War Jesus ein Revolutionär? Gliederung

War Jesus ein Revolutionär?
Gliederung:
1. Einführung
2. Revolution versus Reform
3. Die Bedeutung der Gewalt bei einer Revolution
4. Jesus und die Gewalt
5. Der Neue Bund ersetzt den Alten Bund?
6. Der Neue Bund als Vervollkommnung des
Alten Bundes
7. Worin unterscheidet sich Jesus vom damaligen Judentum?
1. Einführung
Wenn wir die Frage beantworten wollen, ob wir Jesus
als einen Revolutionär anzusehen haben, müssen wir
uns zunächst darüber klar werden, was wir denn
überhaupt unter einem Revolutionär und einer Revolution zu verstehen haben, in welchen Punkten sich also eine Revolution von einer Reform bzw. einer Renaissance unterscheidet. In einem ersten Schritt werden wir somit den Begriff der Revolution zu klären
haben.
Nun wird mit dem Begriff der Revolution zumeist die
Vorstellung verbunden, dass sie gewaltsam stattfindet
und in der Tat waren auch die wichtigsten Revolutionen vor allem in der Neuzeit sogar äußerst gewaltsam.
Trotzdem spricht man auch von friedlichen Revolutionen, bei denen also der Übergang von der einen
Ordnung in eine neue Ordnung ohne jegliches Blutvergießen stattfindet, die bisherigen Machthaber also
freiwillig abtreten und neuen Persönlichkeiten und
Ideen Platz machen. Wir haben also in einem zweiten
Schritt zu klären, ob es überhaupt friedliche Revolutionen gibt und in welchen Punkten sich eine solche
Revolution von gewaltsamen Revolutionen unterscheidet.
Nach dieser Vorklärung der in diesem Artikel zugrunde liegenden Begriffe, wollen wir unsere Analyse
in einem dritten Schritt mit der Frage beginnen, ob
die von Jesus eingeleitete Erneuerung dann, wenn
man hier überhaupt von einer Revolution sprechen
kann, friedlich oder gewalttätig war. Hier dürfte die
Antwort eindeutig sein: Jesus hat in keiner Phase seines kurzen Lebens den Versuch unternommen, seine
Ideen und Überzeugungen mit Waffengewalt durchzusetzen.
In einem vierten Schritt werden wir dann zeigen, dass
uns an einigen Stellen vor allem des Alten Testamentes, zum Teil aber auch im Neuen Testament Formulierungen begegnen, bei denen von einer klaren Ablösung der alten Ordnung durch eine ganz neue Ordnung gesprochen wird. Dies war dann auch eine weitgehend verbreitete Meinung in früheren Zeiten, in
denen tatsächlich davon gesprochen wurde, dass an
Stelle des Alten Bundes, den Gott mit Moses geschlossen hatte, nun durch Jesus ein Neuer Bund geschlossen wurde.
In einem fünften Schritt werden wir allerdings sehen,
dass immer dann, wenn wir nach den letztlichen
Grundwerten des Judentums und des Christentums
fragen, nahezu jede Grundüberzeugung von Jesus bereits im Alten Testament bei Moses und bei den Propheten angesprochen wurde und dass deshalb nicht
davon gesprochen werden kann, dass Jesus gegenüber
dem Glauben der Israeliten neue, dem Alten Bund
widersprechende oder auch nur unbekannte Überzeugungen geäußert hat.
In einem letzten sechsten Schritt werden wir dann
untersuchen müssen, worin denn nun die eigentlichen
Unterschiede zwischen Christentum und jüdischem
Glauben bestehen, welche Erneuerungen Jesus gegen-
über den Überzeugungen des Judentums in der damaligen Zeit tatsächlich gebracht hat.
2. Revolution versus Reform
Beginnen wir also mit der Frage, was denn eigentlich
eine Revolution ausmacht und worin sie sich von einer
Reform unterscheidet. Von einer Revolution spricht
man im Allgemeinen immer dann, wenn die bisherige
Ordnung durch eine andere ersetzt wird, wobei vor
allem auch die jeweiligen Führungskräfte, die an der
Spitze dieser Ordnung standen, abgelöst werden.
Im Gegensatz hierzu spricht man von einer Reform,
wenn die Grundzüge der bestehenden Ordnung erhalten bleiben, wenn nur Teile dieser Ordnung geändert
werden. Hierbei ist einmal daran zu denken, dass die
bisherige Ordnung im Verlaufe ihrer Entwicklung
verfälscht wurde und dass nun der Versuch gemacht
wird, wiederum zu der bisherigen wahren Ordnung
zurückzukehren.
Zum andern kann jedoch eine Reform auch in einer
Weiterentwicklung der bestehenden Ordnung bestehen, wobei diese Reform notwendig wurde, weil
sich die Umwelt seit Einführung dieser Ordnung geändert hat und die Ausprägungen der bestehenden
Ordnung gar nicht mehr den eigentlichen Zielsetzungen entsprechen und deshalb einer Anpassung bedürfen. Man geht hierbei davon aus, dass auch das gleiche
Grundprinzip je nach augenblicklicher Problemlage
unterschiedlich interpretiert und umschrieben wird,
sodass bei Änderung der Problemlage auch immer
eine Neuformulierung der an und für sich gleichbleibenden Grundwerte notwendig wird.
Eine echte Revolution fand z. B. in der französischen
Revolution von 1789 statt. Das bisherige, absolutistische Königtum wurde gestürzt, anstelle der monarchischen Ordnung trat nun die politische Ordnung einer
radikalen Demokratie, die aber sehr schnell durch
Robespierre in eine Diktatur und später durch Napoleon in ein Kaisertum umgewandelt wurde. Vor der
französischen Revolution wurde der König durch eine
festgelegte Erbfolge in sein Amt eingesetzt, fast alle
politischen Handlungen wurden am Interesse des Königs ausgerichtet, es galt die Maxime ‚der Staat, das
bin ich, der König‘, der König regierte absolutistisch,
das Ständeparlament (bestehend aus Adel, Klerus und
Bürger) hatte sich allerdings im Verlaufe der Geschichte bestimmte Mitbestimmungsrechte, z. B. die
Genehmigung von Steuern erkämpft. De facto versuchte aber auch hier der absolutistische König dieser
Bestimmung dadurch zu entgehen, dass indirekte
Steuern und Zölle eingeführt wurden, welche nicht
vom Ständeparlament genehmigt werden mussten.
Die neue republikanische Ordnung stand hingegen
unter dem Motto: ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die politischen Führer sollten aus allgemeinen, freien und gleichen Wahlen hervorgehen, allerdings riss Robespierre sehr schnell die Macht an sich.
Als zweites Beispiel für eine Revolution sei die russische Revolution von 1919 erwähnt. Hier wurde das
Zarentum zugunsten einer kommunistischen ‚Diktatur des Proletariats‘ abgelöst, auch hier fanden Wahlen statt, welche aber der Bevölkerung keine echten
Alternativen eröffneten. De facto wurde das russische
Kaisertum in eine Diktatur umgewandelt.
Wenn wir die politische Entwicklung in Großbritannien verfolgen, so fand hier zu keinem Zeitpunkt eine
echte Revolution in dem Sinne statt, dass die Monarchie in einem revolutionären Akt in eine Republik
umgewandelt wurde. Auch heute noch stellt formal
gesehen Großbritannien ein Königtum dar, wobei allerdings der König heutzutage in Großbritannien nahezu alle Vollmachten wie in republikanischen Demokratien an das Parlament und an eine aus dem Parlament hervorgehende Regierung übergeben hatte und
der König (die Königin) auch nicht viel mehr Rechte
besitzt als ein Präsident in einer repräsentativen Demokratie einer Republik.
Vergleichen wir also die heutige Staatsform Großbritanniens mit der vor etwa 250 Jahren, so könnte man
auch hier von einer revolutionären Entwicklung sprechen. Wenn trotzdem im Allgemeinen hier nicht von
einer englischen Revolution gesprochen wird, so liegt
dies daran, dass gemeinhin mit dem Begriff Revolution auch zum Ausdruck gebracht werden soll, dass
die Ablösung der Ordnungen in einem Schritt vollzogen wird. Eine allmähliche Umwandlung politischer
Ordnungen wird dann eher als Reform umschrieben.
Unsere Beispiele bezogen sich bisher ausschließlich
auf politische Ordnungen. Der Begriff der Revolution
kann aber selbstverständlich auf alle gesellschaftlichen Subsysteme angewandt werden. So spricht man
ja auch von der industriellen Revolution, welche eine
vorwiegend agrarische, auf Familienbetriebe fußende
Wirtschaftsform in eine arbeitsteilige und industrielle
Produktionsform umgewandelt hat. In unserem Zusammenhang ist natürlich von Bedeutung, dass wir
auch im Hinblick auf kulturelle Systeme und Religionsgemeinschaften von revolutionären Bewegungen
sprechen können, wenn eine religiöse Ordnung in eine
andere überführt wird. Die Aufklärung Ende des 17.
Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert kann sicherlich
als eine solche geistige Revolution bezeichnet werden.
Während in der mittelalterlichen Gesellschaft die katholische Kirche darüber wachte, was als letztliche
Ziele der Menschen anzusehen ist, brachte die Aufklärung das Abschütteln all dieser geistigen Einschränkungen, alles, was der Verstand zu erklären vermag,
galt nun als erlaubt.
3. Die Bedeutung der Gewalt bei einer Revolution
Im Allgemeinen verbindet man mit dem Begriff: ‚Revolution‘ – wie bereits bemerkt – weiterhin die Vorstellung, dass diese radikale Änderung der politischen
Ordnung gewaltsam erfolgt. Die bisherigen Machthaber sind in aller Regel nicht bereit, von selbst abzudanken, sie müssen mit Waffengewalt vertrieben werden, wobei die meisten Revolutionen sich nicht nur
darauf beschränkten, die bisherigen Führungskräfte
abzusetzen, sondern zumeist wurden sie ermordet, sei
es dass sie im offenen Kampf um die Erringung der
Macht getötet wurden, sei es, dass sie nach erfolgter
Revolution und Festigung der Macht der neuen Führungselite angeklagt und zum Tode verurteilt wurden
oder sogar wie in Russland ohne Prozess ermordet
wurden.
Es wird aber auch von friedlichen Revolutionen gesprochen, so etwa in Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Staates der ehemaligen DDR. Hier brach das kommunistische System
buchstäblich wie ein Kartenhaus bei dem ersten Widerstand zusammen, die Machthaber räumten freiwillig ihre Positionen und ermöglichten somit die Einführung einer demokratischen Regierungsform.
So ganz ohne Gewalt vollzog sich jedoch auch dieser
Wandel nicht. Wenn wir von Gewalt sprechen, so
müssen wir unterscheiden zwischen einer Gewalt,
welche gegenüber den bisherigen Machthabern ausgeübt wurde und der Gewalt, der die Bevölkerung
und diejenigen ausgesetzt waren, welche einen Umsturz der bestehenden politischen Ordnung betrieben.
Auch der Zeitpunkt, innerhalb welcher Gewalt ausgeübt wird, spielt bei der Beurteilung darüber, wie
friedfertig sich ein grundlegender Wandel vollzieht,
eine entscheidende Rolle.
Betrachten wir nämlich die Entwicklung in der DDR
ähnlich wie bei den Verhältnissen in Großbritannien
in einem etwas größeren zeitlichen Rahmen, so wurde
auch hier Gewalt ausgeübt. Es war schließlich der
Umstand, dass die Bevölkerung unterdrückt und
schikaniert wurde, der zum Widerstand großer Teile
der Bevölkerung führte. So erhoben sich die Arbeiter
der DDR bereits am 17. Juni 1953, wobei allerdings
dieser Aufstand mit Hilfe der russischen Streitkräfte
blutig niedergeschlagen wurde, immerhin beteiligten
sich damals mehr als eine halbe Million Menschen an
diesem Aufstand. Zwar verfolgten die Aufständischen
nicht in erster Linie einen Zusammenbruch der kommunistischen Gesellschaft, sie erstrebten vielmehr in
erster Linie eine Verbesserung ihrer materiellen Be-
dingungen und eine Ausweitung ihrer Mitwirkungsrechte, trotzdem hat gerade diese brutale Niederschlagung des Aufstandes dazu beigetragen, dass immer mehr Personen ein Ende dieser kommunistischen
Ordnung angestrebt hatten.
Auch der Umstand, dass ab 13. August 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde und dass für jeden, welcher die DDR auf dem Fluchtwege verlassen wollte,
der Schießbefehl galt, weiterhin der Umstand, dass
Tausende und Abertausende allein wegen abweichender Meinungen über die politischen Verhältnisse Gefängnisstrafen mit Foltermethoden über sich ergehen
lassen mussten, trug dazu bei, dass schließlich ein immer größerer Teil der Bevölkerung zum Widerstand
bereit war.
Betrachten wir also einen größeren Zeitraum, so war
auch diese Revolution keinesfalls gewaltfrei, zwar
wurden die bisherigen Machthaber bei Übergang zur
neuen politischen Ordnung nicht getötet, es wurde den
obersten Führungsspitzen der DDR noch nicht einmal
ein Prozess im Hinblick auf Taten gemacht, die in
einer Demokratie als verbrecherisch gelten und Menschenrechte verletzen. Trotzdem führte der Kampf
gegen die kommunistische Ordnung insgesamt zu
einer Vielzahl von Menschenopfern und es waren gerade diese Opfer, welche den Widerstand gegen dieses
Regime ausgelöst haben.
4. Jesus und die Gewalt
Wir erwähnten eingangs bereits, dass die Auskünfte
des Neuen Testamentes nicht eindeutig in der Beantwortung der Frage sind, ob man Jesus als einen Revolutionär bezeichnen kann, welcher an die Stelle des
bisherigen Glaubens einen ganz neuen und anderen
Glauben setzen wollte. Aber auch dann, wenn man
der Auffassung ist, dass man die Lehren von Jesus
durchaus als revolutionär bezeichnen könnte, besteht
wohl Einigkeit darin, dass Jesus ausgesprochen friedfertig war und zur Durchsetzung seines neuen Glaubens jede Gewaltanwendung ablehnte.
Im Gegensatz zu Mohammed, welcher circa 600 Jahre
nach Jesus an der Spitze eines Heeres seine religiösen
Widersacher bekämpfte, ritt Jesus auf einer Eselin
nach Jerusalem, der damaligen Hauptstadt und dem
religiösem Zentrum Israels. Mohammed organisierte
seine Anhänger nicht nur im Sinne einer religiösen,
sondern auch einer politischen und militärischen Gemeinschaft. Juden ließ er gewaltsam vertreiben und er
errang durch Überfälle und Raubzüge Macht und
Reichtum. Wenn auch Juden und Christen öffentliche
Ämter verwehrt waren, wurden sie allerdings von
Mohammed geduldet, sie durften weiterleben, da auch
sie an den einen Gott glaubten.
Bei Matthäus im 21. Kapitel Vers 1 -9 lesen wir hingegen über Jesus Einzug in Jerusalem:
‚Als sich Jesus mit seinen Begleitern Jerusalem näherte und nach Betfage am Ölberg kam, schickte er zwei
Jünger voraus und sagte zu ihnen: Geht in das Dorf,
das vor euch liegt; dort werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr. Bindet sie los
und bringt sie zu mir! Und wenn euch jemand zur
Rede stellt, dann sagt: Der Herr braucht sie, er lässt
sie aber bald zurückbringen. Das ist geschehen, damit
sich erfüllte, was durch den Propheten gesagt worden
ist: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt
zu dir. Er ist friedfertig und er reitet auf einer Eselin
und auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers.
Die Jünger gingen und taten, was Jesus ihnen aufgetragen hatte. Sie brachten die Eselin und das Fohlen,
legten ihre Kleider auf sie, und er setzte sich darauf.
Viele Menschen breiteten ihre Kleider auf der Straße
aus, andere schnitten Zweige von den Bäumen und
streuten sie auf den Weg.‘
In der Bergpredigt Matthäus Kapitel 5, Vers 38 und
39 fordert Jesus seine Zuhörer auf:
‚Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte
Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.‘
Im 22. Kapitel 15 ff. von Matthäus lesen wir weiter:
‚Damals kamen die Pharisäer zusammen und beschlossen, Jesus mit einer Frage eine Falle zu stellen…. Sag uns also: Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? Jesus
aber erkannte ihre böse Absicht und sagte: Ihr
Heuchler, warum stellt ihr mir eine Falle? Zeigt mir
die Münze, mit der ihr eure Steuern bezahlt! Da hielten sie ihm einen Denar hin. Er fragte sie: Wessen
Bild und Aufschrift ist das? Sie antworteten: Des Kaisers. Darauf sagte er zu ihnen: So gebt dem Kaiser,
was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!‘
Bei Lukas Kapitell 22, 35 - 37 erfahren wir zwar, dass
Jesus seine Jünger auffordert, Schwerter zu kaufen:
‚Dann sagte Jesus zu ihnen: Als ich euch ohne Geldbeutel aussandte, ohne Vorratstasche und ohne Schuhe, habt ihr da etwa Not gelitten? Sie antworteten:
Nein. Da sagte er: Jetzt aber soll der, der einen Geldbeutel hat, ihn mitnehmen und ebenso die Tasche.
Wer aber kein Geld hat, soll seinen Mantel verkaufen
und sich dafür ein Schwert kaufen. Ich sage euch: An
mir muss sich das Schriftwort erfüllen: Er wurde zu
den Verbrechern gerechnet. Denn alles, was über
mich gesagt ist, geht in Erfüllung.‘
Aber als die Jünger Jesus antworteten, dass sie zwei
Schwerter besäßen, sagte er: ‚Genug davon!‘. Damit
ist eindeutig klargestellt, dass Jesus Waffen offensichtlich nur zur Verteidigung akzeptiert. Später bei der
Gefangennahme Jesu wird diese Haltung noch verdeutlicht, wir lesen z. B. bei Matthäus Kapitel 26,4756:
‚Während er noch redete, kam Judas, einer der Zwölf,
mit einer großen Schar von Männern, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet waren; sie waren von
den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes geschickt worden. Der Verräter hatte mit ihnen ein Zeichen verabredet und gesagt: Der, den ich küssen werde, der ist es; nehmt ihn fest. Sogleich ging er auf Jesus zu und sagte: Sei gegrüßt, Rabbi! Und er küsste
ihn. Jesus erwiderte ihm: Freund, dazu bist du gekommen? Da gingen sie auf Jesus zu, ergriffen ihn
und nahmen ihn fest. Doch einer von den Begleitern
Jesu zog sein Schwert, schlug auf den Diener des Hohenpriesters ein und hieb ihm ein Ohr ab. Da sagte
Jesus zu ihm: Steck dein Schwert in die Scheide; denn
alle, die zum Schwert greifen, werden durch das
Schwert umkommen. Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel
schicken, wenn ich ihn darum bitte?‘
Die friedfertige Haltung von Jesus wird auch im dem
Verhör bei Pilatus deutlich. Bei Johannes in Kapitel
18 lesen wir:
‚Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich an mich
ausgeliefert. Was hast du getan? Jesus antwortete:
Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es
von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen,
damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber
mein Königtum ist nicht von hier.‘
Schließlich hat der verklärte und auferstandene Jesus
seine Jünger bei jeder Begegnung mit ‚Friede sei mit
Euch‘ begrüßt. Auch im Römerbrief Kapitel 2 und 14
erfahren wir, dass (die)
‚Herrlichkeit, Ehre und Friede jedem zuteil werde,
der das Gute tut, zuerst dem Juden, aber ebenso dem
Griechen;… denn das Reich Gottes ist nicht Essen
und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude
im Heiligen Geist.‘
Nun hatten wir bereits im vorhergehenden Abschnitt
gesehen, dass Revolutionen nicht nur deshalb gewaltsam verlaufen, weil die Revolutionäre üblicherweise
mit Waffengewalt die jeweils Herrschenden angreifen,
um auf diese Weise die bisherige Ordnung zu zerstören, sondern dass auch diejenigen, welche die Revolution durchführen oder sich auch nur zu ihr bekennen,
ebenfalls der Gewalt ausgesetzt sind. Es ist die Gewalt
und die Ungerechtigkeit der bisherigen Machthaber
gegenüber Teilen der Bevölkerung, welche in aller
Regel überhaupt erst die Bereitschaft zum Umsturz
der herrschenden Ordnung entstehen lässt. Da im Allgemeinen Herrscher auch nicht freiwillig abdanken,
sondern sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln zur Wehr setzen, werden auch die Revolutionäre viele Opfer zu beklagen haben. Vor allem dann,
wenn eine Revolution scheitert, werden zumeist die
Revolutionäre abgeurteilt oder auch ohne Gerichtsverfahren niedergemetzelt.
In diesem Sinne waren auch die frühen Christen Verfolgungen bis hin zum Märtyrertod ausgesetzt. Stephan wurde von Juden gesteinigt, die Römer verfolgten die Christen im gesamten römischen Herrschaftsgebiet, vor allem der römische Kaiser Nero verfolgte
die römischen Christen und ließ sie in den Arenen von
wilden Tieren zerreißen und die Christen in Rom
mussten sich für viele Jahre in die Katakomben flüchten.
Erst Kaiser Konstantin sicherte nach der Schlacht im
Jahre 312 an der Milvischen Brücke den Christen Religionsfreiheit zu, er übertrug der christlichen Kirche
staatliche Aufgaben, erklärte den Sonntag zum Feiertag und ließ christliche Kirchen wie vor allem die Laterankirche in Rom bauen. Zur Beendigung der innerchristlicher Streitigkeiten berief er 325 das Konzil
von Nicäa ein und erwirkte eine Verurteilung der
Lehre des Arius als Häresie.
Er selbst blieb jedoch pontifex maximus der altrömischen Religion und ließ sich in einer überlebensgroßen
Statue als Gott feiern, wie dies auch seine Vorgänger
getan hatten. Dieser Friede war jedoch nicht von Dauer. Christenverfolgungen fanden und finden jedoch im
Verlaufe der Geschichte bis auf den heutigen Tag
statt, so werden heutzutage vor allem in afrikanischen
und asiatischen Staaten Menschen wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt.
Bei der Beantwortung der Frage nach der Rolle der
Gewalt im Zusammenhang mit religiös motivierten
Revolutionen muss weiterhin zwischen der Haltung,
welche der jeweilige Religionsstifter aufwies und der
Haltung derjenigen, welche auf der Grundlage dieser
Ideen in der Folge die Herrschaft übernommen haben,
unterschieden werden. Auch wenn Jesus, der Stifter
des christlichen Glaubens als friedfertig bezeichnet
werden muss, wurden in der Folge bis in die Neuzeit
hinein im Namen der christlichen Religion Tausende
und Abertausende verfolgt und getötet. So ließ z. B.
Karl der Große bei der Niederzwingung der sächsischen Stämme jeden ermorden, der nicht bereit war,
den christlichen Glauben anzunehmen. Auch die Verbreitung der orthodoxen christlichen Lehre in Russland erfolgte unter Ermordung aller, welche nicht bereit waren, den orthodoxen Glauben zu bekennen. Der
Aufruf des Papstes Urban II zum Kreuzzug gegen den
Islam im Heiligen Land erfolgte weiterhin zwar zunächst einmal zur Verteidigung der in Jerusalem lebenden Christen, in der Durchführung des ersten und
der weiteren Kreuzzüge jedoch wurden auf dem Wege
nach Palästina und in Palästina selbst tausende Juden
und Mohammedaner, selbst Christen wahllos niedergemetzelt.
5. Der Neue Bund ersetzt den Alten Bund?
Wenden wir uns nun der eigentlichen These zu, Jesus
sei ein Revolutionär. Für eine solche Interpretation
spricht zunächst der Umstand, dass Jesus als Messias
gilt. Auch die Jünger Jesu hielten ihn für den Messias
und bei Matthäus im 16. Kapitel erfahren wir, dass
Jesus selbst von dieser Aufgabe überzeugt war:
‚Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam,
fragte er seine Jünger: Für wen halten die Leute den
Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes
den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen:
Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen
Gottes! Jesus sagte zu ihm: Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel…. Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der
Messias sei.‘ (Matthäus 16,13-20).
Aus dieser Textstelle geht hervor, dass Jesus sich sehr
wohl für den Messias hielt. Wenn er den Jüngern verbat, darüber zu sprechen, so ist diese Stelle sicherlich
nicht so zu verstehen, dass sich Jesus in diesem Augenblick noch nicht für den Messias gehalten hatte, er
spricht ja davon, dass der himmlische Vater Petrus
diese Antwort (du bist der Messias) eingegeben habe.
Vielmehr kann vermutet werden, dass es Jesus für gefährlich gehalten hatte, schon zu diesem Zeitpunkt
sich öffentlich als Messias auszuweisen, da dann eine
Verhaftung seitens der Römer zu befürchten gewesen
wäre (alle Juden, welche einen Umsturz planten, wurden von den Römern hingerichtet), bevor Jesus seinen
göttlichen Auftrag erfüllen konnte.
Die Juden zur Zeit Jesu sehnten sich nämlich mehrheitlich nach einem Messias, der sie aus der Unterdrückung durch die Römer befreite. Hier ging es in
der Tat um die Hoffnung auf einen revolutionären
Akt.
Aber auch dann, wenn sich Jesus selbst sehr wohl als
Messias auffasste, verstand er unter der Aufgabe eines
Messias etwas ganz anderes. Auf die Frage der Pharisäer, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuer zu zahlen,
antwortete Jesus:
‚Zeigt mir die Münze, mit der ihr eure Steuern bezahlt! Da hielten sie ihm einen Denar hin. Er fragte
sie: Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie antworteten: Des Kaisers. Darauf sagte er zu ihnen: So gebt
dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was
Gott gehört!‘ (Matthäus 22, 19-21)
Und in Jesu Verhör vor Pilatus antwortete Jesus auf
die Frage von Pilatus, „was hast du getan?“:
‚Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es
von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen,
damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber
mein Königtum ist nicht von hier. (Johannes 18,2938).
Für die These, Jesus sei ein Revolutionär, scheint weiterhin zu sprechen, dass im Neuen Testament vom
Neuen Bund gesprochen wird, den Jesus gründete und
der den alten mit Abraham und später mit Moses abgeschlossenen Bund ersetzt habe. Bei Lukas Kapitel
22,20 heißt es:
‚Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut,
das für euch vergossen wird.‘
Und bei Paulus im Hebräerbrief Kapitel 8, Vers 7-13
erfahren wir:
‚Wäre nämlich jener erste Bund ohne Tadel, so würde
man nicht einen zweiten an seine Stelle zu setzen suchen. Denn er tadelt sie, wenn er sagt: Seht, es werden
Tage kommen spricht der Herr –, in denen ich mit
dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen
Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den
ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei
der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen.
Sie sind nicht bei meinem Bund geblieben und darum
habe ich mich auch nicht mehr um sie gekümmert –
spricht der Herr. Das wird der Bund sein, den ich
nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe –
spricht der Herr: Ich lege meine Gesetze in ihr Inneres hinein und schreibe sie ihnen in ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein….. Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe.‘
Dieser Interpretation der Lehre Jesu als Neuen Bund
entspricht es dann auch, dass vor allem Paulus im
Gegensatz zu Jakobus den Heidenchristen erlaubte,
auf die Beschneidung und auf die rituellen Handlungen beim Essen, in der Kleidung und beim Einhalten
der Feste zu verzichten. Paulus sagt in seinem Römerbrief Kapitel 2, Vers 28 bis Kapitel 4, Vers 12:
‚Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist, und Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleisch geschieht, sondern Jude ist, wer es im Verborgenen ist,
und Beschneidung ist, was am Herzen durch den
Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht. Der
Ruhm eines solchen Juden kommt nicht von Menschen, sondern von Gott….. Was ist nun der Vorzug
der Juden, der Nutzen der Beschneidung? …. Das
Zeichen der Beschneidung empfing er zur Besiegelung
der Glaubensgerechtigkeit, die ihm als Unbeschnittenem zuteil wurde; also ist er der Vater aller, die als
Unbeschnittene glauben und denen daher Gerechtigkeit angerechnet wird, und er ist der Vater jener Beschnittenen, die nicht nur beschnitten sind, sondern
auch den Weg des Glaubens gehen, des Glaubens, den
unser Vater Abraham schon vor seiner Beschneidung
hatte.
Und im Galaterbrief Kapitel 5, 11 und 6,12-13 erfahren wir:
‚Man behauptet sogar, dass ich selbst noch die Beschneidung verkündige. Warum, meine Brüder, werde
ich dann verfolgt? Damit wäre ja das Ärgernis des
Kreuzes beseitigt… Jene Leute, die in der Welt nach
Anerkennung streben, nötigen euch nur deshalb zur
Beschneidung, damit sie wegen des Kreuzes Christi
nicht verfolgt werden. Denn obwohl sie beschnitten
sind, halten sie nicht einmal selber das Gesetz; dennoch dringen sie auf eure Beschneidung, um sich dessen zu rühmen, was an eurem Fleisch geschehen soll.
In ähnlicher Weise scheinen auch Teile der Bergpredigt diese Auffassung eines radikalen Wandels zu bestätigen. Bei Matthäus Kapitel 5, Vers 21-48 lesen wir
die mit Antithesen überschriebenen Lehrsätze Jesu,
welche alle eingeleitet werden mit der Feststellung:
‚Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist,…‘ und die
mit dem Satz: ‚Ich aber sage euch‘ weitergeführt werden:
‚Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist:
Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem
Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der
seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du
Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfal-
len sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!,
soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht
die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau
auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon
Ehebruch mit ihr begangen.
Ferner ist gesagt worden: Wer seine Frau aus der Ehe
entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben. Ich
aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein
Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch
aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch.
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist:
Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage
euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel,
denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie
ist der Schemel für seine Füße, noch bei Jerusalem,
denn es ist die Stadt des großen Königs.
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet
dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand,
sondern wenn dich einer auf die rechte Wange
schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn
dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd
wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und
wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu
gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem
gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab.
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich
aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die,
die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im
Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen
über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die
liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür
erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn
ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Beson-
deres? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also
vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater
ist.
Auch bei Johannes im Kapitel 13, Vers 34-35 sagt Jesus:
‚Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie
ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.
Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger
seid: wenn ihr einander liebt.
6. . Der Neue Bund als Vervollkommnung des
Alten Bundes
Diese Interpretationen der Heiligen Schrift über die
Bedeutung des Wortes ‚Neuer Bund‘ sind jedoch nicht
unbestritten. Wir finden nämlich im Neuen Testament
andere Passagen, welche den von Jesus begründeten
Neuen Bund lediglich als Erneuerung und allenfalls
Erweiterung des Alten Bundes darstellen, welcher
keinesfalls den Alten Bund, den Gott mit Abraham
geschlossen und später mit Moses erneuert hatte,
außer Kraft gesetzt hat.
Vielmehr erfahren wir bei Matthäus Kapitel 5,17-18:
‚Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und
die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen,
um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das
sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird
auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.‘
Auch ist keinesfalls sinnvoll, die oben aufgeführten
Lehrsätze der Bergpredigt als Antithesen zu verstehen, welche einen Gegensatz zum Alten Testament
zum Ausdruck bringen. Nehmen wir beispielsweise
die Aufforderung zur Nächstenliebe:
‚Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich
aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die,
die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im
Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen
über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.‘
Es wäre falsch, wenn wir aus diesem Satz den Schluss
ziehen würden, dass die Thora, die Heilige Schrift der
Juden, tatsächlich Hass auf die persönlichen Feinde
gepredigt oder zumindest geduldet hätte. Das Alte
Testament unterscheidet nämlich deutlich zwischen
den feindlichen Völkern, welche Gott und das auserwählte Volk der Juden bekämpfen, hier wird stets
darum gebeten, dass Gott diese Feinde vernichte.
Ganz anderes gilt jedoch für den persönlichen Feind
des Einzelnen. Hier lesen wir bereits im Alten Testament:
‚Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines
Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Gegners
unter der Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht
im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!‘ (Exodus, Kapitel
23, 3-5)
‚Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst
doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr
selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.‘(Exodus Kapitel 23,8-9)
‚Freu dich nicht über den Sturz deines Feindes, dein
Herz juble nicht, wenn er strauchelt.‘ (Sprüche Kapitel 24,17)
‚Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er
Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende
Kohlen auf sein Haupt und der Herr wird es dir vergelten.‘ (Sprüche Kapitel 25,21-22)
‚Wenn ich am Unglück meines Feinds mich freute und
triumphierte, dass Unheil ihn traf – habe ich doch
meinem Mund zu sündigen verboten, sein Leben mit
Fluch zu verwünschen.‘ (Hiob Kapitel 31,29-30)
Wir können auch nicht davon ausgehen, dass diese
Stellen über die Feindesliebe in der Thora Jesus unbekannt waren, gilt er doch als ein sehr profunder
Kenner der Heiligen Schrift. Schon als er sich mit
zwölf Jahren erstmals in Jerusalem im Tempel aufhielt, fiel er durch seine Fragen und Antworten auf:
‚Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und
stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt
über sein Verständnis und über seine Antworten.‘
(Lukas Kapitel 2,46,47). Und auch über seinen ersten
Lehrvortrag in der Synagoge zu Kapernaum staunten
die Zuhörer: ‚Als Jesus diese Rede beendet hatte, war
die Menge sehr betroffen von seiner Lehre; denn er
lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, und
nicht wie ihre Schriftgelehrten.‘ (Matthäus Kapitel 7,
28-29) Und bei Johannes Kapitel 7,46 lesen wir: ‚Die
Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch
so gesprochen.‘
Aber vielleicht ist die Aussage: ‚Ihr habt gehört, dass
gesagt worden ist‘ ganz anders zu verstehen. Jesus hat
ja nicht gesagt, in der Heiligen Schrift steht geschrieben, dass…., vielmehr leitete er seine Thesen mit den
Worten:‘ ihr habt gehört‘ ein und diese Einleitung
kann auch so verstanden werden, dass die Schriftgelehrten und Hohepriester der damaligen Zeit bei ihrer
Lehre allzu sehr auf den Buchstaben der Gesetze und
viel zu wenig auf den tieferen Sinn dieser Weisungen
abgehoben haben.
Dass Jesus überhaupt nicht die Absicht hatte, die
Lehren der Thora aufzugeben und an deren Stelle
neue Gebote zu setzen, geht deutlich aus dem Gespräch Jesus mit Schriftgelehrten hervor, als ihn ein
Pharisäer nach dem obersten Gebot fragte. Bei Matthäus Kapitel 22,34-40 lesen wir:
‚Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf
die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem
Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso
wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lie-
ben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt
das ganze Gesetz samt den Propheten.‘
Hier wird deutlich, dass Jesus die von Moses überbrachten zehn Gebote Gottes sowie die von den Propheten immer wieder erneut angemahnten Weisungen
voll übernimmt. Die Zehn Gebote Gottes stellen hierbei die Magna Charta des alten Israels dar, welche
genauso wie z. B. das Grundgesetz der BRD oder jede
andere Verfassung eines Staates die obersten Prinzipien und Grundwerte einer Ordnung festlegt.
Im Gegensatz hierzu erfüllen die vor allem im 3. Buch
Moses ausformulierten Bestimmungen über die einzuhaltenden Gesetze eher die Rolle einer Art Ausführungsbestimmungen, welche die in den zehn Geboten
Gottes verkündeten Prinzipien in die Tat umzusetzen
versuchen. Änderungen an diesen Gesetzesparagraphen können notwendig werden, weil sich auch die
äußeren Umstände ändern, sie stellen keine revolutionäre Aufgabe der bisherigen Ordnung dar, so sehen
die demokratischen Verfassungen sogar vor, dass Teile der Verfassung mit einer qualifizierten Mehrheit
abgeändert werden können, nur die Grundprinzipien
(Wahl der Politiker durch das Volk, Einhaltung der
Menschenrechte) sind sakrosankt. Eine Abschaffung
oder Änderung dieser Grundwerte käme dann in der
Tat einer revolutionären Handlung gleich.
In der Tat stellen Gottes- und Nächstenliebe eine Art
Zusammenfassung der zehn Gebote Gottes dar. Die
drei ersten Gebote beziehen sich hierbei auf die erforderte Liebe und Achtung gegenüber Gott: Wir sollen
nur den einen Gott anerkennen (1. Gebot), seinen
Namen nicht missbrauchen (2. Gebot) und den Sabbat
ehren (3. Gebot), die restlichen Gebote regeln die Beziehungen der Menschen zueinander (Gebot der
Nächstenliebe); sie sollen sicherstellen, dass wir unseren Mitmenschen nicht schaden, ihnen helfen, wenn
sie in Not sind und sie als gleichberechtigte Partner
anerkennen und ihnen vergeben, wenn sie gegen uns
gesündigt haben und wenn sie diese Tat ehrlich bereuen. Diese restlichen Gebote bestimmen, dass die Kinder die Eltern achten sollen (4. Gebot), dass man kei-
nen Menschen ermorden solle (5. Gebot), dass man die
Ehe nicht brechen solle (6. Gebot), das man weiterhin
nicht stehlen (7. Gebot), kein falsches Zeugnis gegen
den andern vorbringen (8. Gebot) und sich auch nicht
am Eigentum des andern vergreifen solle (9. und 10.
Gebot).
Es bedarf weiterhin der Klärung, wer denn nun als
Nächster im Sinne der Nächstenliebe zu gelten hat.
Eine Antwort auf diese Frage findet sich in dem
Gleichnis des Samariters, in dem Jesus selbst erläutert
hat, wen er im Zusammenhang mit diesem Gebot als
Nächsten ansieht. Bei Lukas Kapitel 10, 29-37 lesen
wir:
‚Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen
und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern
überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn
nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot
liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam
zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam
ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er
ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und
Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er
ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge
und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei
Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für
ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es
dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Was meinst du:
Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen
erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der
Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an
ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh
und handle genauso!‘
Aus diesem Gleichnis geht deutlich hervor, dass der
Begriff des Nächsten im Gebot der Nächstenliebe weder auf die nächsten Verwandten und Freunde bezogen wird, noch dass nur die Mitglieder des eigenen
Volkes als Nächste angesprochen sind. Es ist in diesem
Gleichnis der Samariter, also kein Angehöriger Israels, welcher seinen Dienst am Nächsten erfüllt.
Vielleicht bedarf es auch einer Erläuterung darüber,
dass die Nächstenliebe ebenso wichtig ist wie die Gottesliebe. Wenn z. B. in einer Verfassung zwei Grundrechte als gleichrangig angesehen werden und wenn
beide Rechte in einem Konfliktverhältnis zueinanderstehen, sodass nicht beide Rechte zur gleichen Zeit
voll erfüllt werden können, dann werden im Allgemeinen im Sinne einer Güterabwägung Abstriche an
beiden Rechten für notwendig und berechtigt angesehen. In diesem Sinne kann aber sicherlich ein Gebot
der Gottesliebe niemals zugunsten eines Gebotes der
Menschenliebe eingeschränkt werden.
Der Hinweis auf die gleiche Bedeutung beider Gebote
kann aber auch in dem Sinne verstanden werden, dass
sich die Liebe zu Gott eben insbesondere darin äußert,
dass man dem Mitmenschen gegenüber entsprechend
dem Gebot der Nächstenliebe handelt. Bei Matthäus
Kapitel 25, 40ff. heißt es:
‚Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich
sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan…. Amen, ich
sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht
getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.
Dass die Nächstenliebe sogar die Gott dargebrachten
Brandopfer ersetzen kann, erfahren wir bei Markus
Kapitel 12, 32,33. Der Pharisäer, welcher Gott nach
dem obersten Gebot gefragt hatte, fügte der Antwort
Jesu hinzu:
‚Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer
ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand
und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer
und anderen Opfer.‘
7. Worin unterscheidet sich Jesus vom damaligen Judentum?
Wenn aber Jesus die wichtigsten Gebote und Grundprinzipien der Juden übernommen hatte und den
Bund, den Gott mit Abraham und Moses geschlossen
hatte, zwar erneuern, aber fortsetzen wollte, worin bestehen dann die Unterschiede zwischen dem christlichen und dem jüdischen Glauben?
Beide Religionen haben zwar den Messiasglauben gemeinsam. Beide glauben daran, dass die Propheten
einen Retter der Menschheit geweissagt haben und
dass dieser von Gott gesalbt sein und göttlichen Ursprungs sein wird. So wird schon im 5. Buch Moses in
Kapitel 18,15 auf das Erscheinen des Messias hingewiesen:
‚Einen Propheten wie mich wird dir der HERR , dein
Gott, aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen
lassen. Auf ihn sollt ihr hören‘
Auch bei Jesseiya in Kapitel 9, 1-6 wird der Messias
angekündigt:
‚Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht;
über denen, die im Land der Finsternis wohnen,
strahlt ein Licht auf. Du erregst lauten Jubel und
schenkst große Freude. Man freut sich in deiner Nähe,
wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt,
wenn Beute verteilt wird. Denn wie am Tag von Midian zerbrichst du das drückende Joch, das Tragholz
auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel,
der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt, wird ein
Fraß des Feuers. Denn uns ist ein Kind geboren, ein
Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner
Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber,
Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des
dens. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat
kein Ende. Auf dem Thron Davids herrscht er über
sein Reich; er festigt und stützt es durch Recht und
Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten. Der leiden-
schaftliche Eifer des Herrn der Heere wird das vollbringen.‘
Damit enden jedoch bereits die Gemeinsamkeiten. Die
heutige jüdische Exegese hält zwar Jesus für einen bedeutenden Propheten, nicht aber für Gottes Sohn und
den angekündigten Messias. Für die Christen war Jesus auf der einen Seite zwar ein wahrer Mensch, auf
der anderen Seite aber auch gleichzeitig als Sohn Gottes wahren göttlichen Ursprungs. Entsprechend dem
christlichen Glauben wurde Jesus von Johannes dem
Täufer angekündigt:
‚Ich taufe euch nur mit Wasser (zum Zeichen) der
Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker
als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und
mit Feuer taufen.‘ (Matthäus Kapitel 3,11-12)
Und in Matthäus Kapitel 11,2-6 erfahren wir:
‚Johannes hörte im Gefängnis von den Taten Christi.
Da schickte er seine Jünger zu ihm und ließ ihn fragen: Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir
auf einen andern warten? Jesus antwortete ihnen:
Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht:
Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige
werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und
den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist,
wer an mir keinen Anstoß nimmt.‘
Später bei der Anklage vor dem Hohenpriester Kaiphas bekennt Jesus sich offen, der angekündigte Messias zu sein (siehe Matthäus Kapitel 26,63-64 ):
‚Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu
ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag
uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch:
Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.‘
Für Kaiphas den Hohepriester war dies eine Gotteslästerung, da er Jesus gerade nicht als den angekündigten Messias gehalten hat:
‚Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Er
hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen?
Jetzt habt ihr die Gotteslästerung selbst gehört. Was
ist eure Meinung? Sie antworteten: Er ist schuldig
und muss sterben.‘ (siehe Matthäus Mt Kapitel 26,6566)
Die Unterschiede zwischen jüdischem und christlichem Glauben beschränken sich jedoch nicht nur auf
die Frage, ob Jesus Gottes Sohn und der von den Propheten angekündigte Messias sei, sondern vor allem
auch, welche Aufgabe dieser Messias zu erfüllen habe.
Zur Zeit Jesu verband – wie bereits erwähnt – ein
Großteil der Juden mit dem Glauben an den Messias
die Hoffnung, dass dieser das jüdische Volk aus der
römischen Knechtschaft befreie. Einem Messias wurde also unter den Juden zur Zeit Christi eine durchaus politische Aufgabe zugedacht.
Wie Jesus selbst seine Aufgabe verstand, erfahren wir
bei Jesus Verhör vor Pilatus:
‚Pilatus ging wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder
haben es dir andere über mich gesagt? Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und
die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert.
Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Königtum
ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt
wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den
Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum
ist nicht von hier. Pilatus sagte zu ihm: Also bist du
doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin
ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt
gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.
Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?‘ (Johannes 18,33-38)
Dass Jesus seine Aufgabe gerade nicht in der Bekämpfung der römischen Besatzungsmacht gesehen hatte,
zeigt auch bereits der Abschnitt bei Matthäus 22,15-22
über den Zinsgroschen:
‚Damals kamen die Pharisäer zusammen und beschlossen, Jesus mit einer Frage eine Falle zu stellen.
Sie veranlassten ihre Jünger, zusammen mit den Anhängern des Herodes zu ihm zu gehen und zu sagen:
Meister, wir wissen, dass du immer die Wahrheit sagst
und wirklich den Weg Gottes lehrst, ohne auf jemand
Rücksicht zu nehmen; denn du siehst nicht auf die
Person. Sag uns also: Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? Jesus
aber erkannte ihre böse Absicht und sagte: Ihr
Heuchler, warum stellt ihr mir eine Falle? Zeigt mir
die Münze, mit der ihr eure Steuern bezahlt! Da hielten sie ihm einen Denar hin. Er fragte sie: Wessen
Bild und Aufschrift ist das? Sie antworteten: Des Kaisers. Darauf sagte er zu ihnen: So gebt dem Kaiser,
was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!‘
So spricht sicherlich niemand, welcher den römischen
Kaiser vertreiben möchte.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen jüdischem und
christlichem Glauben liegen also nicht darin, dass sie
einen unterschiedlichen Gott anbeten oder andere
Weisungen Gottes befolgen. Beide glauben an den
einen Gott, der bereits mit Abraham einen Bund geschlossen hatte, halten diesem Bund die Treue und sehen in den zehn Geboten Gottes die grundlegenden
Verhaltensvorschriften. Jesus wirft jedoch den zeitgenössischen Pharisäern und der jüdischen Glaubensbehörde (dem Hohen Rat) vor, dass sie viel zu sehr auf
den Buchstaben des Gesetzes achteten und darüber
den eigentlichen Sinn dieser Vorschriften übersähen.
Dieser Unterschied zwischen dem Glauben Jesu und
der damaligen Schriftgelehrten wird an den unterschiedlichsten Stellen der Evangelien deutlich. So lesen wir z. B. bei Matthäus Kapitel 7,21-23:
‚Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das
Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen
meines Vaters im Himmel erfüllt. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in
deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben
wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben
und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht?
Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch
nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!‘
Es kommt also nicht darauf an, dass jemand in seinem
Namen auftritt, sondern ob er auch bereit ist, entsprechend der verkündeten Lehren zu leben. Oder aber
bei Matthäus Kapitel 12,1-8 erfahren wir:
‚In jener Zeit ging Jesus an einem Sabbat durch die
Kornfelder. Seine Jünger hatten Hunger; sie rissen
deshalb Ähren ab und aßen davon. Die Pharisäer sahen es und sagten zu ihm: Sieh her, deine Jünger tun
etwas, das am Sabbat verboten ist. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als
er und seine Begleiter hungrig waren, wie er in das
Haus Gottes ging und wie sie die heiligen Brote aßen,
die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die
Priester essen durften? Oder habt ihr nicht im Gesetz
gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den
Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich
sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht
Unschuldige verurteilt; denn der Menschensohn ist
Herr über den Sabbat.‘
Wir erfahren also hier, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat da ist.
Und wenn es dem Menschen Schaden würde, wenn er
am Sabbat bestimmte für sein Leben notwendige
Handlungen nicht vollziehen würde, wäre es auch
falsch, diese Handlungen nur deshalb zu unterlassen,
weil am Sabbat grundsätzlich geruht werden soll.
Ähnliche Korrekturen finden sich bei Jesus auch im
Hinblick auf die rituellen Vorschriften der Juden
(Markus, Kapitel 7, 1-9 und Lukas Kapitel 11, 37-46):
‚Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, hielten sich bei Jesus auf.
Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen.
Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn
sie vorher mit einer Hand voll Wasser die Hände gewaschen haben, wie es die Überlieferung der Alten
vorschreibt. Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele
andere überlieferte Vorschriften halten sie ein, wie
das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln.
Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn also: Warum halten sich deine Jünger nicht an die
Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit
unreinen Händen? Er antwortete ihnen: Der Prophet
Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein
Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie
mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von
Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet
euch an die Überlieferung der Menschen. Und weiter
sagte Jesus: Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot
außer Kraft und haltet euch an eure eigene Überlieferung.‘
Und Lukas fügt hinzu:
‚Nach dieser Rede lud ein Pharisäer Jesus zum Essen
ein. Jesus ging zu ihm und setzte sich zu Tisch. Als der
Pharisäer sah, dass er sich vor dem Essen nicht die
Hände wusch, war er verwundert. Da sagte der Herr
zu ihm: O ihr Pharisäer! Ihr haltet zwar Becher und
Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raubgier
und Bosheit. Ihr Unverständigen! Hat nicht der, der
das Äußere schuf, auch das Innere geschaffen? Gebt
lieber, was in den Schüsseln ist, den Armen, dann ist
für euch alles rein. Doch weh euch Pharisäern! Ihr
gebt den Zehnten von Minze, Gewürzkraut und allem
Gemüse, die Gerechtigkeit aber und die Liebe zu Gott
vergesst ihr. Man muss das eine tun, ohne das andere
zu unterlassen. Weh euch Pharisäern! Ihr wollt in den
Synagogen den vordersten Sitz haben und auf den
Straßen und Plätzen von allen gegrüßt werden….. Ihr
ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen
können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür.
Auch das übertriebene Zurschaustellen gerechten
Handelns wird von Jesus angeprangert (Matthäus
Kapitel 6,1-4):
‚Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur
Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten. Wenn du Almosen
gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die
Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun,
um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage
ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.
Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht
wissen, was deine rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Hier wird deutlich, dass derjenige, der gute Taten nur
deshalb verrichtet, um damit das Wohlgefallen der
Mitmenschen zu erlangen, nicht dem eigentlichen Gebot der Nächstenliebe entsprechend handelt.
Auch weist Jesus darauf hin, dass die gleiche Tat, also
z. B. das gleiche Opfer einen sehr unterschiedlichen
Wert erlangen kann, je nach Vermögensverhältnissen
der Opfernden (Markus Kapitel 12,41-44):
‚Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah
er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele
Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme
Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief
seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch:
Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur
etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau
aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.‘
Bei Lukas Kapitel 14,7-14 erfahren wir dann, dass der
höhere Rang in unserer Gesellschaft demjenigen zusteht, der mildtätige Gaben gewährt und für die Ge-
meinschaft tätig ist und nicht demjenigen, der sich
selbst diesen Rang zuweist:
‚Als er bemerkte, wie sich die Gäste die Ehrenplätze
aussuchten, nahm er das zum Anlass, ihnen eine Lehre zu erteilen. Er sagte zu ihnen: Wenn du zu einer
Hochzeit eingeladen bist, such dir nicht den Ehrenplatz aus. Denn es könnte ein anderer eingeladen sein,
der vornehmer ist als du, und dann würde der Gastgeber, der dich und ihn eingeladen hat, kommen und
zu dir sagen: Mach diesem hier Platz! Du aber wärst
beschämt und müsstest den untersten Platz einnehmen. Wenn du also eingeladen bist, setz dich lieber,
wenn du hinkommst, auf den untersten Platz; dann
wird der Gastgeber zu dir kommen und sagen: Mein
Freund, rück weiter hinauf! Das wird für dich eine
Ehre sein vor allen anderen Gästen. Denn wer sich
selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
Dann sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du mittags
oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine
Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder
reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich ein,
und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn
du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme
und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es
dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei
der Auferstehung der Gerechten.‘
Die Verquickung von weltlichen Geschäften und Opferdienst im Tempel wird von Jesus besonders stark
angeprangert. Bei Matthäus Kapitel 21,10-17 lesen
wir:
‚Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und
Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische
der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler
um und sagte: In der Schrift steht: Mein Haus soll ein
Haus des Gebetes sein. Ihr aber macht daraus eine
Räuberhöhle.‘
Der Unterschied zwischen buchstabengetreuer Erfüllung der Gesetzesbestimmungen und dem eigentlichen
Sinn der Gebote wird schließlich besonders deutlich in
der Geschichte von der Begegnung Jesu mit einer
Ehebrecherin bei Johannes Kapitel 7,53-8,11:
‚Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer
eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie
stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister,
diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche
Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser
Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen
Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte
sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie
hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als
Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder
und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört
hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die
Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die
noch in der Mitte stand.
Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie
geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete:
Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht
mehr!‘
Die Zielsetzung und damit das eigentliche Verbot des
Ehebruchs steht hier in den zehn Geboten Gottes (und
zwar im 6. Gebot). Nur auf diese Weise kann dem Befehl Gottes an die Menschheit entsprochen werden,
wachset und mehret euch und erzieht eure Kinder in
Gottesglauben. Die Bestimmung, einen Ehebrecher zu
steinigen, steht demgegenüber in den Gesetzen, welche
die jüdischen Führer erlassen haben, um diese Weisungen in die Tat umzusetzen. Das wichtige, auf das es
hier ankommt, ist nicht, dass der Ehebrecher bestraft
wird, sondern dass er umkehrt, seine Tat ehrlich bereut und willens ist, in Zukunft keinen Ehebruch
mehr zu vollbringen.
(Die Bibelzitate wurden alle entnommen aus der Einheitsübersetzung Der Heiligen Schrift. Herausgegeben
im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs,
der Schweiz, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs
von Bozen-Brixen, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft. Ausgabe in neuer Rechtschreibung. Stuttgart.)