Macht, Moral und Unbewusstheit

© taureck; Vortrag res-publica-politica Tagung 1.-3.- Mai Alf
UNTERWEGS ZU EINEM POST-TRADITIONELLEN MACHTVERSTÄNDNIS
Inhalt
Die drei traditionellen Urteile, warum Macht dumm, böse oder kreativ ist
Die bislang ausgeblendete Phänomenstruktur der Macht
Drei Vorurteile über die drei Machtkonstellationen und deren Auflösung
Die fiktive Wirklichkeit oder die wirkliche Fiktion des Staates
Folgerungen
Fazit
Die drei traditionellen Urteile, warum Macht dumm, böse oder kreativ ist
Drei Urteile begleiteten bisher die Phänomene der Macht. Sie sei dumm, denn sie sei
leer und nichtig. So Lukrez 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung.: „nach Herrschaft
streben, die leer ist und niemals gegeben wird“ (petere imperium quod inanest nec
datur umquam, de rerum natura 3.9998) Sie sei böse, denn sie laufe auf die
Doppelzüngigkeit hinaus, Egoismus zu bestrafen, wenn er privat geschehe und zu
belohnen, wenn er öffentlich und staatlich sei. So Jacob Burckhardt 18171. Sie sei
kreativ, denn sie sei die ontologische oder die soziale Materie selbst, aus der und in der
alles geschehe. So Nietzsche um 1880, so Foucault 100 Jahre später. Das sind die
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traditionellen Urteile über Macht. Sie sollten nicht vergessen, aber sie müssen allesamt
ersetzt werden durch völlig anders begründete Urteile, inwiefern und weshalb Macht
als dumm, böse und kreativ zu bewerten ist.
Die bislang ausgeblendete Phänomenstruktur der Macht
Macht ist unter der Voraussetzung eine asymmetrische Relation (A hat Macht über B,
B aber nicht über A, somit: wie Vater ist Vater von Kind, Kind aber nicht Vater von
Vater), dass sie weitere asymmetrische Relationen auslösen kann: A->B->C usw. Oder:
A->B, B->A. Macht führt also entweder zu einer Kettenbildung oder zu einer
Reaktanzbildung.
Gewöhnlich beschränkt man Macht als Relation auf zwei Arten, auf Machtgeber und
Machtnehmer. Da der Machtgeber nicht sicher sein kann, dass sein Machtanspruch
Erfolg hat – denn für diesen Erfolg gibt es bixher keine Regeln und Gesetzmäßigkeiten
- sind die gesamten bisherigen Machtkonzepte solipsistisch und dies teils
unbemerkt, teils notgedrungen methodisch. Solipsistisch: Es wird davon ausgegangen,
dass die Existenz anderer Personen als die des Machtsuchers nichts als Vorstellungen
des Machtsuchers sind. Daraus folgt, dass zu einem veränderten Verständnis der
Macht die Preisgabe der Solipsismus-Prämisse gehört. Dies geschieht, wenn man
Kettenbildung und Reaktanz-Macht als Strukturmomente der Macht versteht.
Kettenbildung ist dann erwünscht, wenn ein kollektives Unternehmen gestartet
werden soll, beispielsweise eine Handlungsverband zu Zwecken der Arbeitsteilung
oder zu militärischen Zwecken. Die Reaktanzbildung kann jedoch bei keiner
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Kettenbildung ausgeschlossen werden. Mit seinem Herr-Knecht-Kapitel hat Hegel
darzustellen unternommen, wie die vollständige Unterwerfung einer fremden Person
am Ende diese fremde Person gewaltlos befreit. Macht führt somit stets auf mögliche
Gegenmacht.
Macht führt somit stets auf mögliche Gegenmacht. Kettenbildung kann durch
Reaktanz durchkreuzt und verhindert werden. Daraus lassen sich drei Konstellationen
annehmen:
I. Kampfgeschehen, Kampfplatz von Kettenbildung und Reaktanz.
Es entsteht allerdings der Schein der Vollständigkeit, wonach Macht nichts als
Kettenbildung und Reaktanzwiderstand bilden. Ein Blick auf die Historie zeigt
nämlich zwei Einschränkungen. Die erste lässt sich umschreiben als Versuch, das
nicht-geordnete Geschehen zu ordnen. Dies erfolgt als Staat, verstanden als
Monopolisiewrung der Macht als Gewalt.
Staatsmacht bricht Gesellschaftsmacht.
Macht, die Macht bricht, heißt Gewalt. Die andere Einschränkung lässt sich
charakterisieren als Vermeidung von Macht und als Versuch, Vergesellschaft ohne
Macht zu haben, das heißt als Anarchía. (Ich sage absichtlich Anarchía, um die
pejorativen Konnotationen von „Anarchie“ zu meiden.)
Die beiden Einschränkungen des Kampfegeschehens lauten somit:
II. Einführung eines drittens Terms, dem Macht untersteht: Herrschaft, Gesetz, Recht.
III. Ausstieg aus Macht- und Herrschaftsbezügen, Anarchia.
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Drei Vorurteile über die drei Machtkonstellationen und deren Auflösung
Alle drei Konstellationen werden gern bemüht, jeweils vollständig zu sein und die
beiden anderen zu eliminieren oder zu unterwerfen.
I: Es gibt nur Kampfgeschehen. Hobbes: War so vor der Einführung von Staats- und
Unterwerfungsvertrag. II. Foucault: Bleibt so im Staat, trotz Einführung von II.
II. Herrschaft und Gesetz bestimmen, wo es sie gibt, alles Geschehen. Machtkämpfe
finden in Reservaten statt. Sobald Brandgefahr besteht, erstickt Feuerwehr die
Flammen.
III. Auch wenn es die Anarchia noch nicht gibt, so läuft alles auf sie hinaus, nämlich
als
Kombination
von
I
und
II,
die
sich
wechselseitig
zerstören
und
Herrschaftslosigkeit übrig lassen.
Diese Ansichten blenden alle aus, was die drei Konstellationen jeweils enthalten und
bis wohin sie reichen. Mehr noch, diese Fragen werden durch Vorurteile beantwortet,
noch bevor sie sich stellen.
Vorurteil zu I: Kampfgeschehen führt zum Ruin aller Beteiligten.
Vorurteil II: Herrschaft von Gesetz und Recht beenden alle Konflikte.
Vorurteil III: Anarchia ist unmöglich, weil sie sich nicht mit der Natur des Menschen
verträgt.
Diese Vorurteile lassen sich alle falsifizieren:
Vorurteil I: Kampfgeschehen kann Ruin vermeiden und gefährdete Stabilität erlangen.
Beispiel internationale Beziehungen, die alle ohne bindende Gesetzesreglung sind und
längst zum Totalruin aller hätten führen können oder führen müssen.
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Folgerung: Macht-Kampf-Geschehen als Interferenz von Machtverkettung und
Reaktanz vermag ohne Ruin des Ganzen zu bestehen.
Vorurteil II: Wenn Staat und Gesetz Konflikte beenden, so schaffen sie stets auch
neue. Denn offenbar sind mit jeder Gesetzesregelung Gruppen benachteiligt, die sich
auf Dauer nicht benachteiligen lassen. Beispiel: Ausschluss der Bevölkerungsmehrheit
von politischer Repräsentation im Ancien Régime führte zur Revolution 1789ff.
Folgerung: Staatsherrschaft und Gesetze beenden etwa so viel Konflikte wie sie
gleichzeitig schaffen.
Vorurteil III: Es gibt regierungslose Vergesellschaftungen: Segmentäre Gesellschaften
(Akephalie auch bei größeren Gesellschaften. Vgl. Sigrist, Regulierte Anarchie 1994),
dann die regierungslose Demokratia für 186 Jahre in Athen, die Pariser Commune 1871,
die Anarchie in Barcelona während des spanischen Bürgerkriegs, vorbereitet von B.
Durutti.
Folgerung:
Herrschaftslosigkeit
widerspricht
Herrschaft,
aber
nicht
einer
vermeintlichen Natur des Menschen.(Vgl die Einräumung von Anarchie gegen die
gängigen Vorurteilke bei Celikates, R. und Gosepath, S. (2013) Grundkurs Philosophie.
Bd 6. Politische Philosophie. Reclam: Stuttgart, 41-49)
Die fiktive Wirklichkeit oder die wirkliche Fiktion des Staates
Es folgt, dass nicht etwa nur Herrschaft möglich und sich selbst überlassener
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Machtkampf sowie pure Anarchia unmöglich sind. Vielmehr sind Machtkampf,
Herrschaft und Anarchia alle drei gleichermaßen möglich.
Wie aber sind die Möglichkeiten verwirklicht? Was sind die Voraussetzungen, unter
denen sich Machtwirklichkeit etabliert?
Die Voraussetzung ist bekannt. Wir können ihre Entstehung zum Glück bis in viele
Einzelheiten verfolgen. Es ist die Rhetorik der Unumgänglichkeit von politischer
Herrschaft, mit welcher Platon und Aristoteles auf ein Phänomen reagierten, das sie
nicht verstanden und nicht verstehen wollten, obwohl oder weil es sich vor ihren
Augen alltäglich vollzog. Es handelt sich um jene Demokratia, die regierungslos
geschah im Athen 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung.
Die Herrschaftsrhetorik prägt sich seither so aus, dass Machtkampf einen
überwundenen Naturzustand meint und dass die Anarchie einen modus utopicus
erhält. Beides sind Unmöglichkeiten, nur der Staat ist wirklich und notwendig. Er
vermag nicht möglicherweise nicht zu existieren.
Gibt es diesen notwendigen Staat jedoch tatsächlich oder ist er eine Fiktion? Es gibt
keinen Theoretiker – heiße er Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Machiavelli,
Hobbes, Locke, Rousseau, Hegel – der nicht den Staat fordert, verlangt, bestimmt, wie
er zu sein hätte. Keiner ist Positivist, der den notwendigen Staat bereits vorfindet.
Auch die Architekten einer modernen Staatswirklichkeit – heißen sie Saint-Just,
Robespierre, James Madison, Thomas Jefferson – sprechen im Modus der Forderung.
Jefferson räumt Leben, Freiheit und Glücksstreben als unveräußerliche Naturrechte
ein. Der Staat aber wird im Unterschied zum Menschen so konzipiert, dass er dieses
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Zahlungsmittel nicht akzeptiert. Im Staat lässt sich allein der Währeung des positiven
Rechts bezahlen. Eine naturrechtliche Parallelwährung wird nicht akzeptiert.
Was gibt es noch? Eine Bürokratie, welche die Interessen aller verwaltet.
Weiterhin gibt es die Einstellung und das Verhalten, man dürfe kein Unrecht tun und
lieber Unrecht erleiden als es verüben. Man folgt einer Staatsidee, obwohl oder gar
weil man die jeweiligen politischen Personen verachtet oder nicht ernst nimmt.
Der Treibstoff der staatlichen Herrschaft ist geheim, er besteht in einer Mischung aus
(1) Theorie eines Gesellschaftsvertrags, (2) einer Verfassungsarchitektur, (3) einer
Verwaltungs-Bürokratie, (4) der idealen Folgsamkeit der Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger bei gleichzeitiger Verachtung der Staatsmänner und Staatsfrauen plus 5. - einem weiteren Zusatz, den bisher keine politische Chemie hat nachweisen
können.
Folgerungen
Was ist das Fünfte? Handelt es sich um etwas Ähnliches wie ein fünftes Element, das
weder Luft noch Wasser, noch Feuer, noch Erde bildet und das in der Antike der Äther
jenseits der irdischen Lufthülle war, die Quinta Essentia? Ist es Gewaltenverteilung, ist
es Klassenkampf? Ist es eine Unsichtbare Hand Gottes oder der Märkte? Ist es das
Schicksal? Das sind die bekannten alten Fragen, deren Antworten ebenso interessant
wie vergangen sind. Keine von ihnen bezieht auf das fünfte Element. Alle setzen es
voraus, ohne dies zu bemerken. Alle Annäherungen an das Thema der Macht isolieren
Macht auf asymmetrische Beziehungen einer Person zu einer anderen, wobei gilt, dass
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P1 P2 veranlasst, Absichten auszuführen, welche P2 ohne die Intervention von P1 nicht
getan
hätte.
Die
Kettenbildung
und
die
Reaktanz-Macht
werden
dabei
ausgeklammert. (Vgl die schwach formalisierten und nachvollziehbaren Darlegungen
von: Detel, W. (2007) Grundkurs Philosophie. Band 5 Philosophie des Sozialen.
Reclam: Stuttgart, 65-75). Die einzigen Denker, welche Macht unter Einbeziehung der
Gegenmacht, der Reaktanz, verstehen, sind Hegel mit seiner Herr-KnechtEntwicklung und Marx mit seinem Kampf der Klassen. Beide reduzieren jedoch den
Phänomenbestand. Hegel will die Staatsherrschaft begründen, Marx deren Ende und
den Beginn der Anarchia. Der Phänomenbestand sagt indes etwas anderes: Den
Bekundungen des Vorrangs der Staatsherrschaft zuwider sind neben Herrschaft
Machtkämpfe und Anarchia beide nicht weniger möglich als die Staatsherrschaft.
Das gesuchte Fünfte lässt sich daher beschreiben als eine rätselhaft unverstandene
Gegenwart von Machtkämpfen und Anarchia trotz der Theorie des Staatsherrschaft, der
Verfassungsarchitektur, der Bürokratie und der Folgsamkeit des Staatsvolkes.
Vermutlich reichen unsere bisherigen Kategorien zur Beschreibung und Erklärung
politischer Phänomene nicht aus, um dieses Fünfte zu beschreiben und zu erklären.
Wir können das Fünfte lediglich mit Vermutungen umkreisen. Diese Vermutungen
enthalten zwei Arten, Annahmen über Taxonomie und Annahmen über Dynamik. Die
Annahmen über Dynamik besagen: Kampf, Staatsherrschaft und Anarchía verfügen
jede über eine Fähigkeit, die es ihnen ermöglicht, die jeweils anderen zwei
abzuwehren. Der Machtkampf wehrt Anarchia und Staatsgesetze ab. Das ist als
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Wirtschaftsgeschehen bekannt. Der Staat wehrt Machtkämpfe und Anarchia ab, das
ist sein Auftrag. Die Anarchia lässt sich weder von den Machtkämpfen noch vom Staat
vereinnahmen. Sie ist unter anderem Namen bekannt: Freiheit des Geistes einer
Kultur.
Die Annahme über die Taxonomie besagen: Die drei Bereiche sind (a) einander fremd,
sie stehen (b) im Konflikt oder sie ordnen sich (c) zu etwas Gesamtem.
Diese Überlegungen können die Urteile, Macht sei dumm, böse oder kreativ, nunmehr
wie folgt ändern:
Traditionelle Bewertung von Macht
Post-Traditionelle Bewertung von Macht
Dumm, weil leer
Dumm, wenn Verkettung und Reaktanz
unbeachtet bleiben
Böse, weil staatlicher Egoismus gefördert Böse, wenn Gegenwart und Potenzial der
und privater geächtet wird
Machtkämpfe und der Anarchia trotz
bestehender Staatsherrschaft für illegitim
erklärt werden
Kreativ, weil Macht Materie des sozialen Kreativ, wenn eine Beziehung stattfindet
Handelns bildet.
zwischen
Machtkämpfen,
Staat
und
Anarchia.
Fazit
Die vorstehenden Überlegungen besitzen eine dreifache Reichweite, ein geringe, eine
mittlere und ein weite.
Die geringe Reichweite bildet die Ersetzung des bestehenden machttheoretischen
Solipsismus durch Kettenbildung und Gegenmacht der Reaktanz.
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Die mittlere Reichweite ist beschreibbar als politischer Holismus aus Anspruch auf
Gewaltmonopol, Reaktanz-Gegenmacht und Anarchía.
Die erweiterte Reichweite kann beschrieben werden als eine grundsätzliche
Erwartungsänderung im Hinblick auf die Zukunft der Politik und die Politik der
Zukunft: Politik hört auf, als Erfolg oder Scheitern des staaatlichen
Gewaltmonopols zu gelten. Vielmehr sollte Politik künftig als Dissonanz und
Konsonanz
von
Macht-Kettenbildung,
Reaktanz-Macht,
Gewaltmonopol
und
Anarchía erwartet werden.
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