Unser Predigttext ist dem 2. Kapitel des Matthäus

Unser Predigttext ist dem 2. Kapitel des Matthäus-Evangeliums entnommen:
Als (die Sterndeuter) aber fortgezogen waren, da erscheint dem Josef ein Engel des Herrn im Traum und
spricht: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir Bescheid sage!
Denn Herodes wird das Kind suchen, um es umzubringen. Da stand er auf in der Nacht, nahm das Kind und
seine Mutter und zog fort nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes; so sollte in Erfüllung gehen,
was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.
Als Herodes nun sah, dass er von den Sterndeutern hintergangen worden war, geriet er in Zorn und liess in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren umbringen, entsprechend der
Zeit, die er von den Sterndeutern erfragt hatte. Da ging in Erfüllung, was durch den Propheten Jeremia gesagt
ist:
Ein Geschrei war zu hören in Rama,
lautes Weinen und Wehklagen,
Rahel weinte um ihre Kinder
und wollte sich nicht trösten lassen,
denn da sind keine mehr. (Mt 2.13-18)
Liebe Brüder und liebe Schwestern
Sie haben die Geschichte des Kindermordes von Bethlehem gehört. Welche Gefühle hat dieser Text bei Ihnen
ausgelöst? Hat er Sie betroffen, traurig oder sogar wütend gemacht? Finden Sie ungerecht, was da passiert ist?
Oder sagen Sie sich: Das ist der Lauf der Welt, mit Verlusten muss man leben. Aus unserer Sicht ist die Geschichte mehr als problematisch: Was ist das für ein Gott, der es zulässt, dass unzählige Kinder grausam getötet
werden, nur damit sein Sohn gerettet wird? Die Frage, die sich uns stellt, hat Matthäus nicht beschäftigt. Zu
seiner Zeit gab es viele solche Mythen über göttliche Kinder, die durch ein Wunder gerettet wurden.
Als Beispiel kann ich den römischen Historiker Suetonius anführen, der über die Geburt des Augustus eine ähnliche Begebenheit niederschrieb. In dieser Geschichte sucht der Gott Apollo Augustus' Mutter in der Gestalt
einer Schlange auf und 9 Monate später wurde Augustus geboren. Prophetische Träume deuten darauf hin, dass
ein Kind, das zu dieser Zeit geboren wurde, dereinst über den Senat herrschen wird. Da der römische Senat bekanntlich Könige fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, verabschiedet er ein Gesetz, wonach alle Knaben die
in dieser Zeit geboren wurden, nicht aufgezogen werden durften, sprich, sie sollten getötet werden. In der römischen Gesellschaft war Kindermord übrigens gang und gäbe, wenn er für das wirtschaftliche oder politische
Wohlergehen der Familie nützlich war. Augustus wurde dadurch gerettet, dass einige Senatoren, der Frauen
schwanger waren, dafür sorgten, dass das Gesetz nicht in Kraft trat.
Auch die Geschichte um die Geburt des Mose und seine Rettung weist Parallelen zu unserem Predigttext auf.
Das ist Ihnen bestimmt auch schon aufgefallen. Ebenso weist die Stelle aus Offenbarung 12, die sie heute als
Lesung gehört haben, ähnliche Motive auf. Die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem ist eng verwoben
mit der Geschichte von Jesu Geburt in Bethlehem, denn wäre Jesus nicht dort geboren worden, hätte Herodes
die Kinder nicht ermorden lassen. Da die Forschung davon ausgeht, dass Jesu Geburt in Bethlehem keine historische Tatsache ist, liegt der Schluss nahe, dass auch die Tötung dieser Kinder historisch nie geschehen ist. Die
Forschung vermutet vielmehr, dass dieses Motiv der Kindestötung von anderen mythischen Geschichten, wie
ich sie eben angeführt habe, übernommen wurde und Eingang fand in die mündlichen Überlieferungen der frühen christlichen Gemeinden. Matthäus hat eine solche Überlieferung in seinem Evangelium verarbeitet. Insofern können wir also beruhigt aufatmen, und dies trotz der Tatsache, dass es im Mittelalter einen schwunghaften
Handel mit Knochen gab, die angeblich von diesen ermordeten Kindern stammten.
Aber auch wenn wir den Text genauer lesen, können wir aufatmen. Denn was genau tut Gott? Er sendet einen
Engel zu Josef und lässt ihm ausrichten: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und
bleib dort, bis ich dir Bescheid sage! Denn Herodes wird das Kind suchen, um es umzubringen. Bei Nacht und
Nebel muss sich die Familie aus dem Staub machen, um Herodes zu entfliehen. Die Gefahr, dass Jesus umgebracht wird, ist so gross, dass Josef sofort handeln muss. Erst danach bemerkt Herodes, dass er von der Sterndeutern hereingelegt wurde. Und Matthäus fährt fort: Da geriet er in Zorn und liess in Betlehem und der ganzen
Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren umbringen. Zur Zeit von Jesu Geburt ist Herodes ein alSeite 1 / 2
ternder Mann, der sich und sein Herrschaft stets bedroht sieht - und das oft auch zu recht. Dennoch: Nicht Gott
hat Herodes befohlen, diese Kinder umzubringen, sondern er selbst hat diesen Entscheid im Zorn gefällt, weil
er auch hier wieder ein Verschwörung vermutet, die ihn von seinem Thron stürzen soll. Diese Kinder Israels
werden von ihren eigenen König ermordet, weil er um seinen Thron fürchtet. Das Paradoxe dieser Handlungsweise wird uns erst richtig klar, wenn wir bedenken, was nach biblischer Auffassung die Aufgabe des Königs
sein sollte. Der König Israels soll nicht Kriege führen und seine Macht ausweiten, sondern wie ein Hirte seine
Schafe weidet, soll der König dafür sorgen, dass es seinem Volk gut geht, und zwar dem ganzen Volk. Herodes
hat hier versagt und stirbt Jahre später auch einen fürchterlichen Tod, wie uns der jüdische Historiker Josephus
berichtet. Wir haben hier in dieser Geschichte eine beispielhafte Gegenüberstellung von Herodes als einem König, der nach menschlichen Grundsätzen handelt, und Jesus, der ein König sein wird, der nach Gottes Willen
handelt.
Erst nachdem sein Gegenspieler Herodes gestorben und die Todesgefahr dadurch gebannt war, kam Jesus mit
seiner Familie wieder aus Ägypten zurück in seine Heimat. Auch schon vor Jesu Flucht haben Menschen aus
dem Raum Libanon-Judäa-Israel bei Notlagen häufig in Ägypten Zuflucht gesucht, denken Sie nur einmal an
die Josephsgeschichte. Aber auch später flohen immer wieder Israeliten in Bedrohungslagen dorthin, so verliert
sich beispielsweise die Spur des Propheten Jeremia in Ägypten, nachdem er gegen seine Willen von seinen
Landsmännern dorthin mitgenommen, ja praktisch verschleppt worden war.
Die Forschung geht deshalb davon aus, dass es durchaus historische Tatsache sein kann, dass Jesus in Ägypten
gelebt hat. Rabbinische Quellen erzählen, dass Jesus in Ägypten das Zaubern erlernt habe, und andere ausserbiblische Quellen wollen wissen, dass er dort als Tagelöhner gearbeitet habe. Es besteht also die Möglichkeit,
dass Jesus Erfahrung damit hatte, auf der Flucht zu sein und als Fremder unter Fremden zu leben.
Und dies bringt uns wieder zurück in unsere Gegenwart. Ich denke, Joseph konnte froh sein, dass er nicht im
Hier und Heute fliehen musste. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er mit seine Familie nicht in den vom
kalten Regen aufgeweichten Zeltstädten der syrischen Flüchtlinge leben muss. Glücklicherweise muss er auch
nicht die Überfahrt nach Italien in einer lecken Nussschale wagen. Stellen Sie sich vor, er müsste einem
Schweizer Migrationsbeamten seine seltsame Geschichte vom Engel erzählen, der ihn zur Flucht aufforderte. Er
würde ja in null Komma nichts wieder ausgeschafft werden.
Jesus ist also vermutlich in der Fremde aufgewachsen, in der Diaspora, als Jude unter Ägyptern. Wir sehen, er
hat schon als Kind mit den schwierigsten Situationen Erfahrung, die einem Menschen zustossen können. Er
weiss mehr über das Menschsein und seine Nöte als wir, die wir hier in der Schweiz in relativer Sicherheit leben, ein Dach über dem Kopf und eine Heimat haben. Und vielleicht war gerade diese Erfahrung der Grund, die
Grundlage für Aussagen in Matthäus 25, als er im Zusammenhang mit dem grossen Weltgericht sagt: Kommt
her, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt als Erbe das Reich, ... Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu
essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen.
Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. ... Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht explizit erklären, was diese Verse für uns hier und heute bedeuten. Gerade zu Weihnachten versuchen wir ja oft, diese Verse etwas mehr
zu beherzigen. Aber warum nur zu Weihnachten? Ich überlasse es Ihnen, sich zu überlegen, wie wir auch während des restlichen Kirchenjahres versuchen können, diesen Gedanken nicht nur im Herzen zutragen, sondern
auch hin und wieder in die Tat umzusetzen.
Vergessen wir dabei aber nicht: Wir haben einen Herrn, der weiss, wovon er spricht; einen Herrn, der erlebt hat,
worüber er predigt; einen, der weiss, wie viel und was er von uns verlangen kann. Und vor allem haben wir einen Herrn, der uns bei der Erfüllung dieser grossen Aufgabe nicht im Stich lässt, denn im letzten Vers des
Matthäus-Evangeliums lesen wir auch seine Verheissung für uns: Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende.
Amen.
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