Tageblatt, Ausgabe: Tageblatt, vom: Freitag, 15. April 2016

THEMA NATIONALITÄT
Freitag, 15. April 2016 • Nr. 89
1.000.000
446.487
Menschen wanderten laut den Akten der
Fremdenpolizei zwischen 1893 und 1972, also
innerhalb von 80 Jahren, nach Luxemburg ein
(Quelle: Recherchen Denis Scuto). Dies stellt natürlich keinen absoluten Bevölkerungszuwachs dar: Nicht alle bleiben, Menschen
sterben, Luxemburger wandern aus.
Die Zahl verdeutlicht aber den Status von
Luxemburg als Immigrationsland.
Menschen wanderten laut Statec zwischen 1980
und 2015, also innerhalb von 36 Jahren, ins
Luxemburger Land ein (Quelle: www.statec.lu;
Zahlen erst ab 1980 durchgehend verfügbar).
Dies stellt natürlich keinen Netto-Bevölkerungszuwachs dar, der sog. „solde migratoire“ für
diesen Zeitraum liegt bei 166.998.
Die Zahl untermauert aber den Status von
Luxemburg als Immigrationsland.
Schon 2008 absehbar:
„Dieses Gesetz lebt nicht lange“
DENIS SCUTO Im Gespräch über Nationalitätsgesetz, Sprache, Immigration und Integration
Claude Clemens (Texte)
Schreibt man als Dozent in Geschichte
seine Doktorarbeit über Nationalität
und Nationalitätsgesetze, ist man als
Gesprächspartner prädestiniert, wenn
eine Reform des Nationalitätsgesetzes
auf den Instanzenweg gebracht wird.
Denis Scuto, Jahrgang 1964, hat
zudem selbst einen
Migrationshintergrund, beschäftigt
sich ebenfalls mit allen Themen in
Zusammenhang mit Migration.
Wir trafen uns mit ihm zu einem Gespräch
über den vorgeschlagenen Text des neuen
Nationalitätsgesetzes und ältere Versionen, Sprache, Immigration und Integration. Obwohl diese Themen oft (fast immer)
zu viel und unnötigerweise miteinander
vermischt werden, geht es nicht anders:
denn die öffentliche Diskussion läuft nun
mal, wie sie läuft.
Fällt das Wort „Nationalitätsgesetz“,
folgt gleich hinterher das Wort „Sprache“,
obwohl beides nicht zwingend miteinander verbunden ist. Und eine gelungene Integration von ausländischen Mitbürgern
braucht nicht notwendigerweise ein Nationalitätsgesetz; dieses kann ein mögliches Integrationsinstrument sein.
Dies sieht auch Scuto so: „Die Nationalität ist eine politische und juristische Verbindung zwischen einer Person und einem
Staat. Es hat rechtlich nichts mit einer
Identität zu tun; Gefühle spielen keine
Rolle, die Art und Weise dieser Verbindung wird nicht vorgeschrieben. Aber wir
diskutieren ständig immer nur über Gefühle.“
Foto: Tania Feller
„Gitt Lëtzebuerger!“
Zurück zum Instrument. Denis Scuto:
„Wenn ich den politischen Willen richtig
verstehe, soll das Nationalitätsgesetz der
Integration dienen. Aber dann muss man
ja auch Werbung dafür machen: 'Gitt
Lëtzebuerger!'“ Es ist einer von mehreren
Momenten in dem fast zweistündigen Ge-
spräch, wo der Sohn eines italienischen
Einwanderers und einer luxemburgischen
Mutter die letzte Konsequenz im politischen Diskurs und in der politischen
Handlung vermisst.
Inkonsequenz ist auch ein gutes Stichwort für die Tatsache, dass ein 2008 reformiertes Nationalitätsgesetz nun schon
wieder geändert wird: „Dieses Gesetz lebt
nicht lange, das habe ich schon 2008 gesagt. Erstens herrscht Immigrationsdruck,
und zweitens stellte das Einführen des
Sprachentests eine Hürde dar.“
Mit dem neuen Text kommt man denn
auch in puncto Residenzklausel auf den
Stand von vor 2008 zurück, die 2008 abgeschaffte Option wird wieder eingeführt,
der Sprachentest wird leicht vereinfacht –
aber nicht so viel, wie in der ersten von
Justizminister Félix Braz vorgeschlagenen
Textversion. Ein Zugeständnis der Regierungskoalition an die Oppositionsparteien
CSV und ADR.
Konzession an Populismus
Wiederum ein gutes Stichwort. 1986 noch
verworfen, taucht im Text 2001 erstmals
Sprache als Bedingung bei einer Naturalisierung auf. In seiner Doktorarbeit
schreibt Scuto dies der „apparition, à la
droite du parti chrétien-social du Premier
ministre, Jean-Claude Juncker, d’un parti
populiste, ADR, décidé à faire de la langue
luxembourgeoise un de ses chevaux de bataille“ zu und erinnert daran, dass diese
Partei 1999 zwei Sitze im Parlament dazugewann und demnach 2001 sieben Abgeordnete hatte.
„Diese Bedingungen haben ganz klar als
Ursache das Aufkommen populistischer
Strömungen“, so Scuto, „der Sprachentest
hat einen politischen Grund: es ist eine
Konzession an die ADR.“
Allgemein ist das Thema Sprache wiederum ein Feld, wo Scuto die letzte Konsequenz fehlt (siehe S. 3): „Da hätte man
noch einen Schritt weiter gehen können.“
Davon abgesehen sei der neue Gesetzestext aber ein Fortschritt.
2015er Zahlenspiele, und wieso 46,7% eigentlich nur 6,8% sind
Am 31. Dezember 2015 lebten
576.249 Menschen in Luxemburg.
*
23.803 Personen siedelten sich
neu in Luxemburg an, während
12.644 abwanderten; der sog.
„solde migratoire“ für 2015 liegt
demnach bei einem Plus von
11.159 Personen. Der „natürliche Überschuss“ (Geburten Todesfälle) lag bei einem Plus
von 2.132 Personen.
*
Von diesen 576.249 sind laut
Statec 269.200 Ausländer, d.h.
nicht Luxemburger Nationalität.
Das entspricht einem Anteil von
46,7%.
*
Von diesen 269.200 sind laut
Statec 39.700 Nicht-EU-Bürger.
Das sind 6,8% der Gesamtbevölkerung.
Hierzu ein Zitat aus dem Interview mit Denis Scuto: „Wenn
man sagt, Luxemburg hat einen
Ausländeranteil von 46,7% sage
ich: Nein, er liegt nur bei schätzungsweise 6%. Weil alle anderen sind EU-Bürger. Und die
werden rechtlich genau gleich
behandelt wie Luxemburger,
wegen des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Nationalität.“
*
Im Jahr 2015 nahmen 5.299 Personen aus insgesamt 87 verschiedenen Nationen (sowie 6
Staatenlose und 1 Person aus einem „pays indéterminé“) die Luxemburger Staatsbürgerschaft
an.
*
1.264 davon kommen ursprünglich aus Belgien, 1.205 aus
Frankreich, 1.168 aus Portugal,
313 aus Italien, 279 aus
Deutschland, 127 aus Montenegro und 100 aus den USA. Alle
anderen Nationen sind im zweioder einstelligen Bereich. Der
ganze Globus ist abgedeckt bis
hin zu den Antipoden (1 Australier, 1 Neuseeländer) und
Kleinststaaten wie die knapp
600 km2 große Insel St. Lucia in
der Karibik.
*
Von den sieben größten Gruppen leben alle 1.168 vorher erwähnten portugiesischen Staatsbürger nachweislich in Luxem-
burg (Prozedur über Naturalisierung). Auch alle 127 Montenegriner leben in Luxemburg, sowie 299 von 313 Italienern und
219 von 279 Deutschen.
1.089 der 1.264 Belgier profitierten von der mit dem Gesetz von
2008 geschaffenen Möglichkeit,
die Luxemburger Nationalität zu
erlangen, wenn man Vorfahren
hat, die vor 1900 Luxemburger
waren. Bei 899 der 1.205 Franzosen war dies der Fall sowie bei
83 der 100 US-Amerikaner. Diese Personen leben nicht unbedingt in Luxemburg.
clc
Persönlich erstellt für: asbl asti
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Tageblatt
Freitag, 15. April 2016 • Nr. 89
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Sprachenpolitik?
„Das Nationalitätsgesetz kann
eine Sprachenpolitik nicht ersetzen, die Diskussionen 'verheimlichen' dies ein bisschen“,
sagt Denis Scuto.
Und Luxemburg hat seiner
Meinung nach keine Sprachenpolitik. „Wenn das Luxemburgische so wichtig ist, warum alphabetisieren wir dann nicht in
Luxemburgisch? Wieso werden Menschen nicht offiziell
freigestellt für Sprachenkurse?“
Wir sind bei der nächsten Inkonsequenz angekommen:
„Themen werden aufgeworfen,
aber nicht zu Ende diskutiert,
sondern nur populistisch ge-
nutzt. Das ist hypokritisch,
aber die Diskussion wäre
durchaus interessant.“
Die Reihenfolge
der Amtssprachen
„Wann een d’Sproochesituatioun serieux hëlt“, würde der
Blick in den Gesetzestext folgende Reihenfolge in der Aufzählung der Amtssprachen zeigen: Französisch, Deutsch, Luxemburgisch. Für Gesetze ist
Französisch Vorschrift, und
dann komme noch der Satz,
dass Luxemburg eine National-
sprache habe: Luxemburgisch.
Eine Sprachenpolitik müsste
laut Scuto die Mehrsprachigkeit fördern, und innerhalb dieser auch das Luxemburgische:
„Aber wenn man jetzt schon
die Debatte anlässlich des Nationalitätsgesetz sieht, verstehe
ich die Politiker, wenn sie keine Lust auf die gleiche Debatte
potenziert hoch drei haben.“
Der Historiker sieht die luxemburgische Sprache auch nicht
in Gefahr: „Sozio-Linguisten
sagen ganz klar, dass der Gebrauch von zwei Sprachen
steigt: die französische und die
luxemburgische, Letztere auch
im Schriftlichen.“
Was ebenfalls oft hochkommt in
der Diskussion: Man dürfe die
Luxemburger Nationalität nicht
„bradéieren“ („ein klassisches
Argument der 'Droite' seit dem
Zweiten Weltkrieg“, so Scuto),
der Sprachentest dürfe nicht zu
einfach sein.
Zum letzteren Punkt ist der frühere Fußballnationalspieler unmissverständlich: „Das ist absolut unverständlich. Die zu erreichenden Niveaus sind nicht einfach, A2 nicht und B1 'ass carrément schwéier'. Das zeugt einfach nur von Unkenntnis, von
mangelndem Willen, sich in jemanden hineinzuversetzen.“
Auch dass der Test – bei drei offiziellen Amtssprachen – zwingend im Luxemburgischen sei,
ist ein Kritikpunkt: „Man kann
das zwar nicht vergleichen, aber
in der Schweiz beispielsweise
erfolgt der Test in einer der
Amtssprachen und es muss
nicht notwendigerweise die sein
aus dem Kanton, in dem man
lebt.“ Er fände hier den flexibleren Vorschlag von Soziologe
Fernand Fehlen gut: „Der Test
findet in einer der drei Sprachen statt, und es darf nicht die
Muttersprache dieser Person
sein.“
Soziales Kriterium
Klammer auf: In seiner Doktorarbeit zitiert Scuto den LSAPAbgeordneten Ben Fayot, der
bereits 2003 in einer Publikation schrieb: „En somme, du
point de vue linguistique, il faut
qu’un étranger soit déjà Luxembourgeois pour pouvoir acquérir la nationalité luxembourgeoise.“ Klammer zu.
Was Denis Scuto gänzlich vermisst, ist ein soziales Kriterium:
„Der Test ist nicht machbar für
alle Bildungsniveaus. Auch von
der benötigten Zeit für Luxemburgisch-Kurse her ist es ganz
einfach nicht für alle Berufsgruppen drin.“ In Frankreich
gäbe es solche Kriterien, führt er
als Beispiel an.
Seine Interpretation dieser Tatsache lässt denn auch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Ich lese das Gesetz so: Der
qualifizierte Migrant interessiert
mich, der unqualifizierte portugiesische Bauarbeiter nicht.
'Dat ass e politesche Choix, och
wann dat net esou gesot gëtt'.“
In eigener Sache: Das Tageblatt widmete dem Sprachentest am „Institut national des
langues“ in der Ausgabe vom
21. März eine zweiseitige Reportage. Auch wir kamen zum
Schluss, dass sowohl Test als
auch der Weg dorthin keineswegs einfach seien.
Foto: Tania Feller
Zu einfacher Test?
Luxemburger werden
Änderungen im Gesetz
Ab 1848 – Bedingungen für Naturalisierung sind finanzielle
Situation, Moralität, Residenzklausel (5 Jahre), Mindestalter:
25 Jahre;
1878 – erstmals wird ein Bodenrecht eingeführt, der „double
droit du sol“;
1905 – erstmals wird eine vereinfachte Prozedur (Option)
möglich: für Kinder, wenn sie 18 Jahre alt werden;
1934 – Residenzklausel steigt auf 10 Jahre;
1940 – „double droit du sol“ wird abgeschafft; keine Option
mehr; Residenzklausel steigt auf 15 Jahre; weitere Bedingungen für Naturalisierung: „assimilation suffisante“ und ein
„certificat sanitaire“;
„Sproochentest“ 2008 bis 2015 (seit Gesetzesreform)
Jahr
Einschreibungen
Präsenz
bestanden
%
Anzahl
der Sessionen
2008
97
97
88
91%
1
2009
840
812
618
77%
9
2010
1.064
1.030
810
78%
11
2011
900
871
590
67%
10
2012
939
891
620
70%
10
2013
982
942
619
66%
11
2014
1.039
1.003
630
62%
12
2015
1.149
1.120
712
64%
16
Total
7.010
6.766
4.687
69%
80
1968 – Option wird wieder eingeführt; bei den Bedingungen
bleibt die Formulierung „assimilation suffisante“ (auch im
Text von 1975);
Wenn das
Luxemburgische
so wichtig ist,
warum
alphabetisieren
wir dann nicht in
Luxemburgisch?
Das europäische Element
Der Untertitel von Scutos Doktorarbeit lautet: „Histoire d’un
alliage européen“. Das erst
1839 in der heutigen Form „zustande gekommene“ kleine Luxemburg muss man auch in
puncto Nationalität und Einwanderung unter einem europäischen Gesichtspunkt betrachten.
Was den derzeitigen Einwanderungsdruck angeht, „so
nimmt Luxemburg die europäische Entwicklung, die dabei ist,
zu passieren, wohl vorweg. Da,
wo die Wirtschaft boomt, in urbanen Zentren, aber auch anderswo, steigt der Ausländeranteil. Das bringen 'libre circu-
lation' und freies Niederlassungsrecht eben mit sich“, so
Scuto.
Diese Tatsache sowie die Sprachendiskussion bringen das
Gespräch auch unweigerlich
auf das Referendum von 2015
und das Einwohnerwahlrecht.
Referendum:
„Das war heftig“
„Das war heftig“, sagt Denis
Scuto, „aber das Thema wird
wiederkommen.“ Vielleicht habe Luxemburg seiner Zeit zu
viel voraus sein wollen, sinniert
der Escher. Auch wenn keine
Diskriminierung entstehe, weil
EU-Bürger weiter in ihrem Heimatland Wahlrecht haben,
„zeigt die Realität, dass die wenigsten dies tun. Man will lieber
da wählen, wo man wohnt.“
Die Frage würde derzeit juristisch erörtert, „und wer weiß,
vielleicht ist es in 10 oder 20
Jahren so weit“.
Sagt Denis Scuto, und bringt
mit dem nächsten Satz in seiner
ihm eigenen Art eine ganz andere, bittere Realität auf den
Punkt: „Wenn bis dahin nicht
der gesamte europäische Prozess gestoppt ist ... was derzeit
möglich erscheint.“
1975 – Residenzklausel sinkt wieder auf 10 Jahre;
1986 – Mindestalter wird von 25 auf 18 Jahre gesenkt;
2001 – Residenzklausel sinkt auf 5 Jahre; die Formulierung
„assimilation suffisante“ ohne weitere Präzisierung verschwindet, Artikel 7 („La naturalisation sera refusée à l’étranger“) lautet zu diesem Punkt nun wie folgt: „4) lorsqu’il ne
justifie pas d’une intégration suffisante, notamment lorsqu’il
ne justifie pas d’une connaissance active et passive suffisante
d’au moins une des langues prévues par la loi du 24 février
1984 sur le régime des langues et, lorsqu’il n’a pas au moins
une connaissance de base de la langue luxembourgeoise, appuyée par des certificats ou documents officiels“;
2008 – doppelte Staatsbürgerschaft wird möglich; „droit du
sol“ zweiter Generation wird wieder eingeführt; Residenzklausel steigt wieder auf 7 Jahre; keine Option mehr; der
eben zitierte Artikel heißt nun 7b) und lautet wie folgt: „lorsqu’il ne justifie pas d’une connaissance active et passive suffisante d’au moins une des langues prévues par la loi du 24 février 1984 sur le régime des langues et lorsqu’il n’a pas réussi
une épreuve d’évaluation de la langue luxembourgeoise parlée. (...)“; was in beiden Texten widersinnig klingt (der Sprachentest bzw. das verlangte Zertifikat „heben“ den ersten
Satzteil „auf“), erklärt sich durch einen Zusatz, der eine Dispens vom Sprachentest ermöglicht: für diese Personen gilt
weiter der erste Satzteil ...
Geplante Reform – Residenzklausel sinkt wieder auf 5 Jahre;
Option wird wieder eingeführt; „droit du sol“ erster Generation wird eingeführt; Sprachentest wird leicht vereinfacht, der
betreffende Satz lautet nun „(...) d’avoir une connaissance de
la langue luxembourgeoise, documentée par le certificat de
réussite de l’examen d’évaluation de la langue luxembourgeoise (...)“, der „widersinnige“ Satzteil verschwindet.
Quellen: „La nationalité luxembourgeoise (XIXe-XXIe siècles)
von Denis Scuto; Gesetzestexte auf legilux.lu.
clc
Persönlich erstellt für: asbl asti
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