PDF - Leibniz Gemeinschaft

LEIBNIZ | BIODIVERSITÄT
Lernwerkstatt: Dirk Henzes Schüler bereiten sich auf ihren
Abschluss als Einzelhandelskaufmann vor. Einer von ihnen
möchte dann einen Fahrradladen eröffnen.
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LEIBNIZ | BILDUNG
Bildungswerkstatt
Immer mehr Menschen bilden sich nach ihrem Abschluss weiter.
Einheitliche Standards für die Dozenten aber fehlen. Ebenso wie
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Dirk Henze hat sich nach der Mittagspause gerade wieder warm
geredet, als sich die Tür zum
Klassenzimmer öffnet. „Scheiße“, sagt ein muskulöser junger
Mann in schwarzer Jogginghose,
schlüpft durch den Türspalt und
eilt zu seinem Platz. Das Handy,
mit dem er gerade telefoniert hat,
hält er noch in der Hand. „Nee,
nicht ‚scheiße‘, sondern zu spät“,
sagt Henze. Dann fährt er mit
dem Unterricht fort.
Fortbildung statt
Fachkräftemangel
Foto: Foto: Leo Reynolds/Flickr
Auch wenn es diese Szene nicht
vermuten lässt: Henze unterrichtet keine pubertären Schüler, sondern Erwachsene am Bildungsund Beratungszentrum für Beruf
und Beschäftigung, kurz BBZ,
in Berlin. Acht Frauen und zwei
Männer sitzen an diesem Nachmittag vor ihm. Sie besuchen
einen Kurs, der sie auf die theoretische Abschlussprüfung zum
Einzelhandelskaufmann vorbereiten soll. Sie machen ihren Abschluss nach. Freiwillig. Gerade
ist Rechnungswesen dran und
Henze erklärt mit viel Geduld und
Verve, auf wie vielen verschiedenen Wegen man Preise für Waren
berechnen kann.
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Das Interesse an Erwachsenenbildung nimmt zu in Deutschland. 26 Millionen Menschen bilden sich jedes Jahr bundesweit
fort, sagt Josef Schrader vom
Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE), dem LeibnizZentrum für Lebenslanges Lernen in Bonn. Oder anders gesagt:
Die Hälfte aller Deutschen zwischen 19 und 64 Jahren nimmt
mindestens einmal im Jahr an
einer Weiterbildung teil, meist innerhalb von Betrieben. Das sind
mehr Menschen, als es Schüler
und Studenten gibt. Die Zahl der
Teilnehmer habe sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt,
so Schrader.
Die Losung vom „Lebenslangen
Lernen“, die Bildungspolitiker
und Arbeitsforscher schon vor
Jahren als unerlässlich für den
Wirtschaftsstandort Deutschland
und die Wissensgesellschaft ausgerufen haben, scheint angekom‡ œ— •‡‹Ǥ ‡” †‡‘‰”ƒϐ‹•…Š‡
Wandel spiele eine Rolle, sagt Petra Hübner, die Leiterin des BBZ.
„Viele Betriebe merken seit ein
paar Jahren, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen
können“, erklärt die Schulleiterin.
„Aber die Fachkräfte müssen irgendwo herkommen. Also bilden
sich die Leute fort.“
Auch die stets kürzer werdenden
Zyklen technischer Neuerungen
seien ein Grund für den gestiegenen Weiterbildungsbedarf, sagt
Bildungsforscher Josef Schrader.
„Wer immer auf dem neusten
Stand sein will, muss sich regelmäßig weiterbilden.“ Ganz generell seien die Deutschen immer
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zur gestiegenen Nachfrage bei:
Je besser die Ausbildung eines
Menschen, umso höher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass er nach
seinem Abschluss weiter lernt.
Erwachsenenbildung ist ein
extrem heterogenes Feld. Computerschulungen im eigenen
Betrieb gehören ebenso dazu
wie Kongresse und Tagungen
für Mediziner oder der freiwillig besuchte Sprachkurs an der
Volkshochschule – und natürlich
Dirk Henzes Berufsschulklasse in
Berlin, die am Ende zu einem Abschluss führt.
Ausbilden ohne
Ausbildung
So vielfältig wie das Kursangebot sind auch die Probleme und
Herausforderungen, die Erwachsenenbildung birgt. Eines der
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die oft mangelnde pädagogische
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Ausbildung derer, die unterrichten. Der gesamte Bildungsbereich ist nirgendwo einheitlich
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Dozenten und Trainer, die oft unter prekären Beschäftigungsbedingungen arbeiten, fehlen. Das
DIE entwickelt deshalb ein Online-Portal, das wissenschaftlich
erprobte Materialien als „Open
Educational Resources“ frei zur
Verfügung stellt.
Auch Dirk Henze musste erst
lernen, wie man eine Gruppe Erwachsener unter Kontrolle hält.
„Erwachsene Menschen, die es
nicht schaffen, pünktlich da zu
sein?“, sagt der groß gewachsene
Mann und zieht die buschigen,
schwarzen Augenbrauen hoch,
als wäre er darüber immer noch
erstaunt. „Da ist für mich erst mal
eine Welt zusammen gebrochen.“
Henzes Schüler im BBZ sind
größtenteils Harz-IV-Empfänger.
„Die sind ganz schnell entmutigt
und brechen ab, wenn man sie
nicht motiviert“, sagt er. Wie das
geht, hatte ihm niemand beigebracht.
300.000 bis 400.000 Lehrkräfte arbeiten in der Erwachsenenbildung, sagt DIE-Direktor
Josef Schrader, mehr als im klassischen Schulbereich. Die allermeisten beherrschen zwar das
Fach, seien aber unsicher, wie
sie ihr Wissen vermitteln sollen.
Wie bereitet man den Stoff sinnvoll auf und plant Lernsituationen? Wie stellt man gute Fragen
und gibt hilfreiches Feedback?
Wie macht man Lernfortschritte
sichtbar? All das müssen sich die
meisten Dozenten selbst beibringen. Viele landen zudem eher
über Umwege in der Erwachsenenbildung – quasi als Plan B,
wenn etwas mit dem ursprünglichen Beruf nicht klappt, oft auch
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gänzlich unentgeltlich im Ehrenamt.
„Echt was
in der Birne“
Dirk Henze hat Einzelhandelskaufmann gelernt und wollte
nach einigen Jahren Berufserfahrung im Handel seinen ei34
genen Supermarkt aufmachen.
Das ging schief und Henze war
pleite. „Ich musste irgendwie
gucken, wie ich Geld verdiene“,
erinnert er sich.
Er sah zufällig eine Anzeige
und bewarb sich – als Ausbilder für Menschen, die so wie
er Verkäufer werden wollen. Er
bekam die Stelle. „Dann hab ich
mich vor eine Gruppe gestellt
und so getan, als würde ich das
schon immer machen.“
Was Henze gar nicht leiden
kann, ist Unpünktlichkeit. Schon
wenn er das Wort ausspricht,
wird er ganz ernst. Das ist noch
heute so. Zu Beginn seiner Zeit
machte er seinem Ärger einmal
Luft – mit schwerwiegenden
Folgen. „Der junge Mann war
eh schon ein problematischer
Fall und dann kam er auch noch
zu spät. Da habe ich ihn angeranzt“, erinnert sich Henze.
Das ließ der Kursteilnehmer
nicht auf sich sitzen und maulte
zurück. Henze stieg darauf ein –
und die ganze Klasse hörte mit.
Heute weiß er: „Das Problem
ist: Ich muss in einer solchen
Situation gewinnen, sonst steht
meine Autorität auf dem Spiel.“
Er bleibt deshalb von vornherein gelassen.
Der Schüler damals aber
schmiss den Kurs und trat nicht
zur Prüfung an. Henze ist heute
noch traurig darüber. „Der hatte echt was in der Birne“, sagt
er. „So wie viele. Was ihm fehlte, waren Durchhaltevermögen
und soziale Kompetenz.“
Schüler wie die von Lehrer
Henze sind in der Erwachsenenbildung unterrepräsentiert.
Reinhard Pollak untersucht am
Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung (WZB), wer
Weiterbildungsmaßnahmen in
Anspruch nimmt. Seine Projektgruppe „Nationales Bildungspanel: Berufsbildung und lebenslanges Lernen“ koordiniert die
umfassendste Befragung zur Erwachsenenbildung in Deutschland. Erste Ergebnisse zeigen:
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fort, wer einen Job hat, Vollzeit
arbeitet, mittleren Alters und
gut ausgebildet ist. Arbeitslose,
Teilzeitbeschäftigte, Ältere und
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nehmen Weiterbildungsangebote dagegen seltener wahr – auch
weil ihre Arbeitgeber es ihnen
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Die Befunde geben noch
weitere Details preis: Wer organisiert, plant, berät, informiert,
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sich eher weiter als jemand, der
etwas herstellt, transportiert,
lagert, ein- und verkauft oder
reinigt.
„Aufsuchende
Bildungsarbeit“
Es ist eine große Herausforderung, auch diese zweite Gruppe
zu motivieren“, sagt auch Josef
Schrader vom DIE, man müsse
auf Menschen mit geringeren
Bildungsabschlüssen und entsprechend weniger Motivation
zugehen, weil diese nur selten
Eigeninitiative zeigen. „Aufsuchende Bildungsarbeit“ nennt
er das. Am BBZ hat man dafür
offenbar eine andere Lösung gefunden. „Bei uns wird die berufliche Vorerfahrung angerechnet“, sagt Schulleiterin Petra
Hübner stolz. Wer eine Ausbildung schon einmal begonnen
hat, kann an diesem Punkt wieder einsteigen, muss also nicht
erneut drei Jahre Ausbildung
absolvieren, sondern lediglich
das nachholen, was ihm noch
fehlt. Eine Regelung, die so nur
in Berlin gelte, wie sie sagt.
Ohne diese Regelung säße
wohl auch der junge Mann in
der schwarzen Jogginghose
nicht in Dirk Henzes Klasse. 26
Jahre ist er alt. Seinen Namen
will er nicht nennen. Mehrfach
hat er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in verschiedenen Fahrradgeschäften begonnen. Im letzten Betrieb lernte er
„ein paar Jungs“ kennen – und
stieg in deren Geschäft mit ein.
Nun will er seinen Abschluss
nachholen, wie er sagt, „und
dann vielleicht einen eigenen
Laden aufmachen“. Mal sehen,
ob ihn Dozent Henze durch die
Prüfung bringt.
M ARLENE HALSE R
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