taz.die tageszeitung

PJ Harvey: Irritierend schönes Album
taz-Musikexpertin beim Mitsummen ertappt. Ist das schlimm? ▶ Seite 16
AUSGABE BERLIN | NR. 10992 | 15. WOCHE | 38. JAHRGANG
MITTWOCH, 13. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Nächtliche
Proteste
in Paris
H EUTE I N DER TAZ
STREITBAR Neues Mut-
terbild: Die Soziologin
Orna Donath über den
Wirbel um ihre Studie
„Regretting Motherhood“ ▶ SEITE 13
FLUCHTFRAGE Es geht
nicht um uns: Bernd Pickert reagiert auf Ulrich
Schultes „Geständnis
eines Linken“ ▶ SEITE 3, 11
Eier!
Wir brauchen
Eier!
FRANKREICH Bewegung
für Gerechtigkeit – und
gegen die Regierung
PARIS afp | Die Aktionen der
neuen Protestbewegung in
Frankreich gehen weiter. In
der Nacht auf Dienstag kam
es in Paris zu Auseinandersetzungen. Aktivisten hätten an
der Place de la République eine
Barrikade errichtet und Wurfgeschosse auf Polizisten geschleudert, teilten die Behörden mit.
Seit knapp zwei Wochen treffen sich dort jeden Abend unter dem Motto „Nuit debout“
(„Nacht im Stehen“ oder „Die
Nacht über wach“) Tausende,
um gegen eine Reform des Arbeitsrechts und für mehr soziale
Gerechtigkeit zu protestieren.
▶ Der Tag SEITE 2
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
GESUNDHEIT Warnung an
alle Veganer*innen: Die
Deutsche Gesellschaft für
Ernährung rät davon ab,
beim Essen ganz auf
tierische Produkte zu
verzichten. Tierschützerin
widerspricht ▶ SEITE 4
BERLIN „Wir sind jung
Baustelle
Brenner
und fresh“: Neue „Partei
der Wähler“ ▶ SEITE 21
Fotos: Tami Aven , dpa(o)
Österreich plant
Grenzkontrollen ab Juni
FLUCHT
VERBOTEN
EILMELDUNG ++ EILMELDUNG ++
WIEN dpa/rtr | Österreich will
Deutschland/Türkei/Diplomatie/Justiz/Medien/AFP
Böhmermann sagt nächste
Sendung ab!
Sie läuft jetzt stattdessen
Vitamin-B12-Mangel kann gefährlich sein. Dagegen helfen Pillen, Fisch, Fleisch, Milch – oder Eier. Oliver Kahn wusste es schon immer Foto: Moment/getty
KOMMENTAR VON JOST MAURIN ÜBER DIE EXPERTENWARNUNG VOR REIN PFLANZLICHER ERNÄHRUNG
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D
Nur vegan ist auch keine Lösung
as neue Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
(DGE) zu veganem Essen zeigt,
wie unverantwortlich der Medienhype der vergangenen Jahre
um die rein pflanzliche Kost war.
Kaum eine Zeitschrift, kaum
eine Zeitung, die nicht positiv
über Veganismus geschrieben
hat: Viele AutorInnen berichteten über ihren Selbstversuch à
la „Einen Monat vegan“ und kamen am Ende zum Schluss: „Vegan schmeckt lecker“ und „hilft
beim Abnehmen“.
Dabei wurde oft ausgeblendet, dass vegane Ernährung
das Risiko von Nährstoffdefiziten und damit schweren Gesundheitsschäden erhöht. Denn
pflanzliche Lebensmittel liefern
nun einmal kaum das wichtige
Vitamin B12. Und auch andere
Nährstoffe können schnell fehlen, wenn man die pflanzlichen
Alternativen zu Fleisch und
Milchprodukten falsch kombiniert.
Klar: Wer Vitaminpillen
schluckt, zum Ernährungsberater geht und regelmäßig
seine Blutwerte untersuchen
lässt, kann ausschließlich vegan essen und gesund bleiben.
Aber dieser Teil der Geschichte
fehlte in den Jubelartikeln über
den „Vegan-Trend“ meist. Pillen
und Arztbesuche passen nicht
zur Hipness, die manche im Veganismus suchen.
Gut, dass die DGE diese neue
Ernährungsmode durch ihre
Stellungnahme nun ein biss-
chen erdet. Manche Veganer haben der Institution früher vorgeworfen, zu industrienah zu
sein. Aber wer das aktuelle Positionspapier liest, sieht, dass
die Experten ihre Thesen mit
anerkannten Studien belegen.
Im Übrigen ist, was die DGE
schreibt, für Fachleute nichts
Neues. Dass bestimmte Nährstoffe schwer aus Pflanzen zu
beziehen sind, ist schon lange
Stand der Forschung.
Wir sollten
weniger Fleisch,
aber nicht
gar kein Fleisch
mehr essen
Statt von einem Extrem – viel
zu viel Fleisch – ins andere – Veganismus – zu verfallen, sollten
wir lieber den gesunden Mittelweg suchen. Die Deutschen
müssen weniger Fleisch essen:
um das Risiko von Krebs oder
Herz-Kreislauf-Erkrankungen
zu senken – und um die Umweltschäden der Tierhaltung zu minimieren. Derzeit verspeist jeder Mann im Schnitt rund ein
Kilo Fleisch pro Woche. Die
DGE empfiehlt nur 300 bis 600
Gramm. Würden alle so wenig
davon essen, könnten sie auch
mehr Geld pro Gramm ausgeben – für Biofleisch, das unter
tierfreundlicheren Bedingungen produziert wird als konventionelle Billigware.
Schwerpunkt SEITE 4
spätestens Anfang Juni mit
Grenzkontrollen am Brenner
beginnen. „Wenn sich die Migrationssituation so weiterentwickelt, dann ist das für mich der
späteste Zeitpunkt“, sagte Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil. Wie die Tiroler Landespolizei mitteilte, wurden die Arbeiten für einen Kontrollbereich an
der Autobahn begonnen. Zudem
beschloss Wien eine Verschärfung der Asylgesetze. Die EUKommission zeigte sich „sehr
besorgt“ über die Vorbereitungen für Grenzkontrollen, Italien
protestierte.
▶ Ausland SEITE 11
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
Stasi soll
ins Archiv
Experten legen
Abschlussbericht vor
AKTEN
BERLIN epd | Die Stasiakten sol-
len bis 2021 in das Bundesarchiv
überführt werden, aber weiter
öffentlich zugänglich bleiben.
Das empfiehlt die vom Bundestag eingesetzte Expertenkommission zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Auch die
Funktion des Bundesbeauftragten empfiehlt die Kommission zu ändern. Die Stasiunterlagenbehörde habe ihre Aufgabe
als Sonderbehörde erfüllt, erklärte Kommissionschef Wolfgang Böhmer zur Übergabe des
Abschlussberichts an Bundestagspräsident Norbert Lammert.
▶ Inland SEITE 6
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
Die vergessliche
Trump-Tochter
A
merican wife, mother and
entrepreneur“: So stellt
Ivanka Marie Trump die
Reihenfolge ihrer Prioritäten
auf ihrem Instagram-Account
vor. Ihre derzeitige Funktion
als Helferin im Wahlkampf ih­
res Vaters Donald Trump fin­
det dort keine Erwähnung. Da­
bei verbrachte die 34-Jährige die
vergangenen Monate unter an­
derem damit, mehr als ein Dut­
zend Videos bei YouTube zu pos­
ten, in denen sie den US-Repu­
blikanern erklärt, wie man sich
für die Vorwahlen registriert.
Umso peinlicher, dass sowohl
sie als auch ihr 32-jähriger Bru­
der Eric Trump es versäumt ha­
ben, sich selbst für die Vorwah­
len in ihrem Heimatstaat New
York am 19. April anzumelden.
Sie können somit nicht für
den eigenen Vater stimmen.
Die Frist ist bereits im Oktober
2015 abgelaufen. „Sie fühlen sich
sehr, sehr schuldig“, sagte Do­
nald Trump dem Fernsehsen­
der Fox News.
Ein schwerer Imageschaden
für die Frau, die bislang als Mus­
tertochter galt: Die Absolventin
der Elite-Business-School Whar­
ton und Vizepräsidentin der Im­
mobilienabteilung des TrumpKonzerns ist nicht nur eine er­
folgreiche Geschäftsfrau. Sie ist
auch Mode- und Schmuckdesig­
nerin, dreifache Mutter und ein
ehemaliges Model.
Schon als Kind war Ivanka
Trump in den Medien präsent:
unter anderem in der Dokumen­
tation „Born Rich“, in der sie ih­
ren Alltag als eines der reichs­
ten Kinder der Vereinigten Staa­
ten schildert. Sie trat außerdem
in der Fernsehserie ihres Vaters
„The Apprentice“ auf und in der
weltweit beliebten Serie „Gossip
Girl“ an der Seite ihres Mannes
Jared Kushner, für den sie zum
Judentum konvertierte.
Im Wahlkampf wird Ivanka
Trump die Aufgabe zugeschrie­
ben, die weiblichen Wähler der
USA für ihren Vater zu mobili­
sieren. Kein einfacher Job, wenn
der Vater in ebenso regelmäßi­
gen wie kurzen Intervallen frau­
enfeindliche Aussagen macht.
Erst kürzlich wetterte er au­
ßerdem gegen amerikanische
Unternehmer, die im Ausland
produzieren. Danach kam her­
aus, dass seine Tochter die Schals
ihrer Modelinie „Ivanka Trump“
in China herstellen lässt. Ganz
gemäß ihrer Aussage in einem
Forbes-Interview 2013 : „Ich un­
terstütze meinen Vater, aber ich
stimme nicht immer allem zu,
was er sagt.“ MORGANE LLANQUE
DI E TAZ I M N ETZ
ZUGUNGLÜCK BAD AI BLI NG
Milliardenfonds soll
Banken stützen
taz.de/twitter
Justiz verhaftet
Fahrdienstleiter
ROM | Italiens Banken äch­
taz.de/facebook
KEI N „N EO MAGAZI N ROYALE“ AM DON N ERSTAG
ITALI EN
Jan Böhmermann sagt Sendung ab
BERLIN | Der Moderator und Sati­
Ivanka Trump, Unternehmerin
und Exmodel Foto: reuters
Der Tag
M IT TWOCH, 13. APRI L 2016
riker Jan Böhmermann hat seine
kommende Fernsehsendung ab­
gesagt. „Grund ist die massive
Berichterstattung und der da­
mit verbundene Fokus auf die
Sendung und den Moderator“,
heißt es auf der Facebook-Seite
des „Neo Magazin Royale“. Die
Sendung hätte am Donnerstag
bei ZDFneo und am Freitag im
ZDF ausgestrahlt werden sollen.
Böhmermann hatte vor knapp
zwei Wochen ein Schmähge­
dicht auf Recep Tayyip Erdoğan
vorgetragen. Er wollte laut ei­
gener Aussage dem türkischen
Präsidenten damit den Unter­
schied zwischen in Deutsch­
land verbotener Schmähkritik
und zulässiger Satire erläutern.
Erdoğan hat am Montag die­
ser Woche wegen des Gedichts
Strafantrag gegen Böhmermann
wegen Beleidigung gestellt. Die
türkische Botschaft hatte schon
zuvor von der deutschen Regie­
rung Ermittlungen in dem Fall
aufgrund von Paragraf 103 des
Strafgesetzbuches (Beleidigung
eines ausländischen Staatsober­
haupts) gefordert. Die Bundes­
regierung muss nun entschei­
den, ob sie die Ermittlungen ver­
anlassen will.(taz)
Gesellschaft + Kultur SEITE 14
zen unter faulen Krediten von
rund 360 Milliarden Euro – das
bremst die wirtschaftliche Erho­
lung des Landes. Mit einem mil­
liardenschweren Fonds will Rom
nun die Banken stützen und die
Kreditvergabe wieder ankur­
beln. Banken, Finanzministe­
rium und Notenbank einigten
sich am Montagabend auf die
Einrichtung des Fonds „Atlante“,
der den Banken faule Kredite ab­
nehmen soll. Regierungschef
Renzi lobte den Fonds als „hilf­
reich“. Der Fonds soll rund 5 Mil­
liarden Euro umfassen. (dpa)
BAD AIBLING | Zwei Monate
nach dem Zugunglück von
Bad Aibling mit elf Toten sitzt
der Fahrdienstleiter in Unter­
suchungshaft. Dies teilte die
Staatsanwaltschaft gestern mit.
Dem Mann werde vorgeworfen,
auf seinem Handy bis kurz vor
dem Zusammenprall der Re­
gionalzüge ein Computerspiel
gespielt zu haben und dadurch
abgelenkt gewesen zu sein. Das
Amtsgericht Traunstein ordnete
U-Haft wegen fahrlässiger Tö­
tung, fahrlässiger Körperverlet­
zung und gefährlichen Eingriffs
in den Bahnverkehr an. (afp)
taz.de/vimeo
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Frankreichs neue Nachtwächter
PROTEST Die Nuit-debout-Bewegung auf der Pariser Place de la République lässt sich nicht räumen.
Abends kommen wieder Tausende zusammen, um gegen die politischen Verhältnisse zu demonstrieren
AUS PARIS RUDOLF BALMER
Am Mittwoch ist auf der Pari­
ser Place de la République der
44. März. Seit die neue Bewe­
gung Nuit debout hier demons­
triert, funktioniert auf dem
Platz alles anders – auch die
Zeitrechnung. Nicht nur die Re­
gierungspolitik, sondern buch­
stäblich alles, was mit der be­
stehenden Ordnung zu tun hat,
darf und soll hier infrage gestellt
werden.
Fast zwei Wochen lang schon
herrscht auf dem Platz ein kre­
atives Chaos. Überall wird im­
provisiert. Es gibt eine Art Kan­
tine, in der man den Preis für Es­
sen und Getränke selbst festlegt.
Per Lautsprecher werden Leute
gesucht, die beim Aufräumen
helfen. Obwohl die Polizei den
Platz am Montag geräumt hat
und nun jeden Morgen räumen
will, richtet sich der Protest mit
der Selbstverwaltung ein.
Noch unlängst hätten viele
geschworen, Frankreichs Ju­
gend sei politisch desinteres­
siert. Doch seit dem Ende ei­
ner Demonstration gegen eine
liberale Arbeitsrechtsreform
am 31. März treffen sich Abend
für Abend Tausende im Zent­
rum von Paris. Deswegen auch
die neue Zeitrechnung – die An­
hänger zählen seit Beginn der
Proteste die Tage im März wei­
ter. Weil die Teilnehmer in der
Nacht wach bleiben, heißt die
Bewegung Nuit debout.
Der Protest ist neuartig, ent­
zieht sich jeder Vereinnahmung
durch Parteien und Gewerk­
schaften und erinnert an die
Indignados. Die protestierten
2011/2012 in Spanien, aus der
Bewegung entstand die Partei
Podemos.
Die Nuit-debout-Anhänger
sind noch nicht so weit. „Um
18 Uhr beginnt die Vollver­
sammlung, jeder und jede kann
das Wort verlangen, die Redezeit
beträgt zwei Minuten“, erklärt
die 23-jährige Informatikstu­
dentin Clémentine. Unter einem
Plakat mit der Aufschrift „Emp­
fang“ gibt sie Neuankömmlin­
gen eine Gebrauchsanweisung
für die Basisdemokratie. In der
Debatte auf dem Platz herrscht
Sie wollen alles anders machen. Statt Applaus geben die Demonstranten Handzeichen Foto: Christophe Petit Tesson/dpa
Von Paris nach Berlin-Kreuzberg
BEWEGUNG
land stammende Caro (25) trägt
ein Schild auf dem Rücken, auf
dem steht: „Ich bin Feministin,
stell mir deine Fragen“. In ihrer
Gruppe wird heftig über den pa­
triarchalischen Charakter der
Psychoanalyse gestritten. Ein
paar Dutzend Meter weiter in­
formiert ein Schild, dass man
hier an der Ausarbeitung ei­
ner neuen Verfassung mitma­
chen kann.
Ausgangspunkt von Nuit de­
bout war zwar der Protest gegen
die Arbeitsrechtsreform der Re­
gierung des französischen Pre­
miers Manuel Valls. Die Wach­
gebliebenen wollen sich nicht
mit der Politik der Linksregie­
rung abfinden, die ihnen klar
zu rechts erscheint. Doch die Be­
wegung beschränkt sich längst
nicht darauf – die Demonstran­
ten üben insgesamt Kritik an
den sozialen und politischen
Verhältnissen.
Die Bewegung muss sich
auch mit dem eigenen Vorge­
hen auseinandersetzen: Weil es
am Samstag am Rande der Place
de la République zwischen De­
monstranten und der Polizei zu
Zusammenstößen kam, muss
sie ausloten, ob sie solche Kon­
frontationen sucht, vermeidet
oder sich davon distanziert.
Den Behörden ist das Phäno­
men nicht geheuer: Die Ord­
nungskräfte sind seit Wochen­
beginn viel präsenter.
Das Medieninteresse dage­
gen ist enorm. Mittlerweile tref­
fen sich in vielen weiteren fran­
zösischen Städten wie Marseille,
Nantes und Orléans Menschen
zu langen Protestnächten.
Die Bewegung in der Pari­
ser Nacht hat bereits eine neue
Hoffnung gebracht – ob dieser
französische Frühling konkret
etwas ändert, ist die große Frage
dieser Tage.
Meinung + Diskussion
SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
ein Klima der Offenheit. Zustim­
mung und Ablehnung werden
mit Handzeichen signalisiert.
Das Wedeln der erhobenen Hän­
den gilt als Applaus. Gesprochen
wird über alles Mögliche. Es gilt
die Devise „Es ist verboten, zu
verbieten“ aus der Zeit der Stu­
dentenrevolte im Mai 1968.
Auch wer nicht sitzend an der
Vollversammlung teilnimmt,
wird sofort in Diskussionen
verwickelt. Die aus dem Basken­
Den Behörden ist
das Phänomen
nicht geheuer
Junge Exilfranzösinnen und -franzosen organisieren bereits einen ersten deutschen Ableger der Proteste
BERLIN taz | Durchgemachte
Nächte und Protest gegen pre­
käre Arbeit – wo sollten Form
und Inhalt der französischen
Bewegung Nuit debout besser
hinpassen als nach Berlin? Tat­
sächlich hat sich hier bereits ein
Ableger der Bewegung gegrün­
det: Rund 100 Menschen nah­
men an einem ersten Treffen
am Wochenende auf dem Mari­
annenplatz in Berlin-Kreuzberg
teil, für Mittwochabend ist die
zweite Zusammenkunft geplant.
„Als ich die Neuigkeiten aus
Frankreich gesehen habe, hatte
ich gleich den Impuls, auch hier
etwas zu organisieren“, sagt Ni­
colas, einer der InitiatorInnen
von Nuit debout Berlin, der sei­
nen Nachnamen lieber für sich
behalten will. Der 24-Jährige ist
vor einem Jahr aus Lyon nach
Berlin gekommen, zum Arbei­
ten und mit einer „langfristi­
gen Perspektive“, sagt er. Die
geplante Arbeitsrechtsreform
in Frankreich könnte ihn also
ziemlich kaltlassen – tut sie aber
nicht: „Auch für uns Exilfranzo­
sen ist das ein Riesenthema –
weil unsere Freunde davon be­
troffen sind, aber auch weil die
Themen, um die es da geht, uns
alle angehen“, sagt er.
In einer Facebook-Gruppe für
Franzosen in Berlin fragte Nico­
las, ob mehr Leute Interesse an
einer lokalen Ausgabe von Nuit
debout hätten. Schnell fand sich
eine Gruppe, die meisten von
ihnen hatten vorher noch nie
ein politisches Ereignis organi­
siert. Hilfe bekommen sie von
den französischen Gruppen, die
Kommunikation läuft vor allem
über das Internet.
Hauptsächlich ­Französinnen
und Franzosen seien zu dem
Treffen gekommen, sagt Nico­
las, aber auch Mitglieder des
Berliner Ablegers der spani­
schen 15-M-Bewegung und ei­
nige Deutsche. Die meisten
seien bisher nicht politisch ak­
tiv gewesen. JedeR konnte spre­
chen, in Arbeitsgruppen wurde
dann an Themen wie Kommu­
nikation oder inhaltlicher Aus­
richtung weitergearbeitet.
„Wir wollen die Bewegung in
Frankreich unterstützen, aber
auch versuchen, etwas Ähnli­
ches hier aufzubauen“, sagt Ni­
colas. Unter sich bleiben wollen
die ExilantInnen dabei auf kei­
nen Fall – und haben als einen
ersten Schritt ihre Facebookseite
auch ins Deutsche und Engli­
sche übersetzt. MALENE GÜRGEN
Schwerpunkt
Asyl
M IT TWOCH, 13. APRI L 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Auch Linke zweifeln, ob Flüchtlinge weiter ins Land kommen sollen.
Doch es geht nicht um deutsche Befindlichkeiten
Idomeni, Nordgriechenland, 10. April: Flüchtlinge versuchen nach Mazedonien vorzudringen. Manche von ihnen haben Verwandte in Deutschland Foto: Björn Kietzmann
Die Menschen zählen. Jeder einzelne
ESSAY Die Abschottung mag mancher mit Erleichterung sehen. Für Flüchtlinge bedeutet sie neues Leid
VON BERND PICKERT
Unter dem Titel „Geständnisse
eines Linken“ schrieb am Montag an dieser Stelle der überaus geschätzte Kollege Ulrich
Schulte über seine Zweifel, ob
es nicht doch eine ziemlich gute
Nachricht sei, dass derzeit nur
noch sehr wenige Flüchtlinge
nach Deutschland kommen.
Zweifel, die, wie er schrieb, innerhalb der liberalen Linken
eigentlich tabu sind. Wolle er
wirklich, fragt der Autor sich
selbst, dass „noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? Dass
„all die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten
und Verzweifelten aus dem Nahen Osten“ nach Deutschland
kämen? Und sagt: „Es schmerzt,
das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein.“
Es geht nicht nur um
unsere Befindlichkeiten
Wer keine Zweifel hat, dessen
Überzeugungen sind auch nicht
viel wert. Und wer in der Hilfe
für geflüchtete Menschen aktiv
ist, dürfte mehr als einmal Zweifel bekommen haben: An der
Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie, an der eigenen Rolle, Staatsversagen durch
ehrenamtliche Hilfe auszugleichen, an den eigenen Fähigkeiten, das Engagement über einen
längeren Zeitraum durchzuhalten, und letztendlich, ja, auch an
der Frage, ob „wir“ das wirklich
schaffen.
Und es stimmt, auch für viele
der Ehrenamtlichen bedeutet es ein Durchatmen, nicht
mehr jede Nacht unterwegs zu
sein, um obdachlos gewordene
Flüchtlinge irgendwie unterzubringen, bis in die Morgenstunden Feldbetten aufzubauen oder
täglich Tausende von Essen bereitzustellen.
Aber das ist zu kurz gedacht.
Um von unseren Befindlichkeiten wegzukommen: Nicht nur
für diejenigen, die jetzt in Idomeni im Schlamm stecken, bedeuten die geschlossenen Grenzen eine Katastrophe, sondern
auch für viele derjenigen, die
schon hier sind.
Da ist zum Beispiel Ammar A.,
26, Computerspezialist aus Damaskus. Vor gut sechs Wochen
ist er in Berlin angekommen, hat
es als einer der Letzten mit seiner hochschwangeren Frau über
die Balkanroute geschafft. Sein
Bruder Ramy, 24, ist schon seit
einem halben Jahr hier. Beide leben in einer vom Roten Kreuz
betriebenen Notunterkunft in
Berlin-Karlshorst. In Berlin ist
Ammar Vater geworden. Ramy
ist inzwischen als Flüchtling anerkannt, Ammar und seine Familie stehen noch am Anfang,
aber beide könnten eigentlich
zur Ruhe kommen, Schwung holen, Deutsch lernen, mit Elan ihr
neues Leben in Deutschland beginnen.
Könnten. Wenn da nicht Anas
wäre, der ältere Bruder, 27 Jahre
alt, der mit seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter im
griechischen Idomeni festsitzt.
Ramy und Ammar wissen nicht,
ob Bruder und Familie die mazedonische Polizeiaktion vor einigen Tagen unverletzt überstanden haben. Mal haben sie Kontakt, mal nicht.
Und da ist ihre Mutter mit
den anderen der insgesamt
sechs Kinder. Sie ist gerade erst
aus Syrien heraus- und mit Ramys und Ammars jüngeren Brüdern, 15 und 17, und ihrer 16-jährigen Schwester in der Türkei angekommen. Nur weil sich die
Mutter beim Grenzübertritt
ein Bein gebrochen hat, wurde
sie nicht sofort über die Grenze
zurückgeschickt, wie es inzwischen, von Europa unkommentiert, üblich geworden ist. Jetzt
sitzt dieser Teil der Familie in einem Lager nahe der syrischen
Grenze fest. Auch zu ihnen versuchen Ammar und Ramy irgendwie Kontakt zu halten.
Wie soll man sich auf einen Neuanfang konzentrieren,
wenn die engsten Verwandten
Es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die
Flüchtlinge sind für
keine die Ursache
in solcher Not sind? „Ich glaube,
dass sie nie richtig hier ankommen, solange die Familie nicht
zusammen ist“, sagt Christian
Stegmann. Der Physikprofessor
ist seit August vergangenen Jahres in der Kleiderkammer der
Karlshorster Notunterkunft als
Helfer aktiv und kennt die Sorgen vieler Bewohner_innen.
Die Linke und die Flüchtlinge
■■In „Geständnis eines Linken“
hat der Leiter des taz-Parlamentsbüros Ulrich Schulte an dieser
Stelle am Montag seine Zweifel
an einer unbegrenzten Flüchtlingsaufnahme in Deutschland
und den Positionen von Linken
dazu beschrieben, nachzulesen
unter: www.taz.de/!5290251.
Auf ihn antwortet heute tazAuslandsredakteur Bernd Pickert.
Die Debatte wird fortgesetzt.
Wo manche Deutsche durchatmen, bleibt den Geflüchteten
die Luft weg. Man braucht keine
Empathie, um zu begreifen, dass
uns das erneute Abschotten
nicht Erleichterung verschafft,
sondern mehr Probleme in der
nahen Zukunft.
Trotzdem bleibt Empathie ein
Kernelement. Wer eine menschlichere Welt will, muss menschlich handeln.
Was ist passiert seit Anfang
September vergangenen Jahres, als die Bundeskanzlerin
angesichts der schrecklichen
Bilder vom Budapester Bahnhof entschied, die Menschen
nach Deutschland weiterreisen
zu lassen? Warum sind die Menschen aus Idomeni nicht schon
längst hier? Ist Deutschland inzwischen so durch-AfD-isiert,
dass wir alle, wie es Innenminister Thomas de Maizière (CDU)
ausdrückte, „harte Bilder aushalten“, uns nicht mehr berühren lassen?
Ich fürchte, ja. Auch in linken
Debatten taucht die Frage auf,
ob wir denn wirklich glaubten,
Deutschland könne alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen. Mich
erinnert das immer an eine Diskussion mit meinem Vater über
den Wowereit-Ausspruch, er sei
schwul, und das sei auch gut so.
Nein, empörte sich mein Vater,
das sei überhaupt nicht gut so!
Man möge sich doch einmal
vorstellen, alle Welt sei schwul,
dann sterbe die Menschheit aus!
Ja. Aber es sind eben nicht alle
schwul. Und nicht alle Flüchtlinge wollen nach Deutschland.
Aber die Parolen der AfD
sind in den Köpfen und kommen auch so schnell nicht wieder heraus. Warum ist ein Innenminister noch im Amt, der
unter „Vorlegen eines Maßnah-
menpaktes zur Integration“
nicht Sonderinvestitionen in
Deutschkurse, schnellere Anerkennung von beruflichen Qualifikationen und vom Bund finanzierten Wohnungsbau versteht,
sondern Sanktionen gegen „Integrationsunwillige“? Warum ist
die Helferbewegung politisch so
schwach?
Die Furcht vor den Rechten
Viele haben Angst, die Rechte
könnte stärker werden, wenn
immer weitere Flüchtlinge kämen. Nach vielen Jahren der
politischen Langeweile in der
scheinbar gefestigten parlamentarischen Demokratie Deutschland macht sich Angst breit, das
Eis könne womöglich doch sehr
dünn sein, auf dem wir uns bewegen. Und prompt brechen wir
gleich vorsorglich ein.
Ja, Deutschland hat Probleme.
Wie fast überall auf der Welt hat
hier in den 1990ern der neoliberale Diskurs den Rückzug des
Staates als Allheilmittel etabliert, etwa im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Die Mieten
in den Ballungszentren steigen
seit Ewigkeiten, und jetzt fällt
das auf? Irrsinn. Hat nur mit
Flüchtlingen nichts zu tun.
Aber in solchen Dingen offenbart sich ein Problem: Wenn
wir immer davon sprechen,
Deutschland sei ein so reiches
Land, dass „wir“ es uns ohne Weiteres leisten könnten, große Zahlen Geflüchteter aufzunehmen,
dann stimmt das statistisch und
faktisch, spiegelt aber nicht das
Lebensgefühl vieler wider, die
einen sozialen Abstieg fürchten.
Genau deshalb funktioniert ja
die Selbststilisierung der – nun
wahrlich nicht antikapitalistischen – AfDler und Pegidioten
als „Systemkritiker“.
Linke Politik muss dagegen
angehen, sozial Schwache gegen noch Schwächere aufzuhetzen. Sie muss aber auch sagen,
dass Deutschland, dass Europa
als Insel des Wohlstands auf Kosten des Restes der Welt nicht zu
verteidigen sein wird. Man kann
es „Bekämpfung der Fluchtursachen“ nennen, was eigentlich
Binsenweisheiten linker entwicklungspolitischer Ansätze
sind: Überwindung der ausbeuterischen Verhältnisse, Stopp
des Kapitaltransfers von Süd
nach Nord, Stopfen der Steuerschlupflöcher für nationale
Eliten und internationale Konzerne, Stopp deutscher Waffenexporte. Und so fort.
Aber um für internationale
Umverteilung werben zu können, braucht es Umverteilung
im eigenen Land – im Grunde
eine ganz klassische sozialdemokratische Lehre. Diese Vorstellung aber scheint es allenfalls noch in Teilen der Linkspartei zu geben.
Deutschland, das geht
Ja, es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die Flüchtlingssituation
ist für keine davon die Ursache.
Sie führt uns aber direkt vor
Augen, dass linke Politik keine
Wohlfühlspielwiese irgendwo
zwischen Bionade und evangelischer Grundschule ist.
Es geht um Menschen, ihre
Chancen, ihre Rechte, ihr Überleben. Und daran, dass es sich
dafür einzusetzen lohnt, kann
es doch eigentlich keinen Zweifel geben. Für den Augenblick
heißt das, dass die Grenzen
nicht geschlossen bleiben dürfen. Wenn der Rest Europas sich
verweigert, nimmt Deutschland
die Menschen eben allein auf.
das geht.