SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Der Schulbankflüsterer von Basel

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Der Schulbankflüsterer von Basel
Christian Zingg unterrichtet in einer Integrations-und Berufswahlklasse
AutorIn:
Eva Gutensohn
Redaktion:
Ellinor Krogmann
Regie:
Andrea Leclerque
Sendung:
Mittwoch, 13.04.16 um 10.05 Uhr in SWR2
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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Atmo_1_Unterricht
Zingg: So, O.K., (Kreide, Tafel) schreckliches Wort: Sucht. Was kenne Sie für Süchte?
Oh, Sie wissen, was eine Sucht ist? Das müssen wir zuerst mal erklären in dem Fall.
Genau, da ist das Wort 'süchtig' drin. Was ist eine Sucht, wer kann es erklären?
Erzählerin:
Montagmorgen in einer Integrations- und Berufswahlklasse, kurz IBK, in
Riehen/Niederholz, in der Nähe von Basel. Deutschstunde bei Christian Zingg. Acht
Schülerinnen und Schüler aus sieben Nationen hören ihrem Klassenlehrer zu, der mit
ihnen verschiedene Arten von Süchten aufzählt und an die Tafel schreibt.
Atmo_2_Unterricht
Zingg: So, was noch?
Luigi: Streitsüchtig.
Salman: Eifersüchtig.
Zingg: Streitlustig oder streitsüchtig: Leute, die immer Streit suchen wollen, die irgendein
Problem suchen und Streit machen wollen...(schreibt an Tafel) streitsüchtig. Weiter?
Luigi: Alkoholiker haben alkoholsüchtig.
Erzählerin:
Das helle Klassenzimmer mit Blick ins Grüne liegt direkt neben einer Bahntrasse und ist
nicht sonderlich modern ausgestattet – ohne PCs und Flipcharts wirkt es etwas aus der
Zeit gefallen. Dafür ist es umso gemütlicher. Die Schülerinnen und Schüler sind alles
andere als unmodern. Sie sehen aus, wie man sich 16 - bis 20-Jährige vorstellt: enge
Jeans, Turnschuhe, modische Frisuren, Baseballcaps, Smartphones, Kaugummi. Die
Schwestern Tehrim und Ridha aus Pakistan tragen als einzige in der Klasse ein
Kopftuch. Sie sind gleichzeitig die einzigen mit Schweizer Pass.
O-Ton 1_Vorstellung_Schüler
Tehrim: Ich heiße Tehrim, ich bin 20 Jahre alt, ich komme aus Pakistan.
Nicholas: Ich bin Nicholas, ich bin 16 Jahre alt, ich bin in Brasilien geboren, aber in
Spanien aufgewachsen.
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Rafael: Ich bin Rafael, ich bin 18 Jahre alt, ich komme aus Portugal.
Salman: Ich heiße Salman, ich bin 17 Jahre alt, ich bin in Afghanistan geboren, aber ich
komme aus Iran. Als ich ein Jahr alt war, sind meine Eltern nach Pakistan geflüchtet.
Luigi: Ich bin Luigi, ich bin 20 Jahre alt, ich komme aus Dominikanische Republik. Aber
wenn ich 7 oder 8 Jahre alt war, ging ich nach Spanien und dort bin ich aufgewachsen.
Ridha: Ich heiße Ridha, ich bin 18 Jahre alt, ich bin aus Pakistan.
O-Ton 2_Wie an die IBK gekommen
Zingg: Vor vielen, vielen Jahren wollte ich einen ganz anderen Berufsweg machen und
sicher nie Lehrer werden. Ich bin nach dem Universitätsstudium aber arbeitslos
gewesen und bekam dann vom Arbeitsamt eine Arbeit zugewiesen, für ein Jahr zu
unterrichten und das hat mir wider Erwarten auf Anhieb so gut gefallen, dass ich dann
im Schuldienst geblieben bin. Und dann habe ich diese Jugendlichen aus der ganzen
Welt gesehen und habe das unglaublich spannend gefunden und habe auch meine
Kolleginnen und Kollegen gesehen, die eine Schule neu erfinden durften. Die hatten
ganz wenige Vorgaben. Es gab eine Stundentafel, es gab keinen Lehrplan – den gibt es
bis heute nicht – und es gab auch keine Idee, was Integration bedeutet. Es gab keine
Integrationsstelle in Basel, gar nichts. Die konnten wirklich ganz alleine, ganz für sich
eine Schule aufbauen und entwickeln. Ich bin 1991 in die IBK gekommen und bereue
diesen Schritt bis heute keine Sekunde.
Erzählerin:
Die Integrations- und Berufswahlklassen in Basel stehen fremdsprachigen, nicht mehr
schulpflichtigen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren offen, die ganz neu in die
Schweiz gekommen sind und hier Fuß fassen wollen. Zu Beginn war die IBK in Basel
die erste Schule ihrer Art in der Schweiz, mittlerweile gibt es ähnliche Angebote in fast
allen Kantonen.
Ziel des Unterrichts ist es, die jungen Leute innerhalb von zwei Jahren so fit zu machen,
dass sie eine Berufsausbildung beginnen können. Seit 1990 besuchten sie über 1000
Jugendliche aus aller Welt diese Schule. Dass es nicht mehr Schüler sind, liegt am
Konzept der kleinen Klassen.
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O-Ton 3_warum Schweiz
Rafael: In Portugal gibt es eine schwierige Situation, sie verdienen wenig Geld. Und
dann mein Vater hat in die Schweiz gekommen und nach einem Jahr bin ich mit meiner
Familie gekommen.
Luigi: Wegen der Situation in Spanien. Man muss so viel arbeiten, aber verdient wenig
Geld.
Nicholas: In Spanien war ich in einer guten Schule, meine Mutter hatte eine gute Arbeit,
aber sie war verliebt in einen Schweizer, deshalb bin ich nach die Schweiz gekommen.
Rhida: Und wir waren von Pakistan hier her gekommen, weil in Pakistan hatten wir
keine gute Zukunft.
O-Ton 4_Ausländer Schweiz
Zingg: Als ich ein Kind war in der Schweiz, da waren die Italienischen Gastarbeiter hier.
Wir hatten seit Ende des Zweiten Weltkriegs und wir hatten auch schon vor dem
Zweiten Weltkrieg, vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Schweiz einen ausländischen
Bevölkerungsanteil von über 30 %. Wir sind das gewohnt, dass viele Leute aus dem
Ausland hier leben.
Erzählerin:
Die Schülerinnen und Schüler der IBK haben je nach Herkunft und Geschichte einen
unterschiedlichen Aufenthaltsstatus. Die prekärste Gruppe ist die mit der N-Bewilligung:
die Flüchtlinge sind noch im Asylverfahren, das drei Jahre dauern, und auch abgelehnt
werden kann. Sie können keine Lehre beginnen und haben Residenzpflicht. Die
Bewilligung F bedeutet vorläufige Aufnahme aus humanitären Gründen, also nur dann,
wenn das Herkunftsland als unsicher eingestuft wird. Diese Personen können eine
Lehre beginnen. Die Bewilligung B kann jährlich verlängert werden und man hat Berufsund Bewegungsfreiheit, genauso wie bei der Aufenthaltsbewilligung C, die für 10 Jahre
gilt. Manche Schülerinnen, wie z.B. die Schwestern Ridha und Tehrim haben sogar den
Schweizer Pass.
O-Ton 5_Ankommen
Zingg: Wir haben einen Namen, der heißt Integrations- und Berufswahlklassen. Und
dieser Name ist eigentlich schon Programm: das 'I', die Integration, die steht für das
erste Schuljahr. Da müssen die Leute erst mal ankommen.
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Wenn man mit 16, 17 oder 18 seine Heimat verlässt und zwar in den allermeisten Fällen
nicht freiwillig verlässt und in ein fremdes Land kommt, in das man gar nicht gerne geht,
dann ist das verbunden mit sehr viel Trennungsschmerz, mit Heimweh, mit Unsicherheit
und da brauchen die Leute erst mal ein erstes Jahr, in dem sie ankommen können,
bisschen zur Ruhe kommen können, sich orientieren können.
O-Ton 6_Vermissen
Luigi: Ich vermisse immer das Essen und die Freunde, das ist sehr wichtig für mich.
Auch meine Familie.
Tehrim: Pakistan. Essen und Leute, Kultur, alles. Sie sind viel freundlicher und sie
sprechen mehr. Die Schweizer sprechen nicht so viel und das Essen ist viel besser dort.
Salman: Ich vermisse meistens meine Familie.
Ridha: Freunde, Schule, wir hatten kein Problem mit der Sprache. Wir konnten in unser
Niveau gehen. Wenn wir waren hier gekommen, wir mussten in eine andere Schule
gehen und von A-B-C, 1-2-3 einen Start machen, es war schwierig.
Atmo_3_Unterricht
Zingg: Wenn ich unbedingt immer schlafen will oder ins Bett gehen will, bin ich dann
faul? Sind Sie faul, Estephania?
Estephania: Nein.
Zingg: Aber Sie sind bettsüchtig?
Estephania: Nein.
Zingg: Was könnte der Grund sein, warum jemand bettsüchtig oder schlafsüchtig ist?
Ridha: Weil er ist traurig.
Zingg: Ja, genau, genau. Wenn das Leben zu schlimm wird, dann flüchtet man. Hier im
Bett, da hab ich Schutz, da ist es schön warm, da kann mir nichts passieren.
Luigi: Ja, das hält die Leute ab. Bei mir ist nicht so.
Salman: Ich kann gar nicht im Bett bleiben. Sogar in Nacht. Ich muss bewegen (lacht).
Zingg: Ja, das ist das Gegenteil davon. Wenn man nicht schlafen kann. Das macht aber
auch krank, wenn man zu wenig schläft.
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O-Ton 7_Schüler_über Zingg 1
Luigi: Herr Zingg... Herr Zingg... Herr Zingg ist ein toller Mann für uns in der Schweiz. Er
will uns helfen. Wir spüren, wenn ein Mensch uns helfen will und wir sehen das,
dass Herr Zingg, also Herr Zingg will uns wirklich helfen. Das ist absolut so. Ich finde
Herrn Zingg der Beste einfach.
Tehrim: ja, wir sind sehr glücklich, dass er unser Lehrer ist in diesem Jahr. Und er macht
sich mehr Sorgen über uns, wie wir. Wir machen weniger Sorgen über uns, aber er
macht sehr viel Sorgen, dass wir eine Lehre finden oder gut machen.
Nicholas: wie Herr Zingg gibt es keinen Lehrer.
O-Ton 8_wie macht man diese Arbeit
Zingg: Ja, wie macht man diese Arbeit? Man macht diese Arbeit zuallererst, dass man
die Menschen gerne hat, die kommen. Das ist ja eigentlich die Grundvoraussetzung für
jeden Lehrerberuf. Na ich sag immer: der Mensch, der hat zwei Augen und zwei Ohren
und einen Mund. Und das ist eine Aufgabe, die wir Lehrer hier erhalten haben und wenn
man nach dieser Aufgabe arbeitet, dann kommt man ziemlich weit. Das heißt, wir
müssen zweimal sehr genau hinschauen zweimal sehr gut zuhören, bevor wir das erste
Urteil fällen. Hinschauen und Zuhören, das schafft Vertrauen. Das hilft den Menschen,
die hierher kommen, dass sie das Gefühl haben, wir werden hier ernst genommen, hier
ist jemand, der interessiert sich wirklich für uns und dem ist mein Wohlergehen nicht
einfach Wurst.
Erzählerin:
Der 60-Jährige Pädagoge ist bei allem was er macht, ruhig und konzentriert, und er
wirkt absolut uneitel. Dabei ist er seit dem Erfolg des Dokumentarfilms „Neuland“ aus
dem Jahr 2014 fast schon zu einem Medienstar geworden. Die Regisseurin Anna
Thommen portraitiert in diesem Film Zinggs Arbeitsalltag auf einfühlsame und zugleich
ungeschönte Weise. Seitdem stehen in Christian Zinggs Terminkalender viele
Interviewanfragen. Diese Aufmerksamkeit raubt ihm viel Freizeit, doch es überwiegt die
Freude, seine Arbeit über die Schweizer Grenzen hinweg bekannt zu machen.
O-Ton 9_ wie macht man diese Arbeit_2
Zingg: Dann ist die Frage, wie viel erträgt man als Lehrperson. Man muss ziemlich viel
einstecken können an ziemlich schlimmen Biographien, an Geschichten, die die
Menschen mit sich herumtragen und die sie, wenn die Not zu groß wird, uns auch
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erzählen. Und das muss aber jede Lehrerin und jeder Lehrer hier für sich selber
entscheiden, wie viel ertrage ich heute, wie viel kann ich auf mich nehmen. Es ist ganz
wichtig, dass wir bei dieser Arbeit gesund bleiben. Wir helfen niemandem, wenn wir
zusammenbrechen. Ich ertrage viel. Ich lebe danach, dass, wenn jemand zu mir kommt,
ich immer Zeit habe, egal, was gerade ansteht. Ich ertrage es, auch schlimme
Geschichten zu hören.
Also die kann man nicht einfach vergessen. Die sind schon irgendwo in mir, aber die
sind nicht so in mir, dass sie mich quälen. Meine Frau sagt immer, es sei unglaublich,
wie schnell ich einschlafe. Ich schlafe wirklich immer sehr gut.
O-Ton 10_Salman_Flucht
Salman: Bevor ich nach Europa komme, ich war im Iran, also von Iran konnte ich nicht
zurück nach Afghanistan gehen oder nach Pakistan. Im Iran habe ich keine helle
Zukunft gesehen. Darum musste ich mein Leben riskieren, um nach Europa zu
kommen.
O-Ton 11_Spektrum Probleme
Zingg: Das Spektrum dieser Geschichten ist unglaublich weit. Das können
Kriegserfahrungen sein. Ich habe Schüler gehabt, die haben zugesehen, wie ihre
Familie getötet wurde. Wir haben aber auch schon Kindersoldaten gehabt, die selber
getötet haben. Das können Fluchtgeschichten sein, die Todesangst, entweder in der
Sahara oder auf dem Mittelmeer. Gefängniserfahrungen, die ganz viele von unseren
Jugendlichen auf ihrer Flucht gemacht haben, sei es in der Türkei oder in Griechenland.
Das können Geschichten sein von einer Familie, in die man kommt, in der man sich
völlig fremd fühlt. Von Stiefvätern, von denen man abgelehnt wird. Ich habe Schüler
gehabt, die haben im Keller geschlafen, auf dem nackten Boden, weil sie es in der
Wohnung nicht mehr ausgehalten haben. Und man hört eben ganz viele schlimme
Dinge, von denen man manchmal denkt: mein Gott, ist so etwas auf dieser Welt
überhaupt möglich, können Menschen so böse zueinander sein, aber sie können es.
O-Ton 12_Salman_hier bleiben
Nicholas: Die Schweizer können uns manchmal nicht verstehen. Z.B. niemand von uns
ist hier freiwillig. Das macht eine Differenz.
Salman: Ich will am liebsten hier leben. Ich war schon in vielen Ländern gewesen, aber
als ich in die Schweiz bin, habe ich viele Leute kennengelernt, ich habe hier die Sprache
gelernt und ich habe viele Kollegen. Ich habe nicht so viele Probleme mit der Kultur.
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O-Ton 13_Käsefondue
Tehrim: Hier ist es viel sicherer, als in Pakistan. In Pakistan, wir haben keine
Sicherheit...und Schokolade! Schokolade gefällt mir hier (lacht).
Autorin: Und Käsefondue...
Tehrim: Ja, Käsefondue.
Salman: Es schmeckt wie Füße (Gelächter)
Luigi: Es stinkt so stark. Das gefällt mir nicht so viel.
Rafael: Mir auch nicht.
Atmo_4_Unterricht
Zingg: Wir haben immer noch die Frage: Sind diese Süchte Krankheiten?
Nicholas: Die Süchte haben mit dem Gehirn zu tun und die Krankheit hat mit den
anderen Organen zu tun.
Zingg: Aha, das ist interessant. (rollt Tafel runter) Also hier ist das Gehirn oder die
Psyche, meine Gefühle.
O-Ton 14_Erfolgserlebnis
Zingg: Was ist das größte Erfolgserlebnis? Die junge Afghanin, die bei mir gewesen ist
und heute einen Doktortitel der Universität Bern trägt oder die junge Kongolesin, die
kaum schreiben und rechnen konnte, die zwischenzeitlich sogar mal akut von der
Ausweisung bedroht war und die heute in der Altenpflege eine Berufsausbildung
gemacht hat und ganz tolle Arbeit dort leistet?
Erfolgsgeschichten sind immer dann, wenn junge Menschen ihr Potential erkennen und
ausschöpfen. Das machen nicht alle, längst nicht alle, ein paar machen es nicht. Aber
ganz viele junge Menschen machen unglaubliche Wege, von denen man zu Beginn der
Schulzeit nicht denkt, dass sie möglich wären.
O-Ton 15_Ridha über Zingg
Rihda: Er glaubt an uns, wenn wir sagen nein, wie kann ich das machen oder ich habe
Angst, er ist immer dabei, er sagt immer, wenn du willst, du musst ein Ziel haben und
ich will immer hier sein. Du kannst meine Adresse haben, du kannst mich anrufen, wenn
du brauchst Hilfe, ich bin immer hier. Es ist die Schönste.
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O-Ton 16_Träume
Zingg: Auf der einen Seite sind natürlich die Träume hier, wie alle jungen Menschen sie
haben, wie das auch junge Schweizer haben: der Traum vom schnellen Geld, vom
schönen Haus, von den tollen Ferien irgendwo an einem weißen Sandstrand. Die
Träume haben wir ja alle, warum sollen das meine Schülerinnen und Schüler nicht auch
haben. Auf der anderen Seite sehe ich aber sehr oft, dass sie erkennen, dass sie, nach
all dem Abschiedsschmerz, den sie gehabt haben, hier auch eine Chance bekommen.
Gerade junge Frauen erkennen, dass sie hier eine Chance bekommen, sich beruflich zu
entwickeln und vorwärts zu kommen.
Und ich erlebe immer wieder, dass die jungen Menschen mit sehr viel Energie an ihre
Berufsausbildung ran gehen. Manchmal suchen sie noch an einem falschen Ort, aber
da können wir ihnen auf die Sprünge helfen, manchmal sehen sie es aber erstaunlich
realistisch, welcher Beruf für sie im Moment drin liegt. Und der Wille, vorwärts zu
kommen, den erleben wir vielfach jeden Tag. Das geht durch alle Nationen, durch alle
Mentalitäten, durch alle Kulturen hindurch, dass Menschen erkennen, dass sie aus
ihrem Leben was machen können.
O-Ton 17_Berufswunsch
Luigi: Also ich will Büroassistent werden. Nach der Lehrstelle will ich eine Weiterbildung
machen.
Nicholas: Ich möchte weiter Schule machen und dann studieren.
Rafael: Wunschberuf ist kaufmännisch.
Salman: Ich würde gerne meinen Schneiderberuf weitermachen. Das will ich in der
Schweiz. Modedesigner oder Textildesigner.
Tehrim: Ich bin noch nicht sicher, aber vielleicht Fachfrau Betreuung von kleinen
Kindern.
Ridha: Ich möchte gerne weiter studieren. Ziel ist Universität, aber ich möchte viel
denken.
Rafael: Ich würde gerne ein sehr gutes Auto (Gelächter). Ist wirklich (lacht). Wenn ich
eine Lehrstelle habe und wenn ich eine Arbeit auch, ich verdiene Geld für ein gutes
Auto. Ist mein Ziel (kichert).
O-Ton 18_Seifenblasen
Zingg: Seifenblasen platzen zu lassen, ist eine der weniger schönen, aber ganz
wichtigen Aufgaben, die wir haben. Es hilft niemandem, wenn wir jemanden in einem
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Weg bestärken, von dem wir wissen, der wird nicht funktionieren. Dann ist es unsere
Aufgabe, die Seifenblase so sanft platzen zu lassen, dass wir Wege zeigen können, wie
man zu seinem Traumberuf kommt. Das sind dann nicht gerade Wege, das sind
Umwege, die viele Jahre dauern. Aber wenn jemand das will, kann er das machen.
Erzählerin:
Das Modell der IBK ist erfolgreich, die Zusammenarbeit zwischen Schule und einzelnen
Firmen funktioniert, die Schweiz profitiert von den jungen Einwanderern, die dort ihre
Arbeitskraft zur Verfügung stellen möchten. Dass dieses Konzept noch nicht
flächendeckend auch in Deutschland durchgesetzt wurde, hat in erster Linie mit den
hohen Kosten zu tun: es braucht kleine Klassen, Unterricht in Kleingruppen und
entsprechend viele und qualifizierte Lehrer. In Oberbayern gibt es bereits
Regierungsbeamte und Schulleiter, die mit der Schule in Basel im Gespräch sind und
Vergleichbares planen. Die erste Schule in Deutschland, die ähnlich wie die IBK
arbeitet, ist ebenfalls in Oberbayern angesiedelt: die SchlaU Schule in München. Aber
ihr geht es weniger um junge Arbeitskräfte für die Wirtschaft als um humanitäre
Fürsorge. In den letzten Jahren wurden noch einige wenige Angebote in dieser Richtung
in Bayern und Baden-Württemberg etabliert. Doch Schulen wie diese braucht es gerade
jetzt dringender denn je, sagt Christian Zingg und auch, dass das Unterrichten dort mehr
Spaß als in jeder anderen Schule.
O-Ton 19_Respektspersonen
Zingg: An unserer Schule sind wir als Lehrpersonen wirklich noch Respektpersonen. Es
ist immer schön, wenn sie beginnen, mich in Frage zu stellen, dann haben sie was
gelernt, dann sind sie auf dem Weg hier in unsere Gesellschaft.
O-Ton 20_Schüler über Zingg 2
Salman: Ich habe Glück, dass ich mit Herrn Zingg in der Klasse bin. Er ist ein sehr toller
Mensch, kann ich sagen. Er macht alles, was er sagt. Manchmal ist er sehr seriös und
das macht mich auch manchmal wütend, aber später, wenn normal bin und ich denke
nach, dann verstehe ich, ja, Herr Zingg hat Recht. Ich liebe Herr Zingg einfach.
O-Ton 21_Leitkultur
Zingg: Ja, die Frage vom … Kulturprimat hätte ich jetzt fast gesagt … oder die Leitkultur,
das ist durchaus eine Frage, die man immer wieder reflektieren muss. Wenn aber die
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Schweizerische Gesellschaft oder auch die Deutsche Gesellschaft funktionieren sollen,
dann gibt es ein paar Grundwerte, die nicht verhandelbar sind.
O-Ton 22_Pünktlichkeit
Luigi: Ich bin Latino, aus der Dominikanischen Republik und dort gibt es eine ganz, ganz
schlechte Kultur, weil die immer zu spät sind (Gelächter) und in der Schweiz, das geht
nicht.
Salman: Ja, das ist eine Schwierigkeit, aber im 2. Schuljahr, kann ich mich besser
anpassen.
O-Ton 23_Öffnen
Zingg: Auf der anderen Seite wäre es aber auch sehr wünschenswert, wenn die hiesige
Gesellschaft – die Schweizerische oder die Deutsche – sich öffnen würde, mehr öffnen
würde. Unsere Gesellschaft sollte auch vermehrt auf die Leute zugehen und ihnen
Türen öffnen und sie auch noch einladen, durch diese Türen zu gehen.
Erzählerin:
Natürlich ist der Unterricht nicht immer harmonisch, nicht immer sind die Schülerinnen
und Schüler ruhig und aufmerksam. Doch Christian Zinggs Atem bleibt am Ende immer
länger, sein Wille immer stärker als der der Störenfriede. Außerdem weiß er: wütend
werden und laut Schreien kann in vielen Kulturen zu Gesichtsverlust führen.
Atmo_5_Unterricht
Zingg: Haben Sie gewusst, Liliane, dass es auch kaugummisüchtige Leute gibt.
Liliane: Ja (verschämt).
Zingg: Nehmen Sie ein Papier und wickeln Sie es ein. (Lauter) Ins Papier und wickeln
Sie es ein!!! Sonst klebt das in dem Sack drin und dann habe ich diesen Kaugummi
viele Monate hier im Zimmer und das möchte ich nicht. So, hat noch jemand einen
Kaugummi?
Alle: Nein.
O-Ton 24_keine Ghettos
Zingg: Wir müssen die Menschen, die zu uns kommen, bei uns aufnehmen, weil die
kommen so wieso. Wenn wir offen auf sie zugehen, haben wir die größere Möglichkeit,
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sie in unsere Gesellschaft zu integrieren und Ghettos zu vermeiden. Es gibt sicher
Viertel in unseren Städten, die haben einen erhöhten Ausländeranteil, aber es gibt keine
Viertel, in denen die Ausländer so dominant sind, dass Schweizer dort nicht mehr
hingehen.
Und diese Kultur sollten wir beibehalten, weil wir können sehr viel von diesen Menschen
auch lernen.
O-Ton 24_Kopftuch
Ridha: Mit mir ist war auch passiert, weil ich hatte ein Kopftuch und dieser alte Mann hat
mich eine Sekunde gesehen und er hat die Straße gewechselt und wenn er war auf der
anderen Straßenweite, er war auch so böse mit mir (lacht): du Frau mit dem Kopftuch!
Es war sehr schlecht. Für 5 Minuten man fühlt ein bisschen schlecht, aber die andere
Sekunde, man denkt, er weiß nicht, warum ich habe ein Kopftuch. Dann ist es egal, du
hast einen kleinen Kopf, ist mir egal (lacht).
Nicholas: Manchmal gibt es Schweizerdeutsche, die extra Schweizerdeutsch reden. Sie
können Hochdeutsch, aber sie reden extra Schweizerdeutsch, um zu nerven. Ich habe
das gemerkt.
Erzählerin:
Auch in der Schweiz gibt es viele Menschen, die Flüchtlinge und eine starke
Einwanderung ablehnen. Die Schweizerische Volkspartei, die SVP wirbt mit ähnlichen
Slogans wie die AfD und liegt bei einem Stimmenanteil von 30%. Christian Zingg kann
das nicht aus der Ruhe bringen. Auch, dass bei der letzten Volksabstimmung über 50%
gegen die Masseneinwanderung gestimmt haben, interpretiert er als allgemeine Angst
vor Fremdem und Neuem, nicht als Fremdenhass.
O-Ton 26_Xenophobie
Zingg: Die Fremdenfeindlichkeit, das sieht man in Deutschland, das sieht man aber
auch in der Schweiz, ist dort am Größten, in den Ländern, in den Gebieten, in denen es
den kleinsten Anteil an Ausländern in der Bevölkerung gibt. Je mehr ich mich auf diese
Menschen einlasse, um so kleiner wird meine Angst. Seit ich an dieser Schule
unterrichte, ist mein Leben um so Vieles reicher geworden, dass ich sehr dankbar bin,
dass ich hier unterrichten darf.
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