Vokale - Schulmusik online

Hans Werner Henze: Vokale (und) Kammer-Musik
„Fünf Madrigale“ auf Gedichte aus dem „Großen Testament“ von Francois
Villon für kleinen gemischten Chor und elf Soloinstrumente
„Lieder von einer Insel“. Chorphantasie auf Gedichte von Ingeborg
Bachmann für Kammerchor und sieben Instrumente
„Quattro Fantasie“. Oktettsätze aus der „Kammermusik 1958“ und
„Adagio 1963“
Mi 13. April 2016, 20 Uhr
Stuttgart, Gaisburger Kirche
Fr 15. April 2016, 20 Uhr
Frankfurt, Alte Oper, Mozartsaal
SWR Vokalensemble Stuttgart
Ensemble Modern
Dirigent: Marcus Creed
erstellt von Dr. Benedikt Vennefrohne
empfohlen ab Klasse 10
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
S. 3
Hans Werner Henze – Biographischer Überblick 1926–1965
S. 4
Fünf Madrigale (1947)
S. 6
Fenster I – Sprachlicher und musikalischer Humor
S. 7
Lieder von einer Insel (1964)
S. 9
Fenster II – Italiensehnsucht
S. 10
Quattro Fantasie (1958/1963)
S. 12
Fenster III – Komponierte Träume
S. 13
Fenster IV – Traditionelle und moderne Klanglichkeit
S. 17
Didaktische Anmerkungen
S. 20
Materialien
S. 27
Literaturverzeichnis
S. 35
Vorbemerkung
In dieser Handreichung werden exemplarische Zugänge zu drei Werken aus dem
umfangreichen Œuvre von Hans Werner Henze vorgestellt. Schon der biographische
Überblick eines der produktivsten Komponisten des 20. und des beginnenden 21.
Jahrhunderts bleibt auf die Periode bis 1965 beschränkt, dies vor allem weil Henze ab 1965
eine neue politische Ästhetik verfolgte, die für die Auseinandersetzung mit seinem früheren
Werk nicht zwingend vorausgesetzt werden muss.
Jede der drei Kompositionen wird mit einer überblicksartigen Einführung vorgestellt, die ihre
Stellung innerhalb von Henzes Werk kurz anreißt und eine knappe entstehungsgeschichtliche
Zusammenfassung bietet. Die zentralen Abschnitte dieser Werkeinführungen bilden aber die
hier als „Fenster“ bezeichneten analytischen Kapitel, in denen individuelle Perspektiven auf
die Werke eingenommen werden. Die Metapher steht hier sowohl für die Möglichkeit, aus
dem Blickwinkel eines außenstehenden Betrachters durch ein „Fenster“ einen Ausschnitt des
Werkes im Detail zu betrachten als auch aus dem Werk heraus eine Auseinandersetzung mit
anderen Werken zu initiieren.
Eine Schwierigkeit für die Verwendung dieses Materials im Musikunterricht wird darin
liegen, dass weder das Notenmaterial noch Tonaufnahmen dazu leicht zugänglich sind. Die
Analysen und Materialien beziehen sich daher auf exemplarische Notenbeispiele von
Werkausschnitten im Text. Auch dem hörenden Nachvollziehen sind im Fall der Fünf
Madrigale und der Lieder von einer Insel Grenzen gesetzt, da weder kommerzielle noch im
Internet zugängliche Aufnahmen vorhanden sind.1 In den anderen Fällen werden die
verwendeten Links mit den entsprechenden Zeitangaben angegeben.
Die didaktischen Anmerkungen sind als separates Kapitel angelegt, das im Rückbezug auf die
Analysen noch methodische Vorschläge für eine Annäherung an die Werke unterbreitet. Es
wurde darauf geachtet, dass jedes einzelne Werk voraussetzungslos auf verschiedenen
Niveaustufen mit analytischen und zu eigenen Gestaltungen anregenden Zugängen im
Unterricht behandelt werden kann. Die Aufgabenstellungen im Anschluss sind als Vorschläge
und Anregung zu verstehen und können je nach Klassensituation verändert werden.
1
In Einzelfällen können sich Interessierte wegen Anfragen nach Tonaufnahmen auch an SWR Young CLASSIX
([email protected]) wenden.
Hans Werner Henze – Biographischer Überblick 1926–1965
Am 1. Juli 1926 wird Hans Werner Henze als ältestes von sechs Kindern des Volksschullehrers
Franz Henze und seiner Frau Margarete in Gütersloh geboren. Beruflich bedingt zieht die
Familie bis zu Henzes 14. Lebensjahr mehrfach um. Besonders das Verhältnis zu seinem
Vater gestaltet sich in diesen Jahren zunehmend problematischer. Nach der Nichtversetzung
im Jahr 1942 beginnt Henze mit dem Studium in Klavier, Schlagzeug und Theorie an der
Staatsmusikschule Braunschweig. Im letzten Kriegsjahr gerät er als Panzer-Funker 1945 in
britische Kriegsgefangenschaft, aus der er im August entlassen wird. Sein Vater, der nicht nur
seine künstlerische Entwicklung, sondern vor allem seine sich andeutende Homosexualität
argwöhnisch beobachtet hatte, kehrt nicht aus dem Krieg zurück.
Nach einer kurzen Tätigkeit als Korrepetitor am Bielefelder
Stadttheater beginnt Henze 1946 sein Kompositionsstudium
bei Wolfgang Fortner in Heidelberg. Ebenso prägend wie
dieser Unterricht sind aber auch die im selben Jahr erstmals
stattfindenden „Ferienkurse für Neue Musik“ in Darmstadt.
Besonders das in der NS-Zeit verbotene Werk Paul
Hindemiths wird zur kompositorischen Richtschnur für die
ersten Werke, die ihm einen Vertrag mit dem Schott-Verlag
einbringen. Bei den 3. Darmstädter Ferienkursen 1947 lernt er
durch René Leibowitz auch die Zwölftontechnik Schönbergs
kennen, was zu einer entscheidenden Erweiterung seiner
im Alter von 21 Jahren
kompositorischen Sprache führt.
Schon ab 1950 denkt Henze trotz der einsetzenden künstlerischen Erfolge daran, das
restaurative Deutschland der frühen Adenauer-Zeit zu verlassen. 1953 setzt er seinen
Entschluss schließlich um und zieht auf die italienische Insel Ischia. Ingeborg Bachmann, die
er im Vorjahr bei einer Tagung der „Gruppe 47“ kennen gelernt hatte, folgt ihm wenig
später, womit eine äußerst produktive künstlerische Zusammenarbeit in Gang gesetzt wird,
in deren Verlauf bis 1964 zwei Opern und weitere gemeinsame Werke entstehen.
Mit dem Umzug ändern sich auch Henzes Kompositionsprojekte und sein ästhetisches
Programm. Das Hauptwerk der ersten italienischen Jahre, die Oper König Hirsch (1953–
1956), basiert auf einer italienischen Märchenerzählung; der größte Erfolg dieser Jahre wird
ihm mit seinem Märchen-Ballett Undine (1956/57)
zuteil, das 1958 im Beisein von Queen Elizabeth im
Royal Opera House in London unter Henzes Leitung
uraufgeführt wird. Wie weit er sich von der seriellen
Avantgarde der 1950er Jahre entfernt, wird ihm bei
der Uraufführung der auf Gedichte von Bachmann
auf Ischia 1954
komponierten Nachtstücke und Arien (1957) in
Donaueschingen deutlich gemacht, als Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen
demonstrativ den Saal verlassen.
Eine neue Wendung bekommt Henzes Komponieren ab Mitte der 1960er Jahre durch die
Hinwendung zu politischen Themen, insbesondere durch das Interesse an dem jungen
kommunistischen Regime in Kuba.
1926 Hans Werner Henze am 1. Juli in Gütersloh geboren
1931 erster Klavierunterricht
1937 NSDAP-Beitritt des Vaters
1938 erste Kompositionsversuche
1942 Beginn des Studiums an der Staatsmusikschule Braunschweig
1944 Militärdienst
1945 britische Kriegsgefangenschaft; Korrepetitor am Stadttheater Bielefeld
1946 Beginn des Kompositionsstudiums bei Wolfgang Fortner in Heidelberg (bis 1948);
Teilnahme an den ersten „Ferienkursen für Neue Musik“ in Darmstadt
1947 Fünf Madrigale auf Gedichte aus dem „Großen Testament“ von François Villon
1948 Musikalischer Mitarbeiter am Deutschen Theater Konstanz
1951 Robert-Schumann-Preis der Stadt Düsseldorf
1952 erste Begegnung mit Ingeborg Bachmann
1953 Übersiedelung nach Italien (Ischia); Ingeborg Bachmann schreibt die Lieder von einer
Insel
1956 erste Begegnung mit Benjamin Britten
1958 Kammermusik 1958 über die Hymne „In lieblicher Bläue“ von Friedrich Hölderlin
1960 Übersiedelung nach Rom
1962 Leitung einer Meisterklasse für Komposition am Mozarteum Salzburg (bis 1967)
1964 Lieder von einer Insel. Chorfantasien auf Gedichte von Ingeborg Bachmann
1965 Beginn des politischen Engagements
2012 Henze am 27. Oktober in Dresden gestorben
Fünf Madrigale (1947)
Mit den Fünf Madrigalen auf Gedichte aus dem „Großen Testament“ von François Villon
beginnt Henzes Komponieren für Chor und Instrumentalensemble, das in dieser Komposition
aus Flöte, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Posaune und Streichquintett besteht. Die Fünf
Madrigale können dem „Frühwerk“ Henzes zugeordnet werden, das noch vor seiner
Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie entstand. In der Sekundärliteratur wie auch in
den biografischen Schriften Henzes spielt es als Nebenwerk oder Gelegenheitskomposition
kaum eine Rolle. Exemplarisch dafür steht Henzes flüchtige Bemerkung in seiner
Autobiographie: „Ich ging weiter und vertonte Villonsche Chansons für Kammerchor und
kleines Ensemble, ruppige und zärtliche Melodien eines fahrenden Gesellen […].“2
Uraufgeführt wurden die Madrigale am 25. April 1950 von der Frankfurter Singakademie und
Instrumentalisten des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters unter der Leitung von Ljubomir
Romansky.
Der „fahrende Geselle“ François Villon (*1431, † nach 1463), Abenteurer, „Scholar, Vagant
und Krimineller“, „gilt als bedeutendster Dichter des französischen Spätmittelalters“3.
Insbesondere sein Großes Testament wird bis ins 20. Jahrhundert hinein intensiv rezipiert.
Als Textgrundlage dient Henze in seinen Fünf Madrigalen die Nachdichtung von Paul Zech.
Zu einer Art deutschem Villon wurde der expressionistische Lyriker, Erzähler und Dramatiker
Paul Zech. Dieser veröffentlichte 1931 eine äußerst freie Nachdichtung, die auf den bereits
vorhandenen deutschen Villon-Versionen beruhte. Hierbei verkürzte Zech die beiden
2
3
Henze 1996, S. 90
https://de.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7ois_Villon (eingesehen am 05.01.2016)
Testamente erheblich, ließ etliche Balladen fort und glich dies aus, indem er viele selbst
erfundene Balladen im Stil Villons (oder was er dafür hielt) einfügte.4
Fenster I – Sprachlicher und musikalischer Humor
Im eröffnenden Gedicht Im Wald, da ruht geht es wie im zweiten Und ist kein Feld um
Todessehnsucht. Typisch für den villonschen Tonfall ist aber der Galgenhumor, der etwa aus
der abschließenden Pointe des ersten Madrigals spricht: „Ich steh schon lang, schon lang,
mit dem Tod auf du und du, / Ich brauch auf keinen Weiser mehr zu schau‘n, / ich suche nur
ein Loch im Zaun.“ Auch die beiden abschließenden Texte Wer sterben muss und Dein Bild im
Angesicht behandeln die Themen Enttäuschung und Tod. Der Zyklus endet mit „Villons
imaginäre[r] Himmelfahrt“5.
Eine besondere Stellung innerhalb von Henzes Zyklus nimmt das dritte Madrigal ein. Es
berichtet im Balladentonfall von einer Legende um einen Kaiser Alexander, der sich von
einem „Schelmen“ nicht nur zur Begnadigung hinreißen lässt, sondern von dessen Worten so
„schmerzlich“ getroffen wird, dass er fortan die Lebensumstände des Mannes ändern und
selbst sein Diener werden wird. Die Komposition ist mit seinem durchgehenden Allegro
vivace die schnellste im ganzen Zyklus. Die charakteristischen Merkmale betreffen vor allem
die Artikulation: zum einen das schnelle Sprechtempo und die durchlaufende
Achtelbewegung, daneben ein den ganzen ersten Teil durchziehendes Staccato mit
nachschlagenden Achteln, das noch mit kurzen chromatischen Vorschläge versehen ist.
Henzes Tonalität ist nur schwach mit Dissonanzen angereichert. Seine Instrumentation ist oft
blockartig unterteilt in hohe Streichinstrumente, tiefe Streichinstrumente, Blechbläser und
solistische Holzbläser (Bsp. 1).
4
5
Ebd.
Geitel 1968, S. 24.
Bsp. 1 – H. W. Henze: Fünf Madrigale (Nr. III, T. 1–6)
Der Chor nimmt die charakteristischen Merkmale des Instrumentalsatzes auf, setzt aber
häufig unbegleitet ein, nur wenige Einsätze werden colla parte begleitet. Häufiger finden
sich dissonante Parallelbewegungen in den Instrumentalstimmen. So zeigt Bsp. 2
exemplarisch Henzes Umgang mit bitonalen Schichtungen. Während im Chor es-Moll
dominiert, bleibt die Begleitschicht der tiefen Streichinstrumente in e-Moll. Das Horn
begleitet den Chor-Alt colla parte, während die Violinen und in T. 16 die Klarinette zumeist
im Halbtonabstand zu den beiden Frauenstimmen gesetzt sind.
Bsp. 2 – H. W. Henze: Fünf Madrigale (Nr. III , T. 12–16)
Diese Charakteristika der Komposition verweisen auf das klassizistische Erbe der frühen
Nachkriegsjahre. Henze nimmt mit diesen Kompositionsmitteln einen musikalisch eher
leichtgewichtigen Tonfall auf, der dem Humor der Villon-Texte entspricht. Der Charakter der
Vertonung ändert sich zwar ab T. 53 analog zur berichteten Verhaltensänderung des Kaisers
(„Da schloss der Kaiser seine Augen schmerzlich zu […]“). Der pointiert leichte und von
rhythmischer Artikulation geprägte Duktus ändert sich hingegen kaum. Hinter dieser Art von
Textvertonung scheint in Henzes Fünf Madrigalen vor allem sein Vorbild Igor Strawinsky
hervor – der neoklassizistische Strawinsky wohlgemerkt, der sich in vielen seiner Werke eher
die Maske eines Clowns aufsetzt und auf parodistische Wirkung abzielt statt emotional
Stellung zu beziehen.
Lieder von einer Insel (1964)
Die Chorphantasien Lieder von einer Insel sind das letzte einer Reihe von Werken, die Hans
Werner Henze in Zusammenarbeit mit der Dichterin Ingeborg Bachmann schuf.
Vorausgegangen waren ihnen eine Ballettpantomime Der Idiot (1952), das Hörspiel Die
Zikaden
(1954),
die
Orchestergesänge
Nachtstücke und Arien (1957) sowie die
beiden Opern Der Prinz von Homburg
(1958/59) und Der junge Lord (1964). Henze
vertont
in
seinen
Chorphantasien
fünf
Gedichte Bachmanns, die 1954, kurz nach
ihrer Übersiedelung nach Italien, auf der Insel
Ischia entstanden waren und ebenfalls unter
dem Titel Lieder von einer Insel veröffentlicht
mit Ingeborg Bachmann
wurden. „Die Verse erzählen von einer bedingungslosen Liebe zweier Menschen. Ihre
unbedingte Hingabe führt sie zum entscheidenden Moment des Grenzübertrittes und
dadurch zur Erlösung.“6 Die Stationen dieses Gedichtzyklus´ sind „Tod – Überwindung des
Todes durch Grenzüberschreitung – Auferstehung – Fest – Zerstörung der Normen –
Vollendung“7. Für Henze scheint die Vertonung dieser in Gedichtform erschienenen
Erzählung allerdings auch biographischer Rückblick auf die gemeinsame Zeit mit Ingeborg
Bachmann gewesen zu sein.8
Henze wählt für seine Komposition neben einem vierstimmigen Chor die ungewöhnliche
Besetzung mit Posaune, zwei Schlagzeugern, Portativ, zwei Violoncelli und einem
Kontrabass. Uraufgeführt wurden die Lieder von einer Insel am 23. Januar 2967 in Selb durch
den RIAS-Kammerchor und Mitglieder des Berliner Philharmonischen Orchesters.
Fenster II – Italiensehnsucht
Hans Werner Henze, der „so genannte „mediterrane Deutsche“ repräsentiert wie kein
anderer deutscher Komponist des 20. Jahrhunderts in Leben und Werk die
„Italiensehnsucht“ vieler Künstler der 1950er Jahre […]. Die „festliche Grenzüberschreitung“
nach Italien 1953 wird von Henze rückblickend als der schönste Tag seines Lebens
gedeutet“9. Seiner in Italien entstandenen Musik wird vom Zeitpunkt seiner Übersiedelung
an in der Musikkritik eine besondere Kantabilität zugesprochen.10
6
Müller-Naef 2006, S. 184.
Ebd., S. 189.
8
Vgl. Bielefeldt 2003, S. 165 f.
9
Tumat 2011, S. 133.
10
Vgl. ebd. S. 134/35.
7
Eine archaische und in besonderer Weise durch den katholischen Ritus geprägte Form des
Gesangs ist die Litanei. Der Text des III. Liedes von einer Insel beginnt mit einer LitaneiFormel, der dreimal wiederholten Heiligen-Anrufung: „Einmal muß das Fest doch kommen,
heiliger Antonius, der du gelitten hast, heiliger Leonard, der du gelitten hast, heiliger Vitus,
der du gelitten hast. Platz unsren Bitten, Platz den Betern, Platz der Musik und der Freude!“
Henze wählt für die Vertonung dieser Litanei eine fast archaische Melodik (Bsp. 3). So
beginnt der Sopran mit einer schlichten diatonischen Wellenbewegung und moduliert
ebenso wie die anschließende Phrase des Alt von a-Moll ins a-Lydische. Der Litanei-typische
Wechselgesang wird im Alternieren der Singstimmen offensichtlich.
Bsp. 3 – H. W. Henze: Lieder von einer Insel (Nr. III, T. 15–22)
Nur selten führt Henze den Chor im vierstimmigen Satz zusammen und auch dann nimmt der
Satz seinen Ausgang in den kantablen Sekundbewegungen und den tonalen bzw. modalen
Linien der einzelnen Stimmen. Häufig verwendet Henze einen schlichten homophonen Satz.
Auch das Unisono setzt er häufig ein, auf Melismen verzichtet er allerdings weitgehend und
verwendet sie nur bei zentralen Begriffen oder Metaphern. Einen besonderen Effekt erzielt
er durch das bocca chiusa-Singen, das Singen oder Summen mit geschlossenem Mund.11
Dieses dient, wie die satztechnisch einfachen Mittel, der Textverständlichkeit.
Einen Kontrapunkt zu den Chorstimmen setzt Henze mit dem latent zwölftönigen
Instrumentalsatz, wobei er diese kleine Besetzung an keiner einzigen Stelle der Lieder im
11
Siehe M 3.
Tutti einsetzt. Verzichtet er im Chorsatz „auf ein differenziertes Wort-Ton-Verhältnis“12, so
kommt den Instrumentalstimmen oft eine mimetisch-illustrierende Bedeutung zu. Wenn
etwa „die mageren Katzen schleichen“ (III, T. 26/27), wechselt die II. Violine ins tremolo sul
ponticello, der „Vulkan“ (III, T. 50 ff.) wird mit einem Crescendo auf dem hängenden Becken
sowie mit Pauken- und Bongowirbel klanglich umgesetzt. Auf sein kompositorisches
Vorgehen weist Henze in einem Gespräch hin:
„Manchmal werden auch die Schlaginstrumente zur Illustration des Textes geradezu
herbeigezogen, manchmal aber auch wieder nicht, z. B. wenn es heisst: „Morgen rollen die
Fässer / sonntäglichen Wellen entgegen, / wir kommen auf gesalbten Sohlen / zum Strand“,
dann schlägt plötzlich eine Glocke , man weiss nicht genau warum, das weiss nur ich, weil am
Strand von San Francesco in Ischia, wo diese Gedichte entstanden sind, sonntags während wir
badeten, die braven Ischitaner zur Messe gingen.“13
Vermutlich hat der Einsatz der Röhrenglocken nach den Chorworten „auf dunklen Flößen
entfernt sich die Prozession“ (III, T. 61 ff.) einen ähnlichen autobiographischen Ursprung. In
seiner Annäherung an erlebte Stimmen und Geräusche wie auch in der Verwendung
traditioneller Idiome äußert sich Henzes Italiensehnsucht.
Quattro Fantasie (1958/1963)
Bei den Quattro Fantasie von Hans Werner Henze handelt es sich um vier Instrumentalsätze
für Klarinette, Horn, Fagott, 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass. Die ersten drei
Sätze Prefazione, Sonata und Cadenza entstammen der Kammermusik 1958 über die Hymne
In lieblicher Bläue von Friedrich Hölderlin für Tenor, Gitarre und acht Soloinstrumente. „Vier
Abschnitte, Oktett-, Ensemble-, Duett- und Solostücke für Gitarre, gliedern den aus
gesungenen und instrumentalen Teilen bestehenden 12-sätzigen Zyklus Kammermusik
1958“14. Gewidmet ist dieses Werk Benjamin Britten als „Danksagung für so viel Anregung,
die mir aus seinen Werken zuteil geworden ist“15. Uraufgeführt wurde es am 26. November
1958 in der Reihe „das neue werk“ des NDR in Hamburg. Peter Pears, Lebensgefährte
Benjamin Brittens, übernahm den Tenor-Part.
12
Bielefeldt 2003, S. 279.
Zitiert nach Müller-Naef 2006, S. 192.
14
Kellersmann 2003, S. 139.
15
Ernesti 2012.
13
1963 komponierte Henze als Epilog zur Kammermusik noch ein Adagio in der Besetzung des
Instrumentaloktetts. Wie er auch die drei Solostücke für Gitarre als Drei Tentos für separate
Aufführungen freigab, so können seitdem auch die vier Oktettsätze als Quattro Fantasie
gespielt werden: I. Prefazione, II. Sonata, III. Cadenza, IV. Adagio (Epilogo).
Fenster III – Komponierte Träume
Am 24. März 1958, während der Arbeit an der Kammermusik 1958, schreibt Henze in einem
Brief an Ingeborg Bachmann eine kurze Randbemerkung über „eine schöne platte […]
„serenade für tenor, horn und streicher“ von benjamin britten“16. In seiner Autobiographie
erwähnt er Britten im Kontext seiner Kammermusik, weil er seine Musik „damals derartig
verehrte, daß man es an einigen Stellen in meiner eigenen deutlich hören konnte, wenn
auch in dieser Kammermusik zum ersten Male wohl so richtig outspokenly“17. Diese
Anspielung Henzes bezieht sich auf Brittens 1943 entstandene Serenade op. 31 für Tenor,
Horn und Streicher, die, wie später Henzes Kammermusik 1958, von Peter Pears
uraufgeführt worden war.
Britten fügt in seinem Serenaden-Zyklus sechs
englische
Lieder
zusammen,
die
„um
den
Themenkomplex Nacht, Schlaf und Traum“18 kreisen
und die Stationen vom Sonnenuntergang bis zum
Beginn des Schlafes begleiten. Die Elegy, ein
mit Benjamin Britten
Klagegesang auf ein Gedicht von William Blake, ist
das dritte Lied des Zyklus´. Der Text ist von
alptraumartigen Bildern geprägt (siehe M 8). Die kranken, düsteren und bösen Aspekte von
Nacht, Traum und Schlaf stehen in direktem Kontrast zu Schönheit und Liebe. Die Rose als
Sinnbild für Liebe und Schönheit droht vom Wurm der Heimlichkeit zerstört zu werden.
Paradoxerweise ist aber diese lebenszerstörende Kraft die „dark, secret love“ selbst.
16
Bachmann/Henze 2004, S. 186.
Henze 1996, S. 193.
18
Britten 1999, S. vii.
17
„The love portrayed in this music is clearly at odds with the ,natural’ world – is indeed that
‘dark, secret love’ which causes such agonies of conscience in the Serenade.”19 Es ist
unzweifelhaft: „Blake’s ‘dark, secret love’ is in fact Britten’s own dark, secret love.“20
Abgesehen von der Anspielung auf Brittens eigene Homosexualität und die Angst vor der
latenten Homophobie in der britischen Gesellschaft der 1940er Jahre21 bringt die Wahl des
Blake-Gedichtes im Kontext der Serenade ein „excellent example[…] of Britten’s unflagging
fascination with beauty, desire and evil“22 zum Ausdruck.
Bsp. 4 – B. Britten: Serenade op. 31 (Elegy, T. 26–42)
Brittens Vertonung dieses Textes beginnt rein instrumental. Über einem synkopisch
verschleierten Klangteppich beginnt im A-Teil das Solo-Horn mit einer langen gewundenen
Kantilene, die als musikalisches Äquivalent des Wurmes die bohrende Intensität der
beginnenden Krankheit zum Ausdruck bringt. Alle 12 Töne der chromatischen Skala werden
in wenigen Takten durchschritten, wobei dem fallenden Halbtonschritt eine besondere
Bedeutung zukommt. Der Ambitus der instrumentalen Linie ist überaus groß und trägt mit
zur Expressivität des A-Teils bei. Nach dem rezitativischen Mittelteil wird diese HornKantilene ohne Änderung wiederholt (Bsp. 4). Lediglich die beiden abschließenden Takte mit
dem chromatischen Wechsel zwischen gis und g (notiert dis und d) sowie dem klanglichen
Wechsel zwischen offenem (°) und gestopftem (+) Horn werden von Britten als
instrumentaler Epilog noch angefügt, als instrumentale Wiederholung des Ruf „O Rose“ (gis
– g, T. 18), welche die klangliche Signatur all der in diesem Klagegesang ausgesprochenen
Träume und Alpträume bildet.
19
Carpenter 1992, S. 186.
Aguilar 1982, S. 168; vgl. auch Abels 2015, S. 69 f.
21
Vgl. Mitchell 1989, S. 26.
22
Aguilar 1982, S. 168.
20
A
B
A‘
T. 1–17
T. 18–25
T. 25–42
Andante appassionato
Recitativo (Lento)
Tempo primo
Horn + Steicher
Tenor + Streicher
Horn + Streicher
B. Britten: Serenade op. 31 – Formübersicht der Elegy23
Wo die Elegy endet, da setzt Henze mit dem Zitat der Serenade ein. Reizvoll wird für Henze
die starke Chromatik der Horn- und der Singstimme gewesen sein, ihre latente
Zwölftönigkeit. Seit der Entdeckung der Schönberg´schen Dodekaphonie basieren Henzes
Kompositionen oft auf zwölftönigen „Tunes“, die im Gegensatz zu Schönbergs
Zwölftonreihen Tonwiederholungen in derselben und in anderen Lagen und somit
wesentlich mehr als nur 12 Töne enthalten können.24 Die Prefazione seiner Kammermusik
1958 beginnt wie Brittens Elegy mit dem Halbtonschritt abwärts (fis – f) und dem Wechsel
zwischen offenem und gestopftem Horn; auch den von langgezogenen Crescendi und
Decrescendi geprägten expressiven Gestus der Musik übernimmt er (Bsp. 5). In seinem
Zitieren verändert und erweitert Henze allerdings sogleich das von Britten übernommene
Material. Über einem äußerst dezenten Liegeton des Kontrabasses setzen Fagott und
Klarinette in freiem Kontrapunkt ein, erweitern also die klangliche Ebene des
Ausgangsmaterials, wie auch die motivische Ebene etwa durch die Umkehrung des
Halbtonschritts erweitert wird.
Bsp. 5 – H. W. Henze: Quattro Fantasie (Prefazione, T. 1–7)
Wie Henze mit diesem Material im Weiteren arbeitet, lässt sich exemplarisch in T. 28–32
zeigen, der zweiten Passage der Prefazione, in der nur die drei Blasinstrumente spielen
23
https://www.youtube.com/watch?v=PQ0ITqRBaE0 (eingesehen am 05.01.2016); Die Elegy beginnt bei 8:50
Min., der B-Teil bei 10:43 Min., der A‘-Teil bei 11:35 Min.
24
Vgl. Petersen 1995, S. 23 ff.
(Bsp. 6)25. Die Linie des Horns ist noch von längeren kantablen Melodiebögen geprägt, in
denen weiterhin der Halbtonschritt dominiert; ein chromatisches Motiv gis – b – a wird
entwickelt und mehrfach insistierend wiederholt. Den Phrasen des Horns entsprechen auch
die etwas bewegteren Motivabschnitte des Fagotts, auch hier immer mit dem Halbtonschritt
beginnend. Der Klarinette hingegen ist die beweglichste Linie zugedacht, die sich auch
motivisch weiter vom Ausgangsmaterial entfernt. Aus den Sekunden werden die
komplementären Septimen oder Nonen. Auch hier fällt aber ein mehrfach wiederholtes
Motiv auf (gis‘ – ais‘‘ – h‘ – h‘‘ – ais‘) – wie ein in Besessenheit immer wieder repetierter
Gedanke.
Bsp. 6 – H. W. Henze: Quattro Fantasie (Prefazione, T. 28–32)
Henzes zitathafte Annäherung an den verehrten Komponisten Benjamin Britten beschränkt
sich allerdings nicht allein auf die kompositorischen Parameter Klang, Dynamik und Motivik.
Wie Britten mit der Horn-Kantilene in rein instrumentaler Weise die alptraumhafte Bildwelt
des Gedichts The sick Rose vorwegnimmt, so liegen auch Henzes Instrumentalmusik Bilder
von erträumten Welten zugrunde. Die Hölderlin-Hymne In lieblicher Bläue entfaltet zwar im
Gegensatz zur Elegy ein ästhetisches Programm, in dessen Zentrum ein Schönheits-Begriff
entwickelt wird, der sich mit ähnlichen ästhetischen Reflexionen Henzes trifft.26 Allerdings ist
diese „Schönheit“ nicht ungebrochen. Auch Henze wird in der von Blake thematisierten
25
26
https://www.youtube.com/watch?v=KI_KpmILAdM (eingesehen am 05.01.2016); T. 28 beginnt bei 3:17 Min.
Vgl. Bachmann/Henze 2004, S. 488.
Verletzlichkeit der Schönheit ein persönliches Motiv erkannt haben. Und die „dark, secret
love“ wird er, wie Britten, als Anspielung auf die eigene Homosexualität mitgelesen haben,
er, der Deutschland zu einer Zeit verlassen hat, als der § 175 des deutschen
Strafgesetzbuches homosexuelle Handlungen noch unter Strafe stellte. Vor allem aber das
Bild des „invisible worm“ wird ihn bis in die Zeit der Komposition seiner 5. Sinfonie (1962)
nicht loslassen. In diesen Rückgriffen auf Biografisches, Erlebtes und Erträumtes sind auch
die Quattro Fantasie nicht nur (alp-)traumhafte Fantasien ihres Schöpfers, sondern im
wahrsten Sinne komponierte Träume.
Fenster IV – Traditionelle und moderne Klanglichkeit
Lediglich ein bedeutendes Werk der klassischen Literatur verwendet die Oktett-Besetzung
mit Klarinette, Fagott, Horn, 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass: Franz Schuberts
Oktett F-Dur D 803. Ludwig van Beethovens Septett Es-Dur op. 20 ist als Vorbild für dieses
Oktett anzusehen, er verwendet dieselbe Bläserbesetzung, verzichtet allerdings noch auf
eine zweite Violine. Für die klanglich ähnliche Besetzung mit einer Violine und zwei
Bratschen schrieb Paul Hindemith ein Oktett. Erst Hans Werner Henze griff die SchubertBesetzung in der Kammermusik 1958 wieder auf.27
Am 31. März 1824 schreibt Schubert an seinen Freund Leopold Kupelwieser, er habe „2
Quartetten für Violinen, Viola und Violoncelle u. ein Octett“ komponiert und wolle sich
„überhaupt […] auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen”28. Seiner Besetzung nach
schwankt
Schuberts
Oktett
zwischen
Kammermusik
und
Orchestermusik.
Kammermusikalischer und orchestraler Klang sind auch die Pole, an denen ein Vergleich mit
Henzes Quattro Fantasie ansetzt.
Insbesondere die beiden Ecksätze des Schubert-Oktetts sind von orchestralem Klang
geprägt. Exemplarisch zeigt sich dies im Hauptthema des 1. Satzes (T. 19 ff.) und in der
Unisono-Wiederholung (T. 38 ff.).29 Nicht allein die Dynamik ist hier allerdings für den
orchestralen Klangeindruck verantwortlich, sondern die Tatsache, dass Schubert
Stimmverdoppelungen in Haupt- und Nebenstimmen einsetzt. Auch die klangfarbliche
Vielfalt des Ensembles, das neben den Streichern auch zwei verschiedene Holzbläser27
2004 komponierte Jörg Widmann sein Oktett, mit dem er sich konkret auf Schubert bezieht.
Zitiert nach Schubert 1997, S. 71–73.
29
http://imslp.nl/imglnks/usimg/d/d6/IMSLP02332-Schubert-Octet.pdf (eingesehen am 05.01.2016)
28
Klangfarben in verschiedenen Registern sowie die flexible Farbe des Horns beinhaltet, prägt
den orchestralen Klang. Eine Sonderrolle nimmt die I. Violine ein, der Schubert oft
konzertante Passagen anvertraut, wie etwa im zweiten Themenkomplex des 1. Satzes
(T. 90 ff.). Auch die Klarinette wird ähnlich häufig solistisch eingesetzt, eine Verwendung, die
allerdings auch in der Orchestermusik Schuberts gebräuchlich ist.
In eher kammermusikalischer Quintettbesetzung beginnt der langsame zweite Satz, doch
auch hier findet sich schon die Stimmverdoppelung im Bassregister der Streicher. Kaum
einmal reduziert Schubert die Besetzung unter Quintettstärke wie am Beginn des Trios im 3.
Satz oder am Anfang des 4. Satzes. Den „Weg zur großen Sinfonie“ geht er immer auch,
indem er die Kombinationsmöglichkeiten seiner Besetzung auslotet und immer wieder
andere Kombinationen dem Tutti gegenüberstellt.
Im Gegensatz zu Schubert nutzt Hans Werner Henze die orchestralen Möglichkeiten des
Ensembles weniger als die kammermusikalischen. Wie Bsp. 5 und 6 verdeutlichen, setzt er in
der Prefazione häufig die drei Blasinstrumente vom Streichquintett ab. Selten finden sich
auch Stimmverdoppelungen. Stattdessen kann jedes Instrument solistisch hervortreten. In
dieser Gleichberechtigung tritt eine Tendenz zur Vereinzelung zutage. Bsp. 7 zeigt einen
Ausschnitt aus der Sonata, bei dem auf eine kammermusikalisch zweistimmige Passage ein
quasi orchestraler Abschnitt folgt. Dem solistischen Horn steht in T. 11–16 eine
kontrapunktische zweite Stimme gegenüber: eine Klangfarbenmelodie im Schönberg´schen
Sinne, bei der Kontrabass, Violoncello und Bratsche die fragmentarisch kurzen Phrasen der
Melodie übernehmen.30 Dabei wechseln nicht nur die Instrumente, sondern Henze setzt
auch sehr differenziert Spieltechniken wie sul ponticello, naturale, flageolett und pizzicato
ein. In T. 17/18 übernimmt das Fagott die Nebenstimme, das gestopfte Horn erscheint in
anderer Klangfarbe. Mit T. 19 setzt subito einer der wenigen orchestralen Momente der
Quattro Fantasie ein: Gut zu erkennen sind drei Schichten, wobei die Bass-Linie durch
Stimmverdoppelungen gekennzeichnet ist. Der orchestrale Gestus dieser Passage bleibt
jedoch nur für wenige Takte erhalten. Das Prinzip der solistischen Vereinzelung durchzieht
mehr und mehr den Satz, der von kammermusikalischer Gleichberechtigung geprägt ist.
30
https://www.youtube.com/watch?v=BcRi6uDVDTY (eingesehen am 05.01.2016); der Abschnitt setzt bei 9:33
Min. ein.
Bsp. 7 – H. W. Henze: Quattro Fantasie (Sonata, T. 11–20)
Lassen sich die Begriffe kammermusikalisch und orchestral mit den genannten Prinzipien der
Stimmverdoppelung und der Vereinzelung, der Gleichberechtigung und der Unterteilung in
Haupt- und Nebenstimmen voneinander abgrenzen, so ist eine wertende Unterscheidung
zwischen traditioneller und moderner Klanglichkeit ungleich schwerer zu treffen. Deutlich
sind die modernen Aspekte in Henzes Tonsprache zu erkennen. Dabei ist es allerdings nicht
allein die Atonalität, welche das Etikett „modern“ nach sich zieht, sondern eine Kombination
aus solistischer Gleichberechtigung der Stimmen, dissonanten Klängen, komplexer atonaler
Melodik und dem Fehlen vertrauter metrischer Schwerpunkte. Am Beginn der Cadenza
finden sich diese Aspekte gebündelt, die zu einer „modernen Klanglichkeit“ führen.31 Aber
auch bei Henze gibt es lange Passagen, die traditionell geprägt sind. So ist beinahe der
gesamte Epilogo32 in einem Adagio-Gestus gehalten, der auch schon in Beethovens späten
Streichquartetten begegnet. Der vorwiegend homophone Satz des Streichquintetts wird von
der I. Violine angeführt, während die Blasinstrumente den Satz klanglich auffüllen oder in
überleitenden Passagen solistisch oder im Terzett eingesetzt werden. Kaum einmal
unterbrechen schroffe Wechsel und überraschende Ausbrüche den Wohlklang dieses Satzes.
Klanglich modern wirkt demgegenüber die langsame Einleitung zum Finalsatz des SchubertOktetts. Tremoli, langgezogene Crescendi und extreme dynamische Unterschiede sind die
31
https://www.youtube.com/watch?v=tZzYx46QJtQ (eingesehen am 05.01.2016); die Cadenza setzt bei 3:10
Min. ein.
32
https://www.youtube.com/watch?v=5eaZYj8cH5E (eingesehen am 05.01.2016); der Epilogo setzt bei 4:10
Min. ein.
äußerlichen Merkmale dieser Musik. Aber obwohl Schubert Stimmen verdoppelt und
überwiegend das Tutti verwendet, ist die Tendenz zur Vereinzelung des Klanges
unüberhörbar. Und wenn schließlich ein solches Tremolo im pianissimo auch noch sul
ponticello erklingt33 und am Ende des Satzes als verstörendes Element wieder in die fröhliche
Stimmung einbricht, so wird die latente Modernität dieser Musik offensichtlich.
33
https://www.youtube.com/watch?v=O52r9_bXWBw (eingesehen am 05.01.2016); das Finale setzt bei 52:50
Min. ein.
Didaktische Anmerkungen
Hans Werner Henze – Biographie
Als biographischer Überblick zu Hans Werner Henze kann auch im Unterricht der Text am
Beginn der Handreichung dienen. Erweitert wird der biographische Zugang zu Henze durch
die weiter unten erläuterten Materialien zu Italien als Sehnsuchtsort (M 7).
Fünf Madrigale
Eine erste Annäherung an die Fünf Madrigale kann über eine Auseinandersetzung mit den
Texten François Villons geschehen. Den pointierten Moritaten-Tonfall können Schülern34 gut
nachahmen. M 1 stellt daher das dem I. Madrigal zugrunde liegende Gedicht Im Wald, da
ruht in einer Textfassung vor, in der durch Auslassung zentraler Begriffe und Reimwörter
Leerstellen entstehen, die von den Schülern zu füllen sind. Im Kontrast zur Textfassung
lassen sich der sprachliche Humor und die morbide Stimmung gut herausarbeiten. Ebenso
können Schüler auf der Textgrundlage eine eigene rhythmisierte Sprachkomposition
erarbeiten.
Einen wiederum anderen Zugang bietet die Sprechpartitur zum III. Madrigal Als Kaiser
Alexander (M 2), mit der Schüler in der Reduktion auf Rhythmus und Dynamik eine
Vorstellung davon bekommen, welche Herausforderungen in diesem Werk an einen Chor
gestellt werden. Diese Partitur kann von fortgeschrittenen Schülern selbst einstudiert oder
aber im Klassenunterricht durch den Lehrer angeleitet werden.
Arbeitsaufträge

Füllen Sie im Gedicht Im Wald, da ruht von François Villon die Lücken im Text.

Erstellen Sie eine rhythmisierte Sprechpartitur des Gedichts Im Wald, da ruht von
François Villon. Stellen Sie der Klasse Ihre Ergebnisse vor.

Üben Sie die Sprechpartitur Als Kaiser Alexander ein. Tragen Sie die Komposition der
Klasse vor.
34
Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden die Formulierung „Schüler“ geschlechtsneutral verwendet.
Lieder von einer Insel
Der litaneihafte Tonfall des III. Liedes lässt sich unmittelbar durch das Singen erfahren. Als
Einstieg kann dazu ein Auszug aus der katholischen Allerheiligenlitanei (M 3) im Wechsel
zwischen Vorsänger und Schola gesungen werden.35 Auch die ersten Choreinsätze der
Henze-Vertonung (M 3) lassen sich ohne Schwierigkeiten singend erarbeiten. Analytische
Aufgaben knüpfen nahtlos an diese praktischen Erfahrungen an. So lässt sich das tonale
Ausgangsmaterials der Chorsätze eindeutig mit Fachbegriffen beschreiben, die an diesem
Beispiel gefestigt werden. Schüler können hier exemplarisch die tonale Fundierung der
Chorsätze erkennen.
Kreativ gestaltend können Schüler in Kleingruppen auch mit den Texten Bachmanns
umgehen (M 5), indem sie mit einem begrenzten Schlagwerk-Instrumentarium verklanglicht
werden. Denkbar wären Rahmentrommeln, Klangstäbe, Rasseln, Schellen und weitere
vorhandene Perkussionsinstrumente. Dieser schöpferische Zugang kann vollkommen frei
gestaltet werden, er kann aber auch mit Henzes Zitat (M 4) als Impuls eingeleitet werden.
Das Zitat kann darüber hinaus aber auch Anlass zu einer kritischen Reflexion von Henzes
mimetischer Ästhetik sein, die sich an die kreative Arbeit anschließen sollte. Mit einer
gestaltenden Schreibaufgabe kann diese Reflexion eingeleitet werden. Sie sollte auf jeden
Fall aber auch in der Schülergruppe in eine Diskussion münden.
Von Nachteil ist die Tatsache, dass der Tonträgermarkt keine Aufnahme der Lieder von einer
Insel bereithält und dass nicht einmal im Internet eine Aufnahme zu finden ist. Eine
klangliche Annäherung anderer Art bietet daher nur der Mitschnitt einer Lesung Ingeborg
Bachmanns.36
Italien als Sehnsuchtsort deutscher Künstler bildet den anderen Weg der Annäherung an
Henzes und Bachmanns Welt. Direkt kann die Italiensehnsucht durch das Singen der CapriFischer37 erfahren werden. In der Gegenüberstellung des Bachmann-Gedichts Das
erstgeborene Land mit dem Schlager Capri-Fischer (M 6) wird deutlich, dass die Sehnsucht
nach einer idealen Welt im Deutschland der 1950-er Jahre sowohl die avancierte Lyrik wie
auch die volkstümliche Welt des Schlagers verbindet. Vor allem die Themenbereiche
Fruchtbarkeit und Natur stechen bei Bachmanns Italien-Gedicht sofort ins Auge, daneben
35
Die vollständige Litanei findet sich im katholischen Gesangbuch.
https://www.youtube.com/watch?v=cfv0EiskNc8 (eingesehen am 05.01.2016)
37
Leicht zugänglich ist dieser Schlager etwa im Liederbuch „stimmband“ 2012, S. 30 f.
36
aber auch die Bedrohung, die in dem Sich-Zurückziehen auf eine Insel begründet ist. Das Bild
der Isolation und damit des Verkümmerns prägt trotz mancher Anzeichen von idealem
Sehnsuchtsort diese Lyrik.
„Während Henze sich Italien mit einer ihm eigenen Gelöstheit und Lebensbejahung aneignete
und die Kultur und die Atmosphäre des Landes mit großer Faszination auskostete, brachte
Bachmann in ihr Italienbild die gewohnten dunklen Seiten ein; bei ihr ist auch das Schöne immer
wieder begleitet von Ängsten, Bedrohtheiten und einem ausgeprägten Lebenspessimismus.
Dennoch ist auch Bachmann Italien ein grundsätzlich neuer Anfang gewesen, gleichsam ein
Lebensbeginn.“38
Auch Henzes eigenes Italien-Erlebnis kann vor diesem Hintergrund vergleichend
nachvollzogen werden (M 7). Die Capri-Fischer, einer der populärsten Schlager der frühen
Nachkriegsjahre39, bringen eine andere Facette der Italiensehnsucht zum Ausdruck. Im
Kontext eines Liebeslieds wird hier das volkstümliche Singen, das Lied der Fischer, selbst zum
Thema des Liedes. Im Gegensatz zur Italien-Sicht Ingeborg Bachmanns wird in den CapriFischern dieser zerrissenen Welt ein Idyll entgegengestellt, bei dem selbst Anzeichen von
Isolation eine positive Wendung erfahren. Schüler erkennen im Vergleich der biographischen
Berichte mit Gedicht und Schlagertext, dass Henzes Italienbild selbst nicht weit von der
Schlager-Romantik seinen Ausgangspunkt nimmt, dass er sich aber in seiner „italienischen“
Musik den Positionen Bachmanns annähert, mit deren Texten sich seine Musik schließlich
auch verbindet.
Arbeitsaufträge

Schreiben Sie den Tonvorrat aus folgenden Passagen des III. Liedes heraus:
Sopran, T. 15 f. (bis „Antonius“); Sopran, T. 16 (Ende); Männerstimmen, T. 55/56
Beschreiben Sie das Tonmaterial dieser Melodien.

Verklanglichen Sie den Text des II. Liedes (M5) mit Perkussionsinstrumenten
(Rasseln, Schellen, Rahmentrommeln etc.).

In der Musik des 20. Jahrhunderts sind illustrierende Vorgehensweisen, wie Henze sie
in dem Zitat (M 4) schildert, selten. Henze selbst ist von Komponisten-Kollegen häufig
wegen ähnlicher Äußerungen kritisiert worden.
38
39
Andraschke 2001, S. 266.
Grabowsky/Lücke 2008, S. 243 f.
Gehen Sie von folgender Situation aus: Sie sind Komponist und lehnen eine
illustrierende Vorgehensweise wie die von Hans Werner Henze radikal ab.
Formulieren Sie aus dieser Position heraus eine Antwort auf das Zitat von Henze.

Vergleichen Sie Ingeborg Bachmanns Gedicht Das erstgeborene Land und den
Schlagertext der Capri-Fischer miteinander (M6) im Hinblick auf das Italien-Bild der
Autoren, das in diesen Texten zum Ausdruck kommt. Gehen Sie insbesondere auf die
Darstellung von Geräuschen und optischen Eindrücken ein.

Hans Werner Henze hat sich in seiner Autobiographie ausführlich mit seinem Umzug
nach Italien beschäftigt.
Vergleichen Sie seine Italien-Erlebnisse und seine Äußerungen über das authentische
italienische Singen (M 7) mit dem Schlagertext der Capri-Fischer (M6).
Quattro Fantasie
Eine erste Annäherung an die Klangwelt von Henzes Quattro Fantasie kann über die Elegy
aus Benjamin Brittens Serenade op. 31 stattfinden. Der Text des Gedichts (M 8) bietet für
Schüler leicht fassliche Gesprächsanlässe. Schon eine vergleichende Diskussion über den
englischen Originaltext und die deutsche Nachdichtung erschließt Schülern die Bildwelt
dieses Gedichts.
An die Arbeit mit dem Text lässt sich die Kompositionsaufgabe anschließen, eine Melodie zur
Bildwelt dieses Gedichts zu schreiben. Wichtig ist hier, dass nicht der Text Silbe für Silbe
vertont werden soll, sondern dass der kompositorische Weg, den auch Britten geht, vom
Gehalt bzw. von der Bildwelt eines Textes her eine Musik zu entwerfen, nachgezeichnet
wird. Den Arbeitsergebnissen wird dann in einem nächsten Schritt die Horn-Kantilene
Brittens gegenübergestellt. Alternativ kann auch die Kompositionsaufgabe übergangen
werden und der Gehalt des Textes gleich der Horn-Kantilene gegenüber gestellt werden.
Spätestens mit der Beschreibung der Kompositionsmittel in Brittens Elegy setzt die
analytische Beschäftigung mit der Musik Brittens und Henzes ein. Die Notenbeispiele bieten
exemplarische Zugänge zur Musik Henzes. Die motivische Reduktion der Beispiele auf die
traditionelle Figur des abwärts gerichteten Halbtonschritts erleichtert auch das hörende
Nachvollziehen. Auch die Musik Henzes kann
allerdings assoziativ, ohne den
entstehungsgeschichtlich interessanten Umweg über die Britten´sche Elegy gehört werden.
Auch der in Fenster IV beschrittene Weg einer hörenden Annäherung über die
Gegensatzpaare kammermusikalisch – orchestral und traditionell – modern kann von
Schülern nachvollzogen werden. Ein Hörvergleich der langsamen Einleitung des SchubertOktetts mit dem Epilogo der Quattro Fantasie ist auf verschiedenen Niveaustufen möglich.
Beginnend mit einer frei assoziativen Charakterisierung erarbeiten sich Schüler hörend
Kriterien, die schließlich in eine Diskussion um diese Gegensatzpaare münden.
Arbeitsaufträge

Vergleichen Sie die deutsche Nachdichtung des Blake-Gedichtes The sick Rose durch
Kuno Felchner mit dem Original.

Schreiben Sie eine instrumentale Melodie, in der die Bildwelt des Gedichtes The sick
Rose von William Blake allein durch die Melodieführung nachgeahmt wird. Die Wahl
des Instruments ist freigestellt.

Benjamin Britten hat Aspekte aus der Bildwelt des Gedichts The sick Rose von William
Blake in einer Horn-Melodie auskomponiert.
Benennen Sie exemplarisch die kompositorische Umsetzung bestimmter Ausdrücke
oder sprachlicher Bilder.
Analysieren Sie die Horn-Kantilene aus der Elegy von Benjamin Britten hinsichtlich
ihrer Intervallstruktur.

Vergleichen Sie den Beginn der Prefazione aus Hans Werner Henzes Kammermusik
1958 mit der Horn-Kantilene aus der Elegy von Benjamin Britten.

Beschreiben Sie Henzes Umgang mit dem motivischen Material zu Beginn der
Prefazione (T. 1–7) und in T. 28–32.

Skizzieren Sie eine Filmszene, in der die Prefazione aus Hans Werner Henzes
Kammermusik 1958 die Filmmusik bildet.

Charakterisieren Sie die Tonsprache aus Hans Werner Henzes Kammermusik 1958 im
Gegensatz zu Franz Schuberts Oktett D 803. Als Anregung können Sie die folgende
Adjektivsammlung
nutzen
(kraftvoll,
düster,
träumerisch,
traurig,
sanft,
leidenschaftlich, schwebend, feierlich, gefühlvoll, lustig, brutal, zart, ernst, hell,
dunkel, gefühlvoll, silbrig, drängend, klagend, friedlich, ruhig, aufgewühlt, leicht,
schwer, verspielt, ruhelos, zitternd, donnernd, sonnig, dumpf, beruhigend, fließend,
glücklich, dramatisch, glänzend, fahl, rund, schwerelos, tänzerisch, voll, schimmernd,
warm, weich).
M1
François Villon: Im Wald, da ruht (deutsche Nachdichtung von Paul Zech)
Im Wald, da ruht ganz tief ein stiller ____________________,
sind schön ____________________ drin und, wenn ich tiefer geh,
der munteren ____________________ grün und goldne Farben,
da wünsch ich mir schon lang die ____________________,
da sollen sein gebettet meine ____________________.
Ich steh schon lang, schon lang, mit dem ____________________ auf du und du,
ich brauch auf keinen ____________________ mehr zu schau´n,
ich suche nur ein Loch im ____________________.
François Villon: Im Wald, da ruht (deutsche Nachdichtung von Paul Zech)
Im Wald, da ruht ganz tief ein stiller See,
sind schön Gewürm drin und, wenn ich tiefer geh,
der munteren Fische grün und goldne Farben,
da wünsch ich mir schon lang die letzte Ruh´,
da sollen sein gebettet meine Garben.
Ich steh schon lang, schon lang, mit dem Tod auf du und du,
ich brauch auf keinen Weiser mehr zu schau´n,
ich suche nur ein Loch im Zaun.
M3
Allerheiligenlitanei der katholischen Liturgie (Ausschnitt)
H. W. Henze: Lieder von einer Insel (Nr. III, T. 15–22)
H. W. Henze: Lieder von einer Insel (Nr. III, T. 55–58)
M4
Hans Werner Henze in einem Gespräch anlässlich der Uraufführung seiner Lieder von einer
Insel über sein kompositorisches Vorgehen bei der Vertonung der Gedichte von Ingeborg
Bachmann:
„Manchmal werden auch die Schlaginstrumente zur Illustration des Textes geradezu
herbeigezogen, manchmal aber auch wieder nicht, z. B. wenn es heisst: „Morgen rollen die
Fässer / sonntäglichen Wellen entgegen, / wir kommen auf gesalbten Sohlen / zum Strand“,
dann schlägt plötzlich eine Glocke , man weiss nicht genau warum, das weiss nur ich, weil am
Strand von San Francesco in Ischia, wo diese Gedichte entstanden sind, sonntags während
wir badeten, die braven Ischitaner zur Messe gingen.“
(zitiert nach Monika Müller-Naef: Tradition und Erneuerung. Lieder von einer Insel, Wien 2006, S. 192)
M5
Ingeborg Bachmann: Lieder von einer Insel
II
Wenn du auferstehst,
wenn ich aufersteh,
ist kein Stein vor dem Tor,
liegt kein Boot auf dem Meer.
Morgen rollen die Fässer
sonntäglichen Wellen entgegen,
wir kommen auf gesalbten
Sohlen zum Strand, waschen
die Trauben und stampfen
die Ernte zu Wein,
morgen am Strand.
Wenn du auferstehst,
wenn ich aufersteh,
hängt der Henker am Tor,
sinkt der Hammer ins Meer.
M6
Ingeborg Bachmann: Das erstgeborene Land (1954)
In mein erstgeborenes Land, in den Süden
zog ich und fand, nackt und verarmt
und bis zum Gürtel im Meer,
Stadt und Kastell.
Vom Staub in den Schlaf getreten
lag ich im Licht,
und vom ionischen Salz belaubt
hing ein Baumskelett über mir.
O schließ
die Augen schließ!
Preß den Mund auf den Biß!
Und als ich mich selber trank
und mein erstgeborenes Land
die Erdbeben wiegten,
war ich zum Schauen erwacht.
Da fiel mir Leben zu.
Da fiel kein Traum herab.
Da blüht kein Rosmarin,
kein Vogel frischt
sein Lied in Quellen auf.
Da ist der Stein nicht tot.
Der Docht schnellt auf,
wenn ihn ein Blick entzündet.
In meinem erstgeborenen Land, im Süden
sprang die Viper mich an
und das Grausen im Licht.
Ralph Maria Siegel/Gerhard Winkler: Capri-Fischer (1943)
Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes
blinkt,
Zieh´n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer
hinaus,
und sie legen im weiten Bogen die Netze aus.
Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament
Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer
kennt.
Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,
hör´ von fern, wie es singt.
Bella, bella, bella Marie,
Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh,
Bella, bella, bella Marie,
Vergiß mich nie.
Wie der Lichterschein draußen auf dem Meer
Ruhelos und klein, was kann das sein
Was irrt so spät nachts umher?
Weißt Du was da fährt?
Was die Flut durchquert?
Ungezählte Fischer, deren Lied von fern man
hört:
Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
[…]
M7
Italien als Sehnsuchtsort
Hans Werner Henze in seiner Autobiographie Reiselieder mit böhmischen Quinten:
„[…] Dieses Ausatmen, dieses Durchatmen, dieses Glücksgefühl! „All meinen Unbill geb ich
preis“, dachte ich nun und ließ, wie so viele Deutsche vor mir die Italianità widerstandslos in
mich hinein. […] Es ging nun über den Futa-Paß von Bologna nach Florenz. Es war schon sehr
warm, die Luft flimmerte, Chöre von Zikaden schallten in den Tälern, den Ölbaumgärten. Die
Wüstenlandschaft der Toskana umgab mich wie ein schwerer, weicher Mantel. Die Via
Cassia, schmal und kurvenreich, führt den Reisenden zu Ansiedlungen, in denen wiederum
die Eleganz der Architektur zu bewundern ist, ihre Harmonie, die das kulturelle
Selbstverständnis der Erbauer und Bewohner spiegelt. Eines Tages würde ich die italienische
Kunst kennenlernen und verstehen können – schon heute liebte ich sie ja. Ich war glücklich
[…]“
(Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische
Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt a. M. 1996, S. 147)
Hans Werner Henze in seinem Essay Italien:
„Dann beginnen die Jahre auf einer Insel […]. Am Horizont feiern das Meer und der Himmel
ihre berühmte Vermischung, das Licht in der Schwebe haltend, Schirokko macht Musik in
Bambusrohren. Man lernt Italienisch als feierliche und dunkle Sprache kennen […]“
(Hans Werner Henze: Italien, in: Musik und Politik.
Schriften und Gespräche 1955–1984, München 1984, S. 34)
Hans Werner Henze in seinem Essay Über „Re Cervo“ (König Hirsch):
„ […] diese Art von Gesang, die man hier Tag und Nacht, nah und fern, unartikuliert
geschrien oder leise, mit der Landschaft in Einklang gebracht, vernehmen kann […]“
(Hans Werner Henze: Über „Re Cervo“ („König Hirsch“), in: Musik und Politik.
Schriften und Gespräche 1955–1984, München 1984, S. 35)
M8
William Blake (1757–1827)
The sick Rose
O Rose, thou art sick;
O Rose, du siechst,
The invisible worm
Der heimliche Wurm
That flies in the night,
Im Schutze der Nacht
In the howling storm,
Im Geheul des Sturms,
Has found out thy bed
Er fand deines Bettes
Of crimson joy;
Purpurpracht,
And his dark, secret love
Und du stirbst am Geheimnis der Liebe.
Does thy life destroy.
Deutsche Nachdichtung von Kuno Felchner
M9
B. Britten: Serenade op. 31 (Elegy, T. 26–42)
M 10
H. W. Henze: Quattro Fantasie (Prefazione, T. 1–7)
H. W. Henze: Quattro Fantasie (Prefazione, T. 28–32)
Literaturverzeichnis
Sekundärliteratur
Abels, Norbert: „Die Dichtung liegt im Jammer…“. Zu Brittens literarischer Welt, in: Benjamin
Britten (= Musik-Konzepte 170), hg. von Ulrich Tadday, München 2015, S. 50–77.
Aguilar, Helene J. F. de: A dangerous faith: Benjamin Britten’s language, in: Parnassus, Jg. 10
(1982), S. 135–130.
Andraschke, Peter: Lieder von einer Insel. Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze, in:
Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Krones (= Wiener
Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis Bd. 1), Wien etc. 2001, S. 259–273.
Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft, München 2004.
Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann: Die gemeinsamen Werke.
Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung, Bielefeld 2003.
Carpenter, Humphrey: Benjamin Britten. A Biography, London 1992.
Ernesti, Marc: Wie aus Englands Außenseiter Great Britten wurde: Praktiker, Modernist,
Inspirator und Gründer – zum bevorstehenden Gedenkjahr für Benjamin Britten, in:
NMZ Jg. 61 (2012), Nr. 12, http://www.nmz.de/artikel/wie-aus-englands-aussenseitergreat-britten-wurde (eingesehen am 05.01.2016).
Geitel, Klaus: Hans Werner Henze, Berlin 1968.
Grabowsky, Ingo/Lücke, Martin: Die 100 Schlager des Jahrhunderts, Hamburg 2008.
Henze, Hans Werner: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984. Erweiterte
Neuausgabe, München 1984.
Henze, Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen
1926–1995, Frankfurt/M. 1996.
Kellersmann, Jutta: Kammermusik 1958 und Henzes Position im „neuen werk“ Hamburg, in:
Petersen, Peter (Hg.): Hans Werner Henze. Symposion Hamburg 2001, Frankfurt/M.
2003, S. 139–154.
Mitchell, Donald: „Now Sleeps the Crimson Petal”: Britten’s Other „Serenade”, in: Tempo
Nr. 169 (Juni 1989), S. 22–27.
Müller-Naef, Monika: Tradition und Erneuerung. Lieder von einer Insel, Chorfantasie von
Hans Werner Henze auf Gedichte von Ingeborg Bachmann, in: Die Saite des Schweigens,
hg. von Susanne Kogler/Andreas Dorschel, Wien 2006, S. 184–202.
Petersen, Peter: Hans Werner Henze. Werke der Jahre 1984–1993 (= Kölner Schriften zur
Neuen Musik 4), Mainz etc. 1995.
Schubert, Franz: Briefe. Tagebuchnotizen. Gedichte, hg. von Erich Valentin, Zürich 1997.
Tumat, Antje: Italien als ästhetischer Projektionsraum. Textkritische Bemerkungen zum
Entwurf einer „besseren Welt“ in Hans Werner Henzes Schriften der 1950er Jahre, in:
„Dahin!...“ Musikalisches Reiseziel Rom. Projektionen und Realitäten (= Jahrbuch Musik
und Gender, Bd. 4), hg. von Sabine Meine/Rebecca Grotjahn, Hildesheim etc. 2011,
S. 133–143.
Notenausgaben
Brecht, Klaus/Weigele, Klaus W. (Hg.): stimmband. Lieder und Songs, Stuttgart 2012.
Britten, Benjamin: Works for Voice & Chamber Orchestra, London 1999.
Henze, Hans Werner: Fünf Madrigale, Mainz 2000.
Henze, Hans Werner: Lieder von einer Insel, Mainz 2000.
Henze, Hans Werner: Quattro Fantasie, Mainz 1969.
Tonaufnahmen
Bachmann, Ingeborg: Lieder von einer Insel
https://www.youtube.com/watch?v=cfv0EiskNc8 (eingesehen am 05.01.2016)
Britten, Benjamin: Serenade op. 31
https://www.youtube.com/watch?v=PQ0ITqRBaE0 (eingesehen am 05.01.2016)
Henze, Hans Werner: Kammermusik 1958 (Quattro Fantasie)
https://www.youtube.com/watch?v=KI_KpmILAdM (eingesehen am 05.01.2016)
https://www.youtube.com/watch?v=BcRi6uDVDTY (eingesehen am 05.01.2016)
https://www.youtube.com/watch?v=tZzYx46QJtQ (eingesehen am 05.01.2016)
https://www.youtube.com/watch?v=5eaZYj8cH5E (eingesehen am 05.01.2016)
Schubert, Franz: Oktett F-Dur D 803
https://www.youtube.com/watch?v=O52r9_bXWBw (eingesehen am 05.01.2016)