Weihnachtspredigt

Weihnachtspredigt
„Das Volk, das in der Finsternis wandelt, sieht ein grosses Licht; die im
Lande des Dunkels wohnen, über ihnen strahlt ein Licht auf. (…) Denn
ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft
kommt auf seine Schulter, und er wird genannt: Wunderrat, starker Gott,
Ewigvater, Friedefürst“ (Jesaja 9, 2+6 ZüB).
An Weihnachten gibt es Weihnachtsgeschenke. Oder vielleicht erinnern
Sie sich mit leiser Wehmut an die Kindheit, als es noch Geschenke gab.
Jesaja spricht vom eigentlichen Weihnachtsgeschenk, vom ersten, vom
entscheidenden Geschenk: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns
gegeben, ist uns geschenkt worden. Nicht die Weisen mit Gold,
Weihrauch und Myrrhe sind dann in der Weihnachtsgeschichte das
Hauptthema, wenn es um Geschenke geht. Auch nicht die Hirten sind
die Schenkenden. Sie alle sind die Beschenkten. Gott schenkt sich den
Menschen. Die Gnade Gottes ist das Thema, denn Gnade, griechisch
charis, bedeutet auch Geschenk.
Dass Gott in Armut als Kind auf die Welt kommt, scheint uns seit
unserem ersten Krippenspiel selbstverständlich. Dabei steckt so viel
mehr dahinter. Was Gnade bedeutet, das zeigt uns ein Kind. Gnade zu
erfahren heisst: Ich habe nichts zu bieten, ich empfange. Ein Säugling
empfängt Liebe, Nahrung, Zuwendung, als Geschenk. Er bezahlt nicht
dafür, er muss nicht gehorsam sein dafür, er empfängt einfach. Und
gleichzeitig entsteht durch sein Empfangen eine tiefe Beziehung
zwischen Mutter und Kind, zwischen den Eltern und dem Kind, zwischen
den gebenden und dem Empfangenden. Das ist die Bedeutung der
Gnade. Angenommen sein mit dem Ziel, in einer Beziehung zu leben, in
Beziehungen zu leben.
Wie empfängt ein Säugling Liebe? Da hilft uns das hebräische Wort für
Gnade und Erbarmen weiter, channan: Das Wort steckt auch hinter
Namen wie Hanna, Johanna, Johannes. Es bedeutet: Jemandem gnädig
sein, jemandem geneigt sein, ursprünglich: Sich hinab beugen. Gott
beugt sich hinab, wie eine Mutter sich über ihr Kind beugt. Ich zitiere wie
schon in der Predigt zum Muttertag Jesaja 66,12b-13 (ZüB):„Ihre Kinder
werden auf den Armen getragen und auf den Knien geliebkost werden.
Wie einen seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten (...).“
Und es kommt noch besser: Dass Kinder auf den Knien geliebkost
werden, „hoppe, hoppe Reiter“, klar, das kennen wir. Die Knie sind auf
Hebräisch bäräk. Und der Segen ist arabisch barak, entsprechend
hebräisch baruch.
Ein Kind, das auf den Knien der Mutter sitzt, ist ein auf dem „Segen“
sitzendes Kind, wenn wir uns das Wortfeld vor Augen führen. Gesegnet
sein, auf den Knien Gottes reiten dürfen. ‚Gesegnet sein’ bedeutet auch
‚glücklich sein’, das kann man sich so ganz gut vorstellen.
Auch gab es im alten Israel einen Brauch, dass der Vater nach der
Geburt das Kind auf seine Knie legte, und es somit als sein Kind
anerkannte. Wenn Gott segnet, sagt er: Ihr seid meine Kinder, ich gebe
euch Geborgenheit, ein Daheim, einen Schutz. Ich nehme euch auf
meine Knie.
Das klingt auch im aaronitischen Segen an: „Der Herr segne dich und
behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir
gnädig“ (4. Mose 6, 24-25 ZüB)! Schon wieder das Kind auf den Knien
der Eltern, das Gesicht der Eltern beugt sich zu ihm, es ‚leuchtet’ zu ihm,
ein inniger Kontakt, ob du jetzt lachst oder schreist oder trotzen willst –
ich wende mein Gesicht dir zu, ich schaue zu dir.
Segnen heisst auch, selbst in die Knie zu gehen. Das Wort wird sogar
beim Kamel, das niederkniet, verwendet. Menschen segnen, sie beten
an, sie knien nieder. Weihnachten heisst: Gott segnet, Gott kniet sich
nieder zu uns Menschen. Jesus als Kind ist ein lebendiges Gleichnis und
eine Erklärung dafür, was Gnade und Segen bedeuten. Der letzte Vers
der Weihnachtsgeschichte, nachdem Jesus im Tempel in Jerusalem
dargebracht und gesegnet worden war, lautet: „Das Kindlein aber wuchs
und wurde stark, indem es mit Weisheit erfüllt wurde, und die Gnade
Gottes war auf ihm“ (Lukas 2, 40 ZüB). Diese Gnade zeigte sich für
Jesus zuerst ganz konkret in der Liebe und Zuwendung von Josef und
Maria. Durch sie wurde die Gnade Gottes für das Kind früh sichtbar und
fassbar.
Wir haben uns nun die Bedeutung von Gnade und Segen vor Augen
geführt. Das leitet uns zur Aussage, die hier im Zentrum stehen soll:
„Durch Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin“ (1. Korintherbrief 15,10
ZüB).
Das sagte ausgerechnet Paulus, diese Kämpfernatur, Paulus, der für die
richtige Lehre gekämpft hatte und dabei die ersten Christen verfolgt
hatte. Unterdessen hatte er aber erkannt: Alles Kämpfen war umsonst.
Zuerst wollte Paulus ein guter Jude sein, alles richtig machen. Gut sein,
alles richtig machen wollen – bis heute ist dies das grosse
Missverständnis nicht nur im Judentum, auch im Christentum und vielen
anderen Religionen. „Wenn ich gut bin, dann hat Gott mich gern. Ja
keine Fehler machen, dann bin ich geliebt.“ Falsch, grundfalsch!
„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Ich bin zum Vornherein
geliebt; deshalb kann ich mich selbst sein. Meine Beziehung zu Gott
hängt von keiner Leistung ab. Ich muss nur glauben, dass ich geliebt bin,
so wie ein Kind an seine Mutter glaubt. Wie es glaubt, dass die Mutter es
versorgt mit Nahrung, wenn sie sich zu ihm herabbeugt. Ich muss nur
glauben, wie ein Kind an den Vater glaubt, wenn es auf seinen Knien
reitet – sogar bei der Stelle im Kindervers „fällt er in den Graben, dann
fressen ihn die Raben“ ist das Kind gehalten, weiss es: „Der Vater lässt
mich nicht wirklich fallen.“ Es ist mir bewusst, dass nicht alle Kinder
dieses positive Vaterbild erfahren durften. Wer keinen Vater hatte oder
von negativen Vatererlebnissen geprägt wurde, hat verständlicherweise
Mühe, Gott mit dem Vater zu vergleichen. Ausgehend von einer guten
Vaterbeziehung führe ich den Gedanken zu Ende: Das Kind glaubt an
die Mutter, den Vater, weil es die Zuwendung seiner Eltern so innig
erlebt – nicht weil es besonders ‚gläubig’ ist.
Das ist Weihnachten: Empfangen dürfen, bekommen, als Geschenk
erhalten, was wir zutiefst brauchen: Das Wissen, geliebt zu sein. Du bist
wertvoll, einfach so, mit all deinem Strampeln, Trotzen, mit allen Fehlern
und Macken, so wie ein Säugling geliebt ist, ob er nun gerade lächelt
oder die Windeln voll hat. An der Tatsache, geliebt zu sein, ändert das
nichts. Gnade ist ein fester Wert, ist beständig. Ob du gerade viel
gebetet hast oder gar nicht. Ob du gerade geduldig reagiert hast oder
völlig entnervt. Gnade kommt von aussen, hängt nicht von dir ab. Auch
wenn es bei dir drunter und drüber geht, Gnade ist beständig.
Der Gottesname JHWH wird bei Mose gefüllt mit: Ich bin, der ich bin. (2.
Mose 3, 14 ZüB). Einige übersetzen: Ich bin, der ich sein werde. Oder:
Ich bleibe, der ich bin, oder gemäss 2. Mose 33, 19 (ZüB): „Wem ich
gnädig bin, dem bin ich gnädig.“ Das ist der Ausdruck absoluter
Beständigkeit, früher, jetzt, für immer, unverbrüchlich. Das ist der heilige
Name Gottes im ganzen Alten Testament und auch zur Zeit Jesus und
bis heute ist es im jüdischen Volk der heilige Name Gottes, der nicht
einmal ausgesprochen werden darf, damit er nicht missbraucht werden
kann. Ich bin, der ich bin. Da braucht es keine Rechtfertigungen und
keine Erklärungen. In der Geburt von Jesus Christus legte Gott seinen
Namen auf jeden und jede von uns, auf uns Menschen. Durch seine
Gnade bin auch ich, was ich bin. Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen.
Durch sein Geschenk bin ich, was ich bin, es ist gut so. Gottes
Beständigkeit färbt sich ab auf uns kleine Menschen.
Nochmals: „Das Kindlein aber wuchs und wurde stark, indem es mit
Weisheit erfüllt wurde, und die Gnade Gottes war auf ihm“ (Lukas 2, 40
ZüB).
Die Gnade Gottes über ihm, so konnte er stark werden. Gott traute ihm
zu, dass er stark wird. Gott traut seinen Kindern zu, dass sie stark
werden. Gnade, das ist der Grundton des Lebens. So werden wir
dankbar. Nicht die grossen Taten zählen. Aber die Tatsache, dass uns
jemand Grosses zutraut, kann durchaus zu grossen Taten anspornen.
Verstehen wir die Gnade als Klammer des Lebens: Als Kinder waren wir
ganz auf Gnade und Zuwendung angewiesen. Im Alter und im Sterben
ist es auch so: Wir beugen uns über Sterbende. Gott beugt sich über
Sterbende. Gott umfasst Sterbende mit seiner Gnade. Durch Gottes
Gnade bin ich, was ich bin. Bei Sterbenden ist das ergreifend: Gnade,
Friede, Ruhe können sichtbar, greifbar werden, durchfluten dann auch
das Leben der Begleitenden.
In der Weihnachtsgeschichte war es der alte Simeon, von dem es heisst:
„(...) und er wartete auf den Trost Israels.“ Als Jesu Eltern ihr Kind in den
Tempel brachten, um es Gott zu weihen, da nahm Simeon „es auf die
Arme und pries Gott und sprach: Jetzt lässest du deinen Knecht, o Herr,
nach deinem Wort in Frieden dahingehen; denn meine Augen haben
dein Heil gesehen (...)“ (Lukas 2, 25 + 28-30 ZüB).
Am Ende zählt Eines: In Frieden gehen zu können. Versöhnt. Geborgen
in der Gnade, im Wissen, geliebt und angenommen zu sein.
Jesus zu sehen, das ist die Vollendung der Gnade. Wenn Menschen im
Sterben plötzlich Frieden ausstrahlen, wenn jahrelange Verbitterung sich
in Frieden auflöst, dann ist das Gnade. Wir haben es in der Familie in
den letzten Jahren mehrmals miterlebt, die unbeschreibliche Gnade, die
Gott Sterbenden gewähren kann. Das ist, was am Ende bleibt. Es kommt
dann nicht darauf an, was wir geleistet haben. Es kommt darauf an, dass
Gott gnädig ist. Deshalb: Am Ende bleibt, was am Anfang war, was mit
der Geburt von Jesus sichtbar wurde. Die Gnade Gottes, das Geschenk,
dass er uns annimmt ohne Wenn und Aber. Dieses Versprechen gab er
uns in der Gestalt seines Sohnes. Deshalb feiern wir Weihnachten.
„Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht
über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf
dich und gebe dir Frieden “ (4. Mose 6, 24-26 ZüB)!
Amen.