Die Sünderin in Simons Haus

Die Sünderin in Simons Haus
Lukas 7,36-50 (Neues Leben)
 Ich möchte eine neue Predigtreihe beginnen. Der Geschichtenerzähler. Wir wollen einige Geschichten und
Gleichnisse die Jesus, der Geschichtenerzähler, erzählt mal genauer betrachten. Heute wollen wir eine interessante
Geschichte betrachten: „Die Sünderin in Simons Haus“.
 Es ist interessant zu sehen was dieser Text uns sagen kann, wenn wir uns hinter das Verständnis wagen, dass man
auf den ersten Blick hat. Ich bin kein großer Orientexperte. Deshalb habe ich bei anderen Auslegern einige sehr
interessante Erklärungen gesucht und gefunden, die uns helfen werden diesen Text mal ganz anders als sonst zu
betrachten.
 Das dieses Betrachten auch gut möglich ist werde ich den Text Heute nicht an die Leinwand projizieren sondern
jeder bekommt eine Kopie in die Hand. Da kann man sich besser darauf konzentrieren.
36 Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen in sein Haus ein. Jesus nahm die Einladung an und setzte sich zu Tisch.
37 Eine Frau aus dem Ort, die für ihren unmoralischen Lebenswandel bekannt war, erfuhr, dass er da war, und brachte
ein Gefäß5 mit kostbarem Salböl.
38 Sie kniete vor Jesus nieder und weinte. Ihre Tränen fielen auf seine Füße, und sie trocknete sie mit ihren Haaren.
Dann küsste sie ihm wieder und wieder die Füße und salbte sie mit dem Öl.
39 Als der Gastgeber sah, was da vorging und wer die Frau war, sagte er sich: »Das beweist, dass Jesus kein Prophet
ist. Wäre er wirklich von Gott gesandt, dann wüsste er, was für eine Frau ihn da berührt. Eine Sünderin!«
40 Jesus wusste, was er dachte, und sagte zu dem Pharisäer: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.« »Ja, Meister«,
nickte Simon, »sprich nur.«
41 Darauf erzählte Jesus: »Ein Mann lieh zwei Leuten Geld - dem einen fünfhundert Denare6 und dem anderen
fünfzig.
42 Als keiner der beiden ihm das Geld zurückzahlen konnte, erließ er ihnen ihre Schulden. Wer von den beiden liebte
ihn danach wohl mehr?«
43 Simon antwortete: »Ich nehme an, derjenige, dem er die größere Schuld erließ.« »Das stimmt«, sagte Jesus.
44 Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: »Schau dir die Frau an, die da kniet. Als ich dein Haus betrat,
hast du mir kein Wasser angeboten, um mir den Staub von den Füßen zu waschen; sie hat meine Füße mit ihren
Tränen gewaschen und mit ihrem Haar getrocknet.
45 Du hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben; sie hat mir unaufhörlich die Füße geküsst, seit ich hereingekommen
bin.
46 Du hast es versäumt, mir Gastfreundschaft zu erweisen und mir den Kopf mit Olivenöl zu salben; sie hat meine
Füße mit kostbarem Salböl gesalbt.
47 Ich sage dir, ihre Sünden - und es sind viele - sind ihr vergeben; deshalb hat sie mir viel Liebe erwiesen. Ein
Mensch jedoch, dem nur wenig vergeben wurde, zeigt nur wenig Liebe.«
48 Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine Sünden sind dir vergeben.«
49 Die anderen Männer am Tisch sagten zueinander: »Für wen hält sich dieser Mann, dass er Sünden vergibt?«
50 Und Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet; geh in Frieden.«
1. Der Gastgeber
 Jesus ist von einem Pharisäer namens Simon zum Essen eingeladen worden. Die Initiative dazu ging von Simon
aus. Eine solche Einladung zeigt eine gewisse Wertschätzung. Im antiken Orient war eine Einladung zum Essen
stets eine Ehre. Ein gemeinsames Essen bedeutete damals mehr als heute.
 Es war eine Art Aufnahme in den Privatbereich und insofern Vertrauenssache, Ausdruck der Verbundenheit.
Wegen des heißen Klimas aß man oft vor dem Haus oder man ließ die Türen offen stehen. Ein Essen war also
meist eine halböffentliche Angelegenheit. Darum aß man nicht mit jedem.
 Man wählte nach dem Motto aus: "Gleich und gleich gesellt sich gern". Auch deshalb war die "Tischgemeinschaft"
Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität.
 Wie überhaupt im Orient, so wurde auch bei den Pharisäern Gastfreundschaft groß geschrieben. Insbesondere lud
man gern die Gastredner ein, die in der Synagoge des Ortes eine Predigt gehalten hatten. Das griechische Wort für
"Essen" bedeutet "festliches Essen". Das kann sich eigentlich nur auf ein Schabbatessen beziehen.
 Die Anrede "Rabbi", die Simon gegenüber Jesus verwendet, lässt darauf schließen, dass Jesus wohl als ortsfremder
Rabbi von den Pharisäern des Ortes eingeladen worden war.
 Es gab im damaligen Orient beim Essen keine Stühle und Tische. Vor allem bei einem festlichen Essen war es
üblich, dass man zu Tisch lag, auf Polstern, die um einen flachen Tisch gruppiert waren. Mit dem linken
Ellenbogen stützte man sich auf, mit der rechten Hand aß man. Die nackten Füße streckte man auf dem Polster
nach hinten weg. Die Sandalen legte man beim Eintreten in ein Haus ab.
 Was lässt sich über Simon im Kontext dieser Geschichte sagen? Er möchte Jesus näher kennenlernen. Die
Begegnung mit ihm hat ihn zu einem ernsthaft Fragenden gemacht. Er hält es sogar für möglich, dass Jesus "der
Prophet" sein könnte.
 Darüber will Simon sich seine eigene Meinung bilden. Wir tun gut daran, ihn nicht negativ zu interpretieren. Dazu
gibt es vom Text her keinen Grund. Freilich, Simon läuft nicht schnell begeistert einem Wanderrabbi nach. Er hat
seine Maßstäbe. Wir sollten uns Simon als einen sympathischen, nüchternen und doch auch aufgeschlossenen
Mann vorstellen.
2. Der Gast
 Jesus nahm die Einladung Simons an. Er war kontaktfreudig. Er isst nicht nur mit "Sündern und Zöllnern", sondern
auch mit Pharisäern. Gast zu sein, war die Lebensform Jesu. Er übte keinen Beruf mehr aus, hatte keine Frau, kein
regelmäßiges Einkommen.
 Wohlhabende Frauen, die mit ihm unterwegs waren, unterstützten ihn. Im Übrigen war er auf die Gastfreundschaft
der Menschen angewiesen. Er hatte zwar im Haus des Petrus in Kapernaum einen festen Stützpunkt, aber er zog
auch viel durch die Gegend.
 In einer Agrargesellschaft, in der die Menschen mit ihrem Grund und Boden eng verbunden sind, fällt ein solcher
Lebensstil auf. Jesus führte kein normales Leben. Er nahm sich das Recht und die Freiheit heraus, eine Ausnahme
zu sein.
 Was glaubte er, wer er ist? Sein Lebensstil kam jedenfalls dem vielfältigen Kontakt zugute. Im festgefügten
Rahmen seines Heimatdorfes hätte er diese Möglichkeiten nicht gehabt. Er wäre immer nur mit den gleichen
Leuten in Kontakt gekommen.
 An jenem Tag lag Jesus in irgendeiner galiläischen Ortschaft auf dem Polster eines gewissen Simon. Und da
passierte doch tatsächlich Folgendes:
3. Der unverhoffte Besuch
 Während des gemeinsamen Essens bei Simon geschah etwas Überraschendes. Der Text drückt das durch die zwei
Worte "Und siehe ... " aus.
 Eine Frau kam von der Straße herein. Sie wird uns nicht näher vorgestellt. Wir erfahren weder ihre
Lebensgeschichte noch ihren Namen. Nur eines wird mitgeteilt: Sie war eine im Ort bekannte "Sünderin".
Der Begriff Sünderin
o Das Wort "Sünder" bzw. "Sünderin" war zur Zeit Jesu ein prägnanter Begriff. Es gab in der damaligen Gesellschaft
"Gerechte" und "Sünder". Man wusste in einer Ortschaft genau, wer zu den "Gerechten" zu zählen ist und wer zu
den "Sündern".
o Diese Unterscheidung besagt keineswegs, dass die Gerechten sich selber als "sündlos" einstuften, sondern sie war
vor allem eine Frage des Berufs. "Sünder" waren diejenigen, die ihr Geld auf eine Weise erwarben, die im
Widerspruch zur Heiligen Schrift (Thora) stand.
o Das galt z.B. für alle, die beruflich mit den Feinden Israels, den Römern, zusammenarbeiteten und damit deren
Herrschaft über Israel unterstützten. Es galt aber Z.B. auch für Gerber und Geldverleiher. Erstere waren auf Grund
ihres Kontakts mit Tierleichen ständig kultisch unrein. Letztere lebten davon, dass sie die Notlage ihrer
Volksgenossen ausnutzten und von ihnen "Zins" erhoben. Das ist nach der jüdischen Bibel verboten.
o Bei Frauen machte vor allem die Prostitution die Betreffende zur "Sünderin" . Bei der Frau, die jetzt das Haus
Simons betrat, dürfte es sich um eine Prostituierte gehandelt haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Palästina
des 1. Jahrhunderts n. ehr. der Großteil der Prostitution Armutsprostitution war.
o Der Begriff "Sünderin" bzw. "Sünder" beschrieb einen bestimmten Platz in der Gesellschaft. Der Umgang mit den
Sündern war gesellschaftlich geregelt. Ein geachteter Mensch meidet den Kontakt mit solchen Personen, zumindest
offiziell und öffentlich.
o Diese Kontaktsperre war in der Gesellschaft wichtig. Von einer Lebensweise, die die Grundwerte der Gesellschaft
in Frage stellt, muss man sich distanzieren. Wer das Kontaktverbot durchbrach, den ereilte das gleiche Schicksal.
Er verlor seinerseits Freunde und Bekannte.
 In jenem Augenblick betrat also eine andere Sorte Mensch Simons Haus. Nach damaligen Gepflogenheiten war es
durchaus gestattet und kam des Öfteren vor, dass Bewohner des Ortes während eines Essens in ein offen stehendes
Haus kommen, gerade auch beim Schabbat.
 Interessierte konnten sich an der Wand aufstellen, um bei den religiösen Gesprächen zuzuhören. Auch eine
Beteiligung am Tischgespräch war möglich. Aber dieser Besuch, von dem hier die Rede ist, fiel völlig aus dem
Rahmen. Frauen waren bei den Essen der Männer prinzipiell nicht anwesend und dass eine solche Frau während
eines Schabbatessens das Haus eines Pharisäers betrat, war ein Skandal.
 Was wollte die Frau ausgerechnet im Haus eines Pharisäers? Sünderinnen und Pharisäer waren zwei
Gesellschaftsgruppen, die sich nicht gerade nahe standen. Konnte die Frau keine andere Gelegenheit abwarten?
Was trieb sie, das keinen Aufschub duldete?
 Das Verhalten der Frau war durchaus provozierend, um nicht zu sagen frech. Sie ging direkt auf die Sitzpolster zu.
Sie interessiert sich nur für einen. Sie kommt wegen des eingeladenen Gastes. Die Frau sagt kein Wort. Wir hören
keinen Gruß, keine Bitte, keine Erklärung. Die Besucherin redet nur durch das, was sie tut.
 Sie ist eine Pantomime. Sie betreibt nonverbale Kommunikation. Wer sie verstehen will, muss sie ohne Worte
verstehen. Sie hat ein Parfümfläschchen mit Myrrenöl dabei. Myrrenöl wurde in Ägypten hergestellt. Es handelt
sich um einen teuren Importartikel, ein Parfüm der obersten Preisklasse. Die Frau brachte einen Luxusartikel mit,
von dem die meisten jüdischen Frauen nur träumen konnten.
 Als die Frau sich Jesus genähert hatte, fing sie plötzlich zu weinen an. Sie muss in starker innerer Bewegung das
Haus betreten haben. Die Tränen fielen auf die nackten Füße Jesu, die ihr am nächsten waren.
 Erschrocken knotete sie ihre Haare auf und trocknete mit ihnen seine Füße. Es ging alles schnell und spontan.
Dabei war der Vorgang mehr als peinlich.
 Eine Frau durfte damals außerhalb ihres Hauses und in Anwesenheit fremder Männer auf keinen Fall ihr Haar
öffnen. Im antiken Israel war das ein Scheidungsgrund!
 Das Herunterfallen der glänzenden, schwarzseidenen Haare einer Orientalin galt als erotischer Vorgang. Jene Frau
hatte offenbar ihre Umgebung völlig vergessen. Sie war ganz in ihrem Tun. Vieles war ihr unwichtig und nur noch
wenig wichtig.
 Dann küsste die Frau die Füße Jesu. In der orientalischen Kuss-Symbolik waren Küsse ziemlich genau geregelt.
Sippenmitglieder und Gleichgestellte küssen sich auf die Wange. Untergebene gehen auf die Knie und küssen die
Hände ihrer Vorgesetzten. Nur in zwei Fällen küsst man die Füße. Im einen Fall ist es die Geste des Sklaven bzw.
der Sklavin gegenüber ihrem Herrn.
 Im anderen, seltenen Fall küsst man die Füße dessen, der einem das Leben gerettet hat. Der Fußkuss drückt aus:
mein Leben gehört dir, oder: mein Leben verdanke ich dir. Die Handlung der Frau war ein Bekenntnis und
Geständnis.
 Dann begann die Frau, die Füße Jesu mit dem Myrrenöl zu salben. Dass dieses Öl für die Füße verwendet wird, ist
nirgendwo sonst belegt. Zwar benutzten auch Männer duftende Öle, aber nur an den hohen Festtagen des Jahres.
 Man cremte sich die Haare und das Gesicht ein, niemals die Füße. Warum tat die Frau das? Wagte sie es nicht, das
Gesicht oder die Haare Jesu zu berühren? Wurde ihr bewusst in welcher Situation sie war? Wir erfahren es nicht.
Wir lernen diese Frau nur wenige Minuten ihres Lebens kennen. Dann verliert sich ihre Spur wieder im Dunkel.
4. Simons Selbstgespräch
 Die erste wörtliche Rede in dieser Erzählung ist ein Selbstgespräch. Selbstgespräche sind für die Interpretation von
Erzählungen besonders wichtig. Im Selbstgespräch ist der Mensch nicht diplomatisch oder raffiniert. Er blufft
nicht, spielt keine Rolle und baut keine Fassade auf. Im Selbstgespräch ist der Mensch ganz er selbst. Wo sonst
kommt man so nahe an einen Menschen heran, wie im Selbstgespräch?
 Simon lässt sich durch das Verhalten der Frau nicht provozieren. Er hat die Größe ruhig zu bleiben. Ein Wink hätte
genügt und die Frau wäre des Hauses verwiesen worden. Doch Simon lässt die Frau gewähren. Er macht den
unverhofften Vorfall zum Testfall.
 Jetzt kann sich erweisen, ob Jesus prophetisch begabt ist. Und auf einmal wiegt alles schwer, was Jesus macht. Die
Frau bringt ihn ungewollt in eine Situation, in der er Farbe bekennen muss, so oder so.
 Simon hatte sich ernsthaft gefragt, ob Jesus der verheißene Endzeitprophet ist. Ein Prophet ist nicht nur ein
Ausleger heiliger Schriften, sondern hat eine Botschaft direkt von Gott. Eher enttäuscht stellt Simon fest, dass
Jesus den Vorfall nicht prophetisch durchschaut. Als Prophet müsste er erkennen, welche Sorte von Mensch diese
Frau ist.
 Simon ist davon überzeugt, dass Jesus die Frau aus Unwissenheit gewähren lässt. Wüsste er wer sie ist, würde er so
handeln, wie ein ehrenwerter Mann in solchen Situationen zu handeln hat.
 Simon geht also davon aus, dass Jesus diesbezüglich genauso denkt wie er. Dass Jesus den Status dieser Frau kennt
und sie trotzdem - oder gerade deshalb - in dieser Form gewähren lässt, liegt außerhalb dessen, was Simon für
möglich hält.
5. Das Gleichnis
 Die eingetretene Situation ist verfahren. Wie soll es weitergehen? Gibt es irgendeinen Weg, auf dem sich diese drei
Menschen näher kommen können: der Gastgeber, der Gast und der unverhoffte Besuch? Gibt es eine Chance des
Verstehens? Sie ist sicher klein.
 In dieser Lage greift Jesus zu einem Gleichnis. Auf diesem Weg sieht er noch am ehesten die Möglichkeit, eine
Brücke zu bauen. Ein Gleichnis lenkt erst einmal ab und schafft Distanz. Es ermöglicht durch Verfremdung, die
Situation mit anderen Augen zu sehen.
 Das Gleichnis, das Jesus erzählt, enthält zwar keinen direkten Bezug zur Situation in Simons Haus, aber jedem ist
klar, dass die Personen und die Handlung dieses Gleichnisses nicht frei erfunden sind, sondern eine Stellungnahme
zu der eingetretenen Situation darstellen. Obwohl alle Anwesenden das Gleichnis hören, richtet es sich zunächst
einmal an Simon. „Simon, ich möchte dir etwas sagen".
 Das Gleichnis ist Ausdruck einer Hoffnung. Jesus hält es nicht für aussichtslos, sich um Simons Verständnis zu
bemühen. Das Gleichnis ist der Versuch, Simon für etwas zu gewinnen. Es will etwas in ihm berühren.
 Jesus spricht von zwei Schuldnern. Es wäre durchaus möglich gewesen, ein Gleichnis zu erzählen, das nur von
Simon oder nur von der Frau handelt. Doch Jesus bringt beide zusammen ins Spiel. Wenn es gelingen soll, Simon
für eine neue Sicht der Situation zu gewinnen, dann kann das nur so geschehen, dass er die Frau und sich selbst mit
anderen Augen sieht.
 Das Gleichnis spielt in der Finanzwelt. Genauer: es spielt im Büro eines Geldverleihers. Die drei Hauptpersonen
sind lediglich in finanzieller Hinsicht näher bestimmt, nämlich ob sie Geld haben oder nicht. Wer sie sonst sind,
interessiert nicht.
 Dass Jesus ausgerechnet das Büro eines Geldverleihers als Ort der Handlung wählt, ist provozierend. Geldverleiher
galten, wie schon gesagt, im damaligen Judentum als Sünder. Der Zins auf geliehenes Geld war in der Antike
wesentlich höher als heute (bis 30 und 40%). Weil Zinsnehmen meist eine Form der Ausbeutung war, ist es im
Alten Testament gegenüber Volksgenossen verboten.
 Zur Zeit Jesu gab es in jeder größeren Stadt Geldverleiher. Ihre Büros lagen meist versteckt in Nebenstraßen.
Bevor man in eine solche Straße einbog oder ein solches Haus betrat, schaute man sich schnell noch einmal um.
Hier verkehren Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Es ist ein Ort härtester Abhängigkeit, ein Ort
des Ausgeliefertseins. Hier zählt nur das Geld und wer es wann auf den Tisch legen kann.
 Wichtig für das Verständnis des Gleichnisses ist, dass es nicht um eine Geldbitte unter Freunden geht. Gerade
deshalb ist das was geschieht zum Wundern. Der Geldverleiher dieses Gleichnisses ist völlig aus der Art
geschlagen. Geldverleiher leben davon, dass sie nicht barmherzig sind. Sonst bräuchten sie gar nicht erst
anzufangen.
 Nach damaligem Recht hätte der Geldverleiher die beiden säumigen Schuldner in den Schuldturm werfen lassen
können. Dort hätten sie ihre Schulden abarbeiten müssen. Doch der Geldverleiher besteht nicht auf seinem Recht.
Er tut nicht das, was seinen Beruf definiert.
 Warum nicht? Das Motiv ist dem Gleichnis wichtig: "Weil keiner von beiden die Schulden bezahlen konnte,
schenkte er die Schu1dsumme beiden." Dieses Motiv hebt die Grundlage des gesamten Berufsstandes auf.
 Der Geldverleiher verhä1t sich den beiden Schu1dnern gegenüber wie ein Freund. Er handelt großzügig und
herzlich. Die Notlage der beiden wird ihm zum Argument des Helfens. Er weiß: "Ohne mein Entgegenkommen
sind die beiden ruiniert." Da zerreißt er die beiden Schuldscheine.
 Das Gleichnis nennt einen beträchtlichen Unterschied zwischen den beiden Schuldnern. Der eine schuldet 50
Denare (Tagesverdienste), der andere 500 Denare. Indem Jesus diesen Unterschied macht, kommt er den
Denkvorraussetzungen Simons entgegen.
 Simon stellt sich zwar nicht im arroganten Sinn über die Frau, aber er macht einen Unterschied zwischen einem
Menschen, der die Gebote Gottes ernstnimmt und einer ortsbekannten Dirne. Simon hat sein Leben der Treue zur
Thora verschrieben. Diese Frau jedoch brüskiert die Thora von Berufswegen.
 Das Gleichnis holt Simon bei diesem Denken ab. Es gibt diesem Denken ein Stück weit recht. In der Tat ist es ein
Unterschied ob man sein ganzes Leben der Thora widmet oder als Dirne tätig ist. Doch was macht das Gleichnis
aus diesem Unterschied?
 Der Geldverleiher schenkt zwar beiden unterschiedlich viel, aber er schenkt bei den alles. Im Entscheidenden ist
die Lage der bei den Schuldner trotz des Unterschieds die gleiche: Keiner kann seine Schulden bezahlen und beide
bekommen sie geschenkt. Trotz des zehnfachen Unterschieds kein prinzipieller Unterschied.
 Nach dem Ende des Gleichnisses stellt Jesus Simon eine überraschende Frage. Sie zeigt, worauf es dem
Gleichniserzähler ankommt: "Was meinst du, wer von den beiden wird ihn am meisten lieben?" Simon ahnt,
worauf diese Frage hinausläuft und antwortet zögernd: "Ich nehme an der, der am meisten geschenkt bekam." Jesus
braucht das nur noch zu bestätigen: "Du hast recht."
 Jesus wollte diese Schlussfolgerung nicht selbst ziehen. Simon sollte sie aussprechen. Er konnte der Konsequenz
des Gleichnisses nicht ausweichen. Das Gleichnis hat ihn in der Wahrheit gefangen.
 Die Tragik: die Gerechten erleben selten oder nie den Unterschied zwischen "normal dankbar" und "total dankbar".
6. Der Vergleich
 "Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: 'Siehst du diese Frau?'
 Wir kehren aus der erzählten Welt zurück in die vorfindliche Welt. Die Frage "Siehst du diese Frau?" ist
merkwürdig. Natürlich hat Simon sie gesehen. Aber hat er sie wirklich gesehen? Mit den folgenden Worten legt
Jesus offen, wie er die Frau und ihr Verhalten sieht.
 Er tut das vor der anwesenden Ortsgruppe der Pharisäer. Was Jesus jetzt äußert, wird in kurzer Zeit im ganzen Ort
bekannt sein. Jesus gibt unumwunden zu, dass er das Verhalten dieser Frau billigt. Mehr noch: dass er es gut
findet. Er stellt das Verhalten dieser Frau und das Verhalten des Pharisäers Simon "Punkt für Punkt"
nebeneinander.
 Und dabei passiert das für die Gäste Unfassliche: Jesus stellt seinem Gastgeber diese Frau als Vorbild hin! Simon
wird in dem Vergleich Punkt für Punkt zum Verlierer. Drei Mal betont Jesus: "Sie aber hat..." Damit stellt sich
Jesus öffentlich auf die Seite der Frau, gegen die anwesende Männerwelt.
 Um den Vergleich zwischen Simon und der Frau zu verstehen, braucht man genaue Kenntnisse der damaligen
orientalischen Sitten. Häufig hat man den Vergleich so verstanden, dass Simon seine Gastgeberpflichten verletzt
und Jesus unfreundlich behandelt habe. Doch das ist nicht der Fall. Es wäre auch schlechter Stil, wenn Jesus bei
dieser Gelegenheit seinem Gastgeber irgendwelche Unterlassungen auflisten wollte.
 Bei dem Vergleich zwischen Simon und der Frau geht es um etwas anderes:
 Nach damaligen Gepflogenheiten war der Gastgeber keineswegs verpflichtet, einem Gast die Füße zu waschen.
Das geschah allenfalls dann, wenn der Gast direkt von einer langen Reise kam. Aber selbst dann wurde eine solche
Tätigkeit nicht vom Hausherrn selbst erledigt.
 Das war Aufgabe der Bediensteten des Hauses, falls es solche gab. Wo das nicht der Fall war, wusch sich der
betreffende Gast die Füße selbst. Genauso wenig war es üblich, einen fremden Gast beim Betreten des Hauses zu
küssen. Das geschah nur im Verwandtenkreis und unter engen Freunden.
 Das Salben der Haare bzw. des Gesichts war bei Männern lediglich an hohen Jahresfesten üblich. Und natürlich
salbte jeder Mann sich selbst. Simon hat sich also keine Unhöflichkeiten zuschulden kommen lassen. Sein
Verhalten war höflich und korrekt, den allgemeinen Verhaltensregeln entsprechend.
 Gerade das will Jesus mit seinem Vergleich zum Ausdruck bringen: Simon, dein Verhalten war korrekt und
entsprach den allgemeinen Erwartungen. Nirgends bist du über das übliche hinausgegangen. Du hast nichts getan,
das ungewöhnlich gewesen wäre und die Fesseln der Konvention gesprengt hätte.
 Simon, es ist nichts Ungewöhnliches, wenn man das nicht tut, was du nicht getan hast, aber es ist etwas
Ungewöhnliches wenn man es tut. Um diesen Unterschied geht es in dem Vergleich zwischen Simon und der Frau.
 Jesus spürt, dass in dem Verhalten jener Frau etwas Totales, Überschwengliches zum Ausdruck kam, das den
Rahmen des Üblichen sprengt. Das vergleicht er mit dem höflichen Verhalten Simons. Und dabei sieht Simon alt
aus, sehr alt.
 Der Vergleich zwischen Simon und der Frau erfolgt nicht in einem Gespräch unter vier Augen, sondern vor allen
Anwesenden. Jesus sagt laut, was er denkt. Ist das gut? Wäre es nicht ratsam gewesen, Simon und die Ortsgruppe
der Pharisäer für sich zu gewinnen? Simon war ihm gegenüber erstaunlich aufgeschlossen.
 Jetzt aber brüskiert Jesus ihn vor den anderen und vor dieser Frau. Strategisch ist das nicht klug,
werbepsychologisch auch nicht, kirchenpolitisch auch nicht. Strategisch gesehen wäre Simon und die Ortsgruppe
der Pharisäer wichtiger gewesen als diese Frau.
 Jesus aber, indem er die Frau gewähren ließ und sich jetzt auf ihre Seite stellte, stößt die gesamte Runde vor den
Kopf. Da muss doch bei ihnen "der Rollladen runtergehen". In dem Ort wird Jesus es von jetzt an schwer haben.
***
 Nun… was heißt das alles nun für uns? Wie sehen wir die Sünde und die Sünder? Sind wir eher wie diese Frau
oder wie Simon?
 Ich möchte jetzt zum Abschluss nicht groß interpretieren was wir nun machen MÜSSEN. Das bleibt jedem selbst
überlassen.
Basiert auf die Auslegung von Siegfried Zimmer
Die Sünderin in Simons Haus
Lukas 7,36-50 (Neues Leben)
36 Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen in sein Haus ein.
Jesus nahm die Einladung an und setzte sich zu Tisch. 37 Eine
Frau aus dem Ort, die für ihren unmoralischen Lebenswandel
bekannt war, erfuhr, dass er da war, und brachte ein Gefäß mit
kostbarem Salböl. 38 Sie kniete vor Jesus nieder und weinte. Ihre
Tränen fielen auf seine Füße, und sie trocknete sie mit ihren
Haaren. Dann küsste sie ihm wieder und wieder die Füße und
salbte sie mit dem Öl. 39 Als der Gastgeber sah, was da vorging
und wer die Frau war, sagte er sich: »Das beweist, dass Jesus kein Prophet ist. Wäre er wirklich von Gott gesandt,
dann wüsste er, was für eine Frau ihn da berührt. Eine Sünderin!« 40 Jesus wusste, was er dachte, und sagte zu dem
Pharisäer: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.« »Ja, Meister«, nickte Simon, »sprich nur.«
41 Darauf erzählte Jesus: »Ein Mann lieh zwei Leuten Geld - dem einen fünfhundert Denare und dem anderen fünfzig.
42 Als keiner der beiden ihm das Geld zurückzahlen konnte, erließ er ihnen ihre Schulden. Wer von den beiden liebte
ihn danach wohl mehr?«
43 Simon antwortete: »Ich nehme an, derjenige, dem er die größere Schuld erließ.« »Das stimmt«, sagte Jesus.
44 Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: »Schau dir die Frau an, die da kniet. Als ich dein Haus betrat,
hast du mir kein Wasser angeboten, um mir den Staub von den Füßen zu waschen; sie hat meine Füße mit ihren
Tränen gewaschen und mit ihrem Haar getrocknet. 45 Du hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben; sie hat mir
unaufhörlich die Füße geküsst, seit ich hereingekommen bin. 46 Du hast es versäumt, mir Gastfreundschaft zu
erweisen und mir den Kopf mit Olivenöl zu salben; sie hat meine Füße mit kostbarem Salböl gesalbt.
47 Ich sage dir, ihre Sünden - und es sind viele - sind ihr vergeben; deshalb hat sie mir viel Liebe erwiesen. Ein
Mensch jedoch, dem nur wenig vergeben wurde, zeigt nur wenig Liebe.« 48 Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine
Sünden sind dir vergeben.«
49 Die anderen Männer am Tisch sagten zueinander: »Für wen hält sich dieser Mann, dass er Sünden vergibt?«
50 Und Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet; geh in Frieden.«
Die Sünderin in Simons Haus
Lukas 7,36-50 (Neues Leben)
36 Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen in sein Haus ein.
Jesus nahm die Einladung an und setzte sich zu Tisch. 37 Eine
Frau aus dem Ort, die für ihren unmoralischen Lebenswandel
bekannt war, erfuhr, dass er da war, und brachte ein Gefäß mit
kostbarem Salböl. 38 Sie kniete vor Jesus nieder und weinte. Ihre
Tränen fielen auf seine Füße, und sie trocknete sie mit ihren
Haaren. Dann küsste sie ihm wieder und wieder die Füße und
salbte sie mit dem Öl. 39 Als der Gastgeber sah, was da vorging
und wer die Frau war, sagte er sich: »Das beweist, dass Jesus kein Prophet ist. Wäre er wirklich von Gott gesandt,
dann wüsste er, was für eine Frau ihn da berührt. Eine Sünderin!« 40 Jesus wusste, was er dachte, und sagte zu dem
Pharisäer: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.« »Ja, Meister«, nickte Simon, »sprich nur.«
41 Darauf erzählte Jesus: »Ein Mann lieh zwei Leuten Geld - dem einen fünfhundert Denare und dem anderen fünfzig.
42 Als keiner der beiden ihm das Geld zurückzahlen konnte, erließ er ihnen ihre Schulden. Wer von den beiden liebte
ihn danach wohl mehr?«
43 Simon antwortete: »Ich nehme an, derjenige, dem er die größere Schuld erließ.« »Das stimmt«, sagte Jesus.
44 Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: »Schau dir die Frau an, die da kniet. Als ich dein Haus betrat,
hast du mir kein Wasser angeboten, um mir den Staub von den Füßen zu waschen; sie hat meine Füße mit ihren
Tränen gewaschen und mit ihrem Haar getrocknet. 45 Du hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben; sie hat mir
unaufhörlich die Füße geküsst, seit ich hereingekommen bin. 46 Du hast es versäumt, mir Gastfreundschaft zu
erweisen und mir den Kopf mit Olivenöl zu salben; sie hat meine Füße mit kostbarem Salböl gesalbt.
47 Ich sage dir, ihre Sünden - und es sind viele - sind ihr vergeben; deshalb hat sie mir viel Liebe erwiesen. Ein
Mensch jedoch, dem nur wenig vergeben wurde, zeigt nur wenig Liebe.« 48 Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine
Sünden sind dir vergeben.«
49 Die anderen Männer am Tisch sagten zueinander: »Für wen hält sich dieser Mann, dass er Sünden vergibt?«
50 Und Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet; geh in Frieden.«