Schönen Geburtstag, liebe Kunst!

Laut und Luise: Schönen Geburtstag, liebe Kunst! - NZZ Kolumnen
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Laut und Luise
Schönen Geburtstag, liebe Kunst!
Zürich macht sich daran, 2016 die Hauptstadt der Kunst zu werden. Aber
Achtung – Dada! –, die Kunst könnte vom Leben überholt werden.
Kolumne
von
Daniele Muscionico
14.1.2016, 06:00 Uhr
Zürich ist drauf und dran. Zürich ist mitten dabei, das Leben interessant zu
machen. Denn Kunst ist, was das Leben interessanter macht als die Kunst.
Das soll Robert Filliou gesagt haben, weshalb er seinen Geburtstag auch zum
Geburtstag der Kunst erklärt hat. Filliou, der französische Fluxus-Künstler,
wäre diesen Sonntag 90 Jahre alt geworden; wäre er nicht gestorben, vor der
Zeit, 1987, in einem französischen Zen-buddhistischen Kloster.
Was das mit Zürich zu tun? Vieles natürlich, sonst stände es nicht hier. Auch
diese Stadt feiert am Sonntag das Geburtstagskind, die Kunst. Aber Zürich
feiert sich dieses Jahr auch als Hauptstadt der Kunst überhaupt, als
Metropole von Dada: 100 Jahre Dada und 1 000 053 Jahre Kunst (nach
Filliou); die Sause steigt naturgemäss im Cabaret Voltaire und wird am 17.
Januar von drei Schweizer Kultursendern übertragen, von Espace 2, SRF 2
Kultur und von Rete 2.
Die Kunst lächelt, weil sie weiss, was nur sie
weiss: Sie erfüllt heute keine Notwendigkeit mehr.
Doch wie geht es ihr eigentlich, der guten alten Kunst? In Zürich und
überhaupt. Gut geht es ihr, parbleu! Die Kunst kann sich dreimal täglich auf
dem Markt satt essen, so satt sogar, dass sie ein kleines Buddha-Bäuchlein
spazieren trägt. Und wer meint, dass ihr das schlecht stehe, der muss lügen.
Bei genauem Hinsehen grinst die kugelbauchige Kunst nämlich herzlich
diebisch, wie Mona Lisa oder ein anderes schönes Kind, das ganz ihr gehört.
Die Kunst lächelt, weil sie weiss, was nur sie weiss: Sie erfüllt heute keine
Notwendigkeit mehr. Kunst als Alternative, als Antithese – das leistet der
neuste Achselrasierer mindestens ebenso gut.
Kunst muss nicht mehr politisch sein wie im letzten Jahrhundert. Damals, als
man noch mit dem Wimpel «Avantgarde» um Aufmerksamkeit und Achtung
buhlte. Sie muss keine Orientierung leisten oder Transzendenz behaupten,
weil der gottverlassene Mensch gottsjämmerlich leidet.
Kunst muss nicht schön sein, aber auch nicht mehr notwendigerweise
hässlich. Sie muss nicht gefallen, muss nicht klug sein, darf dumm sein und
langweilig genauso. Kunst darf, was sie will – denn sie ist Kunst. Etwas
Besseres als Nutzlosigkeit, das hätte man der Kunst zum Geburtstag nicht zu
wünschen gewagt.
Nun fordern kluge Bücher aber eine «Ethik der Ästhetik» und bedauern, dass
die Kunst einen Epochenwandel durchlebt; dass von Idealismus und Idealen
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17.01.16 17:49
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wie Originalität oder Strategie heute nichts mehr übrig geblieben sei; dass
Kunst in der Welt sei und deshalb keine Gegenwelt. Muss sie deshalb
Dekoration sein oder amoralisch und verantwortungslos?
Wer sagt denn, dass der Künstler moralisch sein muss, moralischer als der
Nichtkünstler? Und wer fordert – warum –, dass der Künstler eine besondere
Verantwortung besitzt? Ja, doch, er hat eine: Der Künstler trägt, wie wir alle,
eine Verantwortung für sein persönliches Glück. Die Kunst aber ist endlich
aller Pflichten frei und damit bei sich selbst angekommen. Sie ist nicht mehr
das, was wir suchen, in ihr sehen, aus ihr gewinnen oder mit ihr verlieren
wollen. Sie ist das Phänomen, das sich selbst genügt.
Die Jetztzeit ist Dada-Zeit. Wer nicht hören wird, wird fühlen. Vielleicht
bereits diesen Sonntag, zum inoffiziösen «Art's Birthday», vielleicht auch erst
Anfang Februar, wenn in der Cabaret-Voltaireschen-Geburtshöhle
die erste Ausstellung des Dada-Jahres eröffnet wird. Dada ist Jetztkunst. Wer
die totale Kunst will –
der beginne zu leben!
Daniele Muscionico macht an dieser Stelle wöchentlich Nebensächliches zur Hauptsache oder
umgekehrt.
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