung. Wenn sich Löhne und Arbeitsmarkt weiter gut entwickeln, rückt dadurch eine völlige Angleichung immer näher. ENTWICKLUNG DER NETTO-STANDARDRENTEN IN OST UND WEST IM VERGLEICH 115 KAPITEL 11 Grenzpfosten markieren die deutsch-polnische Grenze zwischen Ahlbeck und Swinemünde an der Ostsee. 116 AU f G U T E N A c h B A R S c h A f T Kapitel 11 Auf gute Nachbarschaft Aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts lässt sich mit einiger Gewissheit sagen, dass Friedliche Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung die glücklichsten Ereignisse in der jüngeren deutschen Geschichte waren. Der Mut und die Besonnenheit tausender DDR Bürger, die friedlich gegen das Regime demonstrierten, die Umsicht der politisch Verantwortlichen und das Vertrauen unserer Nachbarn – das alles hat dazu beigetragen, die deutsche und die europäische Teilung zu überwinden. Heute ist Deutschland, der europäische Staat mit den meisten Nachbarländern, erstmals nur von Freunden umgeben. Schon vor 1990 war die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von dem Willen geprägt, die europäische Integration voranzutreiben. Bis zum Fall der Mauer war diese europäische Einigung allerdings nur im Westen des Kontinents möglich. Aus der Geschichte gelernt Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 eröffnete die Möglichkeit, die Integration Europas zu vollenden. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, erkannte Willy Brandt am Tag nach der Maueröffnung, ausdrücklich mit Blick auf Europa. Sowohl westdeutsche Politiker als auch DDR-Bürgerrechtler machten sich Gedanken über eine neue Architektur Europas mit – zumindest vorläufig – einer reformierten DDR als weiterhin selbstständigem Staat. Als Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan vorlegte, erklärte er: „Es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes.“ Nachdrücklich betonte Kohl „die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung“. 117 KAPITEL 11 Bei der Montagsdemonstration in Leipzig am 11.12.1989 tragen Demonstranten ein Transparent mit der Aufschrift „Deutschland einig Vaterland“. Vertrauen schaffen Nach dem ersten allgemeinen Jubel über den Mauerfall kam in Europa auch Besorgnis über die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands auf. Doch in dieser Situation zahlte sich aus, was alle vorangegangenen Bundesregierungen für die europäische Einigung und insbesondere die Aussöhnung mit Frankreich getan hatten. Mochten manche Politiker und Publizisten der Nachbarstaaten auch Bedenken vortragen, die meisten ihrer Bürger teilten sie nicht. So ergaben Umfragen sogar eine größere Mehrheit für die deutsche Wiedervereinigung unter den Franzosen als unter den Deutschen selbst. Ein überwältigender Vertrauensbeweis. 118 AU f G U T E N A c h B A R S c h A f T Die Bundesregierung setzte alles daran, vergleichbares Vertrauen auch unter den östlichen Nachbarvölkern zu gewinnen. Mit Nachdruck half sie, ihnen den Weg in die NATO und das vereinte Europa zu ebnen. Gleichzeitig drängte sie vehement auf einen immer engeren Zusammenschluss der Europäischen Gemeinschaft. Auch die nachfolgenden Bundesregierungen blieben dieser Linie der „Vertiefung und Erweiterung“ treu. Das zentrale Interesse der deutschen Regierungen gerade nach 1990 war: nicht wieder in eine prekäre Mittellage zu kommen wie zu Beginn des Jahrhunderts. Für alle Bundesregierungen des wiedervereinigten Deutschlands war klar: Eine multilaterale Politik, die bereit ist, Souveränität an Europa abzugeben, eine Politik, die Nationalismen auch bei den Nachbarn überwinden hilft, eine solche Politik ist deutsche Interessenpolitik. Deutsch-polnische Freundschaft Im November 2011 sagte der polnische Außenminister Radek Sikorski in Berlin: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Was für ein Unterschied zu 1990! Damals, als sich die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete, fürchteten einige Regierungsvertreter in Polen, Deutschland könnte als nächstes womöglich Anspruch auf die früheren Ostgebiete des Deutschen Reiches erheben. Nachdrücklich forderte die polnische Regierung einen Grenzvertrag. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl verwies jedoch darauf, dass Bonn die Grenzen Polens im Warschauer Vertrag von 1970 anerkannt hatte. Einen Vertrag für das wiedervereinigte Deutschland aber könne nur dieses selbst abschließen. Das geschah auch umgehend. Bereits am 14. November 1990 unterzeichneten die beiden Außenminister Genscher und Skubiszewski in Warschau den Grenzvertrag. Im Juni 1991 folgte der Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag, mit dem unter anderem das deutsch-polnische Jugendwerk eingerichtet wurde und Bonn seine Unterstützung für einen Beitritt Polens zur Europäischen Gemeinschaft zusagte. Zudem leistete Bonn einen erheblichen Beitrag zur Schuldenerleichterung für Polen. 119 KAPITEL 11 Bundesaußenminister Genscher und sein polnischer Amtskollege Skubiszewski unterzeichnen den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze“. Im August 1991 fand in Weimar eine Begegnung statt, die eine Kernbotschaft der Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands transportierte: ein Treffen des deutschen Außenministers mit seinen Kollegen aus den beiden größten Nachbarländern, Frankreich und Polen. Dieses Treffen wurde als „Weimarer Dreieck“ zur Institution. Es findet seither jährlich an wechselnden Orten statt, ergänzt durch Gipfeltreffen der drei Staats- beziehungsweise Regierungschefs und Begegnungen weiterer Minister. Europa erweitern und vertiefen Bereits kurz nach dem Mauerfall hatte die Europäische Gemeinschaft mit den demokratisierten Staaten des östlichen Mitteleuropas „Europa-Abkommen“ geschlossen, die sie an das geeinte Europa heranführen sollten. Eine schnelle Vollmitgliedschaft, wie sie insbesondere Großbritannien unter Margaret Thatcher forderte, lehnte die Regierung Kohl allerdings ab. Sie wollte zuerst die europäische Einigung vertiefen und die Regeln, die fast immer Einstimmigkeit verlangten, einer größeren Mitgliederzahl anpassen. Die Verträge von Maastricht und Nizza brachten bis 1997 derartige Reformen: Als politisches 120 AU f G U T E N A c h B A R S c h A f T Dach der Europäischen Gemeinschaften wurde die Europäische Union geschaffen, die Wirtschaftsund Währungsunion wurde mit dem Ziel einer gemeinsamen Währung auf den Weg gebracht und Mehrheitsentscheidungen wurden zur Regel. Nachdem es so gelungen war, die Gefahr einer Lähmung des europäischen Einigungswerks – und damit letztlich seines Scheiterns – zu bannen, konnte die Erweiterung angegangen werden. Im März 1998 begannen die Beitrittsverhandlungen, und im Mai 2004 hatte die EU zehn neue Mitglieder: die früheren Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, die früheren Ostblock-Staaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien, außerdem Malta und Zypern. Drei Jahre nach der großen EUErweiterung folgte 2007 die zweite Osterweiterung um Bulgarien und Rumänien. Nach weiteren institutionellen Reformen im Vertrag von Lissabon, der Ende 2009 in Kraft trat, kam 2013 als bisher letztes Mitglied Kroatien hinzu. Der Euro – die europäische Gemeinschaftswährung. Polnische Kinder in Trachten aus Swinemünde feiern am 1. Mai 2004 auf der Insel Usedom den Beitritt Polens zur Europäischen Union. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier unterzeichnen am 13. Dezember 2007 den EU-Reformvertrag (Vertrag von Lissabon). 121 KAPITEL 11 Eine neue Epoche Was 1989/90 als große Hoffnung am Horizont erschienen war, dass die Völker Europas nicht mehr in Furcht voreinander leben müssen, fand nun seine Erfüllung. Der Fall des Eisernen Vorhangs eröffnete eine völlig neue Epoche der deutschen und europäischen Geschichte, die sich grundlegend von allen vorangegangenen Epochen unterscheidet. Vielen Völkern Mittel-, Ost- und Südost-Europas öffnete sich die Tür zu Freiheit und Selbstbestimmung – dauerhaft, wie man heute wohl sagen kann. Die Staatsschuldenkrise hat bei manchen EU-Bürgern Zweifel an der Zukunft der Europäischen Union entstehen lassen. Die Bundesregierung sieht sich auch durch diese Erfahrung darin bestärkt, den Weg der europäischen Einigung konsequent weiterzugehen. „Dafür müssen wir die Wirtschafts- und Währungsunion vertiefen und damit das nachholen, was bei ihrer Gründung versäumt wurde: der Währungsunion eine echte Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen. Hierfür müssen wir auch die europäischen Institutionen stärken“, so Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 29. Januar 2014. Verantwortung auch auf der Weltbühne Das wiedervereinigte Deutschland hat auch im globalen Maßstab vielfältige Verantwortung übernommen. Entwicklungspolitisches Engagement setzt es fort und entwickelt es weiter. Neben unbewaffneten Blauhelm-Missionen zur Friedenssicherung beteiligt sich Deutschland seit 1994 auch an militärischen Friedenseinsätzen im Auftrag der Vereinten Nationen. Das Bundesverfassungsgericht hatte vorher rechtliche Bedenken ausgeräumt. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind heute vom Kosovo bis zum Südsudan und von Afghanistan bis Mali im Auftrag der Völkergemeinschaft im Einsatz. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte – heute arbeitet das wiedervereinigte Deutschland gemeinsam mit den westlichen wie den östlichen Nachbarn daran, diese Prinzipien weltweit durchzusetzen. Gemeinsame Herausforderungen vom Terrorismus bis zu Cyberkriminalität, 122 AU f G U T E N A c h B A R S c h A f T Logo einer Trainingsmission auf der Uniform eines Bundeswehrsoldaten im Trainingscamp in Mali. von internationaler Klimapolitik bis zu wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung geht es durch internationale Zusammenarbeit an. Insgesamt hat sich das geeinte Deutschland als verlässlicher internationaler Akteur, als starker Förderer der Vereinten Nationen und als führender Partner der Entwicklungs-Zusammenarbeit einen guten Ruf in der Welt erworben. Das kam auch in den wiederholten Wahlen zum nicht-ständigen Mitglied des Sicherheitsrates und in andere UN-Gremien zum Ausdruck. Die Deutschen haben das Vertrauen gerechtfertigt, das ihre Nachbarn und Partner bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen 1990 in sie gesetzt hatten. 123 KAPITEL 12 Ehrenamtlicher Mitarbeiter des Mehrgenerationenhauses Bitterfeld-Wolfen mit Kindern der Kita Buratino bei der Gartenarbeit. 124 EINE BILANZ Kapitel 12 Eine Bilanz Wann ist die Deutsche Einheit vollendet? Wenn man im Zug eingeschlafen ist und wieder die Augen öffnet, kann man heute nicht mehr auf Anhieb sagen, ob man im Osten oder im Westen ist. Sicher, es gibt noch Unterschiede bei den Wirtschaftsdaten, es gibt Unterschiede in der Mentalität – aber die gibt es auch zwischen Nord und Süd. Jedenfalls stellt heute, ein Vierteljahrhundert nach der Friedlichen Revolution und dem Mauerfall, niemand mehr ernsthaft die Einheit zwischen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR in Frage. Ob jemand „Ossi“ oder „Wessi“ ist, spielt vor allem für die jüngere Generation keine Rolle mehr. Viel ist bereits erreicht … Reiht man die wirtschaftlichen Erfolge beim Aufbau der neuen Länder aneinander, kommt eine beachtliche Liste zustande. Vergleicht man die heutige Lage Ostdeutschlands mit anderen ehemals sozialistischen Staaten, so wirkt das Ergebnis noch beeindruckender. Es war ein Schnellstart beim Übergang von einer Kommando- zur sozialen Marktwirtschaft. Schon Mitte der 1990er Jahre gab es kaum noch Ost-West-Unterschiede bei der Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern. Versorgungsmängel, die zum Alltag in den 40 Jahren DDR gehörten, kennen die Menschen in den neuen Ländern seit Oktober 1990 nicht mehr. Heute ist der Besitz eines eigenen Autos im Osten so selbstverständlich wie im Westen. Auch die Reisefreiheit, auf die die Ostdeutschen 40 Jahre warten mussten, nutzen sie seit dem ersten Tag nach dem Mauerfall. Straßen-, Schienen- und Telekommunikationsnetze sind ausgebaut, Schulen, Krankenhäuser und Altenheime modernisiert. Das alles war nur mit massiven Hilfen der alten Länder zu schaffen. 125 KAPITEL 12 … aber noch nicht alles Aufholbedarf besteht allerdings noch bei der Wirtschaftskraft. Nur wenn sie weiter wächst, können sich auch die Einkommen zwischen Ost und West weiter angleichen. Zwar hat sich der Ost-West-Abstand bei den Einkommen seit 1990 deutlich verringert, dennoch hatte 2011 ein Ostdeutscher im Durchschnitt 1.416 Euro monatlich zur Verfügung, während es in den alten Ländern 1.722 Euro waren (1991: 595 Euro Ost zu 1.148 Euro West). Auch hinsichtlich mancher Sozialindikatoren – zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Kinderarmut – sind die neuen Ländern noch deutlich schlechter gestellt. Es gibt allerdings, wie auch in den alten Bundesländern, erhebliche regionale Unterschiede. So betrug 2011 das verfügbare Einkommen je Einwohner im brandenburgischen Potsdam 17.148 Euro, im hessischen Offenbach 16.483 Euro und im nordrhein-westfälischen Gelsenkirchen 16.240 Euro. Im thüringischen Suhl betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen 20.076 Euro, in Bremerhaven 17.359 Euro und im niedersächsischen Emden 16.753 Euro. Bewohner des brandenburgischen Landkreises Teltow-Fläming hatten 18.539 Euro zur Verfügung, im bayerischen Landkreis Regen waren es 18.342 Euro und im saarländischen Kreis Merzig-Wadern 16.855 Euro. Bei dieser Entwicklung ist es folgerichtig, Fördermaßnahmen an der Bedürftigkeit der jeweiligen Region und nicht mehr nach Ost oder West auszurichten. Einzelne erfolgreiche Maßnahmen, wie der Stadtumbau Ost, sind inzwischen auf den Westen ausgedehnt worden, andere sind ausgelaufen, weil das unmittelbare Ziel erreicht ist. Einiges, was nach der Einheit angepackt wurde, wird aber auch noch etliche Jahre in Anspruch nehmen, wie die Sanierung des Wismut-Uranbergbaus oder der Ausbau der Verkehrswege in die östlichen Nachbarländer. 126 EINE BILANZ Kosten der Einheit Die Kosten der Einheit sind nach wie vor Gegenstand von Diskussionen – auch weil es unmöglich ist, Kosten und Leistungen exakt abzugrenzen. Das gilt beispielsweise für Leistungen, die auf einer bundeseinheitlichen Rechtsgrundlage gewährt werden, also keine spezifische Förderung der neuen Länder darstellen – etwa im Bereich des Länderfinanzausgleichs und der Sozialversicherung. Teilweise bleibt in den Berechnungen ausgeblendet, wie viele Steuern und Beiträge die Menschen in den ostdeutschen Ländern erbracht haben. Oder man übersieht, wie viel die ostdeutschen Fachkräfte zur Wirtschaft in den westdeutschen Ländern beigetragen haben. Auch haben die Fördergelder letztlich in ganz Deutschland zu zusätzlicher Produktion geführt; westdeutsche Unternehmen konnten von heute auf morgen neue Absatzmärkte erschließen und ihre Produkte besser verkaufen. Bund leistet Aufbauhilfe Die 25 Jahre der Vereinigungsgeschichte sind auch eine Erfolgsgeschichte des Solidaritätszuschlags. Die Bundesregierung hat den Solidaritätszuschlag ab 1995 unbefristet eingeführt, nachdem es bereits 1991/92 einen zeitlich befristeten Vorläufer gegeben hatte. Bemessungsgrundlage dieser Zuschlagsteuer ist die festgesetzte Einkommen- beziehungsweise Körperschaftsteuer sowie deren Vorauszahlungen und Abzugssteuern (Lohn- und Kapitalertragsteuer). Seit dem 1. Januar 1998 beträgt der Zuschlagsatz 5,5 Prozent, vorher lag er bei 7,5 Prozent. Die Wiedereinführung erfolgte wegen der anhaltenden Finanzierungslasten des Bundes im Zusammenhang mit der Herstellung der Deutschen Einheit. Erhoben und gezahlt wird der „Soli“ in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. 127 KAPITEL 12 Blick auf die Lutherstadt Eisleben. Der Solidaritätszuschlag als eine Finanzierungsquelle für die Herstellung der Deutschen Einheit ist nicht identisch mit dem Solidarpakt. Das wird häufig verwechselt. Der Solidarpakt ist der Finanzrahmen für die Aufbauleistungen des Bundes in Ostdeutschland. Er ermöglicht, dass die ostdeutschen Länder ihre Infrastruktur an das westdeutsche Niveau anpassen und die – auch nach dem Länderfinanzausgleich – unterproportionale Finanzkraft ihrer Kommunen aufstocken können. Darüber hinaus soll die Wirtschaftskraft so gestärkt werden, dass die neuen Länder wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, wenn der 128 EINE BILANZ Solidarpakt II im Jahre 2019 ausläuft. So hat es die Bundesregierung im Einvernehmen mit den Regierungschefs der ostdeutschen Länder 2001 beschlossen. Wie eine Förderung strukturschwacher Regionen nach 2019 aussehen kann, werden Bund und Länder im Rahmen der Neugestaltung der Bund-LänderFinanzbeziehungen diskutieren. Bleibende Aufgaben Eine Hauptaufgabe für die neuen Länder bleibt der Abbau der immer noch höheren Arbeitslosigkeit. Sie hat in den letzten Jahren bereits deutlich abgenommen und sich dem geringeren westdeutschen Niveau angenähert. Auch bei der Anpassung der Wirtschaftskraft gibt es positive Perspektiven, wenn man realistische Erfolgsmaßstäbe zugrundelegt. Mehr Arbeitsplätze und eine stärkere Wirtschaftskraft sind auch Voraussetzung, um die Abwanderung zu stoppen. Ein struktureller Nachteil für den Osten, der sich nur allmählich überwinden lässt, ist der geringe Anteil an Großunternehmen und Konzernzentralen. Damit verbunden ist auch, dass die Forschungszentren häufig weiter in den alten Ländern angesiedelt sind. Langsam, aber stetig entsteht jedoch eine leistungsfähige mittelständische Unternehmenslandschaft, die Anlass zu Hoffnung bietet. Die Bevölkerungsentwicklung in den neuen Ländern zeigt im Zeitraffer, worauf sich in Zukunft auch viele Regionen im Westen einstellen müssen. Deshalb können die Lösungen, die in den neuen Ländern insbesondere zur Organisation der Daseinsvorsorge gefunden werden, richtungsweisend sein. Wie sind unter den Bedingungen einer alternden Gesellschaft und eines anhaltenden Bevölkerungsrückgangs die technische und die soziale Infrastruktur zu gestalten? Wie lässt sich das Fachkräfteangebot sichern? Wie ist ein lebenswertes Umfeld zu bewahren? Die Lösungsansätze, die dazu in den neuen Ländern entstehen, finden bundesweit großes Interesse. 129 KAPITEL 12 Fußgängerzone in der Hansestadt Greifswald. Gesellschaftlicher Zusammenhalt Zu den Erfahrungen des Einigungsprozesses gehört, dass man sich in Zeiten gravierender sozialer und ökonomischer Veränderungen besonders um den gesellschaftlichen Zusammenhalt kümmern muss. Heute gibt es in den neuen Ländern viele Projekte des bürgerschaftlichen Engagements, in denen „Zukunft erfunden“ wird. Neue Formen bürgerschaftlichen Engagements sind gefragt, da der Staat nicht auf alle Fragen Antworten geben kann. Viele Zukunftsideen für das 130 EINE BILANZ mecklenburgische Dorf oder die sächsische Kleinstadt lassen sich nur vor Ort finden, nicht in den Regierungszentralen von Bund und Ländern. Dazu zählt auch ein entschiedenes Eintreten gegen jeglichen Extremismus und gewaltsame Übergriffe auf Mitmenschen. Bürgerbündnisse und Bürgerinitiativen in Dresden, Jena, Pirna und vielen anderen Orten haben gezeigt, dass die Menschen in den neuen Ländern entschlossen und in der Lage sind, die Werte der Friedlichen Revolution von 1989 zu verteidigen. Die wieder aufgebaute Dresdner Frauenkirche. 131 KAPITEL 12 Zum Glück vereint „Wir sind das Volk!“ fasst das Grundprinzip des demokratischen Gemeinwesens zusammen. Denn wer da ruft: „Wir sind das Volk!“, der sagt doch zugleich: „Ich bin ein Bürger!“ – und der ist bereit, Verantwortung zu übernehmen, völlig unabhängig davon, ob er Abgeordneter ist, Minister, gewählter Gremienvertreter, Bürgermeister oder einfach Bürger und Wähler“, so Bundespräsident Gauck beim Festakt zu 25 Jahren Friedlicher Revolution am 9. Oktober 2014 in Leipzig. Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung ist eine neue Generation herangewachsen. Sie wurde in ein Deutschland hineingeboren, in dem alle Menschen in Freiheit leben, und in ein Europa mit offenen Grenzen und Herzen. Dass die Deutschen durch Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl voneinander getrennt waren, dass sich jahrzehntelang mitten in Deutschland zwei Militärblöcke waffenstarrend gegenüberstanden, die sich gegenseitig hätten vernichten können, das ist für sie wie eine gruselige Geschichte aus einer anderen Welt. Allein wegen dieser historisch veränderten Situation ist das wiedervereinigte Deutschland etwas ganz Neues. In anderer Hinsicht zeigt es aber auch eine erfreuliche Kontinuität mit der alten Bundesrepublik: Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaatlichkeit blieben aus guten Gründen erhalten. Bei der Umstellung auf die neue Gesellschaftsordnung wurde den Menschen in den neuen Ländern viel abverlangt, weit mehr, als die Einheit für Westdeutsche an Veränderungen brachte. Und trotzdem würden nur die allerwenigsten ostdeutschen die Uhr gerne wieder zurückdrehen, wie Umfragen zeigen. Das hat auch die große Begeisterung gezeigt, mit der Hunderttausende den 25. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2014 gefeiert haben – in Berlin und in ganz Deutschland. Unter dem Motto „Mut zur Freiheit“ erinnerte das große Fest am Brandenburger Tor an die vielen Menschen, deren beharrlicher Protest den Fall der Mauer erst möglich gemacht hat. 132 EINE BILANZ Hunderttausende feiern am 9. November 2014 die Freiheit in Berlin. Am selben Tag sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer: „Ein geeintes und auf einem gemeinsamen Wertefundament gebautes Europa bietet jedem Einzelnen alle Chancen, sein Leben frei zu gestalten. Ein geeintes Europa vermag seinen Interessen und Wertvorstellungen in der Welt mehr Gehör zu verschaffen, als es jedem unserer Länder alleine möglich wäre. Wir haben die Kraft zu gestalten. Wir können Dinge zum Guten wenden.“ 133 Anhang KARTE DER BESATZUNGSZONEN © LVR-Freilichtmuseum Kommern 134 DAS GETEILTE DEUTSCHLAND 1949 BIS 1990 © GeoBasis-DE/BKG 2015 © Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (2015) 135 DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND SEIT DEM 3. OKTOBER 1990 © GeoBasis-DE/BKG 2015 © Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (2015) 136 DAS GETEILTE BERLIN 1961 BIS 1989 BERLIN HEUTE © GeoBasis-DE/BKG 2015 © Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (2015) 137 Impressum Bildnachweis Titel: imago/imagebroker; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Kugler: S. 6, 121 (unten); Schütz: S. 10; Schaack: S. 11; Lehnartz: S. 16, 26, 28 (oben); Reineke: S. 19, 30, 31 (unten), 120; Pfeil: S. 29; Stutterheim: S. 24, 41, 61; Schambeck: S. 27 (unten), 60; Bergmann: S. 28 (unten); Thurn: S. 43; Tybussek: S. 51; Bolesch: S. 133; Picturealliance/dpa/Lehtikuva Oy: S. 8; Ullstein Bild: S. 9; Visum/Steche: S. 13; Ullstein Bild/dpa: S. 14; Ullstein Bild/Werek: S. 15 (oben); Dr. Heinz Löster: S. 15; Imago/epd: S. 17; Ullstein Bild/ADN-Bildarchiv: S. 18, 25; Transit/Kirschner: S. 20; Ullstein Bild/Granger Collection: S. 21; Picture-alliance/dpa/Kumm: S. 22, 27 (oben), 39; Picture-alliance/dpa/Weihs: S. 23; Picture-alliance/dpa/Jung: S. 31 (oben); Picturealliance/ZB/Burgi: S. 32; Bundeswehr: S. 42; Rainer Weisflog: S. 38; KI.KA: S. 45; Sebastian Bolesch: S. 46, 50, 52, 66 (unten), 77, 78, 80, 93, 98, 106, 107; Picturealliance/dpa/Jensen: S. 48 (oben); Peter Wensierski: S. 48 (unten); Picture-alliance/dpa/Endig: S. 53; Judith Affolter: S. 54, 66 (oben), 67, 70, 96, 130; Picturealliance/ZB/Schindler: S. 65; Picture-alliance/ZB/ Hirschberger: S. 57; Picture-alliance/ZB/Lehmann: S. 56; Picture-alliance/ZB/Schutt: S. 68; Burkhard Peter: S. 62 (beide), 69, 75, 84, 85, 94, 105, 108, 111, 112, 114, 124, 125; Picture-alliance/ZB/Schmidt: S. 72; Arnim Kühne: S. 74 (beide); Imago: S. 81; ddp images/dapd/Millauer: S. 86, 110; ddp images/dapd/ Schlueter: S. 87; picture-alliance/ZB/Kasper: S. 88; picture-alliance/ZB/Grubitzsch: S. 89; picturealliance/Universität Jena: S. 90; laif/Zenit/Langrock: S. 99, 101 (beide); picture-alliance/dpa: S. 102; picture-alliance/ZB/Bauer: S. 103; obs/NORDEX SE: S. 109; ddp images/Homp: S. 113; picture-alliance/ dpa/Fishman ecomedia: S. 116; picture-alliance/ZB/ Kluge: S. 118 (oben); picture-alliance/dpa/Elsner: S. 118 (unten); picture-alliance/dpa/Deck: S. 121 (oben); picture-alliance/dpa/Sauer: S. 121 (Mitte); picture-alliance/dpa/Steffen: S. 123; laif/Steinhilber: S. 128; Laif/Adenis: S. 131 138 Herausgeber Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 11044 Berlin Stand April 2015 Gestaltung MediaCompany – Agentur für Kommunikation GmbH 10179 Berlin Druck Zarbock GmbH & Co.KG 60386 Frankfurt / Main Publikationsbestellung Publikationsversand der Bundesregierung Postfach 481009 18132 Rostock Servicetelefon: 030 18 272 272 1 Servicefax: 030 18 10 272 272 1 E-Mail: [email protected] Weitere Informationen im Internet unter www.bundesregierung.de Diese Broschüre ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit ist auf die Verwendung von Paarformen verzichtet worden. Stattdessen ist die grammatisch maskuline Form verallgemeinernd verwendet worden (generisches Maskulinum). Diese Bezeichnungsform umfasst selbstverständlich gleichermaßen weibliche und männliche Personen. 139 www.bundesregierung.de www.freiheit-und-einheit.de
© Copyright 2024 ExpyDoc