„Wir können zwar effizient, aber nicht innovativ“

Interview mit Thomas Sattelberger
„Wir können zwar effizient,
aber nicht innovativ“
Thomas Sattelberger ist einer der weltweit profiliertesten Personalmanger. Wir hatten Gelegenheit, mit ihm über die Zukunft der Deutschen Wirtschaft, die Auswirkung von Globalisierung und
Digitalisierung auf Unternehmen sowie die Rolle, die der Personalbereich in diesem veränderten
Kontext spielen sollte, zu diskutieren.
1
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
DMR: Herr Sattelberger, wenn Sie über die Einordnung Deutschlands sprechen, benutzen Sie oft den Begriff der „Sandwich Position“ zwischen chinesischem Maschinenhaus und Digital House
USA. Was meinen Sie damit, insbesondere wenn es um die Zukunftsfähigkeit von Deutschland im internationalen Kontext geht?
T. Sattelberger: Ich bin sprachlich bildhaft und radikal. Eine
acatech spricht in ihrem Schlussbericht zum Thema „Smart Services“ davon, dass es bedrohliche Entwicklungen der digitalen
Abkoppelung Deutschlands gibt und der Präsident des VDMA
sagt dem Sinne nach: Der deutsche Maschinenbau ist zunehmend zu hochpreisig und overengineered. Das drückt genau
mein Bild aus: Das Maschinenhaus China, das schnell gelernt
hat und jetzt die Märkte Afrikas und zum Teil Südamerikas
bedient, holt uns ein, und das eben nicht im overengineerten
­ hina
hochpreisigen Segment, sondern im Volumensegment. C
ist ja inzwischen Exportweltmeister im Maschinenbau und
man braucht nur zuzusehen, wie sich das Land ins Premiumsegment hinein entwickelt. Die Strategie dahinter sieht man an
der Bandbreite an Firmen des deutschen Mittelstands, die die
Chinesen akquiriert haben: von einer Firma Putzmeister, die
Betonpumpen produziert, bis zur Firma Triumph-Adler, einem
Nähmaschinen-Hersteller. Wir hier in Deutschland sind ebenfalls ein Maschinenhaus, denn wir haben uns ja vom Thema
Biotech und Informationstechnologie weitgehend verabschiedet und unsere Firmen haben das Thema Smart Services nie beherrscht: Die Amazons, Airbnbs, Spotifys und Googles beherrschen das Feld. Das ist eine ungemütliche Sandwich Position.
Die Soziologie würde das als Pfadabhängigkeit bezeichnen, da
man sich hier auf alten erfolgsverwöhnten Bahnen bewegt und
in diesen übersieht, dass es noch andere Pfade nach links und
rechts gibt, die dann andere gehen, und irgendwann feststellt:
Man ist im lock-in.
DMR: Wir hatten auf dem deutschen Kapitalmarkt durchaus die
Situation, in puncto Aktienkurse einen Rekord nach dem anderen zu verzeichnen. Eigentlich kommt man sich da in einer ganz
komfortablen Position vor. Was muss passieren, damit gerade Großkonzerne das Thema Innovation und Kreativität wieder in den
Mittelpunkt stellen?
T. Satteberger: Die Börsenerfolge sind ja nicht dem gelisteten
Unternehmen zuzurechnen. Das hat eindeutig mit den Niedrigzinsen und dem Fall des Euros zu tun, auch mit dem niedrigeren
Ölpreis. Hier kommen also volkswirtschaftliche Faktoren ins
Spiel, nicht betriebswirtschaftliche. Anders herum: Wenn
man sich die Dax 30 Unternehmen anschaut, sieht man, dass
­mindestens zehn unter ihnen in einer ernsthaften strukturellen
Krise stecken: von der Lufthansa über die RWE, die Deutsche
Bank, die E.on, die K&S und so weiter. Insofern ist die Börse
meiner Meinung nach kein guter Indikator für die Zukunfts-
2
trächtigkeit deutscher Firmen. Was also muss passieren? Ich
glaube, viele Unternehmenslenker haben die Entwicklungen erkannt, sie jonglieren schon elegant mit Phrasen wie „disruptiver
Wandel“ und „Transformation“ des eigenen Unternehmens. Sie
haben aber nicht verstanden, dass unser Problem nicht die Erkenntnis ist und die rationale Vermittlung eben dieser, sondern
der kulturelle Bruch mit tradierten Mustern. Erlauben Sie mir
eine Randbemerkung: Die Erosion der Personalfunktion oder
ihre Unfähigkeit, Kulturtransformation mit zu begleiten, spielt
dem natürlich voll in die Hände.
DMR: Welche Rolle kann HR spielen, damit dem Predigen
konkrete Aktivitäten in Richtung wettbewerbsfähige Unterneh­
mensgestaltung folgen?
T. Sattelberger: Ich glaube, dass zuerst der Schmerz der Krise
kommen muss, bis etwas geschieht. Erfolgsverwöhnte Unternehmen haben – auch wenn der Erfolg viele Jahre zurückliegt
– diese Erfolgsverwöhntheit immer noch fest in ihrer Kultur
verankert. Bis man realisiert „Wir sind nicht mehr erfolgreich“
tobt draußen schon ein Orkan und erst dann merkt die Organisation, da stimmt etwas nicht mehr. Ich glaube, dass viele
unserer erfolgsverwöhnten Großtanker, die mit Erfolg doch
eher im letzten Jahrhundert verwöhnt wurden, heute durch
eine ganz schwere Zeit fahren. „Sense of Urgency“-Initiativen,
Quer-Denker-Schutz, Fehlertoleranz innerhalb moralischer
Maßstäbe, Aufbrechen von Seilschaften und Seilschaftsdenke,
Frühwarnradar für Talent und Innovation, Diversity-Politik
­wären einige präventive Maßnahmen.
DMR: Handlungsbedarf besteht also jetzt, da einigen Branchen
diese Krise ja noch bevorsteht?
T. Sattelberger: Veränderungsimpulse kommen drastisch an.
Rasches Handeln ist angesagt, am besten in der Blüte des Erfolgs!
Laut einer Roland Berger Studie im Auftrag des BDI bescheinigen
sich fast 70 Prozent der befragten 300 deutschen Industrieunternehmen geringe bis mäßige digitale Reife. Deutsche Unternehmen sind überwiegend mittelständisch und die Studie zeigt, dass
sich 45 Prozent der Unternehmen noch gar nicht mit der Digitalisierung auseinander gesetzt haben! Und diejenigen Unternehmen,
die auf dem Gebiet der Digitalisierung handeln, tun dies leider
überwiegend mit dem Fokus auf Effizienz und Kosten, entwickeln
jedoch keine neuen Geschäftsmodelle. Insofern ist die Herausforderung für den Mittelstand eine noch viel größere.
DMR: Wie lautet der Ausweg und von wem kann man entsprechend lernen? Wir haben den kulturellen Hintergrund eines
­asiatischen und amerikanischen Raums, die beide auf ihre Weise
anders sind als Deutschland. Gibt es eine Chance, etwas auf die
deutsche Wirtschaft zu übertragen?
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
T. Sattelberger: Nach Clayton Christensen ist die Chance für
Ozeandampfer relativ gering. Weil einfach die „Great Companies“, die ehemaligen Innovatoren, unfähig werden, sich wieder
zu revitalisieren. Demnach müsste das Hauptaugenmerk auf
zwei Themen gelegt werden: Erstens, können sich große Konzerne frühzeitig dezentralisieren oder aufspalten? Wenn Effi­
zienz und Innovation nicht zu vereinigen sind, ist es dann nicht
klug, organisatorisch zu trennen und in kleineren Einheiten unternehmerische Handlungs- und Experimentierfelder zu haben?
Also auch alt und neu voneinander zu separieren? Zweitens, wie
schnell können wir Gründerszenen aufbauen und für disruptive, nicht nur Rationalisierungsinnovationen sorgen?
DMR: Damit steigen wir in das Thema Innovationskultur ein.
Ihre These lautet also: Wir brauchen viel mehr kleine und agile
Einheiten, die in der Lage sind, eine Innovationskultur zunächst
aufzubauen?
T. Sattelberger: Absolut. Meine Erfahrung ist, dass bürokratisierte Effizienzorganisationen keine Lust haben, sich mit Neuerungen abzugeben – Innovation wird vom Immunsystem geradezu abgestoßen oder aufgespeist. Man kann solche Einheiten
nur „on arm’s length“ führen. Genauso sehe ich das übrigens,
wenn es um das Funding und das Andocken an innovative
Start-ups geht. Solche Wege sind für mich trotz hoher Miss­
erfolgsquote wichtig, aber da haben wir in Deutschland noch
ein zu geringes Wagniskapital und einen zu kurzem Atem.
DMR: Ganz provokativ: Ist die Zeit der Großkonzerne damit vorbei?
T. Sattelberger: Nein. Aber sie werden noch kurzzyklischer in
der Lebensdauer. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Fortune 500 Firma hat sich seit den 60er Jahren des letzen Jahrhunderts von 75 Jahren auf heute 15 Jahre reduziert. Das sieht
im Dax 30 genauso aus. Das heißt erstens, dass der Lebenszyklus der großen Schlachtschiffe signifikant kürzer wird, und
zweitens, dass sie, wenn sie überleben wollen, das eben nicht als
große Kolosse tun, wo sozusagen ein Torpedotreffer gleich das
ganze Unternehmen versenkt. Da ist man doch besser mit fünf
schnellen Kreuzern unterwegs. Große Konzerne sind hochgradig volatil. Wir haben bei Conti ganz bewusst Dezentralität gefördert, damit eine kranke Geschäftseinheit nicht die andere anstecken kann. Oder anders ausgedrückt: Damit eine innovative
Geschäftseinheit nicht vom Monolithen platt gemacht wird.
Diese Bereitschaft zur Dezentralisierung und zur radikalen Aufgabe des One-Company-Gedanken macht Sinn – zumindest
was die Struktur betrifft.
DMR: Bei vielen strategischen Initiativen, die wir als Berater in
Unternehmen unterstützen, erleben wir Zyklen zwischen Zentrali-
3
sierung und Dezentralisierung. Es schwingt aber immer mit, dass
man diesen One-Company-Gedanken kulturell aufrecht halten und
eine Identifikation mit dem Unternehmen gewährleisten möchte.
Ist das überhaupt möglich in dem Konstrukt, das Sie beschreiben?
T. Sattelberger: Ich würde Ihre Aussage hinterfragen. Ich glaube, Topmanager wollen im Wesentlichen die Kontrolle behalten.
Und da ist „One Company“ die beste Form als Fiktion wie als
Realität. Zudem zielt die in letzten Jahren dominierende „One
Company“-Philosophie überwiegend darauf ab, interne Effizienzen zu heben, nicht Innovation zu treiben. Ich glaube, Unternehmen müssen heute lernen zu fragen: Was ist der kleinste
gemeinsame Nenner, der uns zusammenhält? Nicht der größte
gemeinsame Nenner, sondern der kleinste gemeinsame Nenner. Das stärkt dezentrales Unternehmertum und beschränkt
Zentralisierung auf ganz wenige Themen die das Unternehmen
­finanziell, kulturell und markenpolitisch zusammen halten. Wir
kommen eben in eine Wirtschaftsphase, in der es vorteilhafter
ist, wenn unabhängigere Einheiten im Wind des Marktes sozusagen nicht nur ihr effizientes Überleben trainieren, sondern
innovativ werden. Gerne als Konföderation unter einem Konzerndach.
DMR: Ist das Thema Kontrolle nur auf deutsche Topmanager zu
beziehen? Sind uns China und die USA auch in dieser Hinsicht
voraus?
T. Sattelberger: Dazu gibt es keine Empirie. Ich vermute, China
hat überwiegend Maschinenhausführer und die USA ist wohl
eher gespalten. Aus der Roland-Berger-Studie „Akademiker im
Chefsessel“ wissen wir zumindest, dass nur vier Prozent aller
Dax 30 Vorstände unternehmerische Erfahrung hat. Das ist sehr
erhellend und bestätigt, dass angestellte Manager eher risiko­
avers sind und sich auf das Managen mit Zielen und Kontrolle
konzentrieren.
DMR: Woher kommt es, dass so wenig Risikobereitschaft und Unternehmergeist, auch im Sinne von Weitblick, vorhanden ist?
T. Sattelberger: Wir entwickeln böse gesagt schon im Hochschulsystem eine Diktatur mechanistisch ausgebildeter Ökonome und Ingenieure. Beide sind getrimmt, Zukunft beherrschbar und planbar zu machen. Die einen müssen eine Maschine
konstruieren, die anderen müssen eine Maschine managen. Was
ist Ursache, und was ist Wirkung? Ich beobachte zudem, dass
das deutsche Hochschulsystem insbesondere auf technischen
Gebieten in einem deutlich größeren Umfang als in England,
USA und Skandinavien an die Interessen seiner sogenannten
Nachfrager angelehnt ist, und das ist die Wirtschaft. Das ist ein
„circulus vitiosus“, dass die Hochschule das forscht und ausbildet, was die Wirtschaft formuliert. Es ist eine wechselseitige
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
Befruchtung im Tunnel. Unsere Konzentration aus Juristen,
Ökonomen und Ingenieuren im Management, im Vorstand
und im Aufsichtsrat findet man übrigens in vielen anderen Ländern nicht.
DMR: Damit kommen wir noch einmal auf die Rolle von HR.
Wer anders als HR kann eigentlich in dieser Situation für den
­Regelungsprozess sorgen, um „andere“ Manager in ein Unternehmen zu holen. Welche Rolle also kann HR da einnehmen?
DMR: In der Automobilindustrie ist das ja noch dominanter mit
den vielen Kaufleuten und Ingenieuren…
T. Sattelberger: Nur wenige Vorstände oder Vorstandsvorsitzende interessieren und kümmern sich, wie sich der Talentstrom
zusammensetzt, der ganz unten ins Unternehmen hineinströmt.
Ich kann natürlich durch die Diversität des Talentstroms – und
da meine ich nicht die klassischen Diversity-Dimensionen, sondern konformes und unkonventionelles Denken – schon eine
notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung schaffen.
Ich muss mit der traditionellen Logik brechen, dass beispielsweise Soziologen und Philosophen in einem Unternehmen nichts
zu suchen haben. Oder dass Studienabrecher – wie ich übrigens – nicht tauglich sind. Oder dass Leute, die sich mit einer
eloquenten Präsentation schwer tun, keine Führungsqualitäten
haben. Man muss sich von all diesen Schablonen lösen. Und ich
weiß schließlich, wovon ich rede: Ich habe in meinem ehemaligen Telekom-Rekrutierungsbereich das Thema der „krummen
­Lebensläufe“ angepackt. Als ich auf Widerstand stieß, habe ich
gefragt: „Habt ihr eine Geschäftsordnung? Dann schreib‘ ich
als Prinzip hinein, dass krumme Lebensläufe akzeptiert und geschätzt werden müssen.“ Wie sich das für Bürokratien gehört,
muss das natürlich irgendwo hinterlegt sein. [lacht] Der nächste
Punkt ist dann aber: Wie schützt man Talent davor, dass es in
den ersten 100 Tagen nicht alles verlernt, was es vorher konnte?
Damit meine ich das, was man Indoktrinationsprozesse einer
Organisation nennt. Auf der einen Seite müssen Menschen natürlich lernen, wie man sich in einem Unternehmen bewegt und
welche Regeln und Sitten gelten. Auf der anderen Seite müssen
sie aber ihre Individualität beibehalten. Ich habe unsere damalige Nachwuchsinitiative Start-up bei der Deutschen Telekom
immer mit dieser ersten Frage begrüßt: Habt ihr genug Freiheit?
Das heißt, wir brauchen ein Talentmanagement, das Schutzräume bietet für Querdenken, quasi einen Club der toten Dichter.
T. Sattelberger: Genau. Es fehlt beispielsweise an Naturwissenschaftlern, Informatikern und Sozialwissenschaftlern. Schaut
man sich die Aufsichtsräte und Vorstände an, sieht man, was ich
liebevoll „homosoziale Reproduktion“ nenne: Ähnliches sucht
Ähnliches. Schmidt sucht Schmidtchen.
DMR: Sie haben in einem Interview gesagt, dass wir mehr Rebellen
in der Chefetage brauchen. Im Konzern Deutsche Telekom gibt es
einen: John Legere aus den USA. Er hat es geschafft, ein Unternehmen, das quasi am Boden lag, komplett zu drehen. Wie schafft man
Unternehmensstrukturen, die solche Lebensläufe fördern?
T. Sattelberger: Erstens war John Legere weit weg. Man konnte
ihm nicht so einfach im Nacken sitzen. Gewährte, erzwungene
oder vorhandene lange Leine ist ein erstes Stichwort. Zweitens
war dieses Geschäft in einer so hoffnungslosen Lage, dass man
bereit war, über den eigenen Schatten zu springen. Normalerweise kommt man erst gar nicht auf so individuelle und andersartige Charaktere, weil man bei solchen Jobs eher glaubt, Leute
zu brauchen, denen man schon immer vertraut hat. Das ist ein
ganz kritisches Thema. Es gilt, die Rekrutierungs- und Beförderungmuster zu brechen. Drittens, man könnte Unternehmerbiotope fördern in dezentralisierten, unternehmerischen, freiheitsliebenden Einheiten.
DMR: Stichwort Loyalität. Eigentlich wird das Thema Seilschaften doch vor allem den Asiaten zugeschrieben. Trotzdem kriegen
wir keine erfolgreichen Topmanagement-Teams aufgestellt.
T. Sattelberger: Der Begriff Loyalität ist eine reine Fik­tion, weil
ein Führer gar nicht alle so bedienen kann, dass sie loyal sind.
Und damit kommt es zum Verrat, so wie Brutus Caesar erdolchte. Außerdem ist der Begriff Loyalität ein Gegner von Differenz
oder Unterschied und damit von der Frage: Wie mache ich es
anders? Das bedeutet nämlich Irritation und Auseinandersetzung. Loyalität duldet keinen Konflikt. Der Loyale weiß genau,
wo die Grenze ist. Meiner Meinung nach muss man sich vom
Loyalitätsdenken trennen. Der klassische deutsche Manager
meint immer, das Deckelchen muss aufs Töpfchen passen – also
möglichst viel Affinität und Chemie aus der Vergangenheit für
die Bewältigung von Herausforderungen, die man heute und
morgen hat. Nein, Streitkultur und kreative Unterschiedlichkeit
sind nötig.
4
­ ultur, in der
DMR: Wie kann das aussehen, insbesondere in einer K
jeder Freiraum einer Effizienzinitiative zum Opfer fällt?
T. Sattelberger: Ich habe damals verboten, den Begriff „Traineeprogramm“ zu verwenden, denn das ist ein besseres Lehrlingsprogramm mit Geländern gegen das Runterfallen. Die Frage für
neue freie Talente ist doch eher: Habe ich einen freiheitsverteidigenden Machtpromotor? Für junge Talente, die Anders­artigkeit
in ein Unternehmen bringen sollen, braucht man e­ inen Machtpromotor, der diese Freiräume verteidigt. Sonst kann man es
sein lassen!
DMR: Meinen Sie Möglichkeiten zum Experimentieren und Ausprobieren?
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
Thomas Sattelberger ist deutscher Topmanager. Nach vorherigen Vorstandspositionen bei
der Continental AG und der Lufthansa Passage war er von 2007 bis 2012 Personalvorstand der
Deutschen Telekom. Sattelberger hat sich als Verfechter des Diversity Managements profiliert,
initiierte die 30-Prozent-Frauenquote für Führungspositionen bei der Telekom und kritisiert
geschlossene Systeme in Konzernen und Gesellschaft. Er gilt als Vordenker zur Zukunft der
Arbeit und beschäftigt sich intensiv mit neuen Architekturen der Arbeit, Chancenfairness und
klonender Homogenisierung der Arbeitswelt.
5
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
T. Sattelberger: Ja, genau. Das muss niemand aus dem Vorstand
sein, das kann auch der Controlling-Chef eines Geschäftsfelds
sein. Wenn man das alte Modell des Dualismus von Sach- und
Machtpromotoren bei Innovationen hernimmt und Innova­
tionen nicht nur als Produkte sieht, sondern als Menschen,
dann fragt man sich: Wo sind die Machtpromotoren für Innovationspotenziale im Menschen?
DMR: Wie können institutionell Freiräume geschaffen werden, um
zu vermeiden, dass Leute glattgeschliffen werden, die als Talent in
die Organisation kommen?
T. Sattelberger: Ich bin ein überzeugter Verfechter von Hierarchiearmut. Man muss sich die Frage stellen, wie viele Hierarchien in einer Organisation überhaupt nötig sind? Hierarchiearmut heißt aber auch, dass Führungskräfte so viele Leute führen
müssen, dass sie diese gar nicht mehr kontrollieren können.
DMR: Das Thema Hierarchie versus Netzwerk wird momentan
stark diskutiert. Wie etabliert man Hierarchiearmut?
T. Sattelberger: Bei Gründungen ist das einfacher zu lösen als
bei etablierten Organisationen: Mit Sicherheit nicht nur über
Hierarchieabbau – aber ohne Hierarchieabbau geht es eben
auch nicht. Letztlich muss ich eine horizontale Netzwerkorganisation oder -methodik wie SCRUM oder Design Thinking über
die alte Organisation legen. Das heißt, ich muss die klassische
Hierarchie richtig aushungern. Damit schaffe ich die Voraussetzungen, um die Hierarchie kriegsentscheidend zu schwächen.
Eine Art reale Parallelwelt der Kooperation.
DMR: Wie macht man das? Schafft man Titel ab?
T. Sattelberger: Das ist nicht ausreichend. Das wäre nur wichtige
Symbolik. Der Erfolg horizontaler, agiler Kollaborationsformen
ermöglicht die radikale Herausnahme von Hierarchieebenen
ohne Kompromisse. Das kann schlussendlich nur der Vorstand.
Und ich muss Leitungsspannen so breit auslegen, sodass man
nicht mehr jeden kontrollieren kann. Die Schnellboot-Analogie
auf die individuelle Ebene übertragen.
von Führung, das da heißt: Ich bin der beste Sachbearbeiter.
Klassisches Micro-Management. Ich bin übrigens hier auch ein
Sünder gewesen. Im Beurteilungsbogen bei Google, mittels dessen Mitarbeiter ihre Führungskräfte beurteilen, gibt es einige
prominente Merkmale: Eines heißt „He/She does not micromanage into my business“, das zweite heißt „He/She keeps
micro-management away from our unit“ und dann kommen
ein paar weitere, die sich fokussieren auf das Thema „He/She is
coaching me for my personal and professional development“.
Das heißt übersetzt: Die Führungskraft schafft den Rahmen
und den Schutzwall, damit begabte Menschen nicht gestört
werden. In Gesprächen mit Google-Mitarbeitern habe ich erfahren, warum Coaching so wichtig ist – sie sagten mir: „Wir
haben so viele Nerds, die ständig Gesprächsbedarf an Themen
wie persönlicher und beruflicher Weiterentwicklung haben.“
Damit kommt wieder das originär in die Führungsrolle, was wir
an Duzende von externen Beratern in jeder Firma outgesourced
haben: das Thema Coaching.
DMR: Coaching als zentrale Führungsaufgabe?
T. Sattelberger: Ja. Da könnte ich melancholisch werden. Ich
habe 1991 einen Artikel geschrieben, als das Thema externes
Coaching zum ersten Mal aufkam. Sinngemäß stand da drin,
dass das Aufkommen externer Coaches die Führungsaufgabe
ihres Sinnes entraubt und entkleidet.
DMR: Betrifft Ihre Aussage das Thema Beratung generell? Ist es
nicht das gleiche, wenn ich eine Beratung brauche, um meine Strategie zu formulieren, wie wenn ich als Führungskraft einen externen Coach brauche, damit meine Mitarbeiter motiviert sind und
vernünftig laufen?
T. Sattelberger: Ja, natürlich ist das das Gleiche. Ich habe, von
einer Ausnahme abgesehen, nie einen Prozess- oder Strategieberater engagiert. Diese Ausnahme war die qualitative Personalplanung bei der Deutschen Telekom. Alles andere halte ich für
das Outsourcing von Intellekt an andere. Und für eine Kastra­
tion der Gehirne von intelligenten Führungsleuten.
DMR: De facto bedeutet das doch, dass wir neue Führungsfähigkeiten brauchen, richtig?
DMR: Dann könnte man also fast sagen, dass die Beraterdurchdringung in Unternehmen letztlich anzeigt, wie wenig das Top­
management in der Lage ist, das Geschäft selbst zu managen.
T. Sattelberger: Genau. Klassisches Management heißt, sicherstellen, dass kaskadierte Ziele erreicht werden durch rot, grün,
gelbe Ampeln. Dass man jederzeit berichtsfähig ist nach oben.
Und dass selbst der ganz oben über das kleinste Detail Bescheid
wissen muss. Das kann ich im Grunde nur erreichen, wenn
man ganz geringe Leitungsspannen hat, sozusagen ein Modell
T. Sattelberger: Ja. Mein damaliger Vorstandsvorsitzender bei
Conti Manfred Wennemer beispielsweise hat Berater nur aus
Höflichkeit empfangen und keinen einzigen engagiert. Die
Vorstände mussten selbst denken. Es gab auch keine Stäbe. Es
spricht aber nichts dagegen, interne Kreativ- und Projektmanagementkapazitäten zu nutzen. Und dann müssen Querdenker
6
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
selektiv das System konfrontieren dürfen, damit man nicht im
eigenen Saft stecken bleibt. Denn jede Problemlösung führt ja
zu neuen Problemen.
das ist eine sehr interdisziplinäre Angelegenheit, diese Arbeitswelten müssen partizipativ geklärt und dann geschaffen werden.
Und da könnte HR zeigen, wie nützlich es ist.
DMR: Wie kann man der Entwicklung von HR entgegenwirken,
als Supportfunktion zu verkommen? Insbesondere in einer Zeit, in
der Menschen als Asset eine wichtige Rolle spielen?
DMR: Also Smart Work im Sinne von Andersartigkeit und Diversität in einem Unternehmen?
T. Sattelberger: Die Personalfunktion steht aus meiner Sicht an
einem wirklichen Scheideweg, der historischer Tiefpunkt oder
Chance werden kann. Die Personalfunktion hat sich über die
letzten zehn Jahre total verändert: neues Produkt, neuer Service,
neuer Prozess. Das war nicht dumm, auch wenn es natürlich im
Zeitgeist der Effizienzorientierung von Unternehmen stattfand.
Aber wir kommen jetzt an den Punkt, an dem erstens durch
Effizienzmanagement immer weniger rauszuholen ist und zweitens weniger die Effizienz als eher die Effektivität gefragt ist:
nicht mehr „höher, schneller, weiter“, sondern „anders“. Damit
ist eine historische Chance gegeben, wieder groß zu denken –
das Denken in Organisationsdesigns oder in De­signs für Arbeitswelten. Nicht mehr nur in Produkt, Service und Prozess
sowie einer App fürs Recruiting – ich kann es gar nicht mehr
hören. Ob danach dann ein großer Schritt kommt, ist eine
andere Frage – es können auch viele kleine kommen, aber die
Thematik muss groß gedacht werden. Ich habe mir in meiner
aktiven Zeit intensiv angeschaut, wie sich Arbeitswelten innovativer Unternehmen entwickeln und mir die Frage gestellt:
Braucht Innovation 4.0 Arbeitswelt 4.0 oder ist Arbeitswelt 4.0
ein Humus für Innovation 4.0? Sie ist aus meiner Sicht beantwortet: Es sind Zwillinge. Wir haben 2010 im Personalresort
begonnen, so etwas wie Smart Work zu diskutieren. Da werden
Sie wahrscheinlich erstaunt sein jetzt...
DMR: Absolut. Das ist eines unserer zentralen Themen...
T. Sattelberger: 2010 haben wir im Gefolge der Frauenquote begonnen, Smart Work zu diskutieren. Zum einen wurde
klar, dass eine Frauenquote ohne Smart Work nicht funktioniert, und zum anderen konnte die Frauenquote sowieso nur
Teil eines übergreifenden Ansatzes sein, der da heißt: Schaffung
einer Organisationskultur, die eher divers, kollaborativ und
souverän ist. Das ist eine Diskussion, die natürlich nicht die
betriebliche Öffentlichkeit erreicht hat, weil sie auch noch sehr
unreif war. Aber dieser wechselseitige Zusammenhang ist eindeutig und von daher ist die historische Chance einer Personalfunktion gewaltig – aber sie kann sie alleine nicht packen, denn
da müssen Ingenieure, Informatiker, Arbeitswissenschaftler und
Personalleute und die Betroffenen selbst zusammenkommen –
7
T. Sattelberger: Das geht noch viel weiter. Das ist nur ein
Strang einer smarten Organisation. Ein zweiter Strang hat mit
dem Thema Crowd Working und Open Innovation zu tun, mit
der Entgrenzung der Organisation – und das ist nicht nur ein
Thema von F&E, sondern von allen Funktionen. Eine dritte
Dimension betrifft das Thema Macht, Hierarchie und Demokratie. Ein vierter Teil dieses Ansatzes hat mit Souveränität zu
tun und damit mit der Frage: Habe ich die Freiheit, Ort, Zeit,
Kollaborationsform, Stil der Arbeit oder gar ihren Inhalt selbst
zu entscheiden? Ein letzter Punkt ist das Gemeinwohl – das ist
dann noch einmal eine ganz andere Betrachtung. Bin ich ein
autistisches Unternehmenswesen oder bin ich verbunden als
Organ eines Körpers mit der mich umgebenden Gesellschaft?
Das wären ein paar beispielhafte Dimensionen, die meiner Meinung nach wichtig sind. Wir haben schon damals nicht nur diskutiert, dass das Thema Frauenquote in das Thema Diversity
eingebettet sein muss, sondern auch, dass das Thema Diversity
nur eine von mehreren Dimensionen ist, die für Smart Work
entscheidend sind.
DMR: Und warum sind wir doch nur beim Thema Frauenquote
gelandet?
T. Sattelberger: Solche Themen werden von denen verantwortet, die sie treiben. Wenn sie gehen, wird neu sortiert. Ganz
nüchtern. Ich habe mal bei Lufthansa miterlebt, wie mein
Nachfolger die gesamte Personalentwicklung den Bach hat runtergehen lassen. Das ist halt so. Du bist im Grunde ein relatives
und vergängliches Wesen. Es gibt keinen linearen Fortschritt in
einer Organisation.
DMR: Muss man Diversität, wenn man sie im Hinblick auf Highperforming Teams nutzen möchte, verordnen? Das Thema Quote
für bestimmte Themen betrifft ja nicht nur Frauen, sondern auch
Internationalität im Unternehmen.
T. Sattelberger: Also, ein frommer Spruch bleibt ein frommer
Spruch. Diversität ohne Steuerung derselben ist folgenlos oder
zufällig. Ich beziffere als Personaler doch so viel im Unternehmen mit quantifizierbaren Größen, von Durchlaufzeiten für
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
eine Bewerbung bis zu Vergütungsspreizung. Für mich ist das
eine ganz normale managerielle Steuerung. Gerne auch mit
Internationalität. Übrigens löst sich im Kontext von People
Analytics das Thema. Shell setzt heute schon Innovationsteams
mittels „social footprints“ zusammen.
DMR: Muss auch HR messbarer und greifbarer werden als bisher
und sich weniger mit kulturellen und esoterischen Themen beschäftigen?
T. Sattelberger: Ja und nein. HR muss nachweisen, dass es sich
auf dem Territorium „hier und jetzt“ aufhält und sich dort bewährt, aber auch den Nachweis führen, dass es auch Schiffe für
eine unbekannte Expedition ausrüsten kann.
DMR: Im Moment bezieht sich HR wohl stärker auf die Rolle der
Supportfunktion…
T. Sattelberger: Ja, aber mit Support, Logistik und Service alleine hat man noch nie einen Krieg gewonnen. Die Reduktion
von Menschen auf „die einen machen die Handarbeit und die
anderen machen die Kopfarbeit“ oder die einen machen die
Umsetzung und den Service und die anderen die Strategie – das
sind ja uralte Modelle. Ich hätte jedes Unternehmen verlassen,
in welchem ich nicht das Gefühl gehabt hätte, noch genügend
Expeditionen machen zu können. Im Bereich Arbeit gilt ja das
Gleiche wie im Forschungs- und Entwicklungsbereich. So, wie
die Ingenieure Prüfstände bauen oder die Naturwissenschaftler
Labore haben, so müssen auch die Personaler für die Zukunft
der Arbeit experimentieren.
DMR: Was wäre im Zuge dessen der nächste Schritt für eine HRStruktur im Unternehmensverbund?
T. Sattelberger: Das Zuschneiden von HR auf eine Supportoder Servicefunktion ist kontraproduktiv. Gerade las ich in
einer Studie, dass die IT-Avantgarde-Unternehmen herausragende HR-Funktionen bauen. Das muss man so hart sagen.
Wer sich geistig einzimmern lässt, der hat es auch nicht anders
verdient. Im Grunde muss wahrscheinlich auch ein Stück weit
personelle Reform gelingen. Also eine Nachwuchsrevolution
im HR-Bereich. Wie auch immer man das hinkriegt, dass gute
Menschen an Bord kommen, und zwar sowohl Männer als auch
Frauen, die zum einen viel zum Thema Arbeitswelt 4.0 und der
Transformation des Unternehmens dorthin beitragen können
und zum anderen People Analytics beherrschen, denn die HRFunktion der Zukunft ist auch digital kompetent.
8
DMR: Und das bedeutet schließlich auch, dass dies ein CEO mit
unterstützt, oder?
T. Sattelberger: Nicht unbedingt. Vor kurzem kam die Personalchefin eines größeren Start-ups zu mir und sagte: „Herr
Sattelberger, wir sind jetzt so gewachsen, dass mein CEO und
ich Mitarbeitergespräche einführen werden. Wir können das
nicht mehr informell auf dem Flur machen. Welche Konzerne
führen gute Mitarbeitergesprächs-Trainings durch?“ Da sagte
ich: „Hören Sie auf! Der erste Fehler ist bereits, diese Frage zu
stellen. Warum holen Sie nicht alle Betroffenen zusammen in
ein kleines Laboratorium und lassen sie zwei Tage lang experimentieren in wechselnden Rollen.“ Große Konzerne haben das
schon alles segmentalisiert. Dort gibt es für Führungskräfte ein
Seminar, das „Führen von Mitarbeitergesprächen“ heißt, und
wenn die Unternehmen fortschrittlich sind, für Mitarbeiter
ein Programm, das „Führen von Gesprächen von unten“ heißt.
Und so haben sie die Hierarchie schon „reingestopft“ in die Art
und Weise des Lernprozesses.
DMR: Also die Revolution von unten?
T. Sattelberger: Es gibt viel Forschung zu Innovation in Organisationen. Die meisten dieser Forschungen gehen davon aus:
Echte innovative Experimente beginnen an der Peripherie und
einzelne Mächtige haben es in der Hand, Strukturen zu schaffen, die die Autonomisierung von Einheiten und den Abbau
hierarchischer Silos fördern. Aber das tatsächliche Innovieren
geschieht eher unten oder an der Peripherie in Unterseebooten,
Garagen oder Grauzonen.
DMR: Das wäre doch ein schöner Arbeitsauftrag für HR: den Talentstrom, den Sie beschrieben haben, sicherzustellen und den Rahmen zu schaffen, diese Möglichkeiten und Freiräume auch wirklich
zu kultivieren.
T. Sattelberger: Die Deregulierung von HR-Prozessen ist dazu
Voraussetzung. Diese furchtbaren Prozesse, die nur Zeit konsumieren und nicht Mehrwert schöpfen! Hays hat eine Untersuchung gemacht, nach der 60 Prozent der Geschäftsführer
und Personaler denken, Karrieren werden durch strategische
Nachfolgeplanung und gutes Talentmanagement gemacht.
Führungskräfte und die Basis dagegen sagen, Karrieren werden
durch Seilschaften und dem „zum richtigen Zeitpunkt an der
richtigen Stelle sein“ gemacht. Es ist eine interessante Frage:
Was kann ich ohne Ersatz aussetzen? Die Nachfolgeplanung ist
definitiv unnötig. Damit wird nicht gearbeitet. Im Prinzip hät-
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015
te ich auch das ganze Thema individuelle variable Vergütung
abschaffen und durch einen kollektiven Erfolgsbonus ersetzen
müssen, um die Manipulation im System zu verhindern. Man
hat ja so viele Manipulationen in diesem Target-ManagementProzess gehabt. Aber auch, um solidarisches Denken zu fördern.
DMR: Was wäre eine Alternative gewesen?
T. Sattelberger: Am Schluss geht es doch nur um ein Ergebnis: Man will ein bestimmtes Finanzergebnis erwirtschaften,
Mitarbeiter-Commitment haben, Kundenzufriedenheit erreichen. Und dafür gibt es beispielsweise x Prozent von EBITDA.
Diese werden dann auf jeder Ebene in einer bestimmten Logik
verteilt.
DMR: Aber schon leistungsabhängig?
T. Sattelberger: Nicht individuelle, sondern geschäftsspezifische
Performance! Was ist denn individuelle Performance heute?
Wenn Sie sich die Targets anschauen, die ich mit meinen Direct
Reports gemacht habe, dann wurden 2/3 irrelevant, weil andere
wichtiger wurden. Kreativität wurde gar nicht honoriert, weil
sie kaum quantifizierbar ist. Das waren voluntaristisch rausgesuchte Effizienzziele. Der Apparat, der für die Messung der
Ziele benötigt wurde, und die Entsolidarisierungseffekte, die
stattfinden durch individuelles Performance Management – das
ist absolut veraltet. Ich würde heute auf solidarisch erzielte Ergebnisse setzen. Die größte Zerstörung wirtschaftlicher Potenziale wird durch schlechte Führung und nicht durch schlechte
Leistung erzielt. Ich halte Abteilungsstrukturen, Hierarchien
und schlechte Führung für die Schlüsseltreiber von schlechter
Performance von Organisationen und Individuen.
T. Sattelberger: Personalüberhänge sind wieder ein anderes
­Thema. Ich war ein großer Freund von Shape HQ und bin
überzeugt davon gewesen, dass dieser Moloch radikal ­verkleinert
werden musste. Ich kann nicht in einem Konzern flache Hierarchien implementieren, wenn ich noch einen riesigen feudal
aufgestellten Moloch an der Spitze habe. Ich werde nie vergessen, wie mein alter Vorstandsvorsitzender von Conti bei Autoliv
in Schweden war, die ihre Zentrale im vierten Stock eines Bürogebäudes hatten. Das Unternehmen hatte über 50 000 Mitarbeiter, die Zentrale aber nur ein paar Duzend. Ich habe viel
Sympathie für extrem schlanke Steuerungscockpits.
DMR: Wir haben noch eine letzte und persönliche Frage an Sie:
Wenn Sie zurückblicken auf Ihre doch sehr lange Personalmanagerkarriere, worauf sind Sie besonders stolz? Und was lässt sich daraus
lernen?
T. Sattelberger: Sie müssen bedenken, dass ich fünf Jahre lang
operativer Airline-Vorstand war – denn da habe ich erst gelernt,
dass die Operativen auch nur mit Wasser kochen. Deswegen
ist es mir auch wichtig, dies anzumerken. Vorher bin ich als
Personaler mit einer Underdog-Haltung rangegangen. Nicht gegenüber dem Finanzbereich, denn rechnen können wir ja alle,
sondern gegenüber den Geschäftsverantwortlichen. Dann verantwortete ich einen riesigen operativen Bereich bei Lufthansa
mit fast 35.000 Beschäftigten und merkte, dass dort simples
Managen viel wichtiger war als das Thema der Transforma­tion
und Innovation – und habe meine Liebe für die HR-Arbeit wiederentdeckt.
T. Sattelberger: Ja, dass man mit den Menschen arbeitet, die
man vorfindet und ihnen Potenzial unterstellt. Ich habe mich
in 40 Jahren Führungsarbeit von weniger als zehn meiner Führungskräfte getrennt.
Ich fand Personalarbeit immer eine der komplexesten betrieblichen Aufgabenstellungen schlechthin, weil sie die nichtberechenbare Seite eines Unternehmens widergespiegelt hat. Man
kann in Pricing, in der Produktion, hoch berechenbar sein, aber
beim System Mensch oder Arbeit kann man immer nur eine
Hälfte der Welt berechnen, die andere Hälfte muss man sozusagen erforschen. Dass die Personalarbeit auch das Experimentieren im sozialen System ist, fand ich immer das Spannendste,
ob als junger Mann in der Ausbildung bei Daimler oder als Personalvorstand mit der Frauenquote bei Telekom. Das habe ich
nie aufgegeben.
DMR: Das spricht doch gegen die ganzen Abbauprogramme. Sollte
man nicht schauen, dass man aus den zur Verfügung stehenden
Menschen das Maximum an Leistung rausholt und nicht, wie man
sie aus dem Unternehmen bekommt?
Das Interview führten Marc Wagner und Elisa Voggenberger.
DMR: Würden Sie sagen, dass es bei Führung primär darum geht,
aus Mitarbeitern das Beste rauszuholen, so dass es keine wirkliche
Schlechtleistung gibt?
9
Detecon Management Report dmr • Special Transformation & Peoplemanagement 2 / 2015