PJ Harvey: Irritierend schönes Album taz-Musikexpertin beim Mitsummen ertappt. Ist das schlimm? ▶ Seite 16 AUSGABE BERLIN | NR. 10992 | 15. WOCHE | 38. JAHRGANG MITTWOCH, 13. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Nächtliche Proteste in Paris H EUTE I N DER TAZ STREITBAR Neues Mut- terbild: Die Soziologin Orna Donath über den Wirbel um ihre Studie „Regretting Motherhood“ ▶ SEITE 13 FLUCHTFRAGE Es geht nicht um uns: Bernd Pickert reagiert auf Ulrich Schultes „Geständnis eines Linken“ ▶ SEITE 3, 11 Eier! Wir brauchen Eier! FRANKREICH Bewegung für Gerechtigkeit – und gegen die Regierung PARIS afp | Die Aktionen der neuen Protestbewegung in Frankreich gehen weiter. In der Nacht auf Dienstag kam es in Paris zu Auseinandersetzungen. Aktivisten hätten an der Place de la République eine Barrikade errichtet und Wurfgeschosse auf Polizisten geschleudert, teilten die Behörden mit. Seit knapp zwei Wochen treffen sich dort jeden Abend unter dem Motto „Nuit debout“ („Nacht im Stehen“ oder „Die Nacht über wach“) Tausende, um gegen eine Reform des Arbeitsrechts und für mehr soziale Gerechtigkeit zu protestieren. ▶ Der Tag SEITE 2 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 GESUNDHEIT Warnung an alle Veganer*innen: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät davon ab, beim Essen ganz auf tierische Produkte zu verzichten. Tierschützerin widerspricht ▶ SEITE 4 BERLIN „Wir sind jung Baustelle Brenner und fresh“: Neue „Partei der Wähler“ ▶ SEITE 21 Fotos: Tami Aven , dpa(o) Österreich plant Grenzkontrollen ab Juni FLUCHT VERBOTEN EILMELDUNG ++ EILMELDUNG ++ WIEN dpa/rtr | Österreich will Deutschland/Türkei/Diplomatie/Justiz/Medien/AFP Böhmermann sagt nächste Sendung ab! Sie läuft jetzt stattdessen Vitamin-B12-Mangel kann gefährlich sein. Dagegen helfen Pillen, Fisch, Fleisch, Milch – oder Eier. Oliver Kahn wusste es schon immer Foto: Moment/getty KOMMENTAR VON JOST MAURIN ÜBER DIE EXPERTENWARNUNG VOR REIN PFLANZLICHER ERNÄHRUNG rund um die Uhr. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 00.000 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30615 4 190254 801600 D Nur vegan ist auch keine Lösung as neue Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zu veganem Essen zeigt, wie unverantwortlich der Medienhype der vergangenen Jahre um die rein pflanzliche Kost war. Kaum eine Zeitschrift, kaum eine Zeitung, die nicht positiv über Veganismus geschrieben hat: Viele AutorInnen berichteten über ihren Selbstversuch à la „Einen Monat vegan“ und kamen am Ende zum Schluss: „Vegan schmeckt lecker“ und „hilft beim Abnehmen“. Dabei wurde oft ausgeblendet, dass vegane Ernährung das Risiko von Nährstoffdefiziten und damit schweren Gesundheitsschäden erhöht. Denn pflanzliche Lebensmittel liefern nun einmal kaum das wichtige Vitamin B12. Und auch andere Nährstoffe können schnell fehlen, wenn man die pflanzlichen Alternativen zu Fleisch und Milchprodukten falsch kombiniert. Klar: Wer Vitaminpillen schluckt, zum Ernährungsberater geht und regelmäßig seine Blutwerte untersuchen lässt, kann ausschließlich vegan essen und gesund bleiben. Aber dieser Teil der Geschichte fehlte in den Jubelartikeln über den „Vegan-Trend“ meist. Pillen und Arztbesuche passen nicht zur Hipness, die manche im Veganismus suchen. Gut, dass die DGE diese neue Ernährungsmode durch ihre Stellungnahme nun ein biss- chen erdet. Manche Veganer haben der Institution früher vorgeworfen, zu industrienah zu sein. Aber wer das aktuelle Positionspapier liest, sieht, dass die Experten ihre Thesen mit anerkannten Studien belegen. Im Übrigen ist, was die DGE schreibt, für Fachleute nichts Neues. Dass bestimmte Nährstoffe schwer aus Pflanzen zu beziehen sind, ist schon lange Stand der Forschung. Wir sollten weniger Fleisch, aber nicht gar kein Fleisch mehr essen Statt von einem Extrem – viel zu viel Fleisch – ins andere – Veganismus – zu verfallen, sollten wir lieber den gesunden Mittelweg suchen. Die Deutschen müssen weniger Fleisch essen: um das Risiko von Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken – und um die Umweltschäden der Tierhaltung zu minimieren. Derzeit verspeist jeder Mann im Schnitt rund ein Kilo Fleisch pro Woche. Die DGE empfiehlt nur 300 bis 600 Gramm. Würden alle so wenig davon essen, könnten sie auch mehr Geld pro Gramm ausgeben – für Biofleisch, das unter tierfreundlicheren Bedingungen produziert wird als konventionelle Billigware. Schwerpunkt SEITE 4 spätestens Anfang Juni mit Grenzkontrollen am Brenner beginnen. „Wenn sich die Migrationssituation so weiterentwickelt, dann ist das für mich der späteste Zeitpunkt“, sagte Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil. Wie die Tiroler Landespolizei mitteilte, wurden die Arbeiten für einen Kontrollbereich an der Autobahn begonnen. Zudem beschloss Wien eine Verschärfung der Asylgesetze. Die EUKommission zeigte sich „sehr besorgt“ über die Vorbereitungen für Grenzkontrollen, Italien protestierte. ▶ Ausland SEITE 11 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Stasi soll ins Archiv Experten legen Abschlussbericht vor AKTEN BERLIN epd | Die Stasiakten sol- len bis 2021 in das Bundesarchiv überführt werden, aber weiter öffentlich zugänglich bleiben. Das empfiehlt die vom Bundestag eingesetzte Expertenkommission zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Auch die Funktion des Bundesbeauftragten empfiehlt die Kommission zu ändern. Die Stasiunterlagenbehörde habe ihre Aufgabe als Sonderbehörde erfüllt, erklärte Kommissionschef Wolfgang Böhmer zur Übergabe des Abschlussberichts an Bundestagspräsident Norbert Lammert. ▶ Inland SEITE 6 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN Die vergessliche Trump-Tochter A merican wife, mother and entrepreneur“: So stellt Ivanka Marie Trump die Reihenfolge ihrer Prioritäten auf ihrem Instagram-Account vor. Ihre derzeitige Funktion als Helferin im Wahlkampf ih res Vaters Donald Trump fin det dort keine Erwähnung. Da bei verbrachte die 34-Jährige die vergangenen Monate unter an derem damit, mehr als ein Dut zend Videos bei YouTube zu pos ten, in denen sie den US-Repu blikanern erklärt, wie man sich für die Vorwahlen registriert. Umso peinlicher, dass sowohl sie als auch ihr 32-jähriger Bru der Eric Trump es versäumt ha ben, sich selbst für die Vorwah len in ihrem Heimatstaat New York am 19. April anzumelden. Sie können somit nicht für den eigenen Vater stimmen. Die Frist ist bereits im Oktober 2015 abgelaufen. „Sie fühlen sich sehr, sehr schuldig“, sagte Do nald Trump dem Fernsehsen der Fox News. Ein schwerer Imageschaden für die Frau, die bislang als Mus tertochter galt: Die Absolventin der Elite-Business-School Whar ton und Vizepräsidentin der Im mobilienabteilung des TrumpKonzerns ist nicht nur eine er folgreiche Geschäftsfrau. Sie ist auch Mode- und Schmuckdesig nerin, dreifache Mutter und ein ehemaliges Model. Schon als Kind war Ivanka Trump in den Medien präsent: unter anderem in der Dokumen tation „Born Rich“, in der sie ih ren Alltag als eines der reichs ten Kinder der Vereinigten Staa ten schildert. Sie trat außerdem in der Fernsehserie ihres Vaters „The Apprentice“ auf und in der weltweit beliebten Serie „Gossip Girl“ an der Seite ihres Mannes Jared Kushner, für den sie zum Judentum konvertierte. Im Wahlkampf wird Ivanka Trump die Aufgabe zugeschrie ben, die weiblichen Wähler der USA für ihren Vater zu mobili sieren. Kein einfacher Job, wenn der Vater in ebenso regelmäßi gen wie kurzen Intervallen frau enfeindliche Aussagen macht. Erst kürzlich wetterte er au ßerdem gegen amerikanische Unternehmer, die im Ausland produzieren. Danach kam her aus, dass seine Tochter die Schals ihrer Modelinie „Ivanka Trump“ in China herstellen lässt. Ganz gemäß ihrer Aussage in einem Forbes-Interview 2013 : „Ich un terstütze meinen Vater, aber ich stimme nicht immer allem zu, was er sagt.“ MORGANE LLANQUE DI E TAZ I M N ETZ ZUGUNGLÜCK BAD AI BLI NG Milliardenfonds soll Banken stützen taz.de/twitter Justiz verhaftet Fahrdienstleiter ROM | Italiens Banken äch taz.de/facebook KEI N „N EO MAGAZI N ROYALE“ AM DON N ERSTAG ITALI EN Jan Böhmermann sagt Sendung ab BERLIN | Der Moderator und Sati Ivanka Trump, Unternehmerin und Exmodel Foto: reuters Der Tag M IT TWOCH, 13. APRI L 2016 riker Jan Böhmermann hat seine kommende Fernsehsendung ab gesagt. „Grund ist die massive Berichterstattung und der da mit verbundene Fokus auf die Sendung und den Moderator“, heißt es auf der Facebook-Seite des „Neo Magazin Royale“. Die Sendung hätte am Donnerstag bei ZDFneo und am Freitag im ZDF ausgestrahlt werden sollen. Böhmermann hatte vor knapp zwei Wochen ein Schmähge dicht auf Recep Tayyip Erdoğan vorgetragen. Er wollte laut ei gener Aussage dem türkischen Präsidenten damit den Unter schied zwischen in Deutsch land verbotener Schmähkritik und zulässiger Satire erläutern. Erdoğan hat am Montag die ser Woche wegen des Gedichts Strafantrag gegen Böhmermann wegen Beleidigung gestellt. Die türkische Botschaft hatte schon zuvor von der deutschen Regie rung Ermittlungen in dem Fall aufgrund von Paragraf 103 des Strafgesetzbuches (Beleidigung eines ausländischen Staatsober haupts) gefordert. Die Bundes regierung muss nun entschei den, ob sie die Ermittlungen ver anlassen will.(taz) Gesellschaft + Kultur SEITE 14 zen unter faulen Krediten von rund 360 Milliarden Euro – das bremst die wirtschaftliche Erho lung des Landes. Mit einem mil liardenschweren Fonds will Rom nun die Banken stützen und die Kreditvergabe wieder ankur beln. Banken, Finanzministe rium und Notenbank einigten sich am Montagabend auf die Einrichtung des Fonds „Atlante“, der den Banken faule Kredite ab nehmen soll. Regierungschef Renzi lobte den Fonds als „hilf reich“. Der Fonds soll rund 5 Mil liarden Euro umfassen. (dpa) BAD AIBLING | Zwei Monate nach dem Zugunglück von Bad Aibling mit elf Toten sitzt der Fahrdienstleiter in Unter suchungshaft. Dies teilte die Staatsanwaltschaft gestern mit. Dem Mann werde vorgeworfen, auf seinem Handy bis kurz vor dem Zusammenprall der Re gionalzüge ein Computerspiel gespielt zu haben und dadurch abgelenkt gewesen zu sein. Das Amtsgericht Traunstein ordnete U-Haft wegen fahrlässiger Tö tung, fahrlässiger Körperverlet zung und gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr an. (afp) taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Frankreichs neue Nachtwächter PROTEST Die Nuit-debout-Bewegung auf der Pariser Place de la République lässt sich nicht räumen. Abends kommen wieder Tausende zusammen, um gegen die politischen Verhältnisse zu demonstrieren AUS PARIS RUDOLF BALMER Am Mittwoch ist auf der Pari ser Place de la République der 44. März. Seit die neue Bewe gung Nuit debout hier demons triert, funktioniert auf dem Platz alles anders – auch die Zeitrechnung. Nicht nur die Re gierungspolitik, sondern buch stäblich alles, was mit der be stehenden Ordnung zu tun hat, darf und soll hier infrage gestellt werden. Fast zwei Wochen lang schon herrscht auf dem Platz ein kre atives Chaos. Überall wird im provisiert. Es gibt eine Art Kan tine, in der man den Preis für Es sen und Getränke selbst festlegt. Per Lautsprecher werden Leute gesucht, die beim Aufräumen helfen. Obwohl die Polizei den Platz am Montag geräumt hat und nun jeden Morgen räumen will, richtet sich der Protest mit der Selbstverwaltung ein. Noch unlängst hätten viele geschworen, Frankreichs Ju gend sei politisch desinteres siert. Doch seit dem Ende ei ner Demonstration gegen eine liberale Arbeitsrechtsreform am 31. März treffen sich Abend für Abend Tausende im Zent rum von Paris. Deswegen auch die neue Zeitrechnung – die An hänger zählen seit Beginn der Proteste die Tage im März wei ter. Weil die Teilnehmer in der Nacht wach bleiben, heißt die Bewegung Nuit debout. Der Protest ist neuartig, ent zieht sich jeder Vereinnahmung durch Parteien und Gewerk schaften und erinnert an die Indignados. Die protestierten 2011/2012 in Spanien, aus der Bewegung entstand die Partei Podemos. Die Nuit-debout-Anhänger sind noch nicht so weit. „Um 18 Uhr beginnt die Vollver sammlung, jeder und jede kann das Wort verlangen, die Redezeit beträgt zwei Minuten“, erklärt die 23-jährige Informatikstu dentin Clémentine. Unter einem Plakat mit der Aufschrift „Emp fang“ gibt sie Neuankömmlin gen eine Gebrauchsanweisung für die Basisdemokratie. In der Debatte auf dem Platz herrscht Sie wollen alles anders machen. Statt Applaus geben die Demonstranten Handzeichen Foto: Christophe Petit Tesson/dpa Von Paris nach Berlin-Kreuzberg BEWEGUNG land stammende Caro (25) trägt ein Schild auf dem Rücken, auf dem steht: „Ich bin Feministin, stell mir deine Fragen“. In ihrer Gruppe wird heftig über den pa triarchalischen Charakter der Psychoanalyse gestritten. Ein paar Dutzend Meter weiter in formiert ein Schild, dass man hier an der Ausarbeitung ei ner neuen Verfassung mitma chen kann. Ausgangspunkt von Nuit de bout war zwar der Protest gegen die Arbeitsrechtsreform der Re gierung des französischen Pre miers Manuel Valls. Die Wach gebliebenen wollen sich nicht mit der Politik der Linksregie rung abfinden, die ihnen klar zu rechts erscheint. Doch die Be wegung beschränkt sich längst nicht darauf – die Demonstran ten üben insgesamt Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen. Die Bewegung muss sich auch mit dem eigenen Vorge hen auseinandersetzen: Weil es am Samstag am Rande der Place de la République zwischen De monstranten und der Polizei zu Zusammenstößen kam, muss sie ausloten, ob sie solche Kon frontationen sucht, vermeidet oder sich davon distanziert. Den Behörden ist das Phäno men nicht geheuer: Die Ord nungskräfte sind seit Wochen beginn viel präsenter. Das Medieninteresse dage gen ist enorm. Mittlerweile tref fen sich in vielen weiteren fran zösischen Städten wie Marseille, Nantes und Orléans Menschen zu langen Protestnächten. Die Bewegung in der Pari ser Nacht hat bereits eine neue Hoffnung gebracht – ob dieser französische Frühling konkret etwas ändert, ist die große Frage dieser Tage. Meinung + Diskussion SEITE 12 THEMA DES TAGES ein Klima der Offenheit. Zustim mung und Ablehnung werden mit Handzeichen signalisiert. Das Wedeln der erhobenen Hän den gilt als Applaus. Gesprochen wird über alles Mögliche. Es gilt die Devise „Es ist verboten, zu verbieten“ aus der Zeit der Stu dentenrevolte im Mai 1968. Auch wer nicht sitzend an der Vollversammlung teilnimmt, wird sofort in Diskussionen verwickelt. Die aus dem Basken Den Behörden ist das Phänomen nicht geheuer Junge Exilfranzösinnen und -franzosen organisieren bereits einen ersten deutschen Ableger der Proteste BERLIN taz | Durchgemachte Nächte und Protest gegen pre käre Arbeit – wo sollten Form und Inhalt der französischen Bewegung Nuit debout besser hinpassen als nach Berlin? Tat sächlich hat sich hier bereits ein Ableger der Bewegung gegrün det: Rund 100 Menschen nah men an einem ersten Treffen am Wochenende auf dem Mari annenplatz in Berlin-Kreuzberg teil, für Mittwochabend ist die zweite Zusammenkunft geplant. „Als ich die Neuigkeiten aus Frankreich gesehen habe, hatte ich gleich den Impuls, auch hier etwas zu organisieren“, sagt Ni colas, einer der InitiatorInnen von Nuit debout Berlin, der sei nen Nachnamen lieber für sich behalten will. Der 24-Jährige ist vor einem Jahr aus Lyon nach Berlin gekommen, zum Arbei ten und mit einer „langfristi gen Perspektive“, sagt er. Die geplante Arbeitsrechtsreform in Frankreich könnte ihn also ziemlich kaltlassen – tut sie aber nicht: „Auch für uns Exilfranzo sen ist das ein Riesenthema – weil unsere Freunde davon be troffen sind, aber auch weil die Themen, um die es da geht, uns alle angehen“, sagt er. In einer Facebook-Gruppe für Franzosen in Berlin fragte Nico las, ob mehr Leute Interesse an einer lokalen Ausgabe von Nuit debout hätten. Schnell fand sich eine Gruppe, die meisten von ihnen hatten vorher noch nie ein politisches Ereignis organi siert. Hilfe bekommen sie von den französischen Gruppen, die Kommunikation läuft vor allem über das Internet. Hauptsächlich Französinnen und Franzosen seien zu dem Treffen gekommen, sagt Nico las, aber auch Mitglieder des Berliner Ablegers der spani schen 15-M-Bewegung und ei nige Deutsche. Die meisten seien bisher nicht politisch ak tiv gewesen. JedeR konnte spre chen, in Arbeitsgruppen wurde dann an Themen wie Kommu nikation oder inhaltlicher Aus richtung weitergearbeitet. „Wir wollen die Bewegung in Frankreich unterstützen, aber auch versuchen, etwas Ähnli ches hier aufzubauen“, sagt Ni colas. Unter sich bleiben wollen die ExilantInnen dabei auf kei nen Fall – und haben als einen ersten Schritt ihre Facebookseite auch ins Deutsche und Engli sche übersetzt. MALENE GÜRGEN Schwerpunkt Asyl M IT TWOCH, 13. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Auch Linke zweifeln, ob Flüchtlinge weiter ins Land kommen sollen. Doch es geht nicht um deutsche Befindlichkeiten Idomeni, Nordgriechenland, 10. April: Flüchtlinge versuchen nach Mazedonien vorzudringen. Manche von ihnen haben Verwandte in Deutschland Foto: Björn Kietzmann Die Menschen zählen. Jeder einzelne ESSAY Die Abschottung mag mancher mit Erleichterung sehen. Für Flüchtlinge bedeutet sie neues Leid VON BERND PICKERT Unter dem Titel „Geständnisse eines Linken“ schrieb am Montag an dieser Stelle der überaus geschätzte Kollege Ulrich Schulte über seine Zweifel, ob es nicht doch eine ziemlich gute Nachricht sei, dass derzeit nur noch sehr wenige Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Zweifel, die, wie er schrieb, innerhalb der liberalen Linken eigentlich tabu sind. Wolle er wirklich, fragt der Autor sich selbst, dass „noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? Dass „all die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten“ nach Deutschland kämen? Und sagt: „Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein.“ Es geht nicht nur um unsere Befindlichkeiten Wer keine Zweifel hat, dessen Überzeugungen sind auch nicht viel wert. Und wer in der Hilfe für geflüchtete Menschen aktiv ist, dürfte mehr als einmal Zweifel bekommen haben: An der Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie, an der eigenen Rolle, Staatsversagen durch ehrenamtliche Hilfe auszugleichen, an den eigenen Fähigkeiten, das Engagement über einen längeren Zeitraum durchzuhalten, und letztendlich, ja, auch an der Frage, ob „wir“ das wirklich schaffen. Und es stimmt, auch für viele der Ehrenamtlichen bedeutet es ein Durchatmen, nicht mehr jede Nacht unterwegs zu sein, um obdachlos gewordene Flüchtlinge irgendwie unterzubringen, bis in die Morgenstunden Feldbetten aufzubauen oder täglich Tausende von Essen bereitzustellen. Aber das ist zu kurz gedacht. Um von unseren Befindlichkeiten wegzukommen: Nicht nur für diejenigen, die jetzt in Idomeni im Schlamm stecken, bedeuten die geschlossenen Grenzen eine Katastrophe, sondern auch für viele derjenigen, die schon hier sind. Da ist zum Beispiel Ammar A., 26, Computerspezialist aus Damaskus. Vor gut sechs Wochen ist er in Berlin angekommen, hat es als einer der Letzten mit seiner hochschwangeren Frau über die Balkanroute geschafft. Sein Bruder Ramy, 24, ist schon seit einem halben Jahr hier. Beide leben in einer vom Roten Kreuz betriebenen Notunterkunft in Berlin-Karlshorst. In Berlin ist Ammar Vater geworden. Ramy ist inzwischen als Flüchtling anerkannt, Ammar und seine Familie stehen noch am Anfang, aber beide könnten eigentlich zur Ruhe kommen, Schwung holen, Deutsch lernen, mit Elan ihr neues Leben in Deutschland beginnen. Könnten. Wenn da nicht Anas wäre, der ältere Bruder, 27 Jahre alt, der mit seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter im griechischen Idomeni festsitzt. Ramy und Ammar wissen nicht, ob Bruder und Familie die mazedonische Polizeiaktion vor einigen Tagen unverletzt überstanden haben. Mal haben sie Kontakt, mal nicht. Und da ist ihre Mutter mit den anderen der insgesamt sechs Kinder. Sie ist gerade erst aus Syrien heraus- und mit Ramys und Ammars jüngeren Brüdern, 15 und 17, und ihrer 16-jährigen Schwester in der Türkei angekommen. Nur weil sich die Mutter beim Grenzübertritt ein Bein gebrochen hat, wurde sie nicht sofort über die Grenze zurückgeschickt, wie es inzwischen, von Europa unkommentiert, üblich geworden ist. Jetzt sitzt dieser Teil der Familie in einem Lager nahe der syrischen Grenze fest. Auch zu ihnen versuchen Ammar und Ramy irgendwie Kontakt zu halten. Wie soll man sich auf einen Neuanfang konzentrieren, wenn die engsten Verwandten Es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die Flüchtlinge sind für keine die Ursache in solcher Not sind? „Ich glaube, dass sie nie richtig hier ankommen, solange die Familie nicht zusammen ist“, sagt Christian Stegmann. Der Physikprofessor ist seit August vergangenen Jahres in der Kleiderkammer der Karlshorster Notunterkunft als Helfer aktiv und kennt die Sorgen vieler Bewohner_innen. Die Linke und die Flüchtlinge ■■In „Geständnis eines Linken“ hat der Leiter des taz-Parlamentsbüros Ulrich Schulte an dieser Stelle am Montag seine Zweifel an einer unbegrenzten Flüchtlingsaufnahme in Deutschland und den Positionen von Linken dazu beschrieben, nachzulesen unter: www.taz.de/!5290251. Auf ihn antwortet heute tazAuslandsredakteur Bernd Pickert. Die Debatte wird fortgesetzt. Wo manche Deutsche durchatmen, bleibt den Geflüchteten die Luft weg. Man braucht keine Empathie, um zu begreifen, dass uns das erneute Abschotten nicht Erleichterung verschafft, sondern mehr Probleme in der nahen Zukunft. Trotzdem bleibt Empathie ein Kernelement. Wer eine menschlichere Welt will, muss menschlich handeln. Was ist passiert seit Anfang September vergangenen Jahres, als die Bundeskanzlerin angesichts der schrecklichen Bilder vom Budapester Bahnhof entschied, die Menschen nach Deutschland weiterreisen zu lassen? Warum sind die Menschen aus Idomeni nicht schon längst hier? Ist Deutschland inzwischen so durch-AfD-isiert, dass wir alle, wie es Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ausdrückte, „harte Bilder aushalten“, uns nicht mehr berühren lassen? Ich fürchte, ja. Auch in linken Debatten taucht die Frage auf, ob wir denn wirklich glaubten, Deutschland könne alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen. Mich erinnert das immer an eine Diskussion mit meinem Vater über den Wowereit-Ausspruch, er sei schwul, und das sei auch gut so. Nein, empörte sich mein Vater, das sei überhaupt nicht gut so! Man möge sich doch einmal vorstellen, alle Welt sei schwul, dann sterbe die Menschheit aus! Ja. Aber es sind eben nicht alle schwul. Und nicht alle Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Aber die Parolen der AfD sind in den Köpfen und kommen auch so schnell nicht wieder heraus. Warum ist ein Innenminister noch im Amt, der unter „Vorlegen eines Maßnah- menpaktes zur Integration“ nicht Sonderinvestitionen in Deutschkurse, schnellere Anerkennung von beruflichen Qualifikationen und vom Bund finanzierten Wohnungsbau versteht, sondern Sanktionen gegen „Integrationsunwillige“? Warum ist die Helferbewegung politisch so schwach? Die Furcht vor den Rechten Viele haben Angst, die Rechte könnte stärker werden, wenn immer weitere Flüchtlinge kämen. Nach vielen Jahren der politischen Langeweile in der scheinbar gefestigten parlamentarischen Demokratie Deutschland macht sich Angst breit, das Eis könne womöglich doch sehr dünn sein, auf dem wir uns bewegen. Und prompt brechen wir gleich vorsorglich ein. Ja, Deutschland hat Probleme. Wie fast überall auf der Welt hat hier in den 1990ern der neoliberale Diskurs den Rückzug des Staates als Allheilmittel etabliert, etwa im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Die Mieten in den Ballungszentren steigen seit Ewigkeiten, und jetzt fällt das auf? Irrsinn. Hat nur mit Flüchtlingen nichts zu tun. Aber in solchen Dingen offenbart sich ein Problem: Wenn wir immer davon sprechen, Deutschland sei ein so reiches Land, dass „wir“ es uns ohne Weiteres leisten könnten, große Zahlen Geflüchteter aufzunehmen, dann stimmt das statistisch und faktisch, spiegelt aber nicht das Lebensgefühl vieler wider, die einen sozialen Abstieg fürchten. Genau deshalb funktioniert ja die Selbststilisierung der – nun wahrlich nicht antikapitalistischen – AfDler und Pegidioten als „Systemkritiker“. Linke Politik muss dagegen angehen, sozial Schwache gegen noch Schwächere aufzuhetzen. Sie muss aber auch sagen, dass Deutschland, dass Europa als Insel des Wohlstands auf Kosten des Restes der Welt nicht zu verteidigen sein wird. Man kann es „Bekämpfung der Fluchtursachen“ nennen, was eigentlich Binsenweisheiten linker entwicklungspolitischer Ansätze sind: Überwindung der ausbeuterischen Verhältnisse, Stopp des Kapitaltransfers von Süd nach Nord, Stopfen der Steuerschlupflöcher für nationale Eliten und internationale Konzerne, Stopp deutscher Waffenexporte. Und so fort. Aber um für internationale Umverteilung werben zu können, braucht es Umverteilung im eigenen Land – im Grunde eine ganz klassische sozialdemokratische Lehre. Diese Vorstellung aber scheint es allenfalls noch in Teilen der Linkspartei zu geben. Deutschland, das geht Ja, es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die Flüchtlingssituation ist für keine davon die Ursache. Sie führt uns aber direkt vor Augen, dass linke Politik keine Wohlfühlspielwiese irgendwo zwischen Bionade und evangelischer Grundschule ist. Es geht um Menschen, ihre Chancen, ihre Rechte, ihr Überleben. Und daran, dass es sich dafür einzusetzen lohnt, kann es doch eigentlich keinen Zweifel geben. Für den Augenblick heißt das, dass die Grenzen nicht geschlossen bleiben dürfen. Wenn der Rest Europas sich verweigert, nimmt Deutschland die Menschen eben allein auf. das geht.
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