SÜDWESTUMSCHAU Mittwoch, 13. April 2016 Warnung zum Abschied Behindertenbeauftragter: Inklusion darf nicht zurückgedreht werden Mehr unzulässige Eingaben: Weil Abschiebung droht, wird immer öfter versucht, über die Härtefallkommission ein Bleiberecht zu bekommen. Nach fünf Jahren zieht der Behindertenbeauftragte der Regierung Bilanz – und geht. Gerd Weimer warnt davor, Erreichtes wieder zurückzunehmen. Sein Nachfolger müsse endlich hauptamtlich tätig sein. BETTINA WIESELMANN MADELEINE WEGNER Stuttgart. „Baden-Württemberg hatte vor fünf Jahren noch erheblichen Nachholbedarf bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Handicaps am gesellschaftlichen Leben“, sagt Gerd Weimer. Seit Sommer 2011 ist er der ehrenamtliche Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Heute stehe Baden-Württemberg im Vergleich mit anderen Bundesländern zwar deutlich besser dar. Dennoch sei das Ziel Inklusion noch lange nicht erreicht, sagt Weimer. So müsste dringend der Zugang von Behinderten in den ersten Arbeitsmarkt erleichtert werden. In der bundesweiten Statistik liegt der Südwesten unter den Bundesländern gerade mal auf Platz 13, wenn es um den Anteil Behinderter bei öffentlichen Arbeitgebern geht. Bei den privaten Arbeitgebern sind es lediglich 4,3 Prozent. „Da ist zu wenig geschehen, und es muss noch hart daran gearbeitet werden“, sagt Weimer. Nach fünf Jahren im Amt zieht der frühere Lehrer und ehemalige Erste Bürgermeister Tübingens am Ende der Legislaturperiode Bilanz – und warnt die künftige Landesregierung davor, das „Inklusionsrad zurückdrehen zu wollen“. Das gelte vor allem für die Neuregelungen im Schulsystem und die freie Wahl der Eltern zwischen Regelschule und Sonderschule. „Aber auch dem Versuch interessierter Lobby-Verbände, das barrierefreie Bauen beziehungsweise die Landesbauordnung auszuhöhlen, muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden“, appelliert Weimer. Von der künftigen Koalition erwarte er weitergehende Schritte, um das Recht von Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben voranzutreiben. Deshalb hat der Landes-Behindertenbeauftragte die Verhandlungsführer von Grünen und CDU in einem Schreiben gebeten, 13 aus seiner Sicht wesentliche Forderungen in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Dazu gehört unter anderem, den großen Bedarf an sozialem und barrierefreiem Wohnungsbau zu decken, das Denkmalschutzgesetz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu novellieren, In- Härtefälle: Ohne Integration kein Bleiberecht Sein Fall hat Inklusion bundesweit in die Schlagzeilen gebracht: Die Eltern des Walldorfer Viertklässlers Henri kämpften 2014 Foto: dpa um einen Platz am Gymnasium. Grün-Rot haben das Thema vorangebracht, sagt der Behindertenbeauftragte. klusionssport auch durch eine Regelfinanzierung weiter zu entwickeln und ein Landeskompetenzzentrum Barrierefreiheit als Informationsstelle aufzubauen. In der kommenden Legislaturperiode will der 67-Jährige altersbedingt das Amt nicht erneut übernehmen. Der künftige Landes-Behindertenbeauftragte sollte nach Ansicht Weimers die Aufgaben jedoch hauptamtlich erfüllen – so wie es allen anderen Bundesländern auch. Dafür zu sorgen, dass das Land für Zieht sich mit 67 Jahren aus dem Ehrenamt als Behindertenbeauftragter zurück: Gerd Weimer. Foto: PR gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen sorgt – in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Das ist die grundlegende Aufgabe des Landes-Behindertenbeauftragten, der unabhängig und weisungsunge- bunden arbeitet. Mit dem Landesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, das am 1. Januar 2015 in Kraft trat, wurde auch das Amt Weimers ausgeweitet. Unter anderem betrifft es das frühzeitige Beteiligungsrecht bei Gesetzen und Verordnungen, die Menschen mit Behinderungen betreffen. Als Ombudsmann ist Weimer auch Ansprechpartner für Betroffene. Gegenüber der vorangegangenen Legislaturperiode habe sich die Beratung in rechtlich komplexen Angelegenheiten dabei vervierfacht. Zu den Meilensteinen unter den Projekten der Landesregierung zählt Weimer ebenfalls das Landesgleichstellungsgesetz, weil es unter anderem die Stadt- und Landkreise verpflichtet, Behindertenbeauftragte zu benennen. In den meisten der 44 Kreise im Land sind die Beauftragten mittlerweile hauptamtlich angestellt. Generell sei auf kommunaler Ebene in Sachen Inklusion viel passiert. Auch die Novellierung der Landesbauordnung sei ein wichtiger Schritt zur Inklusion gewesen und dürfe nicht rückgängig gemacht werden: Seitdem gibt es bei der Verbesserung der Barrierefreiheit nur noch im Einzelfall Ausnah- men und nicht mehr pauschl, wenn die Kosten dadurch um 20 Prozent höher sind. Beispielhaft für den Inklusionsprozess steht der Gültsteinprozess, der Menschen mit Behinderungen den Weg aus abgelegenenen Heimen in die Mitte der Gesellschaft ermöglichen soll. Weimer betont: „Menschen mit Behinderungen stellen in keiner Hinsicht eine gesellschaftliche Randgruppe dar.“ Immer mehr Betroffene Definitionsfrage Im Land leben 1,5 Millionen Menschen mit Behinderungen. Davon sind 1,12 Millionen Menschen schwerbehindert. Nach der Definition in der UNBehindertenrechtskonvention entsteht eine Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen eigenen Beeinträchtigungen und umweltbedingten Faktoren. Nach dieser Definition sei die Zahl von Menschen mit Behinderungen deutlich höher anzusetzen, sagt der Landes-Behindertenbeauftragte. Wachsende Zahl Da Behinderungen überwiegend altersbedingt zunehmen, werde die Anzahl der Betroffenen durch die demografische Entwicklung tendenziell weiter steigen. del Stuttgart. In 31 Fällen war die Härtefallkommission des Landes (HFK) im vergangenen Jahr der letzte Rettungsanker für integrierte Ausländer, die ein Aufenthaltsrecht begehrten. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Ausländerbehörde und Gerichte negativ entschieden haben, kann die 2005 eingerichtete HFK prüfen, ob humanitäre Gründe einer Abschiebung entgegenstehen. 2015 folgte das Innenministerium allen HFKBleibe-Empfehlungen. Dass es in 144 von insgesamt 393 Neueingängen so viele „offensichtlich unbegründete Eingaben“ wie noch nie gab, kritisiert der Vorsitzende des zehn Mitglieder zählenden Gremiums, der frühere Landkreispräsident Edgar Wais, deutlich im Jahresbericht. Er fordert, die Zulässigkeit von Härtefallanträgen restriktiver als bisher zu regeln. „Ziel muss es sein, dass Härtefallanträge, die schon nach kurzer Aufenthaltsdauer ohne nennenswerte Integrationsleistungen gestellt werden, unzulässig sind und somit eine berechtigte Abschiebung auch nicht verzögern können.“ 105 Fälle wurden 2015 aus rechtlichen Gründen als unzulässig eingestuft. Die Zehn-Jahres-Bilanz der HFK Chancen auch für Leute vom Westbalkan kann sich sehen lassen: Bei rund 8000 Eingaben wurde in 669 Fällen für ein Aufenthaltsrecht plädiert. Zu 93 Prozent (624 Eingaben) kam das Innenministerium der Empfehlung nach. Die Entscheidungen trifft die HFK in der Regel mit zwei DrittelMehrheit. Auch wenn der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsland kommt, kann am Ende ein Aufenthaltsrecht gewährt werden. So wurde, wie zu lesen ist, im Fall einer Familie aus einem Westbalkanland entschieden. Sie war zwar erst zwei Jahre in Deutschland, hatte aber „eine ordentliche wirtschaftliche und soziale Integration erreicht.“ Arbeitgeber, Kirche, Stadtverwaltung und Ortsvorsteher hatten sich für sie eingesetzt. Anders der Fall des Rentners, der für eine Asiatin, die ihn pflegerisch betreut und schwanger von ihm ist, vorstellig wurde. Er wurde an die Ausländerbehörde verwiesen. „Das wird angezeigt“ Dekan entsetzt über heimliche Kletteraktion aufs Ulmer Münster – Freikletterer auch schon auf Aufzug-Testturm Ein Freikletterer hat nachts das Münster bis knapp unter die Turmspitze bestiegen. Seine Aktion hat er gefilmt und ins Internet gestellt. HANS-ULI THIERER HANS-ULI MAYER Ulm. „Das ist nun wahrlich alles andere als Sport oder gar Spaß. Das wird angezeigt.“ So hat gestern der evangelische Dekan von Ulm, Ernst-Wilhelm Gohl, auf eine Besteigung des Münsterturms durch ein Mitglied der Freikletterer-Gruppe reagiert. Der junge Mann war nächtens oder frühmorgens an der Fassade des Ulmer Münsters bis über die oberste Aussichtsplattform geklettert. Dort, in gut 150 Metern Höhe wartete er den Tagesanbruch ab, um dann auf Wasserspeiern, die sich über der Plattform befinden, herumzuspazieren und sich selber zu filmen. Auch Auf- und Ausstieg sowie auch den Abstieg über die normalen Treppen hat der Mann, der sein Gesicht hinter einem TotenkopfTuch verbirgt, im Video festgehalten. Dieses haben die „Grave Yard Kidz“, wie sich die Gruppe nennt, vor kurzem ins Internet gestellt. Dekan Gohl kann dieser Art von waghalsiger Münsterbesteigung nichts abgewinnen. „Dieser Mensch bringt nicht nur sich selber in eine lebensgefährliche Situation. Man stelle sich bloß vor, es bricht ein größeres Stück vom Gestein ab und fällt hinunter“, sagte Gohl. Man wolle alles unternehmen, um Nachahmungseffekte zu vermeiden. Deshalb werde die Kirchengemeinde Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs erstatten. Der Video-Ausschnitt zeigt, wie sich der unbekannte Münsterturm-KletteFoto: Grave Yard Kidz rer selber filmte. Gegen solch Besteigungen – in der Szene heißen sie „Free-Solo“ – sei man letztlich aber machtlos, sagte der Dekan. Wer einen Zugang suche, werde diesen finden. In der Höhe über der oberen Aussichtsplattform, die sich auf 143 Meter befindet, ist zwar Vorsorge getroffen, etwa durch einen Schutzzaun. Den aber hat der Kletterer überwunden, um dann über Tritte und Griffe noch weiter in die Höhe zu kommen – bis zu den Wasserspeiern. Mit der Strafanzeige ist klar, dass die Kletterei eine juristische Nachspiel hat. Hausfriedensbruch ist ein Antragsdelikt. Das heißt, dass die Polizei im Gegensatz zu einem Offizialdelikt erst aktiv wird, wenn die Strafanzeige gestellt ist. Die Staatsanwaltschaft will nicht ausschließen, dass auch sonst Ermittlungen denkbar sind – so geschehen etwa, als ein junger Mann mit dem Skate- board den Drackensteiner Hang des A-8-Albabstiegs hinabgefahren ist. Generell aber gelte in Deutschland: „Man darf sich selber gefährden“, erklärte der Ulmer Staatsanwalt Michael Bischofberger . Die „Grave Yard Kidz“ („Friedhof-Kinder“) machen nicht zum ersten Mal mit solchen Aktionen auf sich aufmerksam: Sie klettern „gern auf hohe Sachen“, wie sie im Internet angeben. Diese Aktionen filmen sie und stellen sie auf ihrem Youtube-Kanal online. Eine spektakuläre Aktion lief vergangenen Herbst: Zwei Kletterer stiegen auf den Kran, der am Aufzug-Testturm von Thyssen Krupp bei Rottweil steht. Die Kletterer filmten, wie sie in fast 250 Metern Höhe auf dem Kran herumturnten. Die Baufirma hat Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet. Die Polizei ist der Kletterer bisher nicht habhaft geworden.
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