Platini: Leichen im Keller Michel Platini war einer der grössten Spielmacher der Geschichte. Jetzt will er Sepp Blatter als FIFA-Präsident beerben. Doch die Vergangenheit könnte ihm im Wege stehen. Die eurozentrische Meinung über Sepp Blatter ist gemacht: Der 79-jährige Walliser ist für alle dunklen Machenschaften in den 209 FIFA-Ländern zuständig. Einspruch zwecklos, die Unschuldsvermutung wird ausgeblendet. Ohne Blatter gäbe es auf der Erde weder Korruption noch Bestechung oder Vetternwirtschaft. Verläuft alles nach Plan, kann die Menschheit am 26. Februar 2016 aufatmen. An einem ausserordentlichen Kongress in Zürich wird dann der neue FIFA-Präsident gewählt. Geht es nach dem Masterplan von Nyon, wird bei dieser Gelegenheit der aktuelle UEFA-Obmann, der 60-jährige Franzose Michel Platini, ins Amt des höchsten Fussballers gehoben - Platini, einer der begabtesten Spielmacher aller Zeiten, Europameister mit Frankreich, Meistercupsieger mit Juventus Turin, ein Virtuose auf dem grünen Rasen, der mehr Ballgefühl im kleinen Zehen des linken Fusses hat als die gesamte Schweizer Nationalmannschaft zusammen (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe). Im Vorjahr veröffentlichte Platini das Buch „Parlons Football“. Darin streicht er seine Verbundenheit zur Basis des Fussballs, seine Bodenständigkeit und Volksnähe hervor. Er widmet das autobiografische Werk „meinem Vater, meinem Fussball und unseren Sonntagen“. Man könnte über diese Bescheidenheit in Rührung und Verzückung verfallen. Doch gleichzeitig kommen Fragen auf: Wie nah steht der französische Nationalheld seinem ehemaligen Kerngeschäft wirklich noch? Und wie sehr ist er ein Gefangener des Systems? Hat sich der einst geniale Regisseur auf sportpolitischem Parkett verdribbelt? Steht er etwa im Abseits? Sicher ist: Der UEFA-Präsident, der Sepp Blatter im Vorfeld des ordentlichen FIFA-Kongresses im vergangenen Mai lauthals zum Rücktritt aufgefordert hatte, muss auf dem Weg auf den FIFA-Thron zuerst ein paar Leichen in seinem Keller entsorgen. Falls das überhaupt noch möglich ist. Denn Platini steckt in einem arabischen Dilemma. Als das Exekutivkomitee der FIFA am 2. Dezember 2010 über die Austragungsorte der WM-Endrunden 2018 und 2022 entschied, stimmte Platini bei der Wahl des Organisators 2022 für Katar. „Ich bin transparent. Ich bin der einzig, der gesagt hat, an wen seine Stimme ging. Und ich habe das freiwillig gemacht. Und jetzt werde ich als korrupt bezeichnet“, sagte er im Juni 2014 gegenüber der englischen Tageszeitung „The Guardian“. Was Platini aber verschweigt: Er vermittelte Katar auch die Stimmen der europäischen Exekutivkomitee-Mitglieder Ángel Maria Villar (Spanien), Senes Erzik (Türkei) und Marios Lefkaritis (Zypern) und trug so entscheidend zum Wahlausgang bei. In seinem Buch erklärt Platini seine Votum für Katar mit dem Enthusiasmus eines Entdeckers: „Es wurde quasi der Lawrence von Arabien in mir geweckt. Ein Projekt so neu und so gross…“. Vielleicht wurde Platinis Begeisterung aber auch an diplomatischer Front entfacht – allenfalls bei einem konspirativen Treffen am 28. November 2010 im Élysée-Palast mit Nicolas Sarkozy, dem damaligen französischen Staatspräsidenten, und dem katarischen Kronprinzen (und heutigen Emir) Tamim bin Hamad Al Thani? Gegenüber der englischen Tageszeitung „Daily Telegraph“ wollte Platini von einer gezielten Kontaktaufnahme allerdings nichts wissen: „Ich war überrascht, als ich den Sohn des Emirs im Élisée getroffen habe.“ Auch ein Frühstück wenige Tage vor der Wahl mit dem katarischen Geschäftsmann Mohamed Bin Hammam, der als Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees zu den einflussreichsten Persönlichkeiten im Weltsport zählte, soll für Platini keine sportpolitische Bedeutung besessen haben: „Bin Hammam ist ein Kollege von mir. Ich habe ihn in den letzten 15 Jahren 10‘000-mal gesehen. Der Grund meines Treffens war meine allfällige Kandidatur für das FIFA-Präsidium.“ Mittlerweile ist die Kollegenschaft allerdings abgekühlt. 2011 wurde Bin Hammam von der FIFA-Ethikkommission wegen Korruption (auch im Zusammenhang mit der Katar-WM?) lebenslang gesperrt. Mit der WM-Vergabe nach Katar intensivierte Platini seine Beziehung zum Emirat. Wie durch Zufall erhielt sein Sohn Laurent ein Jahr später ein Job-Angebot von einem der führenden Finanzkonzernen des Emirats, der „Qatar Sport Investment Group“. In dieser Organisation stieg Platini jr. zum Direktoren von Burrda Sport, einem katarischen Sportartikelhersteller, auf. Burrda Sport wurde 2006 unter dem Dach der Schweizer Firma „Pilatus Sports Management“ in Genf gegründet und hat den Kampf gegen die Giganten Adidas und Nike aufgenommen. An der WM 2014 rüstete Burrda die belgische Nationalmannschaft aus. In den Medien wurde Platinis Verstrickungen schon mehrfach thematisiert: „Platini père exemplaire“, („Platini – der perfekte Vater“) titelte etwa „Le Matin“ am 8. September 2014 mit Zynismus und Häme. Der auf seinen Sohn Angesprochene lässt sich von solchen Interventionen nicht irritieren und weist jegliche Schuld von sich: „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“ Ob sich diese Diskussion wirklich mit einer standardisierten Antwort beenden lässt? Man stelle sich vor, Sepp Blatter hätte seiner Tochter Corinne in Russland oder Katar einen lukrativen Job verschafft, die westeuropäischen und US-amerikanischen Medien würden seine standesrechtliche Hinrichtung fordern. Platini dagegen lächelt die Vorwürfe weg. Ähnlich einem Mantra geht er immer wieder in die Offensive und weist jegliche Kritik von sich: „Es war kein Fehler, für Katar zu stimmen.“ In seinem Buch wird er grundsätzlich: „Der Fussball ist ein einfaches Spiel, das von jenen Leuten kompliziert gemacht wird, die keine Ahnung haben.“ Simpel ist die momentane Rollenverteilung im Spiel um die Macht im Weltfussball. Sepp Blatter verkörpert in der öffentlichen (und medialen) Wahrnehmung alles Böse und muss – obwohl er am 2. Dezember 2010 vermutlich nicht für Katar gestimmt hatte - die Verantwortung für jeden Zwischenfall auf sämtlichen (Infrastruktur-)Baustellen im arabischen Raum tragen. Derweil gefällt sich Platini in der Rolle es Saubermannes und Reformers. Er lässt keine Gelegenheit ungenutzt, das „System Blatter“ zu kritisieren. Dabei blendet er grosszügig aus, dass er selber immer aktiver Teil dieses Systems war und seinen Aufstieg zum UEFA-Präsidenten Blatters Gunst verdankt. Zwischen 1998 und 2002 stand er als technischer Berater auf der Lohnliste der FIFA, 2002 wurde er als UEFA-Vertreter ins FIFA-Exekutivkomitee gewählt – seit seiner Wahl zum UEFAObmann (2007) fungiert er als Vizepräsident des Weltverbands. Bis zu diesem Zeitpunkt galt er als nächster FIFA-Präsident und wurde von Blatter protegiert. Dann kam es zum Bruch der beiden Verbandschefs. Dazu sagte Blatter: „Nicht alle Europäer sind mit dem Anti-Fifa-Virus infiziert, aber sicher ist das Lager in Nyon davon befallen. Einst war Michel Platini mein Freund. Nur eine Anekdote: Noch 2007 am Champions-League-Final setzte er mich neben sich und Italiens Premier Silvio Berlusconi. Schon ein Jahr später an der Fussball-EM 2008 traf ich an einem Aperitif den damaligen Bundespräsidenten Couchepin. Er fragte mich: «Sehen wir uns gleich?» Ich antwortete: «Ja.» Platini aber platzierte mich acht oder neun Plätze weit von Couchepin entfernt. So wurde ich quasi auf die Ersatzbank gesetzt.“ Jetzt ist es Platini, der in der „Katar-Falle“ sitzt. Das kleine Emirat mit einer Fläche von 11‘500 Quadratkilometern, 2,2 Millionen Einwohnern, einem durchschnittlichen jährlichen Prokopfeinkommen von 96‘635 Dollar und einer Arbeitslosigkeit von 0 Prozent, positioniert sich neu – und der Sport spielt dabei ein zentrale Rolle. Zwischen 2014 und 2022 führt das Emirat Weltmeisterschaften in den Sportarten Schwimmen (2014), Handball (2015), Rad (2016), Kunsturnen (2017), Leichtathletik (2019) und Fussball (2022) durch. Dazu kommen die Ambitionen auf eine Olympiakandidatur und einen Formel-1-GP sowie jährliche Anlässe mit Weltausstrahlung im Tennis (Qatar Open), Rad (Tour of Qatar), Leichtathletik (Diamond League) und Motorrad (GP). Auch in Frankreich hat Katar schon mindestens einen Fuss in der Tür: beispielsweise beim früheren Luxushotel Majestic in Paris, das mittlerweile den Sitz der Qatar Holding beherbergt, bei den Edelresidenzen Martinez in Cannes, Palais de la Méditerranée in Nizza sowie beim Concorde Lafayette und beim Hotel de Louvre in Paris. Gleichzeitig fliesst katarisches Geld in verschiedenen französischen Grosskonzernen (Groupe Lagardère, Vinci, Véolia, Total, Vivendi und Moët Hennessy Louis Vuitton). Emotional fast noch wichtiger war die Übernahme des Fussballklubs Paris St-Germain 2011. „PSG trägt den Namen der Stadt und den Eifelturm im Logo“, erklärten die Verantwortlichen von Qatar Sport damals ihre Geschäftsstrategie. Oder mit anderen Worten: Identifikationssteigerung und Charmeoffensive durch Millionentransfers wie Ibrahimovic, Cavani, Thiago Silva, Maxwell, David Luiz. Und, und, und…. Für Michel Platini freilich standen selbst bei diesem aggressiven Geschäftsgebaren die gute Intuition und die Liebe für den Fussball im Vordergrund. Liebevoll ist auch die Hymne, die der französische Chansonnier Julien Doré der ewigen Nummer 10 widmete: Sur le banc de touche Juste après la douche J’ai revu Michel Platini Il était docile Il a bien grossi « C’est l’air de Paris » M’a-t-il dit Michel, ma belle, mon oiseau de nuit (Platini) Ton pied de porcelaine est gravé à vie (Platini). Fazit: Der Vogel der Nacht hatte einen Fuss aus Porzellan. Er war einer der grössten Ballzauberer, den Europa je gesehen hat. Doch ist er auch gross genug, um FIFA-Präsident zu werden? Wer in Richtung Katar blickt, kann nur zu einer Antwort kommen: Nein.
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