Buch - Globalmoral

Globalmoral
Entwurf eines konsensorientierten
Kontraktualismus
Michael Nagler
Vorbemerkung
Mit dieser Abhandlung knüpfe ich an meine Intention früherer Arbeiten an, einen interdisziplinären Rahmen für die Diskussion normativer moralphilosophischer Probleme zu schaffen. Damit verbindet sich nicht nur eine wissenschaftlich-theoretische, sondern auch ganz klar
eine politisch-praktische Aufgabenstellung. Wie bereits in meinem ersten wissenschaftlichen
Diskurs über das Widerstandsrecht aus dem Jahre 1990, der noch unter dem Eindruck des
langsam, aber stetig zerfallenden Ostblocks und der sich auflösenden DDR entstand, versuche
ich auch hier wiederum, für drängende politische Probleme einen tragfähigen fachübergreifenden moralischen Lösungsansatz zu finden.
Damit fühle ich mich dem Geist der Aufklärung verbunden, die Bevölkerung in ihrem Bestreben nach einem selbstbewussteren und selbstbestimmteren Leben ohne Bevormundung zu
unterstützen. Seit diesen Zeiten haben die politischen Konflikte eher zugenommen als abgenommen, weil mit Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung ganz neue
Problemfelder aufgetaucht sind, die zudem noch globale und nicht nur territorial begrenzte
Relevanz zeigen. Leider befindet sich die aktuelle moralphilosophische Diskussion selten auf
Augenhöhe mit den angesprochenen aktuellen politischen Problemlagen, wie das noch etwa
für Hume oder teilweise für Kant und ihre Zeit angenommen werden darf. Deren überragenden moraltheoretischen Ansätze prägen die wissenschaftliche normative Auseinandersetzung
(mehr oder weniger bewusst) bis zum heutigen Tage. Eine auf theoretischen und praktischen
Konsens abzielende Globalmoral kann deshalb nur erfolgversprechend wirksam sein, wenn
sie die weiterhin bestehende grundlegende Rivalität zwischen Humeschen und Kantischen
Moralvorstellungen aufgreift und überwindet.
Die beiden ersten Kapitel meiner Arbeit zur Kontroverse zwischen moralischem Empirismus und moralischem Rationalismus sind naturgemäß nicht so leicht verständlich, wie die
beiden letzten zur normativen kontraktualistischen Ausgestaltung von Nationalstaaten und
einem Weltstaat. Die ersten beiden Teile liefern in erster Linie eine systematische Begründung dafür, ob und inwieweit eine normative Moraltheorie emotional oder rational fundiert
werden muss, woraus natürlich weitreichende Konsequenzen für die hier zu rechtfertigende
Globalmoral entstehen. Insbesondere setzt das zweite Kapitel Kenntnisse über Kants mitunter
schwierig nachvollziehbare KrV voraus. Interessenten ausschließlich politischer Philosophie
empfehle ich, einfachheitshalber nur die letzten beiden Teile zu lesen. Für Anregungen und
Kritik bin ich jederzeit unter der E-Mail-Anschrift '[email protected]' erreichbar.
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Inhalt
Vorbemerkung ....................................................................... 2
Einleitung ............................................................................... 5
1. Hume und Kant
1.1 Hedonismus versus Idealismus ............................................... 15
1.1.1 Mensch, Gesellschaft, Geschichte ............................................. 16
1.1.2 Sensualität und Rationalität ...................................................... 19
1.1.3 Entscheidungsfreiheit, Motivation, Verpflichtung .................. 53
1.2 Teleologie versus Deontologie ................................................ 73
1.2.1 Prinzip, Norm, Handlung .......................................................... 74
1.2.2 Nutzen, Gerechtigkeit, Handlungsfreiheit ............................... 83
1.2.3 Regelfall und Ausnahmefall ...................................................... 94
1.3 Empirismus versus Rationalismus ........................................ 102
1.3.1 Induktion und Deduktion ........................................................ 105
1.3.2 Subjektivität und Intersubjektivität......................................... 112
1.3.3 Theorie und Praxis ................................................................... 116
Zusammenfassung ............................................................................. 125
2. Transzendentale Moralrekonstruktion
2.1 Emotionalität ......................................................................... 139
2.1.1 Gefühl ........................................................................................ 140
2.1.2 Wahrnehmung .......................................................................... 144
2.1.3 Anschauung .............................................................................. 146
2.2 Moralerfahrung ...................................................................... 151
2.2.1 Urteile ........................................................................................ 153
2.2.2 Kategorien ................................................................................. 160
2.2.3 Grundsätze ................................................................................ 175
2.3 Moralerkenntnis .................................................................... 191
2.3.1 Naturhorizont ...........................................................................
2.3.2 Bedürfnishorizont ....................................................................
2.3.3 Handlungshorizont ...................................................................
Zusammenfassung .............................................................................
3
197
201
208
224
3. Kontraktualistische Moralkonstitution
3.1 Anthropologische Grundlagen .............................................. 234
3.1.1 Bedürfnisse ............................................................................... 237
3.1.2 Wünsche .................................................................................... 241
3.1.3 Interessen .................................................................................. 244
3.2 Individualistischer Kontraktualismus ................................... 246
3.2.1 Politische Macht .......................................................................
3.2.2 Ökonomische Macht ................................................................
3.2.3 Sozialer Ausgleich ....................................................................
3.2.4 Umweltschutz ............................................................................
258
265
268
272
3.3 Universalistischer Kontraktualismus .................................... 275
3.3.1 Moralgenese ..............................................................................
3.3.2 Rechtsgeltung ...........................................................................
3.3.3 Ethikgeltung .............................................................................
Zusammenfassung .............................................................................
287
293
301
307
4. Nationalstaaten und Weltregierung
4.1 Nationalstaaten ...................................................................... 321
4.1.1 Entstehung ................................................................................ 324
4.1.2 Entwicklung .............................................................................. 328
4.1.3 Grenzen ..................................................................................... 333
4.2 Konföderationen .................................................................... 341
4.2.1 Politische Ziele ..........................................................................
4.2.2 Ökonomische Ziele ...................................................................
4.2.3 Soziale Ziele ..............................................................................
4.2.4 Ökologische Ziele .....................................................................
4.2.5 Grenzen .....................................................................................
342
346
350
353
354
4.3 Weltregierung ........................................................................ 356
4.3.1 Legitimation ..............................................................................
4.3.2 Strukturen .................................................................................
4.3.3 Aufgaben ...................................................................................
4.3.4 Kompetenzen ............................................................................
4.3.5 Grenzen .....................................................................................
Zusammenfassung .............................................................................
363
370
378
392
403
412
Schlussbetrachtung ..................................................................... 415
Siglen und Abkürzungen ................................................................. 422
Literaturverzeichnis ......................................................................... 423
4
Einleitung
Theoretische Begründung und faktische Anerkennung von Bürgerrechten, Menschenrechten, demokratischen Partizipationsrechten in Aufklärung und Neuzeit dürfen als großartige
Leistung gewertet werden, die im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen oder technischen Errungenschaften jedoch weder auf der ganzen Welt anerkannt, noch
davor gefeit sind, durch religiösen oder weltanschaulichen Fanatismus wieder in Frage gestellt zu werden. Technischer Fortschritt in Verbindung mit einem breiten Konsens über Moralvorstellungen ermöglichte in vielen Industrieländern jahrzehntelang Wohlstand und Befriedung. Dieser Konsens gerät in jüngerer Zeit mehrfach in Gefahr: Die Globalisierung bewirkt
einen starken Zuwachs an Unternehmenskonzentration, deren Folgen von einzelnen Nationalstaaten kaum mehr beherrscht werden können. Die Zunahme der Weltbevölkerung und der
wirtschaftliche Aufstieg ehemaliger bevölkerungsreicher Entwicklungsländer wie China, Indien, Brasilien haben zusammen mit der Verschwendung natürlicher Ressourcen in klassischen Industrieländern Klimaveränderungen verursacht, die zu einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen aller Menschen führen. Konflikte wegen der drohenden Klimakatastrophe dürften sich durch Erschöpfung fossiler Brennstoffe und Trinkwasserknappheit
in absehbarer Zukunft noch verschärfen. Diesen neuen globalen Herausforderungen scheint
die vorherrschend nationalstaatlich organisierte Politik und die sie tragende Staatstheorie immer weniger gewachsen.
Eine von sachkundigen Beobachtern diagnostizierte aktuelle Krise in der Moralphilosophie
scheint zum guten Teil darauf rückführbar, dass die lange Zeit relativ isoliert wirkenden moralphilosophischen Strömungen in Kontinentaleuropa, England und Amerika in den letzten
Jahrzehnten vermehrt um die Meinungsführerschaft streiten. Bezeichnenderweise scheint die
Moralphilosophie selbst einen - allerdings auf die westlichen Industrieländer beschränkten Prozess der Globalisierung zu durchlaufen. Viele Probleme, die in den verschiedenen Lagern
selbst kaum thematisiert oder umgangen wurden, drängen nun vehement in den Vordergrund.
Dadurch hervorgerufene Turbulenzen in der Moralphilosophie treten zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ein - in dem die Welt wegen der durch den Globalisierungsprozess hervorgerufenen massiven Probleme wie Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Verteilungskämpfe um
Rohstoffe, religiös, politisch und wirtschaftlich motivierte Konflikte (gesicherte) moraltheoretische Orientierung eigentlich dringender bräuchte, als jemals zuvor.
Wohl niemand wird die epochalen Leistungen der klassischen neuzeitlichen Moralphilosophie deshalb kritisieren, weil sie auf schwächerem moraltheoretischen Problembewusstsein
errichtet sind, als es uns heutzutage zur Verfügung steht. Kein Mensch würde auch Newton
einen Vorwurf machen, dass seine Einsichten auf die (klassische) Mechanik beschränkt sind
und nicht im Mikrokosmos gelten. Gleichwohl wären die Nachteile durch einen Stillstand
naturwissenschaftlicher Forschung wesentlich geringer, als der Schaden aufgrund von Resignation bei der Entwicklung und Etablierung moralischer Normen, denn wir kommen nicht
umhin, unser Leben auf dieser Erde gemeinsam zu meistern. Wenn wir ohne global wirksame
Normen handeln, setzt sich trivialerweise - ähnlich wie im Tierreich - einfach der Mächtigere,
Stärkere, Klügere durch. Der wirtschaftliche Globalisierungsprozess gibt bis heute ein dementsprechend düsteres Bild ab: Soziale Werte wie Menschlichkeit und Solidarität bleiben auf
der Strecke, die Natur wird rücksichtslos ausgebeutet, die Umwelt ohne Verantwortung für
irreversible Folgen verschmutzt. Die Gier nach immer mehr - mehr Macht, mehr Wachstum,
mehr Profit - global agierender Wirtschaftsunternehmen scheint zum Motor und Schrittmacher der Menschheitsentwicklung geworden zu sein. Die nationalstaatlich und auch international organisierte Politik begleitet diese Entwicklung bislang eher hilflos oder leistet (im Interesse von Arbeitsplätzen) sogar Schützenhilfe.
Moraltheorie droht immer mehr an den Rändern auszufransen, weil ihr das Zentrum fehlt,
ein von breitem Konsens getragener Kern an Grundpositionen. Daraus entstehendes öffentli5
ches Desinteresse an moralischen Themen scheinen Philosophen zunehmend durch Extrempositionen kompensieren zu wollen, die ihnen wenigstens vorübergehend die Aufmerksamkeit
im Feuilleton der überregionalen Presse sichert. Offenbar fördert der moderne Wissenschaftsbetrieb eher neue fragile, aber spektakuläre Überlegungen, als eine Absicherung bereits gewonnener Einsichten. Allerdings erzeugen die mit der Globalisierung verstärkten theoretischen und faktischen politischen Probleme einen wachsenden Einigungsdruck, der größer sein
dürfte als je zuvor, denn wer braucht schon eine Wissenschaft, die sich mehr mit sich selbst,
als mit allem anderen beschäftigt, deren allgemeiner gesellschaftlicher Nutzen völlig fragwürdig erscheint? Um so mehr erfordert die um Konsens und Wirksamkeit philosophischer
Moraltheorie bemühte Arbeit angesichts der aktuellen globalen Herausforderung größte Anstrengungen.
Wenn Moralphilosophie nicht in Ideologie münden soll - wie nach Meinung manch unbedarfter Beobachter bereits geschehen - dann müssen ihre normativen Forderungen kulturunabhängig intersubjektiv begründbar sein und dürfen nicht auf pessimistischen oder idealistischen Annahmen über den Gang der Welt oder die Bestimmung des Menschen gründen. Wir
sind aufgerufen zu einem Kern von Moral vorzustoßen, der von Moralwissenschaftlern und
allen anderen Menschen - nicht nur in westlichen Industrieländern oder sogar nur Kontinentaleuropäern, Briten oder Amerikanern akzeptiert werden kann. Durch die globalen Probleme
steht die Philosophie erneut vor der großen Herausforderung, die moralischen Grundlagen für
eine Politik zu schaffen, die es jedem Menschen erlaubt, ein selbstbestimmtes aussichtsreiches
Leben zu führen. Es scheint deshalb an der Zeit, einen globalen normativen Konsens voranzutreiben, der zunächst einmal die Konsensbildung innerhalb der Moralwissenschaft selbst hinsichtlich wenigstens elementarer normativer Bewertungs- und Anwendungsfragen voraussetzt. Möglicherweise kann die moralische Begründungsproblematik niemals abschließend
geklärt werden, was aber nicht dazu führen darf, solche Anstrengungen einfach aufzugeben.
Moralphilosophie muss deutlich mehr Verantwortung in dieser Welt übernehmen, wenn nicht
die an nationalstaatlichen Interessen ausgerichtete Politik, religiöser und weltanschaulicher
Extremismus oder wirtschaftliches Profitdenken obsiegen sollen.
Auch allergrößte Skeptiker werden nicht glaubhaft darlegen können, dass wir ohne verbindliche Moralvorschriften besser leben, als mit verbindlichen Moralvorschriften - selbst
wenn sie nicht lückenlos, sondern vielleicht nur stückweise begründbar sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass es der Moralwissenschaft dennoch möglich ist, tragfähigere Normen als
Politik, Religion oder Wirtschaft allein schon deshalb aufzustellen, weil ihr jegliches eigene
machtpolitische Interesse fehlt. Dementsprechend verpflichten moralwissenschaftlicher Normen selbst dann, wenn sie zwar nicht in einem endgültigen Sinne bewiesen, aber immerhin
plausibler als andere Normen darlegbar sind. Mein Ansatz beinhaltet im Gegensatz zu manch
klassischen Entwürfen keinen Wahrheitsanspruch, sondern lediglich einen temporär begrenzten, aber territorial unbeschränkten Intersubjektivitätsanspruch. Den Ausschlag gibt immer
nur das bessere, das zur Zeit beste Argument und nicht die Erfüllung eines wie auch immer
gearteten Wahrheitsanspruchs. Ich begründe lediglich einen moralischen Mindeststandard als
Basismoral, den jeder Mensch, jede Gesellschaft und jede Kultur erweitern und zu einer Maximalmoral ausbauen mag, der also hinsichtlich weiterer anspruchsvollerer Entwicklungsstufen völlig offen bleibt, ergänzt und perfektioniert werden kann. Idealerweise gestalten sich
Moraltheorie und faktisch gelebte Moral auf diesem Weg im Verlauf der Zeit immer anspruchsvoller. Wir sollten nicht erst dann anfangen, global verbindliche moralische Normen
zu entwickeln, wenn wir einen völlig unangreifbaren Begründungsansatz gefunden haben,
denn dann mag es aufgrund der dramatischen Veränderungen in unserer Welt zu spät sein.
Meine Absicht liegt nicht darin, mit spektakulären neuen Einsichten zu glänzen, sondern
ich möchte aus Theoriestücken bereits vorhandenen, inzwischen klassischen Wissens einen
systematischen moralwissenschaftlichen Grundkonsens schaffen, auf dessen Basis nicht nur
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den aktuellen globalen moralischen Herausforderungen begegnet werden kann, sondern der
auch Schnittstellen für die Anbindung evolutionsbiologischer, neurologischer, psychologischer oder soziologischer Forschung bietet. Gegenstand aller Bemühungen ist ein konstruktivistischer Ansatz, der alle wichtigen Grundfragen - angefangen von der abstrakten moralischen Erkenntnisproblematik über die moralische Begründungsproblematik bis hin zur konkreten politisch-praktischen Anwendungsproblematik - in einen systematisch geordneten,
relativ leicht überschaubaren kontraktualistischen Argumentationszusammenhang bringt und
deshalb weitestgehenden wissenschaftlichen und letztendlich auch politischen Konsens in
Aussicht stellt. Zielgebend sollen nicht in sich abgeschlossene Moralvorstellungen, sondern
lediglich Anregungen für die systematische Entwicklung eines breiten moralischen Grundkonsenses in Wissenschaft und Gesellschaft sein. Markante Vorteile des kontraktualistischen
Ansatzes liegen in seiner für empiristische und rationalistische Vorgehensweisen offen Struktur und seiner relativ leichten, nicht nur (abstrakt) wissenschaftlichen Entfaltbarkeit, sondern
auch seiner (politisch-praktischen) gesamtgesellschaftlichen Konkretisierbarkeit.
Weil die Begründungsfrage trotz mehrerer neuerer Versuche im 20 Jhd. noch ungelöst geblieben ist, will ich zu den Ursprüngen des Streits in der Neuzeit - Kant und Hume - zurückgehen, um zu prüfen, welcher Ansatz nicht nur, aber ganz besonders in der Begründungsfrage
überzeugendere Ergebnisse liefert. Die Ausgangs-, Durchführungs- und Anwendungsprobleme eines empiristisch fundierten emotivistischen Ansatzes und einer rationalistisch verankerten vernunftbasierten Morallehre, wie sie Hume und Kant gleichermaßen als Archetypen angelegt haben, finden sich (explizit oder unausgesprochen) in vielen aktuellen Arbeiten bis hin
zur Realismusdebatte und sogar jüngsten Erklärungen der UN wieder. Angesichts des weiter
schwelenden Konflikts zwischen Hume und Kant überrascht nicht, dass zahlreiche Autoren
der Gegenwart - wie Rawls, Habermas, Korsgaard, aber auch Forst einerseits oder Williams,
Gosepath, Singer andererseits - immer noch versuchen, bislang unbewältigte systematische
moralphilosophische Probleme anhand der Lösungsmuster ihrer übergroßen Vorgänger aufzuklären. Mir will es scheinen, dass sich deren Disput gerade in der gegenwärtigen Diskussion keineswegs entkräftet oder gar erledigt, sondern zwischen Anhängern beider Lager im Gegenteil noch verschärft hat. Ohne eine substanzielle Überwindung dieser Kontroverse kann es
nach meiner Einschätzung keinen moralwissenschaftlichen Grundkonsens und damit keine
Globalmoral geben. Vorliegende Arbeit versucht deshalb zunächst die beiden Hauptströmungen neuzeitlicher normativer (inzwischen klassischer) Moraltheorie, nämlich den moralischen
Empirismus und den moralischen Rationalismus anhand ihrer Originale - nämlich Hume und
Kant - als im Grunde kompatibel auszuweisen, obwohl beide auf den ersten Blick in fast jederlei denkbaren Hinsicht inkompatibel wirken. Wenn moralische Prinzipien von verschiedenen moraltheoretischen Standpunkten aus rechtfertigbar sind, spricht einiges dafür, dass sie
nicht von besonderen weltanschaulichen Grundvoraussetzungen abhängen und dadurch würden die Erfolgsaussichten ihrer intersubjektiven Geltung ganz erheblich steigen.
Die Literatur zu vielen hier angesprochenen Themenbereichen lässt sich kaum noch überblicken. Dennoch sollen wichtige kontroverse systematische Standpunkte ausführlicher diskutiert werden. Allerdings kann dies naturgemäß nicht immer in der wünschenswerten Tiefe,
sondern nur bis zu dem Punkt geschehen, wo sich schwerwiegende Einwände gegen diese
Position ergeben. Wenn sich zeigt, dass ein Problem prinzipiell nicht auf einem bestimmten
Weg lösbar ist, werde ich diesen Weg verlassen und nicht alle mit diesem Lösungsweg darüber hinausgehenden Detailprobleme verfolgen. Meine Ausführungen dürften für Philologen
enttäuschend, für zukunftsgerichtete, problemorientierte Moralphilosophen jedoch ermutigend
sein. Ich habe nicht den Ehrgeiz, mit ausgewiesenen Hume-Interpreten oder Kant-Experten zu
konkurrieren, denn es soll nur darum gehen, die spezifischen systembedingten Stärken und
Schwächen beider Ansätze durch ihre direkte Gegenüberstellung freizulegen. Kant-Forscher
und Hume-Kenner werden vermutlich nichts wesentlich neues über ihr eigenes Wissensgebiet
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erfahren, wohl aber den jeweils anderen Standpunkt zumindest in seinen Grundzügen besser
nachvollziehen können.
Meine Auseinandersetzung mit der Humeschen und Kantischen Moraltheorie beruht auf
einem systematischen Standpunkt, der für die Realisierung einer Globalmoral am ehesten geeignet scheint. Harmonisierende textnahe Interpretationen beider Lehren, die sich für mein
Anliegen nicht gerade aufdrängen, gibt es wohl bereits in genügender Anzahl.1 Ich werde
Humes Überlegungen besonders aus Kantischer Sicht und Kant vornehmlich aus Humescher
Perspektive interpretieren. Die gewählte Vorgehensweise dürfte in beiden Fällen helfen, systembedingte Stärken und Schwächen aufzudecken. Im Mittelpunkt steht das Anliegen den
Hintergrund aufzuhellen, vor dem Humes und Kants Moraltheorien zwangsläufig an ihre
Grenzen geraten und damit eine systematische Fortentwicklung der moraltheoretischen Auseinandersetzung behindern. Meine Vorgehensweise legt sich auf Vereinfachung und Verkürzung fest, um alle wesentlichen moralischen Dimensionen (wieder) zusammen in den Fokus
zu bekommen und Gräben zu überwinden, nicht zu vertiefen. Es geht vornehmlich darum,
einen größeren systematischen moralphilosophischen Rahmen aufzuzeigen, von dem aus Spezialprobleme besser eingeordnet und abgearbeitet werden können.
Ich werde nur dann Kritik an abstrakten Theoriestücken oder konkreten gesellschaftlichen
Verhältnissen üben, wenn ich mich auch in der Lage sehe, einen wohlbegründeten Verbesserungsvorschlag zu machen, denn wir brauchen verbindliche moralische Normen in Theorie
und Praxis, wenn wir nicht planlos, blind und damit verantwortungslos handeln wollen. Kein
Autofahrer wird auf den Gebrauch seiner Bremsen während der Fahrt nur deshalb verzichten,
weil sie nicht (mehr) perfekt funktionieren und kein verständiger Politiker Grund- oder Menschenrechte deshalb abschaffen wollen, weil sie nicht in jedem konkreten Einzelfall wirksam
sind oder zu einem gerechten Ergebnis führen. Damit wird allen relativistischen (und partikularistischen) Moralpositionen eine Absage erteilt, die nicht imstande sind, den globalen Herausforderungen durch intersubjektiv begründbare Moralvorschriften zu begegnen. Divergierende Moralvorstellungen unterschiedlicher Kulturen in der Vergangenheit sprechen keinesfalls dagegen, künftig gemeinsame Moralvorstellungen zur Bewältigung der vor uns liegenden
globalen Aufgaben zu entwickeln.
Selbsterhaltungsinteresse und Egoismus dürfen sicher als die stärksten im Menschen wirkenden Handlungsmotive gelten, denn sie dominieren bei allen Menschen - gleich welcher
Herkunft, Abstammung, Religion und Weltanschauung - sogar dann noch, wenn ihre Grundbedürfnisse längst befriedigt sind. Falls es gelänge, Moral auf Selbsterhaltungsinteresse und
Egoismus zu gründen oder wenigstens miteinander zu versöhnen, wären allerbeste Voraussetzungen für die Etablierung einer Globalmoral geschaffen, denn auch wenn Egoismus nicht in
allen Menschen gleich stark ausgeprägt ist, so wird doch eine am Egoismus orientierte Moral
erst recht dann tragen, wenn es Menschen gibt, die weniger egoistisch eingestellt sind. Die
Vorstellung, Moral auf Egoismus zu gründen, mag zunächst kurios erscheinen, da sich Egoismus und Moral nach gängigen moralischen Alltagsvorstellungen ausschließen, aber ich
werde zeigen, dass sich dieser vordergründige Widerspruch durch das in aller Menschen Interesse liegende Kooperationserfordernis auflösen und sich auf diese Weise eine ebenso einfache wie praktikable Globalmoral begründen lässt. Von einer Moraltheorie mit globalem Anspruch müssen wir verlangen, dass Begründung und Anwendung ihrer Normen relativ einfach
ausfallen, damit sie bei jedem (erwachsenen) Menschen Verständnis und Akzeptanz auslösen,
weil davon die Erfolgschancen des gesamten Unternehmens abhängen. Insofern ergibt sich
die Herausforderung, eine solche Globalmoral zu entwickeln, die einerseits genügend wissenschaftlich abgesichert und andererseits hinreichend leicht verständlich wie anwendbar ist, die
1
Aus der mittlerweile unüberschaubaren Literatur zu Humes und Kants Moraltheorien greife ich in
erster Linie auf Cohons wohlwollende Hume-Interpretation und Schöneckers elaborierte Kant-Exegese
zurück, weil sie mir insgesamt das plausibelste Selbstbild ihrer Lehren zu bieten scheinen.
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von allen Menschen - ganz gleich welcher Herkunft, Abstammung, Weltanschauung, welchen
Glaubens, Geschlechts oder Alters - ohne besondere (wissenschaftliche) Ausbildung praktiziert werden kann.
Angesichts der durch die Globalisierung hervorgerufenen Verwerfungen scheint es zur
Bewältigung wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, ethnischer und umweltbezogener Konflikte
nicht mehr auszureichen, Interessengegensätze und Konflikte nur mehr traditionell auf einer
juridisch dominierten Ebene (von Zwangsvorschriften) auszutragen, sondern darüber hinaus
erforderlich, auf ethischer Ebene Verhaltensvorschriften zu positivieren, die rechtliche Regelungen ergänzen. Der Moralwissenschaft erwächst hierdurch die Aufgabe, die Einheit universal gültigen Rechts und universal verpflichtender Ethik auf globaler, nationalstaatlicher und
regionaler Ebene prinzipienorientiert zu begründen und zu bewahren, Interessengegensätze zu
moderieren und schlichten zu helfen. Positiviert und durchgesetzt werden kann die geforderte
Globalmoral mit intersubjektivem Geltungsanspruch wohl weniger allein von traditionellen
nationalstaatlichen Regierungen, als vielmehr mit einer Weltregierung, für deren Errichtung
sie ebenfalls die moraltheoretischen Grundlagen entwickeln muss. Denn eine Weltregierung
wird ihre Funktion als befriedende und ausgleichende supranationale Institution nur dann erfolgversprechend erfüllen, wenn ihre Entstehung und Entscheidungsfindung auf Prinzipien
gründet, die von jedem Menschen befürwortbar sind.
Die Anforderungen einer Globalmoral nach möglichst klaren, einfachen und verständlichen Begründungswegen, einer Verwendung für möglichst zahlreiche Aspekte moralischen
Handelns (Motiv, Handlung, Konsequenzen) und Eignung auf möglichst allen moralischen
Abstraktionsebenen (Prinzip, Norm, Einzelhandlung) führen mich zu einer lange vernachlässigten Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und allgemeiner Akzeptanz
von Moralvorstellungen. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat es enorme Anstrengungen
gegeben, das moralwissenschaftliche Instrumentarium in jeder nur denkbaren Hinsicht zu
verfeinern und zu erweitern. Diese Anstrengungen führten zu einer Aufsplitterung moraltheoretischen Wissens, das kaum noch überschaut werden kann. Dabei ging der Blick für die aktuellen, brennenden Probleme des Menschen allerdings etwas verloren. Deshalb hat die globale Umweltzerstörung, die drohende Klimakatastrophe, Überbevölkerung, Wasserknappheit
die moralwissenschaftliche Diskussion völlig unvorbereitet getroffen. Die Unterscheidung
zweier Dimensionen von Moral, nämlich (theoretische) Wissenssuche einerseits und (praktische) Entscheidungsfindung andererseits sollten hier Linderung schaffen. Diese Trennung ist
etwa bei den Juristen schon lange üblich und verhilft der Jurisprudenz einerseits ihre wissenschaftlichen Grundlagen zu erweitern und noch zu vertiefen, ohne ihre aktuellen anstehenden
Aufgaben (die Rechtsprechung) zu vernachlässigen.
Mein Plädoyer für mehr Akzeptanzvermittlung in der Moralphilosophie darf nicht als Appell missverstanden werden, die weiterhin unentbehrliche Suche nach Einsicht in der Moral
auszusetzen oder auch nur abzuschwächen, sondern die unterschiedlichen Dimensionen beider Anstrengungsrichtungen schärfer herauszuarbeiten. Natürlich wirkt eine insgesamt überzeugende Moraltheorie ohne allgemeine Akzeptanz ebenso unbefriedigend, wie eine allgemein akzeptierte Moral ohne wissenschaftlichen Wert. Gerade eine Globalmoral erfordert ein
ausgewogenes Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit. Wegen der gewaltigen anstehenden
globalen Probleme brauchen wir einerseits inhaltliche und systematische Wissenssuche in der
Moral, aber andererseits auch viel größere Anstrengungen zur Erhöhung der weltweiten Akzeptanz moralischer Normen. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt eindeutig bei der Akzeptanzvermittlung, mein erklärtes Ziel besteht darin, durch eine konsensorientierte kontraktualistische Position zu einer breiten Übereinstimmung über grundlegende global wirksame Moralvorstellungen innerhalb und außerhalb der moralwissenschaftlichen Diskussion zu gelangen. Wenn diese Entwicklung von moralwissenschaftlicher Seite nicht mit großer Anstren-
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gung vorangetrieben wird, bleibt Moral als Wissenschaft mit globalem Anspruch (weitgehend) wirkungslos, der Moralphilosoph nur Zuschauer und niemals Akteur.
Gegenwärtig drängt sich oft der Eindruck auf, der Abstraktionsgrad und Komplexitätsgrad
einer Theorie sei in der moralwissenschaftlichen Diskussion Gradmesser für Qualität in dem
Sinne, dass eine diversifiziertere Theorie in jedem Fall einer einfacheren vorzuziehen sei.
Wenn diese Einschätzung schon für die Theorieebene zumindest fragwürdig scheint, so dürfte
sie mit einiger Sicherheit auf der um Akzeptanz bei der Weltbevölkerung bemühten Anwendungsebene falsch sein. Die Humesche und Kantische Moraltheorie wird von mir deshalb
unter zwei maßgeblichen Gesichtspunkten untersucht, nämlich erstens, welche elementaren,
erhaltenswerten Einsichten sie beinhalten und zweitens, ob der dafür erbrachte Begründungsaufwand angemessen wirkt oder gesenkt werden kann. Eine Analyse und Optimierung Humescher und Kantischer Moraltheorie gegen die allgemeine Tendenz zu wachsender Diversifizierung steht zwangsläufig unter dem Verdacht unerwünschter Individualisierung, aber dieses
Risiko nehme ich wegen der zu erwartenden Vorteile gerne in Kauf. Anders als der vorherrschende wissenschaftlichen Trend möchte ich Komplexität reduzieren, um die wesentlichen
Probleme (wieder) in den Blick zu bekommen und eine (praktikable) Globalmoral entwickeln
zu können. Viele moraltheoretische Konflikte (wie die Auseinandersetzung zwischen Empirismus und Rationalismus oder Hedonismus und Idealismus) liegen so sehr an der Oberfläche
und im Grundsätzlichen, dass es wenig geboten scheint, erst daraus resultierende nachgeordnete Spezialprobleme näherhin zu beleuchten. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mir
von einer konsensorientierten kontraktualistischen Moralkonstitution im Hinblick auf eben
diese beiden Gesichtspunkte (Substanz und Einfachheit) entscheidende Vorteile verspreche.
Dabei wird sich zeigen müssen, ob Theorieteile aus unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen, wie sie mit den Moraltheorien Humes und Kants unterschiedlicher kaum
vorliegen können, tatsächlich überzeugend in einen neuen weiteren moralwissenschaftlichen
Argumentationszusammenhang transformierbar sind, ohne an Überzeugungskraft einzubüßen,
sondern bestenfalls noch zu gewinnen. Ziel aller Bemühungen bleibt eine Vereinfachung ohne
Qualitätsminderung (vor allem natürlich in zentralen Fragen), die einfachste Begründung für
die stärksten moralischen Argumente zu finden. Das gelingt wohl am ehesten dann, wenn
Moral auf Selbsterhaltungsinteresse und Egoismus zurückgeführt, wenn demonstriert werden
kann, dass Moral den prudentiellen und vernunftbasierten Lebenshorizont aller Menschen
entscheidend bereichert.
Die weitgehend ungebrochene Aktualität des Kantischen und Humeschen Ansatzes mag
trotz ihrer aktuellen Varianten und Variationen daran liegen, dass Moraltheorie nach Meinung
mancher Beobachter seitdem gar keine substanziellen Fortschritte mehr, wohl aber zahllose
Rückschritte gemacht hat, dass fundamentale Weiterentwicklungen vielleicht gar nicht mehr
möglich sind. Im ersten Kapitel werde ich mich bemühen, vor allem die (methodisch bedingten) Grenzen des Humeschen Empirismus und des Kantischen Rationalismus aufzuzeigen.
Mein Anliegen besteht von Humeschen und Kantischen Positionen ausgehend im Nachweis
der Kompatibilität beider Moraltheorien, die aus der Beobachtung über moralisches Verhalten
entstandene Theorie (Hume) und das aus der Reflektion über die Geltung von Moralität entstandene Modell (Kant) in eine plausible Kongruenz zu führen. Ich möchte entgegen landläufiger Meinung zeigen, dass nur aus ihrer Verbindung eine tragfähige Globalmoral entstehen
kann, dass sich empiristische gefühlsbasierte Rationalität in Humescher Manier und rationalistische vernunftorientierte Rationalität in Kantischer Tradition keineswegs ausschließen,
sondern genetisch als verschiedene moralische Entwicklungsstufen verstehen lassen. Deshalb
sehe ich meine Aufgabe weniger darin, eine verbesserte sensualistische oder eine optimierte
rationalistische Moraltheorie anzubieten, als vielmehr darin, deren Schwachstellen und standpunktbezogenen Vorzüge hervorzuheben, letztendlich mit dem Ziel ihrer Einbindung in einen
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erneuerten kontraktualistischen moraltheoretischen Ansatz, der zweifellos vorhandene Verdienste beider Lager respektiert, aber auch eine Bewältigung der vor uns liegenden riesigen
globalen Probleme aussichtsreich erscheinen lässt.
Von der Intention einer Überwindung Humescher und Kantischer Kontroversen geleitet
versuche ich im zweiten Kapitel eine transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen
und zeige, dass nur die Vermeidung von einseitigem Empirismus und eindimensionalen Rationalismus durch die Verbindung von Erfahrung und Vernunft belastbare Erfolgsaussichten
mit Blick auf die Begründungsfrage bietet. Die von Kant zwar mehrfach angekündigte, aber
nie wirklich durchgeführte transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen könnte
wesentliche Ergebnisse des ersten Kapitels bestätigen. Der globale Anspruch meines Ansatzes
erlaubt es nicht, bei einem Diskurs stehen zu bleiben, der auf bloßer Intuition oder Plausibilität beruht, der Geltung nur in einem speziellen Kulturkreis verspricht und Wirkung nur in
begrenzten Weltregionen erhofft, sondern erfordert eine Argumentation, die bis zu den (derzeit) letztmöglichen intersubjektiven Gründen zurückgeht. Naheliegend beschränken sich
meine Ausführungen auf systematische und nicht literaturhistorische Probleme - im Vergleich
von Humescher und Kantischer Moraltheorie geht es um die Gegenüberstellung systematisch
signifikanter und typischer moralischer Positionen und weniger darum, inwiefern Kants Moraltheorie (ebenso wie seine Erkenntnistheorie) als (mehr oder weniger gelungener) Profilierungsversuch gegen Hume gewertet werden kann (obgleich diese Frage sicher auch ihren speziellen Reiz hat). Entscheidend soll hier nicht eine möglichst textnahe kritische Interpretation
der klassischen Vorbilder - schon gar nicht in Manier analytischer Philosophie - sondern eine
systematische Weiterentwicklung ihrer Positionen sein.
Im dritten Kapitel wird auf Grundlage einer transzendentalen Analyse unserer Moralvorstellungen ein konstruktivistisches System kontraktualistisch begründeter Moralvorstellungen
dargelegt, bei dem ich nicht auf einem verstandesbasierten (Hobbes, Locke) und auch nicht
einem vernunftbasierten Standpunkt (Kant, Rawls, Habermas) verharre, sondern eine mehrstufige gefühlsfundierte, verstandesbasierte und vernunftorientierte Synthese biete, der elementare Voraussetzungen für einen moralischen normativen Minimalkonsens erfüllt. Vom
gewünschten global relevanten Ergebnis her zielführend scheint allein eine Moraltheorie, die
der Entstehung unseres Moralverständnisses im Alltag folgend relativ geringe Ansprüche an
die Motivationsstruktur und das moralische Einsichtsvermögen des Durchschnittsmenschen
stellt und sich vor allem den Belastungen der moralischen Praxis in einer von gewaltigen Interessengegensätzen und dadurch schier unüberwindlichen Problemlagen geprägten globalisierenden Welt durch Klarheit, Einfachheit und Überzeugungskraft ihrer Regeln gewachsen
zeigt. Dieser ganz pragmatischen Anforderung nach weitestgehend möglicher Akzeptanz bei
allen Menschen dürften kontraktualistische Moralvorstellungen am ehesten deshalb entsprechen, weil jeder Mensch zu nicht mehr, aber auch nicht weniger verpflichtet werden darf, als
sich andere Menschen auch ihm gegenüber verpflichten.
Für die vorzuführende Standpunktentwicklung eines moralischen Skeptikers vom prudentiell orientierten moralischen Egoisten (in Humescher Tradition) zum überzeugten vernunftorientierten moralischen Universalisten (in Kantischer Manier) scheint mir das hier entwickelte mehrstufige kontraktualistische Argumentationsmodell bestens geeignet, weil es die verschiedenen möglichen Abstraktionsstufen, die unserer Moralvorstellungen durchlaufen, am
besten rekonstruiert. Dementsprechend werde ich die philosophische Kunstfigur des moralischen Egoisten von mittelalterlich anmutenden Vorstellungen seiner Lebensumstände wie sie
im traditionellen Naturrechtsdenken noch vorgeherrscht haben befreien und sie in die Gegenwart unserer extrem arbeitsteiligen Informationsgesellschaft transformieren, deren Erfolg dem
Einzelnen auch in moralischer Hinsicht durch vielfältigste Kooperationserfordernisse deutlich
mehr abverlangt, als nur das schlichte Interesse an der Sicherung seines Lebens und Besitzes.
Insofern könnte der hier gezeichnete rationale Egoist unser aller Nachbar sein, der im eigenen
Interesse nach universellen Verhaltensregeln sucht, die allen Menschen weitestgehend mögli11
chen Erfolg in der Realisierung individueller Lebenspläne unter den Bedingungen moderner,
global vernetzter arbeitsteiliger Gesellschaften bieten.
Aus diesen kontraktualistischen Überlegungen gewonnene Moralkriterien bilden im vierten
Kapitel schließlich die Grundlage für eine Entwicklung globaler Moralvorstellungen, die in
der normativ begründeten Forderung nach einer Weltregierung münden. Die gewaltigen vor
uns liegenden Aufgaben scheinen nur mit Hilfe eines Weltstaates und einer Weltregierung
lösbar, die natürlich auch eine Weltverfassung benötigen. Diese Weltverfassung darf sich
nicht mehr nur wie bisher auf die Kodifizierung rechtlicher Normen beschränken, deren Auslegung philosophisch geschulten Juristen obliegen sollte, sondern muss mit ethischen Normen
auch allgemein verbindliche Handlungsziele vorschreiben, für deren Interpretation sich in
juristischem Denken geschulte Moralwissenschaftler anbieten. Die hier entwickelten kontraktualistischen Moralvorstellungen könnten den Grundstock für einen eng umgrenzten, kontraktualistisch angelegten moraltheoretischen Konsens bilden, aus dem sich allmählich eine gefestigte herrschende philosophische Lehrmeinung in normativen moralischen Kernfragen entwickelt, die im Alltag auf globaler Ebene den Weg zu längst überfälligen tragfähigen moralkonformen Lebensbedingungen ebnet. Nur auf Basis eines solchen normativen moralwissenschaftlichen Standardmodells zur teleologischen und deontologischen Begründung moralischer Anforderungen für alle Menschen scheint mir die Herausbildung einer (glaubwürdigen)
moralischen Lehrmeinung ergebnisorientiert entwickelbar, die letztendlich auch eine Operationalisierung und Transformation in alle Weltregionen und Lebensumstände hinein sowie
eine allgemeine Justiziabilität moralischer Vorschriften durch Ethikgerichte ermöglicht, deren
Hauptaufgabe darin liegen dürfte, subjektive Handlungseinstellungen über positives Recht
hinaus anhand intersubjektiver Handlungskriterien zu überprüfen und damit die Einheit von
Recht und Ethik in der Moral faktisch abzusichern.
12
1. Hume und Kant
Humes moraltheoretischer Beitrag scheint mir zumindest aus kontinentaleuropäischer Sicht
(gegenüber Kant) immer noch deutlich unterbewertet. Während Hume als richtungsweisender
skeptischer Kreativer in der Erkenntnistheorie weitaus mehr als nur Stichwortgeber für Kant
wird, dabei aber oft der Spontanität seiner genialen Eingebungen ohne konsequenten systematischen Bezug folgt, liegen Kants Stärken natürlich in seiner überragenden systembildenden
Fähigkeit, der Beharrlichkeit, philosophische Probleme mit großer Akribie anzupacken und
systematisch fundierte Positionen abzuarbeiten. Einen ähnlich starken Einfluss hat in meinen
Augen auch Humes Moraltheorie auf Kant ausgeübt, was von seinen Interpreten (noch) viel
zu oft übersehen wird, wodurch bestimmte Eigenheiten der Kantischen Morallehre weitgehend unverstanden bleiben. Bemerkenswerterweise hilft nicht nur die streng systematisch
ausgerichtete Kantischen Moralphilosophie, den oft unübersichtlichen Gang der Humeschen
Argumentation zu ordnen und ihre Stärken wie Schwächen zu verstehen, sondern umgekehrt
auch die Humesche Moraltheorie, Anlage und Grenzen der Kantischen besser einzuordnen.
Eine Gegenüberstellung der Morallehren dieser beiden Giganten der Philosophiegeschichte
verspricht somit nicht nur philologischen, sondern vor allem (den hier vorrangig angestrebten)
systematischen Gewinn.
Hume wird durch seine Überzeugung, der Mensch solle (anhand der Untersuchung seiner
kognitiven Leistungen) am Anfang aller wissenschaftlichen Bemühungen stehen, zum Vertreter der modernen subjektsabhängigen Philosophie und bereitet damit Kants transzendentaler
Methodik in seiner Erkenntnistheorie den Weg. Mit seiner Einschätzung, dass Kausalität auf
der Subjektsseite entsteht und nicht etwa auf der Objektseite, nimmt Hume einen zentralen,
wenn nicht sogar den zentralen Gesichtspunkt der KrV vorweg, auch wenn er freilich übersieht, dass Kausalität nicht nur psychologische, sondern auch logische Bedingung für Erfahrungs- und Erkenntnisbildung ist - wie Kant in seiner epochalen Erkenntniskritik überzeugend
darlegt und es im Ergebnis sogar von moderner naturwissenschaftlicher evolutionsbiologischer und neurowissenschaftlicher Seite bestätigt wird. Auch in der Moraltheorie steht das
Subjekt als Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Anstrengungen bei Kant und Hume im
Mittelpunkt. Kant und Hume können als Hauptvertreter der Aufklärung gelten, dem Versuch,
Natur und Moral unabhängig von christlichen Glaubensfragen durch Gefühl, Verstand und
Vernunft (rational) zu erklären. Während die Kirche im Mittelalter noch einen Alleinvertretungsanspruch bei der Beurteilung naturwissenschaftlicher und moralischer Fragen einforderte und auch mit Gewalt verteidigte, bestritten die Vertreter der Aufklärung diesen Anspruch
mit der Folge, dass der Einfluss der Kirche als (moralische) Autorität langsam aber stetig abnahm. Ohne vor allem Hume und Kant, aber auch zahlreiche weitere mutige Vertreter der
Aufklärung gäbe es womöglich heute noch Ablass, Inquisition, Hexenverbrennung und jenen
verhängnisvollen politischen Einfluss katholischer Kirchenvertreter, wie ihn islamische Geistliche gegenwärtig in etlichen muslimisch geprägten Ländern ausüben.
Obwohl Hume und Kant ganz unterschiedliche, zum Teil sogar widersprüchliche moralische Positionen vertreten, erweisen sich beide als große Humanisten, die jeweils auf ihre besondere Weise einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipation des Menschen im Zeitalter der
Aufklärung geleistet haben. Die Kantische und Humesche Moraltheorie können als richtungweisende Versuche gewertet werden, ein besseres Leben für alle Menschen nicht erst im Jenseits zu verwirklichen und sich damit ganz elementar von religiösen Moralvorstellungen in
einer Zeit abgrenzen, als die (christlichen) Kirchen noch wesentlich mehr Macht hatte, ihren
Gegnern zu schaden als heute, weshalb ihnen um so mehr aufklärerischer Verdienst gebührt.
Angeregt durch Fortschritte in den Naturwissenschaften, das Naturgeschehen rational zu erklären, entsprechen das Humesche und vor allem Kants Menschenbild dem Leitgedanken der
Aufklärung, dass jeder Mensch Verstand, Vernunft, Urteilsvermögen so weit entwickeln kann
und soll, dass er imstande ist, auch ohne die 'Anleitung' anderer Menschen - gemeint sind
13
wohl bevorzugt katholische Geistliche - nicht nur jederzeit ein eigenes fundiertes moralisches
Urteil abzugeben, sondern auch diesen Vorstellungen entsprechend zu leben, unbeirrt von
religiösen Bevormundungsversuchen. Beiden Theorietypen gemeinsam ist das Bemühen um
eine wissenschaftliche Bestimmung des Moralischen: Während Kant diesen Anspruch durch
die gesetzgebende Kraft reiner Vernunft einlösen will, verfolgt Hume das gleiche Ziel durch
Offenlegung seiner emotivistischer Grundlagen.
Der entscheidende moraltheoretisch relevante Fortschritt der Aufklärung gegenüber mittelalterlichen kirchlich bestimmten Doktrin liegt eben darin, dass Menschen nicht mehr nur von
einer metaphysisch-religiösen Außenperspektive aus als gleich (vor Gott) angesehen, sondern
auch von einer Binnenperspektive aus für gleichwertig erklärt werden. Niemand soll wegen
seiner Herkunft oder Abstammung mehr Rechte haben als andere Menschen. Gegenüber der
ständischen Gesellschaft des Mittelalters mit Leibeigenschaft bis in die frühe Neuzeit bedeutet
diese Forderung einen radikalen Traditionsbruch, der sich in der französischen Revolution
politisch wohl am schnellsten und eindrucksvollsten vollzog. Diese moralische Gleichheit
lässt sich im Sinne Humes eher hedonistisch damit begründen, dass sich alle Menschen hinsichtlich ihrer emotionalen Anlagen und ihres Strebens nach Wohlbefinden oder aber im idealistischen Sinne Kants, dass sich alle Menschen hinsichtlich ihres Vernunftvermögens jedenfalls nicht so weit voneinander unterscheiden, dass es moralisch gerechtfertigt wäre, unterschiedliche Rechte und Pflichten anzuerkennen. Beiden Moralauffassungen liegt eine Abstraktion vom wirklichen Menschen zugrunde, der hinsichtlich keiner genannten Eigenschaft
oder Fähigkeit tatsächlich exakt dem anderen gleicht.2 Allen hier erörterten Moralprinzipien dem Nutzenprinzip, dem Kategorischen Imperativ, dem Zustimmungsprinzip oder dem konsensorientierten kontraktualistischen Moralprinzip - liegt die Vorstellung moralischer Gleichheit aller Menschen bereits als eine moralische Forderung zugrunde, von der aus eine abstrakte (generalisierende) Beurteilungsperspektive erst möglich wird und sich darauf beziehende Moralprinzipien überhaupt erst sinnvoll anwenden lassen. Gleichheit bedeutet in diesem
Sinne erst einmal nur gleiche Verpflichtung zur Beachtung und Gleichbehandlung bei der
Anwendung des jeweiligen Moralprinzips, aber nicht Gleichheit hinsichtlich (überpositiver)
Grundrechte oder Grundpflichten, die bei Hume (und im Utilitarismus) gar nicht richtig thematisiert werden.3 Ein maßgeblicher, die moralische Qualität der verschiedenen Moralkriterien letztendlich entscheidender Gesichtspunkt wird sich darin erweisen müssen, inwieweit die
übereinstimmend geforderte moralische Gleichbehandlung auch unter schwierigen faktischen
politischen Bedingungen anhand des jeweiligen Moralprinzips und seiner Konkretisierungsbestimmungen jederzeit gewährleistbar erscheint.
Meine Hauptthese für das folgende Kapitel lautet, dass es Kant im Gegensatz zu seiner Erkenntniskritik nicht gelingt, Humes (skeptischen) Empirismus in einer Synthese von Empirismus und Rationalismus zu überwinden und er statt dessen nur bis zu einer rationalistischen
Gegenposition gelangt. In der Moraltheorie bleiben Empirismus und Rationalismus insofern
durch eine transzendental fundierte Analyse unserer Moralvorstellungen seitens Kant unversöhnt. Gleichwohl ziehen Hume und Kant mit ihrer empiristischen und rationalistischen
Grundhaltung nach meiner Auffassung an demselben theoretischen Strang - nur eben von
unterschiedlichen systematischen Enden aus (Genese und Geltung von Moral). In diesem Kapitel möchte ich erst einmal zeigen, inwiefern beide Enden dieses Stranges zusammenlaufen
und im darauffolgenden Kapitel über die transzendentalen Grundlagen der Moral, weshalb sie
letztendlich (notwendig) zusammengehören.
2
Nicht nur die Moralwissenschaft ist darauf angewiesen, den Untersuchungsgegenstand durch Beschränkung auf wesentliche Merkmale im Dienste effizienter Theoriebildung zu vereinfachen, sondern
auch alle anderen Geisteswissenschaften, die Jurisprudenz (Formulierung allgemeiner Gesetze) und
sogar die Naturwissenschaften, etwa die Biologie bei der Klassifizierung von Pflanzen und Lebewesen
(kein Gewächs und kein Tier gleicht exakt dem anderen).
3
Bentham hielt Menschenrechte bekanntlich für "Unsinn auf Stelzen".
14
Hume und Kant verfolgen im Grunde die gleiche Zielsetzung, nämlich Moral auf eine gesicherte wissenschaftliche Basis zu stellen, aber beide Ansätze unterscheiden sich in allen
wichtigen moraltheoretisch relevanten Aspekten nahezu diametral, nämlich hinsichtlich ihrer
Ausrichtung (Moralpsychologie und Moralphilosophie) ihrer Methodik (empiristisch und rationalistisch), ihrer weltanschaulichen Tendenz (hedonistisch und idealistisch), ihrer Anlage
(teleologisch und deontologisch) und schließlich ihres Abstraktionsgrades (psychologischpraxisorientiert und philosophisch-systemorientiert). Bemerkenswert erscheint weniger die
empiristische Haltung Humes oder die rationalistische Position Kants, als vielmehr die dezidiert anti-rationalistische Kritik Humes ebenso wie die explizit anti-empiristische Polemik
Kants. Diese ideologisch aufgeladenen Anfeindungen zu relativieren wird eine wichtige Voraussetzung zur Würdigung der spezifischen Humeschen und Kantischen moraltheoretischen
Leistungen und Grundlage ihrer Überwindung sein. Wegen der unbewältigten Kontroverse
zwischen Hume und Kant sind auch zahlreiche Auseinandersetzungen ihrer Interpreten, Epigonen, Erneuerer sachlich überzogen, letztendlich auf eine Lagermentalität reduzierbar, dazu
neigend, Schwächen eigener Theorie zu verharmlosen und gegnerischer Theorie zu dramatisieren, selbst geringe perspektivische Differenzen und Begründungstiefen als divergierende
Meinungen auszugeben und noch zu verschärfen, anstatt sie sorgfältig gegeneinander abzuwägen und deutlich abzumildern.
Durch Analyse der Stärken und Schwächen beider Standpunkte soll der Weg zum theoretischen und praktischen Konsens für die hier zu entwickelnde Globalmoral geebnet werden,
denn es erscheint wenig sinnvoll, einzelne Aspekte Humescher oder Kantischer Moraltheorie
(relativ unkritisch) zu übernehmen, ohne die zwischen beiden (bis heute) diskutierten grundlegenden Divergenzen anzupacken, die (immer noch) unaufgeklärte Rivalitäten zwischen
Kantischer oder Humescher Theorie in einen weiteren Ansatz hineinzutragen, dessen Ertrag
in dem Fall substanziell kaum weiter reichen könnte. Kant-Forscher und Hume-Interpreten
werden wahrscheinlich keine wesentlichen neuen Einsichten über jeweils ihren theorieprägenden Denker gewinnen, womöglich aber einzelne Theoriestücke in einem anderen systematischen Licht sehen. Konkret sollen in den folgenden drei Abschnitten anthropologische
Grundannahmen, Aufbau und schließlich Methodik Humescher und Kantischer Theorie analysiert werden, um daraus Gewinn für die später zu erörternde kontraktualistisch angelegte
Globalmoral zu ziehen. Des näheren geht es darum herauszufinden, welche nennenswerten
Vorzüge und Nachteile ein hedonistisches oder idealistisches Menschenbild, eine teleologische oder deontologische Normenausrichtung und eine empiristische oder rationalistische
moralwissenschaftliche Methodik bieten.
1.1 Hedonismus versus Idealismus
Kants Moraltheorie wirkt auf viele Beobachter bei weitem nicht so systematisch geschlossen wie seine Erkenntnistheorie. Dies mag vor allem daran liegen, dass erstere nicht als eigenständiger durchgehend transzendentalphilosophischer Entwurf gelten kann, wie letztere, sondern in weiten Teilen inhomogenes Stückwerk bleibt, das nur von einer ganz entscheidenden
durchgehenden Intention getrieben zu sein scheint, nämlich Humes empiristische Position in
die Schranken zu weisen. Die Kenntnis der wesentlichen Humeschen moraltheoretischen Positionen erleichtert deshalb das Verständnis der Kantischen Moraltheorie ungemein. Zahlreiche Einfälle Kants, viele unerwartete Wendungen erscheinen überhaupt nur vor dem Hintergrund der Humeschen Moraltheorie als Gegenmodell, zur Abgrenzung plausibel.
Zunächst geht es mir in den ersten Abschnitten nur darum, die Kantischen und Humeschen
Ausgangspositionen gegenüberzustellen und auf ihre Konsistenz hin zu untersuchen. Später
werden diese Probleme in einem erweiterten systematischen Rahmen behandelt. Humes und
Kants Ansatz bauen mit Empirismus und Rationalismus nicht nur auf scheinbar gegensätzlichen methodischen Konzeptionen auf, sondern beruhen auch noch auf anderen Vorannahmen
15
über Moral, die selbst nicht Gegenstand ihrer eigenen wissenschaftlichen Analyse sind und
separat begründet werden, deren Kenntnis aber erforderlich ist, um ihre Argumentation hinreichend nachzuvollziehen. Die angesprochenen spezifischen Vorannahmen scheinen ebenso
im Lager der Humeaner wie Kantianer mittlerweile so verinnerlicht, dass sie kaum (noch)
reflektiert, sondern immer nur vorausgesetzt werden, wodurch die Kluft zwischen Hume und
Kant unweigerlich nur vertieft werden kann. Deshalb wundert es nicht, dass eine der wichtigsten inhaltlichen Vorannahmen der Humeschen und Kantischen Moraltheorie ihr jeweiliges
Menschenbild betreffen. Dieses umfasst grundlegende Annahmen über das Wesen, die Bedürfnisse, die Einstellungen, die Fähigkeiten und natürlich auch die Bestimmung des Menschen in der Welt.4 Es enthält zumeist grobe Vereinfachungen über den Menschen, denn die
modellhaft durchgeführte Moralanalyse wird umso leichter handhabbar, je einfacher deren
vorausgesetzte Annahmen sind. Damit verbindet sich jedoch eine deutliche Reduktion von
Komplexität. Hume und Kant konzentrieren sich auf diejenigen Aspekte des Menschen, die
für ihre Theorie am wichtigsten sind, wobei zu berücksichtigen ist, dass es Hume hauptsächlich um die (empiristische) Untersuchung der Genese und Kant um die (rationalistische) Begründung der Geltung moralischer Vorstellungen geht. Kants und Humes Moraltheorien trennen bereits völlig unterschiedliche Menschenbilder als Grundlage ihrer Moraltheorie. Es wird
sich zeigen, inwiefern diese unterschiedlichen Menschenbilder - noch vor jeder moralwissenschaftlichen Anstrengung - die Richtungen und Ausprägungen der Kantischen und Humeschen Metatheorie entscheidend beeinflussen.
Humes Morallehre zeigt sich insofern empiristisch und deskriptiv ausgerichtet, als sie untersucht, wie und warum sich Menschen tatsächlich moralisch verhalten. Dass die meisten
Menschen versuchen, angenehme Lebenserfahrung zu sammeln und unangenehme zu vermeiden, dürfte kaum ernsthaft bestreitbar sein (auch von Kant nicht). Die Kennzeichnung der
Humeschen Moraltheorie als hedonistisch verdankt sich insofern der schlichten Beschreibung
von Tatsachen. Kant hingegen geht nicht von faktischem menschlichen Verhalten aus, sondern entwickelt ein rationalistisch fundiertes moraltheoretisches Ideal, indem er darlegt, an
welchen Verhaltensvorschriften sich Menschen orientieren würden, wenn sie (rein) vernünftig
handelten - was sie faktisch natürlich eher selten machen. Doch auch der dem Anspruch nach
'reinen' Moralphilosophie Kants liegen in Wahrheit anthropologische Voraussetzungen zugrunde. Gemäß dieser Annahmen fungiert der Mensch wie ein durch Begierden, Neigungen,
egoistische Interessen verführbares Vernunftwesen.5 Weil Hume und Kant jeweils ein bestimmtes Menschenbild voraussetzen (auch wenn Kant das vehement bestreitet), brauche ich
meinerseits an dieser Stelle (noch) nicht zu fragen, inwieweit es systematisch statthaft ist, Moraltheorie auf ein bestimmtes Menschenbild zu beziehen, sondern kann diese Vorgehensweise
als bei Kant und Hume erst einmal als gegeben analysieren.
1.1.1 Mensch, Gesellschaft, Geschichte
In dem Zusammenhang geht es zunächst um den historischen gesellschaftlichen Kontext,
in dem Hume und Kant lebten, anschließend um die hedonistischen und idealistischen anthropologischen Projektionen, die sie daraufhin entwarfen. Für das Verständnis des Humeschen
Menschenbildes und seiner mit der Morallehre verknüpfte Gesellschaftstheorie scheint es
nicht unerheblich zu wissen, dass er (streng) calvinistisch erzogen wurde und darunter sehr
4
Durch ihre unterschiedlichen Perspektiven auf den Menschen haben Geistes- und Sozialwissenschaften auch verschiedene Menschenbilder entwickelt, wie den homo sociologicus (Soziologie), den homo
psychologicus (Psychologie), den homo juridicus (Rechtswissenschaft), den homo politicus (Politikwissenschaft) oder den homo oeconomicus (Wirtschaftswissenschaft). Sie alle verdanken ihr Entstehen der disziplinären Sicht auf den Menschen und sind als solche (einseitige) wissenschaftliche Abstraktionen vom wirklichen Menschen.
5
Vgl. Höffe (2001) S. 30.
16
gelitten hat. Hume galt als entschiedener Gegner ausschweifender religiöser Vorstellungen,
wodurch er mehrfach spürbare Benachteiligungen hinnehmen musste. Er wandte sich unmissverständlich gegen die in seinen Augen widernatürliche "Umwertung aller Werte" durch die
Kirche.6 Die religiöse Zerstrittenheit war Hauptursache für sozialen Unruhen und Bürgerkrieg
im England des 17. Jahrhunderts. Insofern erstaunt nicht, dass sich Humes politisches Engagement in seinen Schriften vor allem gegen die maßgeblichen Kirchenvertreter und weniger
gegen den Staat richtet, der nach Wegfall der Kirche als Ordnungsmacht als einziger zuverlässiger gesellschaftlicher Stabilitätsfaktor übrig bleibt. Ein zweiter wichtiger Aspekt seiner
Lehre wie auch der unmittelbar nach ihm folgenden Utilitaristen Bentham und Mill liegt in
sozialreformerischen Absichten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich vor
allem in England mit der beginnenden Industrialisierung, dem Übergang von der Agrar- und
Handwerkswirtschaft über die Manufakturen zum Industriezeitalter der Fabriken mit dampfbetriebenen Maschinen eine revolutionäre gesamtgesellschaftlich relevante Entwicklung ab.
Diesen neuen effizienten und schnelllebigen Produktionsformen schienen die starren aristokratischen Herrschaftsstrukturen mit ihren überkommenen gesellschaftlichen Normen nicht
mehr gewachsen. Zu Humes Zeiten besaßen in England Klerus und Adel dreiviertel des Landes, zahlten aber lediglich fünf Prozent der Steuern. Man bemerkt sogleich die zeitlose Aktualität des Problems einer gerechten Einkommensverteilung.
Kant wurde ebenfalls (streng) religiös - im Geiste des Pietismus - erzogen, deshalb aber
nicht zum Religionsgegner wie Hume, sondern war stets darum bemüht, einen Ausgleich zwischen Philosophie und Religion zu finden, wenngleich er Bevormundung durch Kirchenvertreter strikt ablehnte. Kant hatte tiefe religiöse Vorstellungen, stand aber nicht unter dem Kuratel (kirchlicher) theologischer Dogmatik. Kant beurteilt sein dem Pietismus zugewandtes
Elternhaus zeitlebens positiv. An das strenge religiöse Reglement in der Schule, das dort im
Gegensatz zum Elternhaus herrschte, hat sich Kant allerdings noch im Alter nicht ohne
"Schrecken und Bangigkeit" erinnert. Er gilt als Vertreter einer idealistischen Moral, dem es
nicht um pragmatische, schrittweise vollzogene sozialreformerische Verbesserungen gesellschaftlicher Lebensbedingungen geht, sondern um die allmähliche Realisierung vernunftbestimmter moraltheoretischer Maximalvorstellungen.7 Während Hume durch seine Reisen eine
gewisse Weltläufigkeit besaß, hat Kant Zeit seines Lebens Königsberg nie verlassen. Kant
und Hume eint die feste Überzeugung, durch Wissen jeden Aberglauben und falsche Religiosität überwinden und die Welt durch den fortschreitenden Prozess moralischer Aufklärung
dauerhaft verbessern zu können.
6
“Wenn aber der gewöhnliche Aberglaube für die Gesellschaft so heilsam ist, (...) wie kommt es dann,
dass die ganze Geschichte von Berichten über seine verderblichen Folgen für die öffentlichen Angelegenheiten nur so wimmelt? Zwietracht, Bürgerkriege, Verfolgungen, Regierungsumstürze, Unterdrückung, Sklaverei: dies sind die traurigen Folgen, die mit seiner Herrschaft über den menschlichen
Geist stets einhergehen. Wenn in einer historischen Darstellung irgendwo der Geist der Religion auftaucht, so können wir sicher sein, anschließend eine Schilderung des Elends zu finden, das ihn begleitet. Und keine Zeitepoche kann glücklicher oder gesegneter sein als die, wo man diesen Geist weder
beachtet noch kennt.” Hume (DiaRel) S. 131.
7
Die entscheidende Frage dabei ist, wie ein vernunftbegabtes 'Tier' seine Vorstellungen über sich
selbst und seine Ideale mit seiner animalischen Natur in Einklang bringen kann? "Denn es sind Menschen, d. i. zwar bösgeartete, aber doch mit erfindungsreicher, dabei auch zugleich mit einer moralischen Anlage begabte vernünftige Wesen; welche die Übel, die sich unter einander selbstsüchtig antun, bei Zunahme der Kultur nur immer desto stärker fühlen und, indem sie kein anderes Mittel dagegen vor sich sehen, als den Privatsinn (Einzelner) dem Gemeinsinn (Aller vereinigt), obzwar ungern,
einer Disziplin (des bürgerlichen Zwanges) zu unterwerfen, der sie sich aber nur nach von ihnen selbst
gegebenen Gesetzen unterwerfen, durch dies Bewusstsein sich veredelt fühlen, nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt,
angemessen ist". Kant (Anthr) S. 329f.
17
Besonders unter ökonomischen, politischen und sozialen Gesichtspunkten betrachtet fällt
Kants relativ statische Gesellschaftsanalyse auf. Kant beurteilt die Gesellschaft vornehmlich
nach relativ abstrakten moraltheoretischen Gesichtspunkten: Es geht in erster Linie um die
Begründung von Eigentumsrechten und Eigentumssicherung, aber nicht um (gerechte) Eigentumsverteilung. Kant hat zudem den technischen Fortschritt im Zuge der Industrialisierung
und dessen gesamtgesellschaftliche Dimensionen wohl deutlich unterschätzt. Seine politische
Philosophie wirkt deshalb besonders aus heutiger Sicht in vielen Teilen ergänzungsbedürftig.8
Das mag weniger an seinem mangelnden politischen Interesse, als vielmehr an seiner rationalistischen Moralkonzeption einerseits liegen, die nach eigenem Diktum auf apriorischen Prinzipien und nicht auf empirischer Gesellschaftsanalyse beruhen soll und andererseits an Kants
Loyalität gegenüber dem preußischen Staat, dem er immerhin seine Professorenstelle verdankte, denn es scheint sehr unwahrscheinlich, Kant habe das durch die zahlreichen Feldzüge
Preußens ausgelöste Elend in der einfachen Bevölkerung übersehen können.
Das auf Hume zurückgehende utilitaristische Menschenbild optimaler gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung mündet politisch in der Forderung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, während die Moraltheorie im Stile Kants liberale Staatstheorie fokussiert, die
Grundrechte des Individuums schützt. Beide Ansätze postulieren völlig verschiedene Menschenbilder: Auf der einen Seite steht Humes moralpsychologische Analyse des Menschen
mit der Einschätzung, Verstand und Vernunft bildeten in praktischer Hinsicht nicht mehr als
den verlängerten Arm von natürlichen Antrieben, von Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen,
Interessen. Auf den Humeschen Voraussetzungen baut der im angelsächsischen Sprachraum
vorherrschende Utilitarismus seine intuitiv zunächst einleuchtende pragmatische, mit christlichen Wertvorstellungen brechende Forderung auf, Moral habe im Rahmen nationalökonomischer Perspektiven die entscheidende politische Funktion, möglichst vielen Menschen möglichst großen Nutzen durch optimale Bedürfnisbefriedigung zu bescheren. Scheinbar unversöhnlich steht dem Kants eine christlich-pietistische Wertetradition fortführender, abstrakter
rationalistisch fundierter moralphilosophischer Kosmos bis hin zu einer idealistischen Lehre
von einem gemeinsamen "Reich der Zwecke" gegenüber, in dem Tugendhaftigkeit und
Glückseligkeit herrschen, in dem Vernunftautonomie trotz oder gerade wegen aller daran hindernder natürlicher Handlungsantriebe gefordert wird. Bis in die Gegenwart hinein liegen den
scheinbar unversöhnlichen inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen Humeanern und
Kantianern diese kaum diskutierten, stillschweigend akzeptierten Menschenbilder ihrer gewaltigen Vordenker zugrunde. Auch wenn Kant wiederholt betont, seine Morallehre stütze
sich nicht auf Anthropologie, so beruft sie sich doch indirekt ständig auf sein idealistisches
Menschenbild, das seinerseits moraltheoretisch unbegründet bleibt.
Während es Humes Theorie eher um ein realistisches, pragmatisches Menschenbild frei
von jedem Pathos, um die Bedürfnisbefriedigung des Menschen im Alltag geht und darum,
wie diese unter sozialreformerischen Gesichtspunkten optimiert werden kann, entwirft Kant
eine idealistisch geprägte Zielvorstellung vom Menschen weit hinter dem Horizont seiner empirischen Natur. Während Hume den zufriedenen Menschen anstrebt, der seine Bedürfnisse
möglichst umfassend erfüllen kann, geht es Kant um den uneingeschränkt guten Menschen,
der sich durch elaborierte Moralvorschriften Autonomie (auch und gerade gegenüber seinen
natürlichen Bedürfnissen) verschafft. Die elementare Bedeutung des jeweiligen Menschenbilds für die utilitaristischen und die Kantische Moraltheorie wird auch daraus ersichtlich,
dass deren Moralprinzipien - hier das Nutzenprinzip, dort der kategorische Imperativ - überhaupt nur mit Blick auf eben diese Menschenbilder erfolgversprechend anwendbar sind. Während sich das (ursprünglich) sozialpolitisch ausgerichtete Nutzenprinzip vor allem auf arithmetisch vergleichbare materielle Güter (Geld, Nahrung, Wohnung, Kleidung) und deren Ver8
Kritisch auch Horn in seiner Gesamtanalyse der praxisorientierten Moralphilosophie Kants: Horn,
Christoph. Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie. Berlin 2014.
18
teilung beziehen lässt, richtet sich der Kantische, moralphilosophisch fundierte kategorische
Imperativ vor allem auf die Realisierung immaterieller Werte (Freiheit, Gleichheit, Autonomie) und setzt dabei die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen zu vernunftbasiertem Handeln immer schon voraus. Keineswegs zufällig führt Humes pragmatisches Menschenbild zu
einer empiristisch-moralpsychologischen, Kants idealistisches Menschenbild hingegen zu
einer rationalistisch-moralphilosophischen Vorgehensweise.
Auf den ersten Blick wirkt es durchaus konsequent, dass Hume relativ unbekümmert von
den natürlichen menschlichen Bedürfnissen auf die moralischen Bedingungen schließt, die
eben diese Bedürfnisbefriedigung am ehesten und besten zu ermöglichen geeignet scheinen.
Weitaus anspruchsvoller geht Kant im Rahmen seiner pietistisch geprägten Wertvorstellungen9 von der idealen Bestimmung des Menschen aus, für den er einen völlig anderen Platz
innerhalb der Naturordnung vorsieht, als Hume. Kant fordert im Rahmen seiner Moralteleologie eine Entwicklung des Menschen zu einer von Vernunft und Moral maßgeblich bestimmten
Person, die sich ganz entscheidend von allen anderen Lebewesen abhebt. Einen philosophischen Beweis für die moraltheoretische Notwendigkeit der Unterstellung eines dieser beiden
unterschiedlichen Menschenbilder liefern freilich weder Kant noch Hume. Beide Menschenbilder sind vor dem Hintergrund eigener Weltanschauung zwar angreifbar, aber kaum (mit
moraltheoretischen Mitteln) widerlegbar; weder Kant noch Hume sind imstande einen triftigen Grund dafür anzugeben, weshalb man Moraltheorie durch ein idealistisches oder hedonistisches Menschenbild fundieren sollte. Eine erste entscheidende Herausforderung zur Überwindung der Humeschen und Kantischen Kontroverse wird deshalb darin bestehen müssen,
ein (weitgehend) neutrales, weltanschauungsunabhängiges Menschenbild zu entwickeln, anhand dessen die aus beiden unterschiedlichen anthropologischen Grundvoraussetzungen fließenden normativen Forderungen messbar sind.
1.1.2 Sensualität und Rationalität
In seinem Erstlingswerk dem 'Treatise' präsentiert Hume seine zentralen moralphilosophischen Überlegungen nicht unbedingt in ihrer ausgereiftesten, aber zumindest in ihrer elaboriertesten Fassung. Hume möchte die Emanzipation von kirchlichen Wertvorstellungen und
dem nach seiner Auffassung unbefriedigenden Begründungsstand der Wissenschaften seiner
Zeit durch einen neuen methodischen Ansatz, durch eine Wissenschaft vom Menschen begegnen, weshalb sein Buch auch den Titel "Traktat über die menschliche Natur" trägt. Er begründet seinen Vorschlag mit dem Argument, jede einzelne Wissenschaft sei im Grunde vom
Wissen über den Menschen abhängig.10 Methodisch sollen die Fähigkeiten und Eigenschaften
des Menschen durch "Erfahrung und Beobachtung" abgesichert werden, womit er sich klar
zum Empirismus bekennt. Experimentelle Vorstellungen hatten sich mit Galilei um 1600 in
den Naturwissenschaften etabliert und gelten seitdem als Erfolgsbasis neuzeitlicher Naturwissenschaft. Hume schlägt vor, sie auch in der Philosophie anzuwenden und dementsprechend
aus vielen einzelnen konkreten Beobachtungen (induktiv) auf wenige abstrakte Regeln, Gesetze, Prinzipien zu schließen. Die Berufung auf Tatsachen und Erfahrung als Grundlage von
Moral wirkt mit Blick auf die traditionelle kirchliche Morallehre11 geradezu revolutionär und
bedeutet gleichzeitig eine Kampfansage an den kontinentaleuropäischen Rationalismus.12
9
Man gewinnt oft den ambivalenten Eindruck, Kant habe seine Moraltheorie auf eine vernunftorientierte Basis stellen und sich insofern von den seine Kindheit und Jugend bestimmenden pietistischen
Vorstellungen lösen und abgrenzen, aber nicht vollends mit ihnen brechen wollen.
10
Bereits in der Einleitung des "Treatise" betont Hume, Erfahrung sei der entscheidende Maßstab seiner Science of Man. Vgl. Hume (Treat) S. 13ff.
11
"Wir werden den Komplex charakterlicher Eigenschaften analysieren, der das ausmacht, was wir
gemeinhin persönliches Ansehen nennen; wir werden jede Eigenschaft in Betracht ziehen, die
einen Menschen zu einem Gegenstand der Achtung und der Zuneigung oder zu dem des Hasses und
19
Es geht Hume darum zu zeigen, warum wir etwas (moralisch) schätzen und warum wir etwas (moralisch) verachten - thematisiert wird (zunächst) die Genese individueller Wertvorstellungen. Genau darin liegt aber auch ein Hauptproblem der Humeschen Vorgehensweise,
denn viele einzelne Beobachtungen scheinen auf den ersten Blick für sich genommen zwar
richtig, aber auf den zweiten Blick nicht in jedem Fall untereinander kompatibel und noch
weniger deren Verallgemeinerungen. Ein grundlegende Schwierigkeit dieser Moraltheorie
liegt außerdem darin, dass Hume öfters versucht, von (vielen) Einzelbeobachtungen tatsächlichen Verhaltens zu einigen (wenigen) normativen Aussagen moralischen Verhaltens zu gelangen und infolgedessen unvermittelt zwischen einer deskriptiven und einer normativen
Ebene wechselt. Hume lässt uns im 'Treatise' an seiner eigenen moralphilosophischen Entwicklung teilhaben, ohne ergebnislose Argumentationsbemühungen bereits im Ansatz zu unterbinden, Irrwege zu verschweigen. Der 'Treatise' erweckt nicht den Eindruck eines in sich
stimmigen systematischen Gesamtwerks, das den Leser unter ausgewogenen hermeneutischen
Gesichtspunkten erreicht, sondern den eines authentischen Forschungsberichts, der Fortschritte und Rückschläge Humeschen Denkens mit allen seinen Widernissen einschließt. Aus den
genannten Gründen wirkt Humes Moraltheorie über weite Strecken anekdotisch, episodenhaft, es fällt als Leser oft schwer, sich ein kongruentes Bild zu verschaffen.
Die in meinen Augen von Hume völlig richtig gestellte erste grundlegende systematische
moraltheoretische Frage besteht darin, wie Moralvorstellungen ganz allgemein überhaupt entstehen können? Dabei bleibt der Unterschied zwischen subjektiv und intersubjektiv gültigen
Moralvorstellungen zunächst unberücksichtigt. Plausibel erscheint mir auch seine Intention,
intersubjektiv gültige Moral aus subjektiv gültiger zu entwickeln, auf deren Grundlage genetisch und geltungstheoretisch zu erklären, denn wir kommen nicht mit fertig ausgebildeten
(angeborenen) Moralvorstellungen auf die Welt, dafür ist die Bandbreite an Moralvorstellungen in dieser Welt - religiös, politisch oder philosophisch fundiert - einfach viel zu groß. Mit
Hume sollte also davon ausgegangen werden, dass genetische Fragen vor Geltungsfragen zu
klären sind. Eine solche Vorgehensweise kennen wir auch von Kants transzendentaler Erkenntniskritik, obwohl er in seiner Morallehre davon abweicht.
Die entscheidende Grundlage Humes emotivistischer Position und in meinen Augen eine
der wichtigsten Grundaussagen im moraltheoretischen Zusammenhang schlechthin bildet seine Einsicht, dass wir ohne Gefühle orientierungslos, mithin handlungsunfähig wären und alle
moralischen verstandesbasierten und vernunftbasierten Urteile letztendlich der Herbeiführung
angenehmer und der Vermeidung unangenehmer Gefühle dienen: "Die Hauptquelle oder das
treibende Prinzip im Menschengeist ist Lust und Unlust; werden diese Empfindungen aus
der Verachtung macht; wir werden jede Gewohnheit, Empfindung und Fähigkeit prüfen, die, wenn sie
einem Menschen zugeschrieben werden, Lob oder Tadel einschließen und in einer Lobrede oder in
einem Spottgedicht über seinen Charakter und seine Sitten Eingang finden können". Hume (Enq) S.
92. Es geht für Hume darum, "jenes Besondere zu erkennen, worin die schätzenswerten Eigenschaften
einerseits und die tadelnswerten andererseits übereinstimmen; und von da aus zu einer Grundlage der
Ethik zu gelangen und jene universellen Prinzipien zu finden, von welchen letztlich jeder Tadel und
jede Billigung hergeleitet wird. Und da dies eine Frage von Tatsachen, nicht von abstrakter Wissenschaft ist, können wir nur dann Erfolg erwarten, wenn wir der experimentellen Methode folgen und
allgemeine Grundsätze aus dem Vergleich einzelner Fälle gewinnen". Hume (EnqM) S. 93. "Es ist
hoch an der Zeit, dass bei allen moralischen Untersuchungen eine ähnliche Reform angestrebt wird
und man jedes ethische System verwirft, das nicht auf Tatsachen und Beobachtungen gegründet ist,
mag es auch noch so scharfsinnig und geistreich sein". Hume (EnqM) S. 93.
12
Hume stellt sich im Enq. selbst ausdrücklich der Kontroverse, ob Moral "aus dem Verstand oder
dem Gefühl herzuleiten sei; ob wir zu ihrer Erkenntnis durch eine Kette von Argumentationen und
durch Induktion gelangen oder durch ein unmittelbares Gefühl und einen feineren inneren Sinn; ob sie,
wie jedes begründete Urteil über Wahrheit und Falschheit, für alle vernünftigen, denkenden Wesen
gleich sei; oder ob sie, wie die Wahrnehmung von Schönheit und Hässlichkeit, ausschließlich auf der
besonderen Struktur und Beschaffenheit des Menschengeschlechts beruhe". Hume (EnqM) S. 88.
20
unserem Denken und aus unserem Fühlen entfernt, so sind wir in beträchtlichem Maße des
Affektes und des Handelns, des Begehrens und des Wollens unfähig."13 Ich bin überzeugt,
dass diese Humesche Grundeinsicht als (biologisch-psychologische) Tatsache (und nicht als
bloße 'metaphysische' philosophische Überzeugung) zutrifft und werde dafür jetzt die wichtigsten Argumente erst einmal nur erwähnen, um zumindest deren philosophischen Aspekte
im Verlauf der Arbeit noch ausführlicher systematisch anzusprechen:
- Gefühle sind evolutionsbiologisch gesehen deutlich ältere Elemente der Verhaltenssteuerung, als Verstand und erst recht Vernunft. Etliche Tiere werden kaum durch Verstand (Erfahrung) und schon gar nicht durch Erkenntnis (Vernunft) gesteuert, sondern durch Instinkt und
Gefühle. Evolutionsbiologisch betrachtet beruhen komplexe (kognitive) Leistungen auf einfacheren (kognitiven) Funktionen. Da jüngere kognitive Fähigkeiten immer auf älteren aufbauen müssen, die sie lediglich ergänzen, aber nicht ersetzen (es gibt ältere und jüngere Regionen
im Gehirn) darf es als gesichert gelten, dass der Ursprung unserer Verhaltenssteuerung in der
Tat bei Gefühlen liegt. Inwieweit diese direkte gefühlsbasierte Verhaltenssteuerung durch
Verstand und Vernunft beeinflussbar ist, braucht hier (noch) nicht entscheiden zu werden.
- Das Grundprinzip menschlichen Handelns nach Hume - Schmerz zu vermeiden und Lust
herbeizuführen oder angenehme Gefühle zu vermehren und unangenehme Gefühle zu vermindern - gilt nicht nur für den Menschen, sondern für alle Lebewesen und scheint mir noch
vor jeder tiefergehenden moralwissenschaftlichen Analyse kaum ernsthaft anzweifelbar. Die
Natur, die Evolution 'belohnt' in aller Regel solche Verhaltensweisen mit angenehmen Gefühlen, die Selbsterhaltung sichern (wie Nahrungsaufnahme oder Fortpflanzung) und 'bestraft'
solches Verhalten, das die Selbsterhaltung gefährdet (wie etwa eine Verletzung des eigenen
Körpers als Gefährdung der körperlichen Integrität) durch Schmerzen. Vor dem Hintergrund
dieser biologischen Tatsachen verliert Humes berühmter Satz, dass Vernunft "Sklave" der
Gefühlswelt ist - und es auch sein soll14 - entscheidend an schockierender Trivialität hinsichtlich der Begrenztheit menschlichen Daseins - gerade auch mit Blick auf Kants diametral entgegengesetzten idealistischen Ansichten zur überragenden Bedeutung menschlicher Rationalität in ihrer moralstiftenden Funktion. Ich teile ausdrücklich Humes Einsicht (gegen jeden Rationalismus), dass wir ohne Bedürfnisse und sich darauf beziehende Gefühle und Wünsche
weder willens, noch imstande wären, überhaupt einen (erkenntnistheoretischen oder moraltheoretischen) Standpunkt in dieser Welt einzunehmen; wir würden vermutlich nicht einmal
Interesse an der Welt nehmen, die wir (phylogenetisch und ontogenetisch) zunächst nur durch
unseren von Gefühlen und Bedürfnissen geprägten Standpunkt her kennen.
- Nach meiner Einschätzung ist die richtige Grundeinsicht von der Gefühlsbasiertheit
(nicht Gefühlsdetermination - wie das Hume gelegentlich zu meinen scheint) unseres Handelns ein wesentlicher Grund für die anhaltende Aktualität der Humeschen Moraltheorie und
ihrer Modifikationsversuche, auch wenn an der systematischen Entwicklung dieser Grundeinsicht bei Hume vieles kritisiert werden kann, weil sie streckenweise ungenau, unplausibel,
inkonsequent wirkt. Ich bin ferner der Ansicht, dass diese Grundeinsicht ein wesentliches
Argument dafür ist, die Humesche Moraltheorie nicht als durch die Kantische überwunden
anzusehen, weil Kant sich dieser Grundeinsicht in seinem Moralsystem völlig unzureichend
stellt, auch wenn er sie (vermutlich) nicht nur zur Kenntnis genommen hat, sondern (zumindest teilweise) sogar für richtig gehalten hat, wenn man seine Bemerkungen zum "vernunftgewirkten" Gefühl der "Achtung" als Triebfeder zur Beachtung des kategorischen Imperativs
berücksichtigt. Die in Abgrenzung zu Kant letztendlich entscheidende Frage lautet, ob durch
Verstand und Vernunft überhaupt grundlegend neue sinnvolle moralische Normen, Werte,
Prinzipien geschaffen und begründet werden können, deren Voraussetzungen nicht bereits in
13
14
Hume (Treat) B 3, S. 157.
Vgl. Hume (Treat) B 2, S. 419.
21
der menschlichen Gefühlswelt angelegt sind oder anders gesagt, ob sinnvolle moralische
Normen, Gesetze und Prinzipien eigentlich nicht auch nur als Derivate, Komplikationen, Abstraktionen von Gefühlszuständen richtig interpretierbar sind? Wenn sich Humes Einschätzung
über die Gefühlsbasiertheit unseres Denkens, Wollens und Handelns als zutreffend erweisen
sollte, dann müssten sich die Kantische und mit ihr alle Moraltheorien des rationalistischen
Typs (Rawls, Habermas) den Vorwurf gefallen lassen, grundlegend schief angelegt zu sein;
sie wären wegen ihrer (weitgehenden) Reduktion moralischer Argumentation auf die Vernunftebene dann womöglich hinsichtlich ihrer normativen Kriterien (Geltung), aber ohne Zusatzannahmen nicht bezüglich ihrer Realisierbarkeit (Anwendung) aussichtsreich.
Ganz im Sinne der gerade erläuterten Grundeinsicht über Lust und Schmerz behauptet
Hume, der Ausgangspunkt für jedes menschliche Handeln und insofern auch für jedes (mögliche) moralische Handeln sei in der Gefühlswelt und nicht etwa bei Verstand oder Vernunft zu
suchen.15 Dementsprechend untersucht Hume nun die emotionalen Voraussetzungen für alle
möglichen Motive zu moralischem Handeln. An das Grundprinzip der Vermeidung von
Schmerz und der Herbeiführung von Lust als biologischer Tatsache anknüpfend kann Hume
völlig zu Recht sagen: "Das Bewusstsein aller Menschen ist sich hinsichtlich ihrer Gefühle
und deren innerer Betätigungsweisen gleichartig". Und: Es herrscht "Gleichförmigkeit" in den
"allgemeinen Gefühlen der Menschheit."16 Mit der Feststellung der fundamentalen Bedeutung
von Gefühlen als Ausgangspunkt von Moral gilt allerdings noch keineswegs ausgemacht, ob
und inwieweit eben diese Gefühle auch zur Begründung (tragfähiger) moralischer Regeln,
Gesetze oder sogar Prinzipien taugen. Damit stehen wir bereits mitten im moraltheoretischen
Argumentationskontext: In welchem moraltheoretischen Rahmen kann die Beförderung von
Lust und die Vermeidung von Schmerz überhaupt hinreichend begründet werden? Inwieweit
scheint eine (sinnvolle) Moraltheorie möglich, die dieses Grundprinzip der conditio humana
ignoriert oder ihm sogar widerspricht? Konkreter gefragt: Vernachlässigt, ignoriert oder widerspricht der rationalistische Ansatz Kants Humes zentralen Einsichten zur (allgemeinen und
zur) moralischen Relevanz von Gefühlen?
Von Humes Grundprinzip menschlichen Denkens, Wollens und Handelns, nämlich der Suche nach Lust und der Vermeidung von Schmerz führt ein direkter Weg zu seiner Affektenlehre, weil erst die Affekte und nicht bereits Lust und Unlust selbst unser Verhalten steuern.
Über Humes Affektenlehre kann allerdings nicht mehr behauptet werden, dass sie einen ähnlich hohen Plausibilitätsgrad aufweist, wie seine gerade erörterte emotivistische Grundüberzeugung. Im zweiten Buch seines Traktats untersucht Hume die "Natur, den Ursprung, die
Ursachen und die Wirkungen"17 der Affekte (passions). Je nach Kontext kann "passion" einen
Affekt, eine Leidenschaft, ein Gefühl (emotion), einen Instinkt oder eine Empfindung (sentiment) bedeuten - in jedem Fall sind aber sinnliche und keine rationalen Daten gemeint. Affekte sind Gefühlzustände, die unser Verhalten steuern. Einige wenige Affekte sind angeboren
und werden deshalb von Hume "ursprüngliche", "primäre" oder "direkte" Affekte genannt,
aber die meisten entwickeln sich erst in sozialer Interaktion durch Reflektion und werden daher "sekundäre und reflexive Eindrücke" genannt. Zu den direkten Affekten gehören unter
anderem das Begehren, die Abneigung, die Trauer, die Freude, die Furcht und die Hoffnung.
Beispiele für indirekte Affekte sind Stolz und Demut sowie Liebe und Hass. Zu den indirek-
15
"Man frage einen Menschen, warum er Gymnastik mache; er wird antworten, weil er seine Gesundheit erhalten wolle. Wenn man dann fragt, warum er Gesundheit anstrebe, wird er sofort antworten,
weil Krankheit schmerzhaft sei. Treibt man seine Nachforschungen weiter und will wissen, warum er
den Schmerz hasse, so wird er unmöglich einen Grund angeben können. Dies ist der letzte Zweck, und
er wird niemals auf ein noch anderes Objekt zurückgeführt". Hume (EnqM) S. 224f.
16
Hume (Treat) B 3, S. 125, Fn. 14.
17
Hume (Treat) B 2, S. 304.
22
ten Affekten gehören aber vor allem auch unsere ästhetischen und moralischen Gefühle, aufgrund derer wir äußere Objekte, Charaktere und Personen beurteilen.18
Stolz, Scham einerseits, Zuneigung und Abneigung andererseits sind als soziale Affekte
für Hume von zentraler moralphilosophischer Bedeutung, weil sie die Bewertung des eigenen
Charakters und fremder Charaktere erlauben. Diese vier grundlegenden moralisch relevanten
Affekte zeichnet besagtes Element der Reflexion aus, weshalb das durch sie ausgelöste Verhalten aufgrund von Überlegungen geändert werden kann. Affekte, die wir positiv bewerten,
weil sie mit einem angenehmen Gefühl verbunden sind, versuchen wir herbeizuführen, Affekte, die von uns negativ bewertet werden, weil sie mit einem unangenehmen Gefühl verbunden
sind, versuchen wir zu vermeiden. Wenn wir nun die beiden treibenden Grundprinzipien
menschlichen Denkens, Wollens und Handelns, nämlich Lust und Unlust auf die vier maßgeblichen moralischen Affekte übertragen, bedeutet dass, dass wir stets solche Ereignisse herbeiführen möchten, die in uns Stolz und Zuneigung auslösen und solche Affekte vermeiden,
die Scham und Abneigung hervorrufen. Wir verhalten uns in bestimmter Weise, weil das
Verhalten (über die mit ihnen verbundenen Affekte) mit einem erwarteten Zuwachs an Lust
oder einer erwarteten Verringerung von Unlust verbunden ist.19 Auf der Grundlage dieser
Affektenlehre versucht Hume die Grundlagen unserer Moralvorstellungen zu entwickeln.
Eine schier überwindbare Hürde für die Interpretation der Humeschen Moraltheorie in einem günstigen Licht stellt jedoch seine schwer nachvollziehbare Lehre von einem 'moral sense' (moralischen Sinn) dar. Zwar tritt sie später im Enquiry etwas in den Hintergrund, bleibt
jedoch für die Evaluierung moralischer Urteile nach wie vor bestimmend. Diese Lehre von
einem moralischen Sinn wird in der Zeit nach Hume (soweit ersichtlich) kaum noch vertreten
und ist bis zum heutigen Tag ganz aus der moralwissenschaftlichen Diskussion verschwunden. Hume vertritt den kurios anmutenden Standpunkt, alle unsere moralischen Vorstellungen
hätten ihre Grundlage in einem (moralischen) Sinnesorgan, das die Natur im Menschen angelegt hat: Der moralische Sinn (moral sense) wird analog zu den anderen bekannten Sinnen
(Geschmack, Geruch, Gehör etc.) als ein spezifisches menschliches Organ verstanden, durch
das wir moralische Differenzen wahrnehmen können.20
Wenn aber der moralische Sinn und damit unsere moralischen Vorstellungen zu unseren
Naturanlagen gehören sollten, dann müsste sich dafür auch eine evolutionsbiologische Erklärung ausweisen lassen. Diese lässt sich aber nur sehr schwer finden, denn warum warum sollte die Natur uns mit einem moralischen Sinn ausgestattet haben und warum sollte uns dieser
moralische Sinn ein Verhalten als positiv empfinden lassen, das etwa (auch) für andere nützlich ist? Wenn man Dworkins Forschungshypothesen Glauben schenkt, dann sind doch gerade
solche Eigenschaften von der Evolution des Menschen gefördert worden, die der Weitergabe
der eigenen Gene dienen und nicht für genfremde Artgenossen vorteilhaft sind. Unbeantwortet durch Hume bleibt auch die Frage, ob andere Lebewesen über einen moralischen Sinn oder
zumindest Vorstufen zu einem moralischen Sinn verfügen, der wegen der über weite Zeit
gleichen Evolutionsgeschichte zumindest ansatzweise auch dort nachweisbar sein müsste.
Denn gerade in sinnlich-kognitiven Fähigkeiten zeigen sich zwischen Menschen und Tieren
18
"Überblicken wir die "Affekte", so ergibt sich eine Einteilung in direkte und indirekte. Unter direkten Affekten verstehe ich solche, die unmittelbar aus einem Gut oder Übel, aus Schmerz oder Lust
entspringen, unter indirekten Affekten dagegen verstehe ich solche, die auf derselben Grundlage beruhen, bei denen aber noch andere Momente mitwirken. Diesen Unterschied kann ich im Augenblick
nicht weiter rechtfertigen oder verständlich machen. Ich kann nur ganz allgemein bemerken, dass ich
unter den indirekten Affekten Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit, Liebe, Neid, Mitleid, Groll, Großmut und die aus ihnen ableitbaren Affekte begreife. Und unter den direkten Affekten Begehren, Abscheu, Schmerz, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewissheit". Hume (Treat)
B 2, S. 304.
19
Vgl. Hepfer (1997) S. 41.
20
Vgl. Schrader (1984) S. 193.
23
ansonsten große Parallelen; mit Geruchs- Geschmacks- oder etwa auch Gleichgewichtssinn
sind auch sehr viele andere Lebewesen ausgestattet. Wenn man die Fähigkeit zu (komplexer)
sozialer Interaktion als Vorstufe zur Moralität begreift, dann verfügen auch viele intelligentere Tierarten über Ansätze von moralischem Verhalten. Allerdings sind diese Verhaltensweisen - soweit sie sich zumindest auf komplexeres variables Verhalten beziehen - (auch) bei
Tieren erlernt und nicht angeboren, beruhen nicht auf einem Sinnesorgan im Humeschen Sinne. Wenn aber bereits soziales Verhalten als Vorstufe zu moralischem Verhalten erlernt werden muss, dann kann natürlich erst recht moralisches Verhalten als höchste Entwicklungsstufe
sozialen Verhaltens nur erworben und nicht angeboren sein.
Hume scheint den moralischen Sinn vom kognitiven Niveau her durchaus auf eine Stufe
mit dem Geschmackssinn oder dem Geruchssinn zu stellen: "Die Billigung moralischer Eigenschaften [...] geht einzig und allein hervor aus einem moralischen Geschmack, aus gewissen Gefühlen der Lust und Unlust, welche bei der Betrachtung und Erwägung bestimmter
Eigenschaften und Charaktere entstehen."21 "Laster und Tugend können insofern mit Tönen,
Farben, Wärme und Kälte verglichen werden."22 Hume übernimmt Hutchesons Lehre, nach
der moralische Vorstellungen mittels Gefühlen von Lust und Unlust durch den moralischen
Sinn entstehen. Moralität beruht danach weniger auf einer selbst initiierten, eigenständigen
kognitiven Leistung des Menschen, als vielmehr auf einer Naturanlage. Das Moralische wird wie Kant später völlig zu Recht kritisiert - in diesem Sinne mehr (passiv) gefühlt, als (aktiv)
beurteilt.23 Hume erweckt hier (noch) den Eindruck, dass moralische Urteile ohne rationale
Filter nicht nur möglich, sondern sogar die Regel sind, während nach meiner Ansicht Gefühle
zwar Auslöser und Ausgangspunkt für moralische Urteile sind, aber nicht unbedingt schon
deren vollständiger Bestimmungsgrund. In einem ersten Definitionsversuch von Moral stellt
Hume fest: "Die Unterscheidung des moralisch Guten und des moralisch Bösen gründet sich
auf die Lust oder Unlust, die aus der Betrachtung eines Charakters oder einer Denkweise entspringt."24 Weiter: "Die kennzeichnenden Eindrücke durch die wir das moralisch Gute und
Schlechte erkennen, sind nichts anderes als besondere Lust- und Unlustgefühle."25 Und: "In
jedem Falle müssen wir das eine nach dem anderen beurteilen; wir dürfen jede Eigenschaft
des Geistes, die Liebe oder Stolz erzeugt, für tugendhaft erklären, und jede, die Hass oder
Niedergedrücktheit bewirkt, für lasterhaft."26 Die Beurteilung einer Handlung oder Person als
moralisch gut oder schlecht erfolgt nach Hume aufgrund der diese Wahrnehmung auslösenden
Affekte, die wiederum von Vergnügen oder Missvergnügen begleitet sind. Mit seiner Lehre
vom 'moral sense' verstellt sich Hume den einfacheren, naheliegenderen und weitaus plausibleren Weg zu einer Moralkonzeption, in der jeder Mensch aus Erfahrungen mit angenehmen
und unangenehmen Gefühlen durch Verstand und Vernunft Moralvorstellungen von unter21
Hume (Treat) B 3, S. 165.
Hume (Treat) B 3, S. 30.
23
"Der Verlauf unserer Überlegungen führt uns zu dem Ergebnis, dass Tugend und Laster nicht von
der Vernunft allein, also nicht das Vergleichen von Vorstellungen erkannt werden können und wir
vielmehr vermittelst eines Eindrucks oder eines Gefühls, das sie erwecken, befähigt werden, den Unterschied zwischen ihnen zu statuieren. Unsere Entscheidungen über das moralisch Richtige und moralisch Verwerfliche sind zweifellos Perzeptionen. Da aber alle Perzeptionen entweder Eindrücke oder
Vorstellungen sind, so gehören jene Unterscheidungen, die nicht der ersteren Art zuzuzählen sind,
notwendig zur letzteren Gattung. Moral wird also viel mehr gefühlt als beurteilt. Nur ist freilich diese
Empfindung oder dies Gefühl meist so sanft und zart, dass wir es leicht mit einer bloßen Vorstellung
verwechseln - gemäß unserer allgemeinen Gewohnheit, alle Dinge, die beträchtliche Ähnlichkeit haben, für eines und dasselbe zu halten". Hume (Treat) B 3, S. 31f.
24
Hume (Treat) B 3, S. 125.
25
Hume (Treat) B 3, S. 32. "Welcher Art sind diese Eindrücke und auf welche Weise wirken sie auf
uns? Hier können wir nicht lange zaudern; wir müssen den Eindruck, den die Tugend hervorbringt,
angenehm und den, der vom Laster ausgeht, unangenehm nennen" Hume (Treat) B 3, S. 32.
26
Hume (Treat) B 3, S. 158.
22
24
schiedlicher subjektiver und intersubjektiver Reichweite entwickelt. Diesen Standpunkt werde
ich vertreten und später noch erläutern. Darin unterscheidet sich Hume auch ganz wesentlich
von den ihm nachfolgenden Utilitaristen, die verkürzt gesagt davon ausgehen, dass wir angenehme Gefühle vermehren und unangenehme Gefühle vermeiden wollen. Aus dieser Sicht
wäre der von Hume unterstellte moralische Sinn ebenfalls entbehrlich.27
Nach Hume verhält es sich jedoch genau umgekehrt, nämlich dass der moralische Sinn die
entsprechenden Affekte und die damit verbundenen Gefühle verursacht. "Erklärt ihr eine
Handlung oder einen Charakter für lasterhaft, so meint ihr damit nichts anderes, als dass ihr
zufolge der Beschaffenheit eurer Natur ein unmittelbares Bewusstsein oder Gefühl des Tadels
bei der Betrachtung dieser Handlung oder dieses Charakters habt."28. Der moralische Sinn
leitet uns nach Hume über positive oder negative Affekte von Natur aus dazu an, tugendhaft
zu sein und lasterhaftes zu vermeiden. Aufgrund eines fragwürdigen "ursprünglichen Instinkts" begehren wir das Gute und meiden das Übel.29 Nicht nur das Gute selbst, sondern auch
eine Veranlagung zum moralischen Handeln sind nach Humes Auffassung bereits in unserer
Natur angelegt: Man will nach Hume deshalb moralisch handeln, weil dies in der Selbstwahrnehmung angenehme Affekte auslöst; es wirkt angenehmer, gut zu handeln als schlecht.30
Ganz wesentlich in diesem Zusammenhang scheint die nicht zu verwechselnde Abfolge von
Ursache und Wirkung zwischen moralischem Sinn und moralischen Gefühlen. "Wir schließen
nicht, dass ein Charakter tugendhaft sei, weil er uns erfreut. Indem wir aber fühlen, dass er
uns in solch einer bestimmten Weise erfreut, fühlen wir eben damit, dass er tugendhaft ist."31
Die spezifischen Gefühle der Lust und des Schmerzes scheinen, ähnlich wie Fieber und Hautausschlag bei gewissen Krankheiten, nur Indikatoren, anhand derer wir das Gute und Schlechte erkennen können.32 Übertragen auf die vier grundlegenden moralischen Affekte Stolz,
Scham - Zuneigung und Abneigung bedeutet dies, dass moralisches Stolz und Zuneigung,
unmoralisches hingegen Scham und Abneigung auslösen.33 Unsere moralischen Naturanlagen
- der moralische Sinn - zeichnet dafür verantwortlich, dass wir Stolz und Zuneigung als angenehm und deshalb erstrebenswert und Scham und Abneigung als unangenehm und deshalb
vermeidenswert empfinden.
Es kann gar nicht genügend hervorgehoben werden, dass Hume bis hierhin mit keinem
Wort von verstandesbasierter oder vernunftbasierter Rationalität spricht und den Eindruck
27
Klemme meint im Anschluss an Adam Smith, Hume setze im Gegensatz zu Hutcheson nicht die
Existenz eines speziellen moralischen Sinnes voraus. "Hume ersetzt somit Hutchesons dualistische
Konzeption moralischer Motive und Gründe durch eine monistische Konzeption, in der die normative
Richtigkeit eines Grundes nicht mehr durch eine separate Quelle der Normativität (den moralischen
Sinn) erläutert wird, sondern sich ausschließlich durch die kausale Stärke eines Wunsches erklärt, der
sich gegenüber anderen Wünschen faktisch durchsetzt". Klemme (2006) S. 118. Hier wird übersehen,
dass die Stärke eines Wunsches zwar nach Hume die Exekution von Handlungen erklärt, nicht aber
deren moralische Qualität. Gegen diese These spricht der eindeutige Textbefund, denn sowohl im
Treat., als auch im Enq. beharrt Hume mehrfach auf seiner moral-sense Theorie.
28
Hume (Treat) B 3, S. 30.
29
"Vermöge eines ursprünglichen Instinktes strebt der Geist, das zu erfassen, was ihm ein Gut ist, und
das Übel zu vermeiden, auch wenn sie nur seiner Vorstellung gegenwärtig sind und ihrer Existenz
nach einer zukünftigen Zeit angehörig erscheinen". Hume (Treat) B 2, S. 438.
30
Vgl. Lüthe (1991) S. 56.
31
Hume (Treat) B 3, S. 33.
32
Vgl. Kulenkampff (1989) S. 95. Von Hume unbeantwortet bleibt die sich aufdrängende Frage, ob
die Stärke des Lust- oder Unlustgefühls ein Indikator für den Grad an moralischer Zustimmung oder
Ablehnung durch den moralischen Sinn ist.
33
"Die Erfahrung jedes Augenblicks muss uns hiervon überzeugen". "Kein Genuss kommt der Befriedigung gleich, die uns der Umgang mit Menschen gewährt, die wir lieben und verehren; umgekehrt ist
es die größte Strafe, wenn wir gezwungen sind, mit Menschen zu leben, die wir hassen und verachten". Hume (Treat) B 3, S. 32.
25
erweckt, Moral sei ausschließlich eine Angelegenheit von Gefühlen. Argwohn ruft Humes
Moralkonzeption auch hinsichtlich der (angeblich) natürlichen Anlage des Menschen zum
Guten hervor. Demnach dürfte es kein lasterhaftes Verhalten geben, dass angenehme Gefühle
bewirkt und umgekehrt auch kein tugendhaftes Verhalten, welches unangenehme Gefühle zur
Folge hat. Offenbar triff dies nicht zu, wenn man an einen Hehler denkt, der mit gestohlener
Ware große Gewinne erzielt und sich natürlich darüber freut oder die Mitglieder einer Mafiafamilie, die sich gegenseitig verehren und alle Vertreter öffentlicher Gewalt verachten. Auch
die pflichtgemäße Rückzahlung eines Darlehns verschafft uns keineswegs immer Lust, weil
wir mit dem Geld uns selbst Freude bereiten könnten. An allen Beispielen wird die Standpunktbezogenheit von Gefühlen und gefühlsbasierten moralischen Vorstellungen im Humeschen Sinne deutlich. Gefühle sind anscheinend zwangläufig extrem standpunktrelevant; was
wir emotional bevorzugen halten wir vor jeder rationalen kognitiven Anstrengung für (moralisch) gut und was wir emotional ablehnen für (moralisch) schlecht.
Hume fällt im weiteren Verlauf seiner Untersuchung die starke subjektive Note unserer
(vermeintlichen) moralischen Gefühle noch in anderer Hinsicht selbst auf und liefert dafür
zahlreiche Beobachtungen: Die eindeutige Bestimmung eines Gefühls als moralisches Gefühl
wird zunächst einmal dadurch erschwert, dass es auch zahlreiche andere Gefühle jenseits der
Aktivitäten des moralischen Sinnes gibt, die Wohlbefinden oder Unbehagen auslösen und
moralische Vorstellungen nach Humes (anfänglicher) Auffassung auf der einfachsten möglichen kognitiven Stufe, nämlich der von Empfindungen, von schlichten Sinneswahrnehmungen liegen. Ein Geschmacksurteil unterscheidet sich hiernach weder von seinem kognitiven
Niveau, noch von seiner logischen Struktur her grundlegend von einem moralischen Werturteil. Die entscheidende Frage lautet also: Gibt es überhaupt spezifisch moralische Gefühle von
Lust oder Unlust und wie sind sie zu erkennen? Neben der Unsicherheit, moralische Gefühle
von nicht-moralischen Gefühlen abgrenzen zu können erschwert auch noch die Veränderlichkeit von Gefühlen selbst den Aufbau tragfähiger Moralvorstellungen: Gefühle sind mit Bezug
auf ein Ereignis standpunktbezogen - abhängig vom Interesse, das wir am Ereignis nehmen:
Wenn ein Freund ein Unglück hat, bedaure ich das (indirekter Nachteil für mich) - wenn mein
Feind ein Unglück hat, begrüße ich es (indirekter Vorteil für mich). Ein und das gleiche Ereignis kann also bei mir unterschiedlich nahe stehenden Personen verschiedene Gefühle auslösen. Diese standpunktbezogene Unsicherheit bei der Evaluierung moralischer Urteile durch
moralische Gefühle hebt auch Hume hervor, wenn er sagt: "Die Gefühle des Tadels oder des
Lobes sind veränderlich; je nach der Beziehung der Nähe und Ferne zu der getadelten oder
gelobten Person und je nach der augenblicklichen Stimmung unseres Geistes."34 "Menschen
lieben Fernliegendes und das, was in keiner Weise mit ihrem besonderen Vorteil zusammenhängt, selten wirklich von Herzen."35 Bemerkenswerterweise bezeichnet Hume Lob und Tadel
hier nicht als Urteile, sondern als Gefühle. Später wird noch deutlich werden, dass Hume sogar gedankliche Operationen, die wir heute gemeinhin dem Verstand oder sogar Vernunft
zuschreiben, überraschend einer Gefühlsebene zuordnet.
Diese Einschränkungen des kognitiven Leistungsvermögens unserer emotivistischen Naturanlagen belegen die Schwäche, die geringe Reichweite der allein mit Hilfe des moralischen
Sinnes erzielbaren moralischen Vorstellungen. Anstatt nun zu versuchen, mit anderen kognitiven Vermögen wie Verstand und Vernunft tragfähigere Moralkriterien aufzuspüren, geht
Hume den eindeutig schlechteren Weg und bemüht sich, den Gegenstand des Moralischen
schlechthin auf das dem moralischen Sinn zugängliche Niveau herunterzuschrauben. Aufgrund der eingeschränkten kognitiven Leistungen des moralischen Sinnes nimmt Hume nämlich nun eine wichtige Eingrenzung hinsichtlich des Beurteilungsgegenstandes des moralischen Sinnes vor, indem dieser nicht mehr über Handlungsweisen oder Normen, sondern nur
34
35
Hume (Treat) B 3, S. 166.
Hume (Treat) B 3, S. 168.
26
den Charakter eines Menschen entscheiden soll.36 Mit dieser deutlichen Beschränkung der
Reichweite des moralischen Sinns werden die mit ihm verbundenen Probleme aber nicht geringer, sondern eher noch größer: Denn natürlich kann auch ein an sich tugendhafter Mensch
einen schlechten Tag haben und sich unmoralisch verhalten; selbstverständlich muss der
Mord an der eigenen untreuen Frau durch einen ansonsten tugendhaften Mann schwerer wiegen als die Taten eines notorischen Taschendiebs. Mit der Reduktion der Aufgaben des moralischen Sinnes auf die Tugendhaftigkeit oder Lasterhaftigkeit eines Charakters gewinnt Hume
zwar etwas an Zuverlässigkeit der durch den moralischen Sinn erzielbaren Ergebnisse, aber
verliert gleichzeitig mit dem Ausschluss von Handlungsweisen und Normen an Präzision in
der Beurteilung des Moralischen. Gerade diese aber wäre wünschenswert, denn wir sind selten nur tugendhaft oder nur lasterhaft, sondern schwanken situationsbedingt zwischen beiden
Extremen.37 Humes Konzentration auf eine Tugendlehre vereinfacht seine Untersuchung allerdings wesentlich, denn alle Tugenden und Laster lassen sich vollständig aufzählen, was bei
erlaubten und verbotenen Handlungen schwierig, wenn nicht unmöglich wäre.
Über weite Strecken seines 'Treatise' versucht Hume (noch) den Eindruck zu erwecken,
unsere Moralvorstellungen unterlägen keinerlei Rationalitätskriterien. Seine Lehre vom moralischen Sinn scheint weniger dazu geeignet, relativ scharfe moralische Kriterien zu begründen, als vielmehr mit Gefühlen schlichte Indizien für moralische und unmoralische Charaktereigenschaften zu belegen. Das emotivistische Grundprinzip von Lustsuche und Schmerzvermeidung erweist sich damit zwar keinesfalls als hinfällig, bietet aber durch den von Hume
eingeschlagenen Weg über den moralischen Sinn aufgrund der psychologischen Konstitution
des Menschen keinen verlässlichen Indikator auf der Basis von Gefühlen für komplexere moralische Zusammenhänge. Hume scheint sich im weiteren Verlauf seiner Untersuchung selbst
zunehmend unsicher über die Unterscheidbarkeit von moralischen und moralisch indifferenten Gefühlen zu werden und sich schwer damit zu tun, plausibel darzulegen, weshalb Gefühle
moralisch oder moralisch indifferent sein sollen. Damit räumt Hume im Grunde ein, dass Gefühle allein für tragfähige (intersubjektiv gültige) Moralvorstellungen gar nicht ausreichen,
dass jeder (reine) Emotivismus recht bald an seine Grenzen stößt. Um dem Vorwurf der Beliebigkeit moralischer Bewertungen zu entgehen, müsste Hume zeigen, dass moralisch relevante Gefühlsäußerungen eben nicht situationsabhängig schwanken.38 Mit Hume scheint aber
festzustehen, dass sich auf einer sinnlichen kognitiven Ebene allein weder spezifisch moralische Lust- und Unlustgefühle von anderen Lust- und Unlustgefühlen hinreichend unterscheiden lassen, noch dass moralische Gefühle wegen ihrer Standpunktbezogenheit eine tragfähige
Grundlage für (intersubjektiv gültige) moralische Vorstellungen bilden. Ohne die Hilfe von
Verstand und Vernunft scheint auch Hume in der moralischen Beurteilung nicht auskommen
zu können. Indes entwickelt er ein erkenntnistheoretisch sehr fragwürdiges Modell moralischer Vorstellungen, das den moralischen Sinn, moralische Gefühle nicht allein als Ausgangspunkt annimmt, auf dem die Rationalitätsstufen von Verstand und Vernunft aufbauen,
die insofern eine gewisse Distanzierung von moralischen Gefühlen erlauben, sondern in dem
36
"Handlungen an sich, die aus keiner dauernden Bestimmtheit der Person hervorgehen, haben keine
Bedeutung für Hass oder Liebe, Stolz oder Bescheidenheit und kommen deshalb für Moral nicht in
Betracht". "Wenn wir nach dem Grund oder dem eigentlichen Gegenstand der moralischen Beurteilung forschen, so dürfen wir niemals die einzelne Handlung ins Auge fassen, sondern immer nur die
Beschaffenheit und den Charakter, aus dem diese Handlung hervorging. Nur diese sind dauerhaft genug, um unsere Gefühle der Person gegenüber zu beeinflussen". Hume (Treat) B 3, S. 158.
37
Kritisch auch Cohen in ihrer stark harmonisierenden Interpretation: "What of the person of mixed
character? Hume does not say. On any interpretation, this is a lacuna to be filled by the reader".
Cohon, Rachel. Hume's Morality. Feeling and Fabrication. Oxford University Press Inc. New York
2008. S. 149.
38
Vgl. Lüthe (1991) S. 56.
27
das moralische Gefühl trotz kognitiver Aktivitäten von Verstand und Vernunft immer die
zentrale, alles entscheidende moralische Beurteilungsinstanz bleibt.
Durch Erweiterung des moralischen Sinnes um die kognitiven Leistungen des Verstandes
kommt bei Hume im 'Treatise' neben einer sinnlichen erstmals auch eine rationale Ebene ins
Spiel: Nach Hume urteilt der Verstand entweder über "Tatbestände oder über Relationen"39,
aber er gibt weder eigenständig Handlungsziele vor, noch fällt er selbst moralische Urteile. In
der emotivistischen Moralkonzeption Humes beschränkt sich die Tätigkeit des Verstandes in
moralischer Hinsicht von vornherein darauf, dem moralischen Sinn zu dienen. Der Verstand
vergrößert die Reichweite und Präzision kognitiver Leistungen des moralischen Sinnes, indem
er vergangene und zukünftige Ereignisse analysierend in das Licht des moralischen Sinnes
stellt.40 Bemerkenswert wirkt daran, dass der Verstand bei Hume nicht etwa die vom moralischen Sinn bereitgestellten Gefühlszustände (auf ihren kognitiven Gehalt hin) überprüft, sondern gerade umgekehrt der Verstand lediglich Vorstellungen bereitstellt, die der moralische
Sinn beurteilt. Damit aber wird für Hume die sinnliche Ebene des moral sense nicht obsolet,
sondern bleibt weiterhin bestimmend. Der Verstand bedeutet für den moralischen Sinn nach
Hume nicht wesentlich mehr, als ein Fernglas für unser Sehvermögen.
Hume erweitert nunmehr seine Moraldefinition, indem nicht mehr allein die durch bloße
(sinnliche) Betrachtung, sondern auch die durch Reflektion mit Hilfe des Verstandes ausgelösten Gefühle Indikator für moralische und unmoralische Charaktereigenschaften sein sollen.41
Reflektion bedeutet bei Hume jedoch eine gegenüber dem Fühlen keine scharf abgrenzbare
kognitive Leistung (wie etwa bei Kant), die Unterschiede zwischen Denken und Fühlen sind
nicht prinzipieller, sondern eher gradueller Natur.42 Wenn wir moralische Urteile fällen, so
besagt dies hier lediglich, dass wir einem "natürlichen" Hang folgend, Gefühle der Zustimmung und Ablehnung haben. Der einzige wichtige Unterschied zwischen moralischen Urteilen und moralischen Gefühlen besteht nach Hume in ihrer empfundenen handlungsbestimmenden emotionalen Stärke. Wesentlich plausibler wirkte es, wenn positive oder negative
Gefühle zu positiven oder negativen (moralischen) Urteilen führten, nachdem sie den Rationalitätsfilter des Verstandes durchlaufen haben.
Durch den Verstand scheint der Mensch nach Hume allerdings immerhin in der Lage, seine
moralischen und nicht-moralischen Lust- und Unlustgefühle eindeutiger voneinander unterscheiden und bestimmen zu können - auch wenn uns leider vorenthalten wird, mit Hilfe welcher kognitiven Leistungen diese Differenzierung möglich wird: "Und ein charaktervoller und
urteilsfähiger Mensch kann sich von solchen Täuschungen freihalten." "Aber jemand, der ...
Selbstbeherrschung hat, kann diese Gefühle auseinanderhalten und das loben, was Lob verdient."43 Wenn tatsächlich ein eigenständiger moralischer Sinn (also gewissermaßen ein moralisches Sinnesorgan) existierte, dürfte die Gefahr einer solchen Verwechslung gar nicht bestehen, denn man kann sich doch nicht darin täuschen, ob man etwas riecht oder etwas hört
39
Hume (EnqM) S. 218.
"Es wird vorausgesetzt, dass uns alle Einzelheiten des Falles vorliegen, ehe wir ein Urteil des Tadels
oder der Zustimmung aussprechen können. Wenn irgendein wesentlicher Umstand noch unbekannt
oder zweifelhaft ist, müssen wir als erstes Nachforschungen anstellen oder unsere intellektuellen Fähigkeiten bemühen, um uns darüber Klarheit zu verschaffen; und wir müssen uns in dieser Zeit jeder
moralischen Entscheidung oder Empfindung enthalten". Hume (EnqM) S. 221.
41
"Wir haben schon dargelegt, dass moralische Unterscheidungen durchaus von bestimmten Lust- und
Unlustgefühlen abhängig sind, d.h., dass jede geistige Eigenschaft, die uns bei uns selbst oder bei anderen mit Befriedigung erfüllt, sich der Betrachtung oder Reflexion natürlicherweise als tugendhaft
darstellt. Ebenso sind solche Eigenschaften, die Unbehagen wecken, für uns lasterhaft" Hume (Treat)
B 3, S. 157f.
42
Ebenso Hepfer (1997) S. 20.
43
Hume (Treat) B 3, S. 34.
40
28
und dadurch ein angenehmes Gefühl entsteht, weil man die entsprechende Information entweder über die Nase oder die Ohren erhält. Dafür bräuchte es weder Charakter, noch Urteilsvermögen. Neben dieser Unstimmigkeit, die unsere Skepsis gegenüber Humes Lehre von einem moralischen Sinnes noch verstärkt, scheint jedoch bemerkenswert, dass jetzt nur mit Hilfe des Verstandes das gelobt werden können soll, was auch Lob verdient. Dieser vom Verstand einzulösende normative Anspruch kann eigentlich nur dann eingelöst werden, wenn es
entgegen Humes ursprünglicher Auskunft zur Tätigkeit des Verstandes moralisches Urteilsvermögen auch abseits des moralischen Sinnes gibt, das seine Grundlagen im Verstand haben
muss, denn sonst könnten weder die Trennung zwischen moralischen und nicht-moralischen
Gefühlen jenseits des moralischen Sinnes stattfinden, noch überhaupt eine Bewertung jenseits
des moralischen Sinnes darüber entstehen, ob das mit einem moralischen Urteil verbundene
Lob tatsächlich "verdient" ist oder nicht. Diese im systematischen Zusammenhang bei Hume
bedeutsame Aufforderung, nur das zu loben, was Lob verdient, bedeutet eine tiefe Zäsur
(wenn nicht sogar einen Bruch) mit den emotivistischen Grundlagen seiner Moraltheorie,
denn sie sie setzt voraus, dass sich unser moralisches Urteil eben nicht (ausschließlich) in den
vom moral sense bereitgestellten, von Natur aus gegebenen und deshalb vom Menschen gar
nicht (bewusst) veränderbaren positiven oder negativen Gefühlen erschöpft, sondern dass
sich Menschen - aufgrund welcher Rationalitätskriterien auch immer - durch Verstand über
die emotivistischen Grundlagen des moral sense hinwegsetzen und zunächst einmal unterscheiden können, was Lob verdient und was kein Lob verdient.
Diese Einschätzung von der erweiterten Rolle des Verstandes bestätigt sich durch weitere
Ausführungen Humes im 'Treatise', wo er die offenbare Begrenzbarkeit moralischer Gefühle
durch Verstandesoperationen beschreibt, auch wenn er (leider) nicht deren erkenntnistheoretischen Hintergrund würdigt: "Die Erfahrung lehrt uns, unsere Gefühle schnell in solcher Weise
zu berichtigen oder wenigstens unsere Sprache, wenn die Gefühle allzu hartnäckig und unveränderlich sein sollten."44 Denn woher könnten wir wissen, wann und inwiefern wir unsere
Gefühle berichtigen müssen, wenn doch nach Humes ursprünglicher Einschätzung allein der
moral sense Auskunft über moralisches und unmoralisches geben kann? Hume versucht diese
Ungereimtheit zu überspielen, indem er nunmehr vorgibt, der Verstand solle uns nicht etwa
helfen, das richtige moralische Urteil zu fällen, sondern das richtige Gefühl zu empfinden.45
Das scheint aber schlicht unmöglich, denn ein Gefühl (etwa von Zuneigung und Abneigung)
kann ich nur haben, aber nicht erzeugen. Wenn eine Korrektur oder auch nur eine Begrenzung
von (moralischen) Gefühlen durch Verstand im Sinne Humes möglich sein soll, dann muss
Moral auch vom Gefühl (vom moral sense) unabhängige Grundlagen haben, dann kann Moral
nicht allein auf dem moral sense beruhen. Wie dies aber möglich sein soll zeigt Hume leider
nicht. Je mehr Hume versucht, von der rein deskriptiven psychologischen Gefühlsebene zu
normativen verstandesbasierten, intersubjektiv angelehnten Moralvorstellungen zu gelangen,
desto mehr scheint er sich wegen dem starren Festhalten an seiner emotivistischen Grundeinstellung in Ungereimtheiten, Widersprüche, Aporien zu verwickeln. Seine Strategie, das Dickicht von vermeintlichen oder tatsächlichen moralischen Gefühlen und deren (intersubjektive) Relevanz weiterhin auf emotivistischer Basis zu entwirren, stößt eindeutig an Grenzen.
Weil Hume mit der Berücksichtigung der Verstandesebene seinem Ziel intersubjektiv gültiger Moralvorstellungen zwar etwas näher rückt, es aber bei weitem noch nicht erreicht, be44
Hume (Treat) B 3, S. 167.
"Jedoch bei vielen Arten der Schönheit, besonders bei jenen der höheren Künste, ist es nötig, eine
Fülle rationaler Überlegungen einzubeziehen, um das richtige Gefühl zu empfinden; und häufig ist
hier eine Geschmacksverwirrung durch Argument und Reflexion korrigierbar. Es gibt gute Gründe für
die Annahme, dass die moralische Schönheit viel mit dieser letzteren Art gemeinsam hat und dass sie
der Unterstützung durch unsere intellektuellen Fähigkeiten bedarf, wenn ihr ein angemessener Einfluss
auf das menschliche Gemüt zukommen soll". Hume (EnqM) S. 91f.
45
29
zieht er nunmehr die zweite, die nächsthöhere Rationalitätsstufe (Vernunft) in seine moraltheoretischen Überlegungen ein. Dadurch gibt er allerdings seine empiristische Methodik zumindest teilweise auf, weil Menschen in der Regel doch nicht vernunftbasiert (moralisch)
handeln. Hume will hier zeigen, wie eine intersubjektive Moral auf emotivistischer Basis gelingen kann, aber überfordert damit letztendlich seinen Ansatz. Ebenso wie der Verstand vermag auch die Vernunft nach Hume (allein) nicht handlungsbestimmend werden.46 Verstand
und Vernunft sind bei Hume im instrumentellen Sinne praktischer Rationalität lediglich imstande, im Dienste des emotivistischen Grundprinzips der Lustgewinnung und Schmerzvermeidung Tatsachen aufzuspüren und zu vergleichen. Wenn Vernunft feststellt, ob Dinge existieren, die einen Wunsch oder eine Absicht befriedigen, die ihrerseits aufgrund einer affektiven Bewertung entstanden sind, vermag sie Absichten beeinflussen; indem sie feststellt, dass
es unmöglich ist, einen bestimmten Wunsch zu befriedigen, weil es keinen entsprechenden
Gegenstand gibt, kann sie jenen Wunsch sogar neutralisieren. Darüber hinaus erkennt Vernunft, inwiefern die bisher zur Erfüllung eines Wunsches oder zur Verwirklichung einer Absicht ergriffenen Mittel unzureichend oder falsch waren. Und sie ruft einen Affekt entweder in
der Weise (erneut) hervor, dass sie diesen Fehler korrigiert oder dadurch, dass sie die Mittel
zur Befriedigung eines möglichen Wunsches erst entdeckt.47
Hume betont wiederholt, dass an schlichter (isolierter) Rationalität keinerlei Merkmal oder
Funktion identifizierbar sei, welches einsichtig mache, wie Vernunft - ohne auf Wünsche,
Absichten, Gefühle oder Affekte Bezug zu nehmen - von sich aus zu Handlungen führen könne.48 Selbst dann, wenn wir etwas wollen, weil es moralisch oder vernünftig ist, muss ein entsprechender Wunsch vorliegen, moralisch (vernünftig) handeln zu wollen. Humes Lust- und
Unlust-Modell erklärt in diesem Sinne zwar notwendige, aber nicht schon hinreichende Bedingungen für das Verständnis moralischen Handelns und moralischer Bewertungen.49 Was
Hume fortwährend energisch vermeidet und bestreitet, wird Kant ausdauernd versuchen, nämlich eine Vernunftbegründung von Moral. So etwas wie praktische Vernunft als handlungsbestimmende kognitive und voluntative Instanz im Kantischen Sinne scheint für Hume völlig
ausgeschlossen, weil Vernunft allenfalls zur Entdeckung von Wahrheit und Irrtum, aber (als
ein vollkommen "passives Prinzip") nicht zur "Bewegung zum Handeln taugt."50
Humes Vernunftbegriff erscheint uns heutzutage insofern rätselhaft, als er darunter kein
kognitives moralisches Vermögen versteht, das über der Gefühlsebene anzusiedeln wäre, sondern ganz im Gegenteil die in seinen Augen richtig verstandene praktische Vernunft mit den
ruhigen Affekten51 identifiziert. So beklagt auch Hepfer, der "Zusammenhang der verschiede-
46
"Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen
Ritz in meinem Finger". Hume (Treat) B 2, S. 419.
47
"Wie schon bemerkt, kann die Vernunft im eigentlichen und philosophischen Sinne unser Handeln
nur in zweierlei 'Weise beeinflussen. Entweder sie ruft einen Affekt ins Dasein, indem sie uns über die
Existenz eines seiner Natur entsprechenden Gegenstandes belehrt; oder sie zeigt uns die Mittel, irgendeinen Affekt zu erzeugen, indem sie den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen aufdeckt". Hume (Treat) B 3, S. 17f.
48
"Solange man zugibt, dass die Vernunft keinen Einfluss auf unsere Affekte und Handlungen hat, ist
die Behauptung nichtig, dass die Moral durch bloße Deduktion der Vernunft gefunden werde". Hume
(Treat) B 3, S. 16.
49
Vgl. Hepfer (1997) S. 124.
50
Vgl. Kulenkampff (1989) S. 26. "Die Moral erregt Affekte und erzeugt oder verhindert Handlungen.
Die Vernunft allein aber ist hierzu ganz machtlos; die Regeln der Moral sind folglich keine Ergebnisse
unserer Vernunft". Hume (Treat) B 3, S. 15.
51
"Unter Vernunft verstehen wir Gemütsbewegungen, die gleicher Art sind wie die Affekte, die aber
ruhiger wirken und keinen Aufruhr in der Gemütsverfassung hervorrufen. Diese Ruhe verleitet uns zu
einem Irrtum über ihr Wesen, d. h. sie lässt uns dieselben als reine logische Leistungen unserer intellektuellen Vermögen erscheinen". Hume (Treat) B 2, S. 437. Vernunft ist "nichts anderes als eine all-
30
nen Formen des mentalen Erlebens, zwischen Denken auf der einen und Fühlen und Wahrnehmen auf der anderen Seite sei graduell."52 Humes Einschätzung über die Vernunft widerspricht unserem kontinentaleuropäischen, von Kant geprägten klassischen systematischen
Vernunftverständnis zutiefst, denn danach steht der Verstand von seinen kognitiven Leistungen her über der Sinnlichkeit und die Vernunft wiederum über dem Verstand. Zwar bleibt
Verstand auf Sinnlichkeit angewiesen und Vernunft auf Verstand, aber es ergibt sich doch
eine relativ klare Hierarchie von kognitiven Leistungen. Humes empiristische Einschätzung
kognitiver Leistungen wirkt in meinen Augen nur dann sinnvoll, wenn wir sie nicht geltungstheoretisch betrachten, sondern auf ihre psychologische (faktische) handlungsbestimmende
Wirkung über unseren Gefühlshaushalt beziehen. Dann wirkt es stimmig, dass die Reflexion
über längerfristige Bedingungen unseres Lebens beruhigend auf uns wirkt, indem uns die
Angst vor der Zukunft etwas genommen wird. Dass Hume Schwierigkeiten hat (psychologische) Genese und (philosophische) Geltung auseinander zu halten wird hier und an mehreren
anderen Stellen seiner Schriften mehr als deutlich. Man mag sogar bezweifeln, ob ihm dieser
Unterschied in seiner ganzen Tragweite überhaupt völlig klar war. Vor diesem Hintergrund
stellt sich Hume erneut als Sensualist dar.
Weil es eine reine, von Gefühlen und jeder Erfahrung unabhängige handlungswirksame
praktische Vernunft (im Kantischen Sinne) nach Hume gar nicht geben kann und nur Gefühle
handlungsbestimmend sind, muss Hume Vernunft jedenfalls von ihrer psychologischen Wirkung her in die Nähe von Gefühlen rücken, damit sie Einfluss auf unser Handeln gewinnen
kann, denn sonst wäre Vernunft im moralischen Zusammenhang funktionslos. Aus empirischpsychologischer Sicht erscheinen Humes Ausführungen über die Vernunft mithin einigermaßen plausibel, jedoch wäre aus philosophischer Sicht auch deren erkenntnistheoretische Funktion zu beschreiben. Humes Ausführungen erscheinen allein unter dem Gesichtspunkt, wie
wir unser moralisches urteilen erleben halbwegs plausibel. Moralische Beurteilung und moralisches Handeln nehmen nach Humes naturalistisch fundierter Anthropologie ihren Ausgang
und ihr handlungswirksames Ende in affektiven Zuständen.53 Wenn wir jedoch unser Verhalten nicht durch Verstand (kurzfristig) und Vernunft (langfristig) steuern könnten, wäre es unsinnig, überhaupt moralische Überlegungen anzustellen, moralische Regeln zu begründen
oder auch nur positive Gesetze zu erlassen. Insofern ist das Verhältnis von Emotionalität und
Rationalität bei Hume noch näher zu untersuchen.
Weil Hume sich ständig bemüht, die Bedeutung von Vernunft im moralischen Zusammenhang herunterzuspielen erstaunt es um so mehr, dass sie doch im Zusammenhang mit der Suche nach einer tragfähigen Moralbegründung im weiteren Verlauf seiner Untersuchung eine
zunehmend wichtige Rolle einnimmt: "Wir können aber gar nicht einigermaßen vernünftig
miteinander verkehren, wenn jeder von uns Charaktere und Personen immer nur so betrachtet,
wie sie von seinem besonderen Standpunkt aus erscheinen. Dies tun wir denn auch nicht.
Vielmehr schaffen wir uns, um die fortdauernden Widersprüche, die sich daraus ergeben
müssten, zu vermeiden und eine konstante Beurteilung der Dinge zu ermöglichen, bestimmte
feste und allgemeine Standpunkte der Betrachtung."54 Natürlich fragt sich sofort, ob denn der
vernünftige Umgang das eigentliche moralische Ideal Humes darstellt und woran gemessen
unsere Meinung gegenüber anderen Personen als "fest" und "allgemein" betrachtet werden
soll? Geht es hier (wiederum) doch nur um den (individuellen) psychologischen Gesichtspunkt oder bereits um den (intersubjektiven) Geltungsaspekt moralischer Bewertung?
Menschen verkehren nicht (immer) vernünftig miteinander und wenn man Handlungen von
seinem besonderen Standpunkt, aus seinem Interesse beurteilt, ergeben sich nicht zwangsläugemeine ruhige Ausgeglichenheit der Affekte, die sich auf die Betrachtung und Überlegung aus der
Ferne gründet". Hume (Treat) B 3, S. 168.
52
Vgl. Hepfer (1997) S. 20.
53
Vgl. Lüthe (1991) S. 65.
54
Hume (Treat) B 3, S. 166.
31
fig Widersprüche: Man kann etwa einen anderen (schwächeren oder unerfahrenen) Menschen
schlecht behandeln und damit im Widerspruch zur Moral, aber nicht unbedingt im Widerspruch zum eigenen Interesse stehen. Der Perspektivwechsel vom eigenen besonderen zum
festen allgemeinen Standpunkt überzeugt mithin in der von Hume geschilderten psychologischen Weise nur bedingt. Nach allem was wir bisher über die bescheidene Rolle von Verstand
und Vernunft im moralischen Zusammenhang bei Hume erfahren haben, überrascht seine
Aussage und bildet in meinen Augen eine (weitere) deutliche Zäsur in seiner emotivistischen
Moralkonzeption. Denn warum fordert Hume nicht etwa, dass wir mitfühlender untereinander
verkehren sollen? Deutet Hume aber hier entgegen seiner emotivistischen Grundposition indirekt an, dass allein auf der Basis von Gefühlen gar kein gedeihliches Zusammenleben von
Menschen gelingen kann? Und liegt in der Forderung nach einem "festen" und "allgemeinen"
Standpunkt bereits das Intersubjektivitätskriterium für Moralvorstellungen oder doch nur
(wieder) eine psychologische Befindlichkeit? Sagt Hume hier indirekt, dass durch Gefühle
allein eben kein fester und allgemeiner Standpunkt und damit auch keine Moral möglich ist?
Oder will Hume sogar andeuten, dass wir uns wegen unserer psychologischen Verfassung im
Alltag selbst intersubjektivitätsähnliche Kriterien schaffen, mithin eine wissenschaftlich fundierte Moraltheorie weitgehend entbehrlich wird, der im Grunde genommen nur die Aufgabe
zufiele, die Alltagsmoral zu überprüfen und gegebenenfalls (etwas) nachzubessern? Oder bemüht Hume hier einfach nur einen Trick, wie mancher Interpret vermutet, denn um im Rahmen seines empiristischen Ansatzes bleiben zu können, sei Hume gezwungen, das, was wir in
moralischen Dingen machen sollen, fälschlicherweise als das auszuweisen, was wir in moralischen Dingen machen wollen.55
Humes Suche nach (moralischen) Intersubjektivitätskriterien erinnert an ähnlich gelagerte
Bemühungen Kants in der Grundlegung, mit dem Unterschied, dass sie bei Hume eher beiläufig erwähnt werden, während sie Kant zumindest anfangs in den Mittelpunkt rückt. Humes
Forderungen nach einem "allgemeinen", "festen" Standpunkt (und nach Widerspruchsfreiheit)
erinnern an Kants Suche nach einem für alle Menschen verbindlichen Moralkriterium, das er
schließlich im KI glaubt gefunden zu haben. Ein fest stehender allgemeiner Standpunkt ist nur
dann möglich, wenn die Interessen aller Menschen als gleichberechtigt beurteilt werden. Deshalb stellt Hume auch als Bedingung für einen festen und allgemeinen Standpunkt die Forderung nach Neutralität in der moralischen Betrachtung auf, wenn er sagt " ... die Vernunft verlangt ... unparteiisches Verhalten ... ".56 Warum verlangt Vernunft Unparteilichkeit? Um in
ihren Beurteilungen eine möglichst breite Akzeptanz zu finden, die es erlaubt, von einem
"allgemeinen" und "festen" Standpunkt zu sprechen, die in dem Fall jedoch weniger Beleg für
theoretische Geltung, als vielmehr für soziale Zustimmung wäre?57
Jedenfalls führt Hume die beiden Teilbestimmungen des festen und allgemeinen Standpunktes sowie der Unparteilichkeit in einem weitern, diesmal vernunftbasierten Definitionsversuch intersubjektiver Moralvorstellungen zusammen: "Alles aber an menschlichen Handlungen, das bei der allgemeinen uninteressierten Betrachtung Unbehagen erregt, wird Laster
genannt; und alles, was unter den gleichen Voraussetzungen Befriedigung erzeugt, nennen wir
55
Vgl. Lüthe (1991) S. 71.
Hume (Treat) B 3, S. 168.
57
Cohon vermutet, wir seien nach Hume eben gerade nur aus sozialem Eigennutz an der Einnahme
des MPV interessiert: "Our moral evaluations need to be uniform, not because it matters in itself that
we should all have the same feelings or make unanimous moral judgements, and not because the true
or correct moral judgement about a given, unchanged character is fixed in some way independent of
our reactions, but because our moral evaluations always carry with them certain other judgements that
are about matters of fact discovered by reasoning". Cohon (2008) S. 143. "If we wish to choose a
plumber, an auto mechanic, a physician, or a babysitter, we depend on the fact that the character
assessements given by others are made from a commonly accessible point of view, and so can be the
basis of reliable predictions". Cohon (2008) S. 148.
56
32
Tugend."58. Erstaunlich und bezeichnend zugleich wirkt wiederum die letztinstanzliche Funktion des moralischen Sinns, wodurch erneut das Paradox entsteht, dass eine niedrigere kognitive Instanz über die Anstrengungen einer höheren kognitiven Instanz entscheidet.
Darüber hinaus eröffnet sich hier die elementare Schwierigkeit, dass eine "uninteressierte"
Betrachtung vom emotivistischen Humeschen Modell her gar nicht möglich scheint, da wir
ohne Gefühle und darauf notwendig gründende Interessen gar keinen Standpunkt haben, von
dem aus wir überhaupt irgendein (sinnvolles) Urteil fällen könnten. Hume verstrickt sich hier
in einen systembedingten, auf der Grundlage seiner eigenen Moraltheorie unlösbaren Widerspruch zwischen den emotionalen Voraussetzungen und den intersubjektiven normativen Anforderungen von Moral. Auch in der Literatur wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Hume
mit dem MPV die Grundlagen seiner empiristischen emotivistischen Lehre, den Standpunkt
seiner 'science of man' verlasse.59 Denn über einen Sachverhalt oder eine Handlung, an der ich
kein Interesse nehme, kann ich auch keine Beurteilung abgeben; der eigene Standpunkt zu
einem Sachverhalt, das eigene Interesse an dessen Befürwortung oder Ablehnung bildet doch
überhaupt erst die unverzichtbare Voraussetzung dafür, einen Sachverhalt (nach bestimmten
emotionalen oder rationalen Kriterien) zu beurteilen. Nur was mich interessiert, erregt überhaupt meine Aufmerksamkeit und bewegt mich zu einem Urteil. Der MPV wird im 'Treatise'
jedoch gerade nicht genetisch aus dem (individuellen) Gefühlshaushalt entwickelt und wirkt
dadurch seltsam isoliert, wie ein Fremdkörper. Damit ähnelt der MPV Kants ebenfalls genetisch völlig unzureichend begründetem KI zumindest in seiner dogmatischen Dimension.
Gegenüber Hume wäre einzuwenden, dass wir doch stets unser eigenes Interesse im Auge
haben und überlegen, wie andere dieses (unser eigenes) Interesse auch befördern oder ihm
wenigstens nicht im Weg stehen können, ohne sich (zu sehr) benachteiligt zu fühlen oder besser noch, ohne es richtig zu bemerken. Richtig gesehen könnte es Hume hier nicht darum gehen, dass wir an Stelle unseres eigenen Interesses das Interesse aller anderen Personen setzen,
wenn er sagt "wir sehen bei jenen allgemeinen Urteilen auch von unserem Interesse ab"60,
sondern darum, dass wir unser eigenes Interesse als eines unter vielen betrachten und so weit
als irgend möglich versuchen, es nicht (ganz wesentlich) stärker, als andere Interessen zu gewichten. Hume aber fordert mit dem MPV einen Standpunkt, der nicht nur in seiner eigenen
Lehre unverortbar wirkt, sondern zudem erkenntnistheoretisch und psychologisch schlechthin
unfassbar scheint. Dieser interessenlose Standpunkt wirkt nicht nur nach Humes eigenen
Vorgaben unmöglich, sondern kann über den letztinstanzlich entscheidenden moralischen
Sinn auch kein moralisches Gefühl bewirken, das den Ausschlag über unsere moralische Urteile geben und zudem noch ein entsprechendes Handeln auslösen soll. Indem Hume den festen, allgemeinen, uninteressierten Standpunkt wieder an den moralischen Sinn bindet, versucht er seinen Emotivismus zu retten, bewirkt aber letztendlich doch nur einen weiteren und
damit insgesamt doppelten Bruch mit seiner emotivistischen Morallehre.
58
Hume (Treat) B 3, S. 66.
Hepfers Kritik an Hume: "Um einen unparteiischen Beobachterstandpunkt einnehmen zu können, ist
es notwendig, von eigenen Interessen in unseren Überlegungen abzusehen. Hume hatte aber behauptet,
dass unser Denken immer von Emotionen begleitet sei - die affektenlogische These - und in dieser
Hinsicht ein subjektives Element enthalte. Daher ist es unklar, wie die Forderung nach vorurteilsfreier
Abwägung in seiner Theorie zu verstehen ist". Hepfer (1997) S. 113f.
Stroud weist auf die starken rationalistischen Hintergrundannahmen hin, derer sich Hume bedienen
muss, damit sein idealisierter Beurteilungsstandpunkt (im Treat) tatsächlich die Rolle übernehmen
kann, die Hume ihm zuschreibt. Stroud (1977) S. 192.
Brand bemerkt: "Impartiality in any strict sense, without any reference to oneself, either actual or
sympathetic, lies outside the Science of Man. Hume does not try to deny this". Brand (1992) S. 123.
60
Hume (Treat) B 3, S. 167.
59
33
Erst im weitaus reiferen 'Enquiry', wo Hume versucht, das allgemeine Nutzenprinzip aus
dem individuellen Interesse am eigenen Nutzen zu entwickeln, gelingt ihm die genetische
Verbindung von subjektiven und intersubjektiven Moralvorstellungen. Vielleicht hält Hume
den 'Enquiry' (der eine Neufassung des 3. Buches seines 'Treatise of Human Nature' bildet) in
seinen autobiographischen Aufzeichnungen auch deshalb für "unvergleichlich viel besser" als
seinen 'Treatise', obgleich ihm viele Interpreten vorwerfen, diese spätere Schrift sei nicht so
differenziert wie sein moralisches Erstlingswerk.61 Dessen ungeachtet glaubt Hume mit dem
Nutzenprinzip im 'Enquiry' schlussendlich doch den richtigen und entscheidenden moralischen Beurteilungsmaßstab gefunden zu haben: "... so muss doch eine Wahl oder Unterscheidung stattfinden zwischen dem, was nützlich ist, und dem, was schädlich ist. Diese Unterscheidung ist nun in jeder Hinsicht mit der moralischen Unterscheidung identisch, nach deren
Grundlage man so oft und so vergeblich geforscht hat."62 Für Hume lassen sich alle Aspekte
von Tugend und Laster im 'Enquiry' nunmehr unter dem Gesichtspunkt des von ihnen bewirkten Nutzens und Schadens einheitlich moralisch beurteilen.63 Das Nutzenprinzip erfährt im
Verlauf dieser Untersuchung noch zahlreiche Modifikationen, bis es für Hume durch Erfahrung hinreichend gestützt als Moralkriterium akzeptiert werden kann. Dieser Weg führt über
die Verstandesebene hinaus bis zur Vernunftebene. In Abgrenzung beider prägnanter Rationalitätsstufen lässt sich wohl (mit Hume) vereinfachend sagen, dass der Verstand den kurzfristigen (eigenen) Nutzen und Vernunft den (allgemeinen) langfristigen Nutzen beurteilt.
Doch wollen wir zunächst die Humesche Entwicklung des Nutzengedankens auf der Verstandesebene verfolgen: Wissenschaftliche Basis für die Begründung des Nutzen als Moralkriterium bildet bei Hume getreu seiner methodischen Vorgehensweise schlichte Beobachtung.64 Hume sieht sich vor der Aufgabe herauszufinden, " ... inwieweit entweder der Verstand oder das Gefühl bei allen Entscheidungen über Lob und Tadel beteiligt sind."65 Fest
steht schon vor Abschluss dieser Analyse, dass Moralität nicht allein emotivistische Grundlagen haben kann, denn tragfähige Urteile über den vergangenen, gegenwärtigen und vor allem
künftigen Nutzen von Handlungen sind auch für Hume ohne Verstandesleistungen undenkbar;
Evaluierung und Vergleich von Nutzen setzt Urteile über "Tatbestände und Relationen" voraus.66 Natürlich stellt sich sogleich die Frage, wie Nutzen und moralischer Sinn zusammen61
Hume macht vom Treat zum Enq fraglos eine Entwicklung durch, die sich vor allem in einer Verlagerung von Schwerpunkten deutlich macht. Manche Interpreten meinen, Humes Treat sei eher eine
moralpsychologische Schrift, wohingegen der Enq eher eine moralsoziologische Schrift sei. Unübersehbar ist zumindest, dass die Gedanken im Enq plausibler entwickelt und verständlicher dargestellt
werden, dass der Enq auf jeden Fall einen systematisch reiferen Eindruck erweckt. Während Hume
noch im Treat große Schwierigkeiten hat, seine vielen Einzelbeobachtungen zu einer schlüssigen moralischen Theorie zusammenzufügen, wirkt der Enq durch Analyse von Moral unter dem Gesichtspunkt des Nutzens zwar undifferenzierter, als der Treat, aber dafür wesentlich geschlossener.
62
Hume (EnqM) S. 159f.
63
"Es scheint klar zu sein, dass eine Eigenschaft oder Gewohnheit, die wir der Prüfung unterziehen,
von uns unverzüglich getadelt und zu den Mängeln und Unzulänglichkeiten eines Menschen gezählt
wird, wenn sie in irgendeiner Hinsicht für ihren Besitzer nachteilig ist oder ihn zur Arbeit und Beschäftigung unfähig macht. Faulheit, Nachlässigkeit, Mangel an Ordnungssinn und Methode, Starrsinn, Unbeständigkeit, Unbesonnenheit, Leichtgläubigkeit; diese Eigenschaften werden niemals von
jemandem als unwesentlich für einen Charakter gehalten, oder gar als Vorzüge oder Tugenden gepriesen. Der durch sie entstehende Schaden sticht uns sofort ins Auge und gibt uns das Gefühl von
Schmerz und Missbilligung". Hume (Enq.) S. 157.
64
"Nützlichkeit ist angenehm und gewinnt unsere Zustimmung. Das ist eine durch tägliche Beobachtung bestätigte Tatsache". Hume (EnqM) S. 139.
65
Hume (EnqM) S. 215.
66
"Da unserer Annahme zufolge ein Hauptgrund für moralisches Lob in der Nützlichkeit einer Eigenschaft oder Handlung besteht, ist es offensichtlich, dass der Verstand bei allen Entscheidungen dieser
Art einen wesentlichen Anteil haben muss, denn außer dieser Fähigkeit gibt es nichts, das uns über die
34
hängen mögen, denn es geht doch um zwei sehr unterschiedliche kognitive Ebenen: Der Nutzen wird vom Verstand ermittelt während der moralische Sinn lediglich Gefühle bereitstellt.
Hume glaubt dieses Problem lösen zu können, indem er die Beurteilung von Nützlichkeitsvorstellungen dem moralischen Sinn zurechnet, was (erneut) die Schwierigkeit hervorruft, dass
eine höhere kognitive Leistung von einer niedrigeren übertrumpft wird. Im Grunde genommen müsste man nach Hume sagen, der Mensch habe mit dem moralischen Sinn einen bereits
angeborenen Sinn für Nutzen.67 Da aber erst der (entwickelte) Verstand über den Nutzen urteilt, scheint dies evolutionsbiologisch und erkenntnistheoretisch unmöglich.
Ungeachtet der in meinen Augen unlösbaren Probleme hinsichtlich der genetischen und
geltungstheoretischen Stellung des moralischen Sinns gewinnt Hume mit dem Nutzen jedoch
ein Moralkriterium, das sich auch (wieder) auf Handlungen beziehen lässt, was dem moralischen Sinn verwehrt bleiben sollte. Das Nutzenprinzip stellt neben dem emotivistischen
Grundprinzip eine weitere Grundeinsicht dar, die nach meiner Einschätzung weit über die
Humesche Moraltheorie und natürlich auch über die Kantische hinausreicht. Bei Hume nur
durch schlichte Beobachtung eingeführt und abgesichert, werde ich sie im Rahmen meiner
eigenen kontraktualistischen Position noch ausführlicher begründen. Freilich bezieht Hume
das Nutzenprinzip nicht nur auf (moralisch relevante) Handlungen, sondern auch auf Charaktereigenschaften, auf Tugenden und sogar auf körperliche Eigenschaften.68 Als nützlich beurteilen wir nach Hume solche Ereignisse oder Charaktereigenschaften, die in uns Stolz und
Zuneigung auslösen und als schädlich solche Ereignisse oder Charaktereigenschaften, die in
uns Scham und Abneigung bewirken. Dass wir auf unsere eigenen körperlichen Vorzüge und
geistigen Fähigkeiten stolz sind und uns auch zu solchen Menschen hingezogen fühlen, die
ähnliche Eigenschaften und Fähigkeiten haben, lässt sich kaum bestreiten. Dies würde auch
evolutionsbiologisch sinnvoll sein, weil beides einen selektiven Vorteil bietet. Allerdings
bleibt Hume eine Begründung dafür schuldig, worin die spezifisch moralische Bedeutung
dieser Fähigkeiten und Eigenschaften liegen soll, zumal sie anders als moralisches Verhalten
nur sehr wenig durch den Menschen selbst steuerbar sind. Es wirkt schwer nachvollziehbar,
dass eine Person nur deshalb einen geringeren moralischen Wert haben soll, weil sie weniger
attraktiv erscheint. Überzeugender wirkt Humes Hinweis auf den erwünschten Erfolg moralischer Absichten, der jedenfalls ein Mindestmaß an geistigen Fähigkeiten voraussetzt, wodurch er sich als Konsequentialist zu erkennen gibt.69
Der moralische Sinn stellt also eigentlich nicht auf das Gute an sich ab (falls es das im
Kantischem Sinne überhaupt geben kann), sondern auf den Nutzen von natürlichen körperlichen Eigenschaften und geistigen Fähigkeiten, Charakterzügen, Handlungsweisen. Um diesen
elementar wichtigen Argumentationszusammenhang zu stützen, wäre natürlich eine dezidiert
moralisch-normative Begründung und nicht einfach nur eine deskriptiv-moralische (fragwürdige) Tatsachenbehauptung erforderlich. Die schlichte Beobachtung über den Zusammenhang
von Nutzen und Moral könnte vor einem utilitaristischem Hintergrund ganz einfach mit dem
schlagkräftigen Argument gestützt werden, dass sich der Nutzen auf das emotivistische
Tendenzen von Eigenschaften und Handlungen informieren und uns auf ihre vorteilhaften Konsequenzen für die Gesellschaft oder ihren Besitzer aufmerksam machen kann". Hume (EnqM) S. 215.
67
"Wenn daher die Nützlichkeit eine Quelle des moralischen Gefühls ist und wenn diese Nützlichkeit
nicht immer in Bezug auf das Selbst betrachtet wird, dann folgt daraus, dass alles, was zum Glück der
Gesellschaft beiträgt, sich unmittelbar unserer Zustimmung und unserem Wohlwollen empfiehlt".
Hume (EnqM) S. 141.
68
Vorzüge oder Mängel des Körpers und des Besitzes erzeugen aus den gleichen Gründen Lust oder
Unlust. Vgl. Hume (Treat) B 3, S. 203.
69
"Der Hauptgrund, weshalb natürliche Anlagen geschätzt werden, ist ihre Tendenz, der Person, die
sie besitzt, Nutzen zu bringen. Keine Absicht kann mit Erfolg ausgeführt werden, wenn sie nicht von
Klugheit und Besonnenheit geleitet ist; die Güte unserer Absichten genügt nicht allein, um uns einen
glücklichen Ausgang unserer Unternehmungen zu sichern." Hume (Treat) B 3, S. 198f.
35
Grundprinzip der Lustvermehrung und Schmerzvermeidung beziehen soll: Nützlich wäre
dann alles, was die Lustvermehrung und Schmerzvermeidung befördert und schädlich all das,
was der Lustverminderung und Schmerzvermehrung dient. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit
Hume diesen Zusammenhang, der seine eigene Argumentation in einem deutlich günstigeren
Licht erscheinen ließe, selbst explizit herstellt. Wahrscheinlich zutreffender dürfte Laueners
Interpretation sein, nach der uns nicht Gefühle von Lust oder Schmerz zu einer moralischen
Beurteilung führen, sondern gerade umgekehrt Lust und Schmerz nur moralische Zustimmung
oder Ablehnung durch den moralischen Sinn signalisieren. Jedenfalls scheint Hume keinen
direkten Bezug zwischen Nutzen und dem emotivistische Grundprinzip herzustellen. Über
den utilitaristischen Weg, das Nutzenprinzip unmittelbar mit dem emotivistischen Grundprinzip der Lustvermehrung und Schmerzvermeidung zu verbinden, gelangt man allerdings zunächst nur zur subjektiv gültigen Moralvorstellung, dass Menschen für sich selbst Nutzen anstreben, indem sie Lust vermehren und Schmerzen vermeiden möchten.
Weitaus anspruchsvoller als eine Bestätigung des Nutzens als subjektive Moralvorstellung
muss sicher die Begründung des Nutzens als intersubjektives Moralkriterium ausfallen. Da
unser Handeln nach Hume in jedem Fall eines emotivistischen Antriebs bedarf, wäre das
Handeln nach subjektiven Moralvorstellungen zum eigenen Nutzen auf Egoismus zurückzuführen und das Handeln nach intersubjektiven Moralvorstellungen zum allgemeinen Nutzen
auf Sympathie in Gestalt des Mitgefühls. Noch im 'Treatise' führt Hume Sympathie eher als
einen natürlichen Mechanismus ein, der es ermöglicht, die Gefühle anderer nachvollziehen zu
können, während im 'Enquiry' Sympathie (als Mitgefühl) mehr zu einem anteilnehmenden
Gefühl wird.70 Getreu seiner empiristischen Methodik liefert Hume (zunächst) keine normative Begründung, sondern nur eine deskriptive Erklärung für intersubjektives moralisches Verhalten über das Sympathieprinzip71, die mir allerdings etwas zu euphemistisch zu sein scheint:
Das Sympathieprinzip beschreibt nicht etwa die vom Alltagsgebrauch des Begriffs her bekannte Zuneigung zu anderen Menschen, sondern es erklärt nach Hume die psychologischen
Grundlagen, die überhaupt erst so etwas elementares wie Kommunikation und Interaktion von
Menschen ermöglichen. Hume versteht unter 'Sympathie' das in der menschlichen Natur angelegte Vermögen, fremde Gemütsbewegungen nachzuempfinden. Wir fühlen nach Hume mit
70
Vgl. Pauer-Studer (2007) S. 355.
"Wir freuen uns ihrer Freuden und bekümmern uns um ihren Schmerz, nur vermöge der Kraft der
Sympathie. Nichts, was sie betrifft, ist uns gleichgültig; diese Übereinstimmung der Gefühle aber ist
die natürliche Begleiterin der Liebe, und ruft daher leicht diesen Affekt hervor". Hume (Treat) B 2, S.
398. Die Verbindung des Sympathieprinzips mit unserem eigenen Lust- und Unlusterlebnissen ist
zwar nicht so offensichtlich, wie die Verbindung von Lust und Unlust mit der Frage der effizientesten
Verfolgung unseres eigenen Interesses - doch dadurch, dass wir an den Freuden und Leiden anderer
Menschen emotional teilnehmen, werden auch unsere eigenen Affekte berührt: "Die Gefühle anderer
können uns nicht erregen, wenn sie nicht in gewissem Grade die unsrigen werden. Dann erst wirken
sie auf uns, so dass sie unsere Affekte bekämpfen oder steigern, ebenso als ob sie ursprünglich aus
unserer eigenen Stimmung und Gemütslage resultierten". Hume (Treat) B 3, S. 179. Und unter dieser
Annahme ist unser eigenes Interesse an ihrem Wohlergehen in der Tat offensichtlich, denn ihr Leiden
erzeugt in uns dieselben unangenehmen Affekte, ihr Wohlergehen dieselben angenehmen Affekte, wie
diejenigen, die wir [an uns selbst] beobachten. Um eigenes Leid zu vermeiden und eigenes Wohlergehen zu befördern, kümmern wir uns also um das Wohlergehen anderer Menschen und versuchen
Schaden von ihnen abzuwenden. Auch diese Erklärung moralischen Verhaltens verlässt den Rahmen
des Lust- und Unlust-Modells und egoistischer Überlegungen nicht. "Wird irgendeine Gemütsbewegung uns auf dem Wege des Mitgefühls eingeflößt, so ist das Erste, dass wir sie an ihren Wirkungen,
d. h. an jenen äußeren Anzeichen, in Aussehen und in Rede, die eine Vorstellung derselben nach sich
ziehen, erkennen. Diese Vorstellung verwandelt sich aber weiterhin in einen Eindruck und gewinnt
einen solchen Grad von Stärke und Lebhaftigkeit, dass sie zum entsprechenden wirklichen Affekt
wird, und die gleiche Gefühlserregung hervorruft, wie irgendeine originale Gemütsbewegung". Hume
(Treat) B 2, S. 338.
71
36
anderen Menschen mit und und teilen deren Freude oder Leid. Eigenschaften und Fähigkeiten, die bei uns selbst über den moral sense als angenehm empfundene Affekte (Stolz, Zuneigung) auslösen, werden auch dann in uns erweckt, wenn wir sie bei anderen Personen wahrnehmen. In diesem pathologischen Sinne des Humeschen Sympathieprinzips72 wird die Freude anderer Menschen unweigerlich zu unserer eigenen Freude und das Leid anderer Menschen unvermeidlich zu unserem eigenen Leid.
Durch aktuelle neurologische Forschung scheint das Humesche Sympathieprinzip in seiner
psychologischen Dimension bestätigt zu werden: Wenn Menschen sehen oder sich vorstellen,
wie eine andere Person Schmerzen erleidet, reagiert ihr Nervensystem normalerweise ähnlich,
als wären sie selbst betroffen. Die Fähigkeit zur Empathie und zum emotionalen Verständnis
anderer Menschen beruht darauf, dass die Vorstellungen vom andern im Gehirn des Empfängers aktiviert und spürbar werden. Dieses wird durch das System der Spiegelneuronen ermöglicht73 und steuert den durch Spiegelnervenzellen vermittelten Vorgang der Wahrnehmung
anderer Menschen. Da dieser Mechanismus allen Menschen eigen ist, stellt das System der
Spiegelnervenzellen ein überindividuelles neuronales Format dar, durch das ein gemeinsamer
zwischenmenschlicher Bedeutungshorizont eröffnet wird.74 Allerdings stößt dieses grundlegende psychologische und neuronale Prinzip bereits auf einer soziologischer Ebene der Erklärung menschlichen Verhaltens an seine Grenzen, denn es dürfte unter diesen Voraussetzungen
keine oder zumindest kaum Konkurrenz oder Konflikte in einer Gesellschaft geben, weil etwa
der Bankrott eines Geschäftsmanns oder ein Ehebruch großes Leid nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, sondern bei allen Menschen auslöst, die davon erfahren. Aber es ist doch
eine im Humeschen Sinne kaum bestreitbare Tatsache, dass uns besonders die Fehler und
Missgeschicke politischer Gegner, geschäftlicher Konkurrenten oder persönlicher Feinde eher
freuen, als missfallen. Mit Hume ließe sich diese Diskrepanz (allerdings unzureichend) mit
dem Egoismus des Menschen erklären, der in aller Regel stärker vorliegt, als Sympathie, das
Mitgefühl für andere Menschen.
Die Standpunktbezogenheit von Gefühlen hatte Hume selbst schon diagnostiziert. Aber bereits hier auf der Verstandesebene gewinnt seine Forderung "unsere Gefühle allgemeiner und
sozialer zu machen"75 einiges an Gewicht. Man könnte darauf erwidern, dass sich Gefühle
eben nicht beliebig steuern lassen, ebenso wenig wie unsere Empfindungen von Naturvorgängen beliebig beeinflussbar sind, aber man darf wenigstens annehmen, dass man die mit seinen
Gefühlen verbundenen Urteile durch Verstand (und Vernunft) "allgemeiner und sozialer" machen könne. Sinnvoller, aber im Humeschen emotivistischen Zusammenhang noch weniger
plausibel wäre deshalb die Forderung, unsere Gefühle stärker durch Verstand und natürlich
vor allem durch Vernunft stärker zu kontrollieren, als die Gefühle selbst abändern zu wollen.
Dennoch stellt sich Humes Moraltheorie hier einmal mehr als engagiertes Plädoyer für mehr
Mitgefühl, für mehr Menschlichkeit in der Welt dar, mit dem er sich nicht zuletzt wohl auch
72
"Es ergibt sich also, dass das Mitgefühl ein sehr mächtiges Prinzip in der menschlichen Natur ist,
dass es großen Einfluss auf unseren Geschmack bei der Beurteilung des Schönen hat und dass es unser
moralisches Gefühlbei allen künstlichen Tugenden erzeugt". Hume (Treat) B 3, S. 161. Nach Hume
besteht jedoch " keine Notwendigkeit, unsere Untersuchung bis zur Frage voranzutreiben, warum wir
Menschlichkeit oder ein Mitgefühl für andere besitzen. Es genügt die Erfahrung, dass dies ein Prinzip
in der menschlichen Natur ist". Hume (EnqM) S. 141 Fn. Mitgefühl stärkt den emotionalen Zusammenhalt innerhalb einer Population. Populationen, in denen sich die Menschen umeinander kümmern,
in denen die Menschen starke emotionale Zuwendung erfahren, dürften erfolgreicher sein, als gefühlskältere Populationen. Außerdem dürften Populationen, in denen sich die Menschen gut miteinander
verstehen, erfolgreich miteinander kooperieren können.
73
Vgl. Bauer (2005) S. 17.
74
Vgl. Bauer (2005) S. 166.
75
Hume (EnqM) S. Enq 152.
37
von Hobbes und Locke absetzen wollte.76 Jedenfalls baut die Humesche Forderung, die eigenen Gefühle "allgemeiner und sozialer zu machen" zumindest indirekt eine Brücke zur soziologischen Begründung des Nutzenprinzips, wie sie im 'Enquiry' gegeben wird: Tugenden fördern die Interessen der Gesellschaft und werden deshalb auch zu Tugenden für jeden einzelnen Menschen.77
Angebliche 'Tugenden', die nicht auf das Nutzenprinzip reduzierbar sind, verwirft Hume.78
Zwar könnte hier eingewandt werden, dass mönchische Tugenden zumindest aus Sicht der
katholischen Kirche nützlich waren, aber dass sie jedenfalls nicht dem öffentlichen (allgemeinen) Interesse dienen, dürfte kaum bestreitbar sein, weil sich religiöse Überzeugungen weder
auf Tatsachen gründen, noch durch Tatsachen belegen lassen. Das Nutzenprinzip gewinnt bei
Hume auf diesem Wege auch unabhängig von (natürlichen) Tugenden eigenständige Bedeutung als Moralkriterium. Mit seinem Plädoyer für die Wahl des (jeweils) größeren Nutzens
stellt Hume sogar eine Hauptforderung des mit ihm einsetzenden Utilitarismus auf: "In vielen
Fällen gibt diese Angelegenheit Anlass zu großen Meinungsverschiedenheiten: Zweifel können entstehen; entgegengesetzte Interessen können auftauchen; und einer Seite muss der Vorzug gegeben werden aufgrund genauer Überlegungen und eines geringfügigen Übergewichts
an Nützlichkeit".79 Und prägnanter: "Die einzige Mühe, die sie verlangt, ist die einer genauen
Abwägung und einer beständigen Bevorzugung des größeren Glücks".80 Trotz dieser eindeutigen Textbefunde lehnt es Cohen für mich unverständlich ab, Hume eine utilitaristische Position zuzuschreiben.81 Wenn wir nun die beiden treibenden Grundprinzipien menschlichen
76
Vgl. Hume (EnqM) S. Enq. 228.
"Eigenschaften beziehen ihren Wert häufig aus komplexen Ursachen. Ehrlichkeit, Treue, Wahrhaftigkeit werden wegen ihrer unmittelbaren Tendenz gelobt, die Interessen der Gesellschaft zu fördern;
wurden aber diese Tugenden einmal auf dieser Grundlage anerkannt, werden sie auch als vorteilhaft
für die Person selbst und als die Quelle jenes Vertrauens und jener Zuversicht angesehen, die allein
einem Menschen im Leben Ansehen verleihen können" Hume (EnqM) S. 163.
78
"Und da jede Eigenschaft, die uns oder anderen nützlich oder angenehm ist, im täglichen Leben als
Teil des persönlichen Ansehens Anerkennung findet, wird keine andere jemals akzeptiert werden,
wenn Menschen mit ihrem natürlichen, unvoreingenommenen Verstand urteilen, ohne die trügerischen
Auslegungen des Aberglaubens und der falschen Religion. Zölibat, Fasten, Buße, Kasteiungen,
Selbstverleugnung, Erniedrigung, Schweigen, Einsamkeit und die ganze Reihe mönchischer Tugenden; aus welchem anderen Grund werden sie überall von vernünftigen Menschen verworfen, wenn
nicht deshalb, weil sie völlig zwecklos sind, weder das Glück des Menschen in der Welt fördern, noch
ihn zu einem wertvolleren Mitglied der Gesellschaft machen, ihn weder zur geselligen Unterhaltung
befähigen, noch die Gabe, an sich selbst Gefallen zu finden, vergrößern? Im Gegenteil beobachten wir,
dass sie alle wünschenswerten Ziele durchkreuzen, den Verstand abstumpfen, das Herz verhärten, die
Phantasie verdüstern und das Gemüt verbittern. Wir setzen sie daher mit Recht auf die Gegenliste und
reihen sie unter die Laster ein; auch hat kein Aberglaube bei Männern von Welt genügend Macht,
diese natürlichen Empfindungen gänzlich zu verderben. Ein düsterer, verrückter Schwärmer mag vielleicht nach seinem Tod eine Stelle im Kalender finden; aber bei Lebzeiten wird er kaum jemals zu
vertrautem Umgang und zur Gesellschaft zugelassen werden, es sei denn von jenen, die ebenso wahnsinnig und bedrückend sind wie er." Hume (EnqM) S. 198f.
79
Hume (EnqM) S. 215.
80
Hume (EnqM) S. 209.
81
Von Cohon richtig gesehen: "There is some textual evidence that Hume does think that social utility
is the foundation of norms of virtue, at least in the moral Enquiry and thereafter". Cohon (2008) S.
255. Aufgrund der oben im Haupttext aufgeführten Zitate meint Cohon jedoch unzutreffend: "It is not
a maximizing utilitarianism, of course, and its primary focus for evaluation is a quality of mind rather
than an action. But it is a kind of utilitarianism nonetheless, in that it treats social utility as the essence
of moral virtue, and this seriously undercuts Hume's sentimentalism. (Cohon (2008) S. 258. Nach
meiner Einschätzung konstruiert Cohon völlig unnötig einen Konflikt zwischen Humes Emotivismus
und seinem Nutzendenken: "The most difficult of Hume's claims to square with the social utility interpretation of the foundation of norms, though, is his denial that moral distinctions are relations discov77
38
Denkens, Wollens und Handelns, nämlich Lust und Unlust auf die maßgeblichen moralischen
Affekte übertragen, sollte die Gesellschaft im Sinne Humes dafür sorgen, dass ein Handeln,
welches allen nutzt, bei uns Stolz hervorruft und ein Verhalten, das Schaden anrichtet, Scham.
Hume sagt selbst, dass eine Gesellschaft für sie insgesamt nützliche Eigenschaften anerkennt und als normative Forderungen auf ihre einzelnen Mitglieder projiziert. Allerdings
bleibt noch zu klären, wie diese Interaktion von ihrer kognitiven Seite her funktionieren kann?
Offenbar erfordert dies doch eine stärkere Rolle der rationalen (verstandesbasierten) Fähigkeiten des Menschen, als es die emotivistische Intention Humes bislang zugelassen hat: "Die
menschliche Natur besteht nun einmal aus zwei Hauptfaktoren, die zu allen ihren Handlungen
notwendig sind, nämlich aus den Neigungen und dem Verstande, nur die blinden Aktivitäten
der ersteren, ohne die Leitung des letzteren, machen die Menschen für die Gesellschaft untauglich."82 Natürlich fragt sich hier, wie der Verstand in der Lage sein soll, die Affekte zu
steuern, wo er doch "Sklave" der Affekte sein soll? Jedenfalls scheint Hume nach wie vor
dem Verstand gegenüber dem moralischen Sinn keine Priorität einzuräumen. Vielmehr versucht er die Konkurrenz zwischen Emotionalität und Rationalität dahingehend aufzulösen,
dass erstere (weiterhin) für unsere Handlungsziele zuständig bleibt während letztere allein für
die Eruierung der optimalen Zweck-Mittel Relation.83
Aber wie kann der moralische Sinn als Naturanlage Zwecke vorgeben, die einer Gesellschaft nützlich sind? Der moralische Sinn müsste (als angeborenes Organ) durch die gesellschaftlichen Anforderungen geprägt deutlich jünger sein, als alle Anfänge menschlicher Gesellschaften, mithin ist diese Vorstellung evolutionsbiologisch unhaltbar.84 Um Humes These
zu stützen, könnte man die Hypothese aufstellen, es ginge bei der Ermittlung und Realisierung
des Nutzens letztendlich immer nur um die Suche nach Lust und die Vermeidung von
Schmerz. Vor diesem Hintergrund wäre die Entwicklung arbeitsteiliger Gesellschaften, wie
sie die Menschheit seit einigen tausend Jahren betreibt, darauf ausgerichtet, solche Merkmale
erable by any sort of reasoning, including causal reasoning". Cohon (2008) S. 258. Für mich viel plausibler wirkt demgegenüber eine emotivistische Fundierung seines Utilitarismus, nicht eine Entgegensetzung. "But the public utility or disutility of a trait is simply a causal property of that trait that can be
discerned by careful use of cause-and-effect reasoning. It does not arise entirely from the sentiment of
disapprobation". Cohon (2008) S. 259. Das scheint mir nicht ganz richtig, denn die Nützlichkeit könnte sich gerade darauf beziehen, inwieweit sie positive Gefühle bei allen oder zumindest vielen Menschen befördert und negative Gefühle verhindert. "Causal reasoning alone can show us which traits
tend to the good of society, and no capacaty for moral sentiment is needed to apprehend this". Cohon
(2008) S. 259. Das scheint mir auch unzutreffend, denn was gut für die Gesellschaft ist basiert ja gerade darauf, welche Handlungen oder Charakterzüge (allgemein) als positiv oder negativ empfunden
werden. Insofern falsch: "An individual who used the social utility standard could distinguish virtue
from vice, and so form moral judgements, without ever having experienced any moral entiments whatsoever. This is a view not reasonably attributed to Hume on any interpretation". Cohon (2008) S. 260.
Denn die Nützlichkeit im Humeschen Sinne ergibt sich gerade nur aus dem Grundprinzip der (allgemeinen) Lustvermehrung und Schadensvermeidung, hat somit unentbehrliche emotivistische Grundlagen. Der Nutzen einer Gesellschaft könnte demgegenüber auch am Bruttosozialprodukt, der Anzahl
begabter Mathematiker, talentierter Musiker oder eingereichter Patente gemessen werden, was aber
alles andere als im Humeschen Sinne läge.
82
Hume (Treat) B 3, S. 58.
83
"Aber auch wenn der Verstand, falls er vollkommen ausgebildet und entwickelt ist, dafür ausreicht,
um uns über die schädliche oder nützliche Tendenz von Eigenschaften und Handlungen aufzuklären,
genügt er dennoch nicht, um irgendeine moralische Ablehnung oder Zustimmung hervorzurufen.
Nützlichkeit ist nichts anderes als eine Tendenz auf einen bestimmten Zweck hin; und wäre uns der
Zweck gänzlich gleichgültig, so würden wir dieselbe Gleichgültigkeit auch gegenüber den Mitteln
empfinden. Hume (EnqM) S. 216.
84
Moralische Gefühle wurden im Verlauf der Evolution entwickelt, um auf zwischenmenschliche
Konflikte zu reagieren. Daher können intuitive oder auch instinktive moralische Verhaltensweisen in
der modernen, anonymen Massengesellschaft bisweilen irreführend sein.
39
des Menschen zu fördern, die zum Erfolg der Gesellschaft beitragen, mithin durch die gesellschaftliche Entwicklung solche Menschen begünstigt sind, die sich durch Fleiß, Ausdauer,
Anpassungsvermögen, Mut, Kooperationsbereitschaft auszeichnen und damit eben letztendlich auch der kollektiven Schmerzvermeidung und Lustsuche dienen. Dies aber wären durch
Erziehung erworbene soziale Fähigkeiten und weniger natürliche Fähigkeiten im Sinne Humes, die bei allen Menschen (wie der moralische Sinn) zur Naturausstattung gehören sollen.
Dennoch beharrt Hume darauf, dass der Verstand lediglich darüber informiert, wie Lust zu
suchen und wie Schmerz zu vermeiden sind.85 In dieser Hinsicht bekräftigt Hume sogar seine
Einschätzung, dass nicht nur der Ausgangspunkt (moralischer) Handlungen auf einem Gefühl
beruht, das Grundlage für die Aktivitäten des Verstandes ist, der dann eine dem Gefühl entsprechende optimale Handlung gedanklich durchspielt, mithin plant, sondern auch Endpunkt
der (moralischen) Handlungsentscheidung. (Moralische) Handlungen werden nach Hume also
(im 'Treatise' und auch im 'Enquiry') nicht etwa durch Verstand oder Vernunft auf der Basis
von Gefühlen generiert und exekutiert, sondern durch die vom moralischen Sinn hervorgebrachten (moralischen) Gefühle.86 Wenn aber Humes Forderung gemäß dennoch der Verstand
die "Leitung" über Gefühle übernehmen (können) soll, dann müssten mit Hume Gefühle nicht
nur die Aktivitäten des Verstandes maßgeblich steuern, sondern auch umgekehrt Gefühle
durch Aktivitäten des Verstandes zumindest ihrer Intensität nach veränderbar sein, denn Verstand (oder Vernunft) können nach Hume selbst niemals unmittelbar handlungsbestimmend
werden. Anders wären seine Forderungen "unsere Gefühle allgemeiner und sozialer zu machen"87 oder "unsere Gefühle schnell [...] zu berichtigen"88 kaum verständlich.
Die weiterhin unbewältigte Problematik, auf Basis von Gefühlen tragfähige Moralkriterien
durch allgemeine Nutzenvorstellungen zu entwickeln, führt Hume von der ersten Rationalitätsstufe, dem Verstand zur Analyse der zweiten Rationalitätsstufe, der Vernunft. Die inhaltlich und formal sehr problematischen Ausführungen zum vernunftbasierten MPV im 'Treatise'
werden im 'Enquiry' abgemildert, indem neben dem moral sense nicht mehr nur Vernunft Garant für Intersubjektivität zu sein scheint, sondern auch das Gefühl der Menschlichkeit. Intersubjektivität bleibt dadurch offenbar nicht mehr nur auf kognitive Anstrengungen der Vernunft angewiesen, sondern wird (auch) bereits durch die Natur gegeben, weil das Gefühl der
Menschlichkeit nach Hume bei allen Menschen nicht nur gleich ausgeprägt ist, sondern sogar
zu gleichen Urteilen führt: "Aber die auf Menschlichkeit beruhenden Gefühle sind nicht nur
bei allen menschlichen Wesen dieselben und rufen dieselbe Zustimmung oder denselben Tadel hervor, sondern sie schließen auch alle menschlichen Wesen ein; und es gibt auch niemanden, dessen Verhalten oder Charakter durch sie nicht für jeden zum Gegenstand der Billigung oder Missbilligung würde."89 Menschlichkeit, Mitgefühl - mit Hume gesprochen die
85
"Hier gibt uns also der Verstand Aufschluss über die verschiedenen Tendenzen der Handlungen, und
die Menschlichkeit macht eine Unterscheidung zugunsten derjenigen, die nützlich und wohltätig sind".
Hume (EnqM) S. 217.
86
"Aber wenn jede Einzelheit und jede Beziehung bekannt ist, dann hat der Verstand keinen Wirkungsbereich und auch kein Objekt mehr, an dem er sich betätigen könnte. Die Zustimmung oder
Missbilligung, die dann folgt, kann nicht das Werk der Urteilskraft, sondern nur des Herzens sein; und
sie ist keine spekulative Aussage oder Behauptung, sondern ein aktives Gefühl oder Empfinden". Hume (EnqM) S. 221.
87
Hume (EnqM) S. 152.
88
Hume (Treat) B 3, S. 167.
89
Hume (EnqM) S. 201f. "Der Begriff der Moral schließt ein allen Menschen gemeinsames Gefühl
ein, das denselben Gegenstand der allgemeinen Zustimmung empfiehlt; und das alle oder die meisten
Menschen veranlasst, sich davon die gleiche Meinung zu bilden oder darüber dieselbe Entscheidung
zu treffen. Dieser Begriff der Moral schließt ferner ein Gefühl ein, das so universell und umfassend ist,
dass es sich auf die gesamte Menschheit erstreckt; und das die Handlungen und das Verhalten selbst
ganz fernstehender Personen zu einem Gegenstand des Beifalls oder des Tadels macht, je nachdem, ob
40
Fähigkeit zur Sympathie mit dem Glück und Leid anderer Menschen - sind sicher wichtige
psychologische motivationale Grundlagen für Moral, aber noch keine (hinreichend begründeten) moralwissenschaftlichen Kriterien. Denn was bedeutet Menschlichkeit genauer? Hier
müsste Hume zeigen, welches (konkrete) Verhalten auf dem Gefühl der Menschlichkeit beruht, welche (konkreten) Regeln sich aus dem Gefühl der Menschlichkeit ableiten lassen.
Auch die von Hume behauptete Konstanz unserer moralischen Urteile lässt sich noch vor jeder geltungstheoretischen Diskussion an vielen Beispielen bereits empirisch bezweifeln: Etwa
der Abschaffung von Sklaverei oder Menschenopfern, der Bevorzugung von Demokratie gegenüber Monarchie, der Begründung allgemeiner Grund- und Menschenrechte.
Durch Einbeziehung der Menschlichkeit in intersubjektive moralische Urteile entgeht Hume dem Hauptvorwurf, er verlasse auf der Suche nach (begründeten) Moralkriterien die empiristischen Grenzen seiner Moraltheorie. Mit dem Gefühl der Menschlichkeit wird zumindest
ein (gefühlsbasierter) Standpunkt eröffnet, von dem aus moralisches Urteilen (ungeachtet seines Intersubjektivitätsgehalts) von den eigenen emotivistischen Voraussetzungen her möglich
wird. Die entscheidende weiterführende Pointe Humescher Intersubjektivitätsvorstellungen
entsteht jedoch erst im Zusammenhang vom Gefühl der Menschlichkeit mit dem Nutzengedanken. Hume rühmt sich bekanntlich dafür, die Verbindung zwischen Moral und Nutzen erst
aufgedeckt zu haben. Leider fehlt dafür (bislang) eine hinreichend Begründung, denn die im
Rahmen seiner empiristischen Vorgehensweise erhobene (schlichte) Behauptung genügt aus
moralwissenschaftlicher Sicht keineswegs. Für Hume scheint Nutzen jedoch nicht geltungstheoretisch mit dem Prinzip der Lustsuche und Schmerzvermeidung rational verknüpft, sondern lediglich biologisch, nämlich über sein moralisches Gefühl: "Wenn daher die Nützlichkeit eine Quelle des moralischen Gefühls ist und wenn diese Nützlichkeit nicht immer in Bezug auf das Selbst betrachtet wird, dann folgt daraus, dass alles, was zum Glück der Gesellschaft beiträgt, sich unmittelbar unserer Zustimmung und unserem Wohlwollen empfiehlt."90
Wegen der durchaus anzweifelbaren (historischen) Kontinuität unseres Gefühls der Menschlichkeit "seit dem Fall von Griechenland und Rom" erwächst dem Nutzengedanken im 'Enquiry' entscheidende systembildende Bedeutung.
Durch die Verbindung des Gefühls der Menschlichkeit mit dem Nutzengedanken wird
nämlich einerseits die Kluft zwischen individuellem (egoistischem) Nutzenstreben sowie allgemeiner (altruistischer) Nutzenorientierung zumindest überwindbar und andererseits erhält
Humes Forderung nach einem "festen, allgemeinen und unparteiischen" Standpunkt eine inhaltlich füllbare Kontur. Humes Sympathieprinzip besagt eigentlich nur, dass wir mit anderen
Menschen mitfühlen; aber erst durch das Gefühl der Menschlichkeit wird uns (über unseren
eigenen Egoismus hinaus) auch der Nutzen anderer Menschen wichtig.91 Nutzen bedeutet auf
das Humesche Grundprinzip der Lustsuche und Schmerzvermeidung bezogen, anderen Menschen Freude zu bereiten und Schaden zu vermeiden. Durch diesen naheliegenden, aber von
Hume (soweit ersichtlich) gar nicht selbst explizit hergestellten Bezug, erhält das Gefühl der
Menschlichkeit die erforderliche nähere moraltheoretische Bestimmung. Das von Hume im
'Enquiry' eingeführte Nutzenprinzip erlaubt es zusammen mit dem Gefühl der Menschlichkeit
nunmehr, moralisches Handeln nicht nur zu qualifizieren, sondern sogar zu operationalisieren:
diese mit jenem anerkannten Rechtsgrundsatz übereinstimmen oder nicht. Diese beiden notwendigen
Bedingungen treffen allein auf das Gefühl der Menschlichkeit zu, auf das hier Gewicht gelegt wurde.
Hume (EnqM) S. 200.
90
Hume (EnqM) S. 141.
91
"Es ist erforderlich, dass sich hier ein Gefühl einstellt, damit den nützlichen gegenüber den schädlichen Tendenzen der Vorzug gegeben wird. Dieses Gefühl kann kein anderes sein als eine Sympathie
mit dem Glück der Menschheit und eine Empörung über ihr Elend, da dies die verschiedenen Ziele
sind, auf deren Förderung Tugend und Laster hinarbeiten. Hier gibt uns also der Verstand Aufschluss
über die verschiedenen Tendenzen der Handlungen, und die Menschlichkeit macht eine Unterscheidung zugunsten derjenigen, die nützlich und wohltätig sind". Hume (EnqM) S. 217.
41
Der Nutzen einer auf Menschlichkeit beruhenden moralischen Handlung lässt sich daran bemessen, in welchem Ausmaß Lust (für andere) gestiftet und Schmerz, Schaden (für andere)
vermieden wird. Das ursprünglich recht diffus wirkende Gefühl der Menschlichkeit wird als
moralische Vorschrift zur Lustförderung und Schmerzvermeidung durch das Nutzenprinzip
wesentlich plastischer, gehaltvoller; es erlaubt relativ genau abzuwägen, wie viel Lustförderung und Schmerzvermeidung durch eine Handlung erzeugt wird. Einem Durstenden kann ich
ein Glas Wasser, eine Flasche Wasser, eine Kiste Wasser zur Verfügung stellen und damit
den Grad an Moralität einer Handlung bestimmen. Erst die Qualifizierung der Handlungsmotivation und Handlungsfolgen anhand des Nutzenprinzips ermöglicht eine Hierarchisierung
moralischer Handlungen in diesem Sinne und erst der Zusammenhang von Grundprinzip der
Lustsuche und Schmerzvermeidung, Menschlichkeit und Nutzenprinzip schaffen aufeinander
bezogen eine plausible Argumentationskette in der moralischen Kriteriensuche.
Im Humeschen Moralkriterium werden mit Menschlichkeit die emotionale anthropologische Seite der Moral und mit dem Nutzenprinzip die rationale kognitive Seite der Moral miteinander verbunden. Beides zusammen ergibt erst Moral.92 Denn als Aufgabe der Vernunft
verbleibt im 'Enquiry' die Funktion, die Größe des Nutzens durch einen Vergleich von Tatsachen und eine Beurteilung der Zweck-Mittel-Relation zu bestimmen. Somit kann Hume mit
Recht sagen, "die Regeln der Moral sind ... keine Ergebnisse unserer Vernunft".93 Vernunft
schafft aus sich selbst heraus keinen moralischen Standpunkt, sondern elaboriert ihn nur, vergleicht vorhandene Handlungsabsichten mit Handlungsalternativen unter dem Gesichtspunkt
des (allgemeinen) Nutzens. Aber in diesem Sinne können unsere moralischen Urteile hier im
'Enquiry' - ganz im Gegensatz zu Humes Meinung aus dem 'Treatise' eben doch vernünftig
oder unvernünftig sein.94 Vernünftig und damit moralisch wird eine Handlung dadurch, dass
sie anderen Menschen nutzt und nicht schadet oder genauer: Je mehr eine Handlung anderen
Menschen nutzt und je weniger sie anderen schadet, umso vernünftiger wird sie und umgekehrt je mehr eine Handlung anderen Menschen schadet und je weniger sie anderen nutzt,
umso unvernünftiger wird sie. Bezogen auf den nur durch Verstand und Vernunft zu ermittelnden Nutzen kann somit eine Handlung durchaus mehr oder weniger nützlich und damit
mehr oder weniger vernünftig sein. Genau in diesem Sinne lässt sich im Zusammenhang des
Nutzenprinzips mit Hume zu recht von "allgemeinen Regeln der Moral"95 sprechen.
Aus geltungstheoretischer moralischer Sicht wäre mit dem Nutzenprinzip als Moralprinzip
im Dienste der Menschlichkeit und damit als Prinzip zur allgemeinen Lustvermehrung und
Schmerzvermeidung eigentlich ein brauchbares Moralkriterium für unsere Handlungen bereits
gefunden. Für Hume als Emotivisten können aber nur Gefühle und nicht bereits Urteile handlungsbestimmend sein, wodurch Humes unsäglicher moralischer Sinn ein weiteres mal zu
Rang und Ehren kommt. Die abschließende Bewertung der moralischen Qualität einer Handlung obliegt dem moralische Sinn, der entweder Wohlbefinden oder Ablehnung auslösen
muss; der moralische Sinn bleibt (auch im 'Enquiry') über der Verstandesebene und Vernunftebene ausschlaggebender moralischer Gerichtshof.96 Wie schon auf der Verstandesebene findet auch hier auf der Vernunftebene eine Rückkopplung des moralischen Urteils an ein (letztlich entscheidendes) moralisches Gefühl statt, wodurch sich Hume erneut als fundamentaler
Emotivist kennzeichnet.
92
Vgl. Hume (EnqM) S. 90f.
Hume (Treat) B 3, S. 15.
94
"Handlungen können lobenswert oder tadelnswert sein, nicht aber vernünftig oder unvernünftig
sein". Hume (Treat) B 3, S. 17.
95
Hume (Treat) B 3, S. 168.
96
Hume behauptet: " ... Moralität werde durch das Gefühl bestimmt. Sie versteht unter Tugend jede
geistige Tätigkeit oder Eigenschaft, die einem Betrachter das angenehme Gefühl der Zustimmung gibt;
und unter Laster das Gegenteil". Hume (EnqM) S. 220.
93
42
Durch das Gefühl der Menschlichkeit, das Grundprinzip der Lustsuche und Schmerzvermeidung, die Beachtung des Nutzenprinzips (und den moralischen Sinn) gelangen wir nach
Hume erst zu intersubjektiv gültigen moralischen Urteilen, welche aber nicht zwangsläufig
unser Handeln bestimmen. Vielmehr scheint es so, dass ein am allgemeinen Nutzen orientiertes langfristiges Denken unseres am kurzfristigen Eigennutz orientiertes Denken beeinflussen
kann. Durch Vernunft, durch Orientierung am langfristigen Nutzen wird es immerhin möglich, die Gefühle der Selbstliebe, des Ehrgeizes, der Eitelkeit in ihrer Wirksamkeit einzugrenzen: "Und durch solche allgemeinen Prinzipien werden die besonderen Gefühle der Selbstliebe häufig kontrolliert und eingeschränkt."97 Das Ziel, auf das Affekte letztendlich hin korrigiert werden sollen, besteht darin, unsere grundlegenden (egoistischen) Bedürfnisse im Rahmen allgemein verträglicher Bedürfnisbefriedigung zu verfolgen. Nach Hume müssen Menschen regelrecht dahingehend erzogen werden, was einen langen gesellschaftlichen Sozialisationsprozeß voraussetzt.98 Auch die Verwirklichung von Moral bedeutet bei Hume damit vor
allem eine emotionale (allgemeine) kulturelle Aufgabe (Erziehung) und keine (individuelle)
kognitive Aufgabe (Einsicht, Überzeugung, Erkenntnis). In diesen allgemeinen kulturellen
Dienst stellt Hume auch seine eigene Moraltheorie, wenn er von ihr erhofft, dass sie "zur Verbesserung des Lebens der Menschen und zu ihrem Fortschritt in der Moral und in den sozialen Tugenden"99 einen Beitrag leisten werde.
Weil Hume nicht hinreichend zwischen psychologischer Wirkung und erkenntnistheoretischer Funktion der Vernunft unterscheidet, entgeht ihm jedoch ein wichtiger Aspekt: Zwar
scheint Hume in der Frage, ob unser (moralisches) Handeln im Alltag weitgehend durch Gefühle bestimmt wird, weitgehend Recht zu haben, jedoch übersieht er, dass die Frage, ob moralische Normen auch nur durch Gefühle (wissenschaftlich) erkannt (und begründet) werden
können, eine ganz andere Herausforderung darstellt. Denn über den Nutzen entscheidet doch
Vernunft - selbst wenn Gefühle (Freude und Schmerz) die Basis für die Art des Nutzens bilden sollten. Hume steht auch noch im 'Enquiry' vor folgendem grundlegenden Problem: Sein
ausgeprägter Anti-Rationalismus erlaubt ihm nur eine emotivistische Moralbegründung. Dieser Emotivismus leistet zwar relativ gute Dienste bei der Erklärung von (moralischen) Handlungen (im Alltag), stößt aber bei der (wissenschaftlichen) Begründung moralischen Handelns
(moralischer Normen) an seine Grenzen. In dieser Zwickmühle steckend verwickelt sich Hume einmal mehr in zahlreiche Ungereimtheiten und Widersprüche.
Hume übersieht, dass selbst wenn Gefühle in der Genese moralischer Urteile den Ausgangspunkt bilden, sie noch lange nicht auch deren Geltung begründen müssen. Die vom moralischen Sinn ausgelösten Affekte und die damit verbundenen (positiven) Gefühle sind bei
Hume jedoch letztendlich ausschlaggebende Geltungskriterien moralischer Urteile. Aber aus
der Humeschen Einschätzung, dass Vernunft nicht in der Lage sei, moralische Unterscheidungen zu entdecken oder selbst die Basis für moralische Regeln zu schaffen, folgt keineswegs, dass sie (auch) nicht in der Lage sein kann, moralische Urteile zu rechtfertigen. Moral
könnte emotivistische Grundlagen haben, die aber anhand von Rationalitätskriterien (etwa
Nutzen für Gesellschaft) durch Verstand und Vernunft zu begründen wären. Dieser von mir
vertretene Standpunkt würde zwar zu Humes Empirismus, aber nicht zu seinem Emotivismus
oder gar seinem ausgeprägten Anti-Rationalismus passen. Durch eine transzendentale Analy97
Hume (EnqM) S. 203.
"Die öffentliche Unterweisung der Politiker und die private Erziehung der Eltern trägt dazu bei, dass
wir das Gefühl des Ehrenvollen und Pflichtgemäßen gewinnen, wenn wir unsere Handlungen in Bezug
auf das Eigentum anderer streng regeln". Hume (Treat) B 3, S. 109. "Alles, was sie [Moralisten oder
Staatsmänner] erreichen können, besteht in Wahrheit darin, dass sie jenen natürlichen Affekten eine
neue Richtung geben und uns lehren, dass wir unsere Bedürfnisse auf indirekte und künstliche Weise
besser befriedigen können, als wenn wir diese ihren impulsiven und ungestümen Bewegungen überlassen". Hume (Treat) B 3, S. 94.
99
Hume (EnqM) S. 208.
98
43
se unseres moralischen Urteilsvermögens könnte in dieser Frage mehr Klarheit geschaffen
werden. Über seine moral-sense Theorie schafft es Hume jedoch weder genetisch, noch geltungstheoretisch, verstandesbasierte und vernunftbasierte Urteile konzeptionell überzeugend
in seiner Moraltheorie zu integrieren.
Humes Lehre vom moralischen Sinn verdunkelt die Bedeutung von Gefühlen im Zusammenhang mit Moralität eher, als sie diese erhellt, sie schafft weit mehr Probleme als sie löst.
Zahlreiche Interpreten zeigen sich skeptisch gegenüber diesem Theoriestück, denn Hume
zeigt weder im 'Treatise' noch im 'Enquiry', wie dieses in der menschlichen Natur angelegte,
besondere Vermögen angemessen verstanden werden kann und es lässt sich auch nicht ohne
weiteres systematisch schlüssig mit den anderen Theorieteilen verbinden. Humes moral-sense
Lehre bildet keine notwendige Schlussfolgerung aus seiner richtigen Einschätzung von der
Gefühlsbasiertheit unserer Moralvorstellungen, sondern schuldet sich wohl in erster Linie
seinem Respekt gegenüber Hutcheson und dem eigenen Anti-Rationalismus. Das Scheitern
seiner moral sense Lehre berührt aber nicht zwangsläufig seine (richtige) Einschätzung von
der Gefühlsbasiertheit unserer Moralvorstellungen. Den richtigen Schritt von den Prinzipien
zur Lustgewinnung und Schmerzvermeidung direkt zum Nutzenprinzip unter Ausklammerung
der Lehre vom moral sense werden erst Bentham und Mill vollziehen. Freilich bleiben auch
Bentham mit seinem quantitativen und Mill mit seinem qualitativen Utilitarismus hinter den
sich durch das Nutzenprinzip eröffnenden Möglichkeiten noch zurück. Diese Lücke wird erst
Sen mit Überlegungen zum Nutzen von Freiheitsrechten schließen.
Kant dürfte mit den angelsächsischen moral sense Lehren seiner Zeit durchaus vertraut
gewesen sein, weil er in seiner vorkritischen Phase selbst noch moral sense Positionen vertreten hat.100 Nachdem sich Kant mit seiner erkenntniskritischen Hauptschrift (KrV) dem (britischen) Empirismus (mit einigem Recht) jedoch überlegen fühlen konnte, nahm er die Herausforderung auch in der praktischen Philosophie an. Jedenfalls wirkt die GMS wie eine Kampfschrift gegen Humes Moraltheorie - Kant bemüht sich ständig sowohl inhaltlich, als auch methodisch gegen exponierte Humesche Positionen anzugehen. In strikter Opposition zu Hume
vertritt Kant eine anti-empiristische, rationalistische Moralkonzeption. Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass alle engagierten Versuche, Kants Moraltheorie ohne Berücksichtigung der (beabsichtigten) starken Rivalität zu Humes sensualistisch-empiristischer Moralauffassung einen (tragfähigen) Sinn abzutrotzen, einen zentralen Aspekt der Argumentationsstrategie des Kantischen Moralansatzes unterschlagen, dessen Ausrichtung dadurch in
weiten Teilen unzusammenhängend wirkt und unverstanden bleiben muss. Bereits in der
GMS werden Kants scharfe Abgrenzungsbemühungen zu Humes Moraltheorie unübersehbar,
ohne dass Kant (souverän genug) selbst schon (wie später in der KpV) ausdrücklich darauf
hinweist.101 Als erstes fällt natürlich der Titel von Kants moraltheoretischer Abhandlung auf:
Hume war zu Kants Zeiten bei weitem nicht der einzige, aber sicher einer der prominentesten
wie kompetentesten Kritiker traditioneller Metaphysik und bei der Wertschätzung, die Kant
Hume entgegengebracht hat, für Kant wahrscheinlich auch ihr wichtigster. Nicht umsonst
spricht Kant im Zusammenhang mit Humes erkenntnistheoretischen Skeptizismus von einem
100
Schönecker (2004) S. 26, Fn 33. Kant stellt in seiner Preisschrift 'Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral' (1764) eine Verbindung aus Perfektionismus und Gefühlstheorie her. Kant stand damals noch unter dem Einfluss der britischen Moralsense-Philosophen, wenn er sagt: "Man hat es nämlich in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: dass das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, das Gute zu empfinden, das
Gefühl sei ...". Kant (UDG) S. 299. Kant rückt um das Jahr 1770 herum von einer Theorie des moralischen Gefühls ab. Vgl. Horn (2007) S. 121.
101
Anerkennung und Kritik für Hume allgemein: Kant (KpV) S. 88 ff.
44
"Angriff" auf die Metaphysik.102 Insofern bedeutet allein schon Kants Titelgebung "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" eine unmissverständlich scharfe gegen Hume gerichtete Positionsbestimmung.
Kant kündigt bereits in der "Vorrede" als Hauptaufgabe der GMS genau das an, wogegen
sich Humes Anti-Rationalismus am allermeisten wendet, nämlich eine Ableitung moralischer
Prinzipien aus (reiner) Vernunft, "die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre ... ".103 Damit versucht er im vornherein Humes auf Tatsachen und damit auf Erfahrung gründenden Ansatz einer "science of man" in Bausch und
Bogen moraltheoretisch zu disqualifizieren. Nach Kants Auffassung ist eine "reine" Moralphilosophie "von der äußersten Notwendigkeit", die sich vollkommen frei zeigt von empirischen
Annahmen. Seine knappe Argumentation für diese These lässt sich nach Meinung vieler
Kant-Interpreten (für sich genommen) nur schwer durchschauen und wird nach meiner Auffassung nur vor dem Hintergrund des beabsichtigten schroffen Kontrastes zur Humeschen
Position vollends nachvollziehbar.
Moral bedarf nach Kants Anti-Empirismus nicht in Begründung, sondern nur in Anwendung auf Menschen der Anthropologie.104 Aber allein schon Kants Begriff vom Menschen als
einem sinnlich vernünftigen Wesen ist hochgradig anthropologisch aufgeladen, denn was bedeutet 'sinnlich' und was meint 'vernünftig' und vor allem in welchem Zusammenhang stehen
Sinnlichkeit und Vernunft? Gerade die letzte Frage steht bei Kants GMS immer wieder im
Fokus der Erörterung und wirkt höchst konträr gegenüber der Humeschen Auffassung von der
Vernunft als Diener oder Sklave individueller und kollektiver Neigungen. Die zwischen Hume und Kant entscheidende systematische Frage geht dahin, ob Kant seinen (vermeintlich)
empiriefreien (normativen) Rationalismus im Verlaufe seiner Moraltheorie besser begründen
und überzeugender durchhalten kann, als Hume seinen (normativen) Empirismus, der zahlreicher rationalistisch wirkender Hintergrundannahmen bedarf?
Kant rechtfertigt die Titelgebung seiner Grundlegung mit dem Hinweis: "Eine Metaphysik
der Sitten ist also unentbehrlich notwendig ... um die Quelle der a priori in unserer Vernunft
liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen ... ".105 Damit deutet er an, dass er sich (ganz
im Gegensatz zu Hume) um die Begründung einer Moral ohne jeden Erfahrungsbezug bemüht. Es geht jedoch nicht (wie in der KrV) zuerst um die Darlegung der empirischen Genese
unserer kognitiven (moralischen) Leistungen, und daraufhin deren apriorische (moralische)
Erkenntnisstrukturen zu erklären und zu begründen, sondern direkt um moralische Erkenntnis, um (normative) moralische Inhalte. In der Erkenntnistheorie hatte Vernunft nach Kant die
Aufgabe Erfahrung zu ordnen, zu systematisieren, zu hierarchisieren und zwar anhand von
Gesetzen, Prinzipien und Ideen, die sie durch ihre Funktion des Schließens gewinnt. Obwohl
Kant von der "Ableitung der Handlungen von Gesetzen"106 spricht, meint er hier im Unterschied zur theoretischen Philosophie mit 'Vernunft' nicht das Vermögen zu schließen, sondern
das Vermögen objektive, notwendige, für alle Vernunftwesen begründete (praktische) Prinzipien aufzustellen.107 Aber wie gelangt (reine) Vernunft zu diesen (praktischen) Prinzipien?
Vorstellungen, Begriffe, Urteile haben nach Kant dann apriorischen Charakter, wenn sie zu
ihrer Rechtfertigung keinen Erfahrungsbezug benötigen108: "Denn wir sagen nur, dass wir
102
"Seit Lockes und Leibnizens Versuchen, oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik, so weit
die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff, den David Hume auf
dieselbe machte". Kant (Prol) S. 257.
103
Kant (GMS) S. 389.
104
Vgl. Kant (GMS) S. 412.
105
Kant (GMS) S. 389 f.
106
Kant (GMS) S. 412.
107
Vgl. Schönecker (2004) S.100.
108
Vgl. Horn (2007) S. 136.
45
etwas durch Vernunft erkennen, wenn wir uns bewusst sind, dass wir es auch hätten wissen
können, wenn es uns auch nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre; mithin ist Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori einerlei."109 Kant scheint der apriorischen Verfahrensweise
größtes Vertrauen entgegenzubringen, obwohl nicht ganz klar wird, inwieweit seine Wertschätzung auch moraltheoretisch begründet werden kann, weil sie nicht erst Erkenntnisstrukturen, sondern bereits Erkenntnisinhalte betrifft. Kant glaubt offenbar, das Gewicht seiner
Argumente sei um so größer, je weniger Bezug zu Empirie genommen werde. Allerdings
kann angezweifelt werden, ob Vernunft bereits a priori (wie bei Kant) und nicht erst a posteriori (wie bei Hume) überhaupt in der Lage ist, tragfähige Moralvorstellungen zu entwickeln.
Die Verbindlichkeit (und Praxistauglichkeit) dieser Kantischen apriorischen moralischen Vorstellungen, Begriffe, Prinzipien muss in jedem Fall nachgewiesen werden und kann nicht einfach gefordert oder nur behauptet werden. Jedenfalls leuchtet nicht unmittelbar ein, dass und
warum eine Einsicht a posteriori unsicherer sein soll, als eine apriorische.
In der GMS wird bereits in den ersten Absätzen des Haupttextes anhand der Kantischen
Naturteleologie110 deutlich, dass die rationalistisch fundierte Opposition zu Humes Empirismus ganz unzweifelhaft auch ideologische Dimensionen hat. Jedenfalls vertritt Kant in der
GMS auch hinsichtlich der faktischen Bedeutung von Vernunft in seiner Natur- und Moralteleologie offenbar die genaue Gegenposition zu Humes Auffassung von der Rolle der Vernunft
als 'Sklave' der Leidenschaften: „Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich ist, um den Willen
in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die
sie zum Teil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein eingepflanzter
Naturinstinkt viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluss auf den Willen haben soll, dennoch zugeteilt ist: so muss die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht
als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nötig war, wo anders die Natur überall in Austeilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu
Werke gegangen ist."111 Mit dieser Bemerkung über die (vermeintlich wahre) Rolle von Vernunft versucht Kant Hume auf dessen eigenem Feld (Empirie) zu schlagen und eröffnet
gleichzeitig das Kontrastprogramm seiner apriorisch ausgerichteten Moraltheorie zu Humes
'science of man'. Die systematische Bedeutung dieser als wesentliche Rechtfertigung seines
gesamten vernunftbasierten moraltheoretischen Ansatzes dienenden Aussage kann nach meiner Auffassung gar nicht überschätzt werden.
Obwohl Kant eigentlich eine von Anthropologie "völlig gesäuberte" Moraltheorie abliefern
möchte, positioniert er ausgerechnet diese anthropologisch so stark aufgeladene naturteleologische Betrachtung zentral in seinen Text.112 Anscheinend gründet seine Moraltheorie entgegen seiner vollmundigen Ankündigung in der Einleitung zur GMS ähnlich wie die Humesche,
tatsächlich eben doch auf Anthropologie. Anders als die Humesche Anthropologie geht sie
jedoch von völlig falschen Grundannahmen aus, denn erstens wirkt sehr zweifelhaft, ob der
Natur eine Teleologie, eine 'Absicht' unterstellt werden darf, zweitens fragt sich, ob Vernunft
in vollem Umfang zur Naturausstattung gehört oder nicht eher auf sozio-kultureller Entwicklung beruht und drittens vollends abwegig scheint die Vorstellung, die 'Natur' habe (die
Grundlagen von) Vernunft nicht etwa als Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung (man könnte
immerhin argumentieren, die Natur bevorzuge Individuen und Populationen mit besonders
ausgeprägtem intelligenten sozialen, kooperativen, 'moralischen' Verhalten), sondern allein
109
Kant (KpV) S. 23f.
Zum antiken philosophiegeschichtlichen und systematischen Hintergrund des NaturteleologieArguments bei Kant: Horn (2006) S. 45ff.
111
Kant (GMS) S. 396.
112
Auf interessante Parallelen der Kantischen Naturteleologie zu den ebenfalls in rationalistischer
Tradition von Leibniz stehenden naturteleologischen Vorstellungen Christian Wolffs weist Klemme
hin. Klemme (2006) S. 114f.
110
46
der Moral willen hervorgebracht, was schon überdeutlich auf den späteren, völlig überdrehten
Hegelschen (moralischen) Idealismus hinweist.
Humes Einschätzung vom (mittels Verstand und Vernunft) Lust suchenden und Schmerz
vermeidenden Menschen dürfte evolutionsbiologisch im Gegensatz zu Kants Idealvorstellungen wesentlich näher an den Fakten liegen, zumal der Mensch mittels Vernunft durch Forschung und Technik seine Bedürfnisse weitaus besser befriedigen kann, als jedes andere uns
bekannte Lebewesen auf dieser Erde, weil er sein Leben planen und seine Umwelt seinen
Vorstellungen entsprechend verändern vermag. Vor diesem Hintergrund widerspricht sich
Kant im vorhergehenden Zitat aus der GMS (1785) sogar selbst, denn in der KrV (1781) hatte
er noch (zutreffend) festgestellt: " ... wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem,
was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches
Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung
unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft."113 Diese weitaus realistischere Einschätzung von der faktischen Rolle der Vernunft (in
der Moral) kommt Humes Vorstellungen schon deutlich näher (wenn man vor allem dessen
völlig verkorkste moral sense Theorie außer acht lässt). Bemerkenswert wirkt zudem die von
Kant hier offenbar (noch) beabsichtigte Gleichsetzung von "gut" mit "nützlich". Wie Hume
verlegt jedoch auch Kant die Möglichkeit des Guten in den Menschen selbst und bestreitet
damit religiöse Vorstellungen, der Mensch sei von Grund auf schlecht und könne nur durch
übernatürlichen Beistand auf den Pfad der Tugend gelangen. Allerdings verortet Kant die
Grundlagen menschliche Moralität nicht überwiegend in der Natur seiner Sinnlichkeit, wie
Hume, sondern in der Natur seiner Vernunft. Dementsprechend unterscheiden sich Humes
und Kants Vorstellungen vom Guten diametral: Kants (abstrakt-wissenschaftlicher) autonomer, sich selbst genügender vernunftbasierter gute Wille bedeutet die genaue Gegenposition
zu Humes (konkret-alltagstauglichem) der Welt zugewandten, gefühlsbasierten Willen.
Nachdem Kant bereits in der Vorrede zur GMS Humes empiristisches Projekt einer 'science of man' abgeschmettert hat, widerspricht er mit seiner Lehre vom (reinen) guten Willen114,
dessen "Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit"115 sogar noch irrelevant bleiben soll, auch Humes
zentralen Nutzenprinzip aus dem 'Enquiry'. Natürlich fragt sich, was ein sich selbst genügender, autonomer guter Wille in dieser Welt überhaupt für einen Sinn haben sollte? Dieser Sinn
erschließt sich nur im Zusammenhang mit Kants naturteleologischer Behauptung, nach der
die Natur den Menschen mit Vernunft ausgestattet habe, damit er Moralität, den guten Willen
hervorbringe. Vor diesem Hintergrund wird die überragende systematische Bedeutung der
naturteleologischen Überlegung für die Entwicklung Kants gesamter moraltheoretischer Argumentation erstmals deutlich, auf die von ihm (direkt oder indirekt) immer wieder affirmativ
Bezug genommen, die jedoch niemals (auch nicht in anderen, nachfolgenden Schriften) bewiesen oder auch nur zufriedenstellend begründet wird. Allerdings stellt dieses Begründungsdefizit elementarer Theorieteile in meinen Augen keineswegs ein Zeichen von 'Experimentierfreude' dar (wie mancher Interpret glauben machen möchte), sondern von großer Unsicher-
113
Kant (KrV) S. A802/B830.
"Liest man den Auftakt des Ersten Abschnitts der Grundlegung im Licht dieser Kollegmitschriften,
wo wird klar, dass sich die berühmte These vom guten Willen aus Kants in der Grundlegung nicht
explizit gemachter Auseinandersetzung mit der Summum-bonum-Diskussion der antiken Philosophie
erklären lässt". Horn (2007) S. 123. Dass sich Kants Lehre vom guten Willen auf klassische antike
Vorbilder bezieht, schließt nicht aus, dass sie sich (wie auch das Naturteleologie-Argument) eigentlich
in erster Linie gegen Hume richtet.
115
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu
Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut ...".
Kant (GMS) S. 394.
114
47
heit116, wie wir sie von seinen erkenntniskritischen Schriften (etwa der KrV) bei weitem nicht
kennen.
Kant identifiziert den Willen mit praktischer Vernunft, der Fähigkeit, nach Prinzipien zu
handeln. „Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige auszuwählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als gut erkennt.“117 Unklar bleibt weiterhin, weshalb Neigungen per
se von der Moral ausgeklammert werden sollen? Denn Neigungen sind nicht unbedingt etwas
schlechtes, wo sie doch zur Lebenserhaltung des Menschen dienen. Der Mensch könnte nicht
ohne Neigungen, wohl aber ohne Vernunft überleben. Wenn Gefühle, Neigungen, Interessen
der entscheidende Antrieb menschlichen Handelns sind, wie Hume richtig vermutet, dann
schiene es doch sinnvoller zu überlegen, wie eben jene Gefühle, Neigungen, Interessen durch
Vernunft im Dienste von Moral eingesetzt werden können? Kant erweckt den Eindruck hier
falsche Prioritäten und zwar nicht nur unter anwendungsbezogenen pragmatischen, sondern
auch unter geltungstheoretischen Gesichtspunkten zu setzen, denn Neigungen zum Ausgangspunkt moralischer Überlegungen zu machen bedeutet keineswegs (zwangsläufig), Neigungen
auch zum Bestimmungsgrund moralischer Vorschriften zu machen. Wenn man etwa mit Hume fordert, den eigenen Neigungen nur insoweit nachzugehen, wie es der Allgemeinheit nutzt
und niemandem schadet, sind Neigungen in diesem Sinne zwar Ausgangspunkt, aber nicht
bereits Bestimmungsgrund eines moralischen Prinzips.
Kant aber lehnt eine Bezugnahme auf Gefühle, Neigungen, Interessen bei der Begründung
moralischer Gesetze strikt ab, weil er offenbar die Autonomie des Menschen gefährdet sieht:
"Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anderes als das Objekt einer Begierde
sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der
Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen ... ."118 Kant
übersieht, dass Menschen in ihrem Handeln immer Gefühlen, Neigungen, Interessen ausgesetzt sind und diesen zwar abstrakt-gedanklich, aber nicht konkret-faktisch ausweichen können. Insofern fragt sich ernsthaft, ob Kants Sittengesetz nur von der abstrakten Vorstellung
sittlichen Handelns und nicht von der konkreten Tat sittlichen Handelns ausgeht? Grundsätzlich könnte man Kants KI aufgrund folgender drei Überlegungen in sein (rationales) Kalkül
einbeziehen: Erstens, aus wissenschaftlichem Interesse (ich überprüfe anhand von Beispielen,
inwieweit der KI als Moralkriterium trägt), zweitens aus eigenen Handlungsinteresse (ich
überprüfe im Interesse der Verwirklichung meiner Handlungsziele, ob sie als Maximen von
anderen Menschen sozio-kulturell akzeptiert werden könnten) und drittens ideologisch gefärbt, ich akzeptiere Kants in seiner Naturteleologie ausgesprochene Vorstellungen von der
höheren moralischen Bestimmung des Menschen und beachte den KI als deren (notwendige)
Realisierungsbedingung. Gerade das zweite, für die Praktikabilität einer Moraltheorie entscheidende Motiv lehnt Kant jedoch strikt ab und stellt die Auslegung seiner gesamten Moraltheorie damit selbst für wohlmeinende Interpreten vor eine gewaltige Herausforderung
Gegen Kants Argumentation für die Einnahme eines moralischen Standpunktes ohne Berücksichtigung eigener Interessenlagen lässt sich die bereits gegen Humes MPV vorgetragene
Kritik anbringen, dass es ohne Gefühle, Neigungen, Wünsche, Interessen überhaupt keinen
verortbaren Standpunkt geben kann, von dem aus ein sinnvolles moralisches Urteil möglich
116
Ein Paradebeispiel dieser Unsicherheit bildet auch Kants in der GMS angekündigte, nach eigenem
Bekunden dort durchgeführte und in der drei Jahre später erschienenen KpV für unmöglich erachtete
'Deduktion' des KI. Vgl. Schönecker (1999) S. 397f.
117
Kant (GMS) S. 412.
118
... und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form
in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem
Prinzip einer reinen praktischen Vernunft, hiermit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen,
wenngleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte". Kant (KpV) S. 59.
48
wäre. Ohne subjektive Interessen (am Überleben, an Freiheit, an Gerechtigkeit) kann es keine
sinnvollen intersubjektiv geteilten Interessen an Moralvorschriften (zum Schutz von Überleben, Freiheit, Gerechtigkeit) geben. Es wirkt schwer nachvollziehbar, dass Kant einerseits
fordert, unser (moralisches) Handeln solle von Interessen frei sein, andererseits Moralkriterien
(auch Kants KI) aber gerade über divergierende Interessen entscheiden und insofern auch
zwangsläufig zwischen divergierenden Interessen abwägen müssen; ohne divergierende Interessen (Hume) scheint Moral überhaupt völlig überflüssig. Kant hätte (gegen das Humesche
Modell) zu zeigen, dass der Mensch nicht nur unabhängig von Gefühlen, Neigungen, Interessen handeln kann, sondern auch handeln soll. Beides gelingt in meinen Augen nicht, aber ich
möchte nicht verschweigen, dass manche Interpreten diese Bringschuld seitens Kant als erfüllt ansehen119, wenngleich sie weder über seine Argumentation hinausgehen oder sie auch
nur plausibler darlegen können. Das entscheidende Argument geht wohl in die Richtung, es
könne ohne die Exklusion von Gefühlen, Neigungen, Interessen keine kategorischen moralischen Gebote geben, sondern nur hypothetische. Diese Einschätzung wirkt zumindest hinsichtlich der jeden Menschen zwangläufig betreffenden, überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse und der sie begleitenden Gefühle, Neigungen, Interessen falsch. Dass ein jeder
Mensch überleben möchte, darf sicher (kategorisch) unterstellt werden; diesen allgemeinen
Wunsch (als hypothetisch) abzuqualifizieren oder auch nur zu verwässern erscheint zynisch.
Das allgemeine Interesse am Überleben rechtfertigt alle sich darauf beziehenden moralischen
Gebote (kategorisch). Denn es geht selbst Hume nicht um die (pathologische) Befolgung oder
Missachtung von Neigungen durch subjektive Gebote oder Verbote (befriedige nur deine eigenen Bedürfnisse optimal), sondern darum, im Interesse der Neigungen und Abneigungen
aller Menschen (durch intersubjektive Regeln) festzulegen, in welchem Umfang Neigungen
ausgelebt werden dürfen oder eingeschränkt werden müssen und nichts anderes fordert Kants
KI letztendlich, wenngleich auf sehr abstrakter (formaler) Ebene.
Ebenso überflüssig wie absonderlich wirkt Kants Bemühen, seine Moralvorschriften nicht
nur für Menschen, sondern sogar für Engel und das höchste Wesen selbst als gültig auszuweisen, denn es unterstellt, dass Engel und Gott nicht nur in irgendeiner Weise existieren, sondern auch vernunftgeleitet denken und handeln, wofür es aber keinerlei Anhaltspunkt gibt.
Ähnlich wie bei Kants hilflos wirkenden naturteleologischen Argument wird hier sehr angestrengt versucht, eine unablösliche Verbindung zwischen (reiner) Vernunft und Moral herzustellen. Man darf im Gegensatz zu Kant durchaus unterstellen, dass rein vernünftigen Wesen
(so es sie denn tatsächlich geben sollte) durch das Fehlen ihrer Sinnlichkeit überhaupt eine
wichtige Voraussetzung fehlt, einen (moralischen) Standpunkt einzunehmen und man diesen
(vollkommenen) Wesen durchaus auch ein Handlungsinteresse absprechen könnte. Mir
scheint, dass Kant den Bezug auf rein vernünftige Wesen (leider) nicht allein aus heuristischen Gründen wählt, sondern damit einerseits (naiv) den Absolutheitsanspruch120 seiner Moraltheorie unterstreichen und andererseits vor allem die recht schwache intersubjektive Basis
seiner Moraltheorie deutlich aufwerten möchte. Kants Überlegungen zu vernünftigen Wesen
ohne Sinnlichkeit stiften weitaus mehr Verwirrung, als Klarheit.
Von hier aus ergeben sich weitere grundlegende Angriffspunkte gegen Kants Moraltheorie:
Natürlich steht ein Höchstmaß an Intersubjektivität jeder Wissenschaft und so auch der Moraltheorie gut zu Gesicht. Indes müsste Kant seinen (absoluten) Intersubjektivitätsanspruch
119
So etwa Schönecker (2004) S. 172ff.
"Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es moralisch d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse .... dass mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist,
gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und dass jede andere Vorschrift, sofern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach, auf
empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen
kann". Kant (GMS) S. 389.
120
49
doch erst einmal entwickeln und nicht einfach nur behaupten.121 Eine gewisse, hier (noch)
nicht näher zu bestimmende Verbindlichkeit könnte sich eigentlich für jede Moralvorschrift
begründen lassen, die das Zusammenleben von Menschen verbessert und womöglich nur lokal und auch nur temporal begrenzt Relevanz schafft - gegenüber einem völlig moralfreien
Zustand. Dies dürfte in vielen Fällen schon für prudentielle verstandesbasierte Verhaltensregeln und nicht erst für vernunftbasierte Moralvorschriften zutreffen. Insofern lässt sich Kants
überzogen wirkender Absolutheitsanspruch in der Moral nicht zwingend nachvollziehen. Jedenfalls trifft es keineswegs zu, dass alle moraltheoretischen Anstrengungen hinfällig wären,
wenn es nicht gelänge, dem Kantischen Absolutheitsanspruch gerecht zu werden. Ungeklärt
bleibt hier zudem, ob sich Kant nicht einerseits mit seinem Absolutheitsanspruch überfordert
und andererseits mit der erklärten Ignoranz jeglicher Empirie auf eine zu schmale intersubjektiv begründbare wissenschaftliche Basis stellt, ob Kant nicht etwas abstrakt-theoretisch fordert, was konkret-praktisch (nahezu) unmöglich und zudem noch völlig entbehrlich scheint.
Kant bestimmt im Verlauf der GMS den guten Willen nun als einen solchen, "dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten
kann" und leitet damit die Darlegung seines kategorischen Imperativs ein.122 Die entscheidende moralische Kriterienfrage in Kants KI lautet demnach, ob ich widerspruchsfrei wollen
kann, dass jedermann meine Maxime verfolgt? Dieses Universalisierungsverfahren stößt seit
jeher auf zahlreiche Einwände: Zum einen wird bestritten, ob Widerspruchsfreiheit allein ausreicht, um erlaubte, verbotene und gebotene Maximen genau und sicher zu bestimmen? Beispielsweise könnte sich ein kräftiger Mann die Maxime als allgemeines Gesetz wünschen,
dass das 'Recht des Stärkeren' gelten soll, was ganz sicher nicht Kants Intention entspräche.
Kants KI setzt voraus, was eigentlich erst zu beweisen wäre, nämlich die Vernünftigkeit moralischer Handlungen. Zum anderen ergeben sich gerade durch die Universalisierung besondere Probleme: Wenn jemand die Maxime verfolgt, sich nur von Orangen, Fisch und Reis zu
ernähren, so wirkt diese Maxime für sich genommen moralisch unbedenklich, aber als moralisches Gesetz problematisch, weil die zur Verfügung stehende Menge an Orangen, Reis und
Fisch nicht für die gesamte Weltbevölkerung ausreicht. Die Maxime anderen Menschen sogar
dann zu helfen, wenn man sich selbst dadurch in Lebensgefahr begibt, mag für Rettungsschwimmer, Feuerwehrleute oder Soldaten vertretbar, als Gesetz für alle anderen Menschen
aber sicher unverantwortlich sein. Die verschiedenen Formeln des Kantischen KI sollen seiner
Veranschaulichung dienen, können aber dessen grundlegende Schwächen nach meiner Auffassung auch nicht beheben, noch nicht einmal lindern.
Kants KI wird aufgrund der genannten und vieler weiterer Mängel in Fachkreisen wohl
überwiegend nicht mehr als geeignetes Moralkriterium gehandelt. Das nach Schönecker wichtigere und auch in meinen Augen bessere (normative) moraltheoretische Argument wird von
Kant eher beiläufig erwähnt und besteht darin, dass jeder Mensch (aufgrund seiner Vernunft)
befähigt und berechtigt ist, nicht nur schlichter Gesetzesempfänger (von göttlichen oder staatlichen Geboten), sondern zugleich auch Gesetzgeber zu sein.123 Eine Handlung wäre nach
dem von mir als Zustimmungsprinzip bezeichnete Moralkriterium mithin dann moralisch,
121
Kritisch auch Horn: "Es ist umstritten, ob es diese Art von Prinzipien überhaupt gibt bzw. ob es der
Philosophie gelingen kann, Aussagen mit einer solchen Reichweite zu rechtfertigen." Horn (2007) S.
133.
122
"Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werden kann". Kant
(GMS) S. 421.
123
"Die praktische Notwendigkeit, nach diesem Prinzip zu handeln, d. i. Pflicht, beruht gar nicht auf
Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zueinander ... und dies zwar nicht um irgend eines ... künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der
Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt"
Kant (GMS) S. 434.
50
wenn sie jedermann billigen könnte. Kant behauptet, dass jemand, der von mir belogen (betrogen) wird, "unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen"124 könnte. Die
Vorteile dieses Arguments sind, dass es sich anders als der KI auch auf (einzelne) Handlungen, Gesetze (auch positive) und sogar Prinzipien anwenden lässt und nicht nur mein eigenes
Urteil über die Moralität einer Handlung fordert (wie der KI), sondern auch das aller anderen
(betroffenen) Menschen. Kant begründet das Recht des Menschen, nicht nur Gesetzesempfänger, sondern auch Gesetzgeber zu sein mit dessen (vernunftbasierter) Würde. Die Würde
des Menschen besteht laut Kant, darin, dass er seinen Instinkten widersteht und selbst als Ursache fungiert. "Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur."125 So verstandene Menschenwürde stellt keine empirische Tatsache im
Humeschen Sinne dar, sondern eine normative Forderung. Allerdings kann bezweifelt werden, dass uns an Intelligenz weit überlegene fremde Wesen ferner Planeten Würde zuerkennen würden, wenn sie sähen, wie wir unsere Erde systematisch zerstören. Ich meine, das Kantische Zustimmungsprinzip ließe sich auf eine wesentlich breitere intersubjektive Basis stellen, wenn man es kontraktualistisch über Interessenkonkurrenzen und Interessenkongruenzen
entwickeln würde - wie ich es später noch in meinem Ansatz versuchen werde. Allerdings
lassen sich auch aus dem Zustimmungsprinzip noch nicht (direkt) bestimmte Handlungspflichten (wie etwa aus Humes Nutzenprinzip) ableiten. Kants KI und ZP schreiben (im Gegensatz zu Humes NP) keine Handlungen positiv vor.
Eben weil Kant moralische Prinzipien nicht empirisch, sondern mit Blick auf Hume vernunftbasiert apriorisch entwickeln möchte, dürfen sie nicht auf Gefühlen, Neigungen, Interessen beruhen und auch nicht "um irgend eines ... künftigen Vorteils willen"126 oder auch nur
mit Blick auf die zu erwartenden positiven Folgen für das friedliche Zusammenleben der
Menschen entwickelt werden, denn "das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung,
der Erfolg mag sein, welcher er wolle."127 Diese gegen Humes Nutzenprinzip gerichtete Einschätzung hat Kant den Vorwurf eingebracht, bei seiner Moraltheorie handle es sich um eine
reine Gesinnungsethik, der es anders als Humes Moraltheorie kaum oder gar nicht auf eine
Veränderung oder Verbesserung der Lebensumstände in dieser Welt ankomme. Kants völlig
unzureichende politische Philosophie oder sein fehlendes Engagement für soziale Gerechtigkeit scheinen diesen Vorwurf zu bestätigen. Aber bereits ganz einfache Beispiele zeigen die
Grenzen dieser unseren moralischen Intuitionen zutiefst widersprechenden Kantischen Einschätzung: Nehmen wir an, ich erreiche eine Unfallstelle nach einem Verkehrsunfall. Aus
Unkenntnis, Aufgeregtheit binde ich einem aus dem Unterschenkel stark blutenden Unfallteilnehmer das Bein ab, obwohl er nur eine tiefe Schnittwunde hat, wie sich später herausstellt. Das Bein muss später im Krankenhaus wegen meiner Abbindung amputiert werden,
obwohl die Schnittwunde eigentlich gar nicht lebensbedrohlich war. Trotz meiner besten Absichten, war das Resultat für das Unfallopfer höchst schädlich. In einem anderen Fall hat ein
Freund Schulden und ich empfehle ihm einen Geldverleiher, der sich später als skrupelloser
Kredithai, als Wucherer entpuppt und meinen Freund in den Ruin treibt. In beiden Fällen wird
man (trotz allerbester Absicht) entgegen Kants Einschätzung wohl nicht sagen dürfen, ich
hätte eine moralisch anerkennenswerte Leistung vollbracht, ja noch nicht einmal klug, geschweige denn vernünftig gehandelt.
Kant selbst deutet an, dass es für moralisches Handeln in seinem Sinne (Moral der Moral
wegen) womöglich noch nie ein Beispiel gegeben habe und vielleicht auch niemals geben
wird. Dennoch kokettiert Kant damit, es läge in jedermanns Vermögen gemäß seinem KI zu
handeln: "Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu
aller Zeit, der empirisch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit nur selten, und bei weitem
124
Kant (GMS) S. 429.
Kant (GMS) S. 436.
126
Kant (GMS) S. 434.
127
Kant (GMS) S. 416.
125
51
nicht, auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht, für jedermann möglich. Die Ursache ist,
weil es bei dem ersteren nur auf die Maxime ankommt, die echt und rein sein muss, bei der
letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand
wirklich zu machen."128 Diese schlichte Behauptung lässt sich schon damit widerlegen, dass
sogar Kinder und Tiere dem Prinzip der Schmerzvermeidung und Lustsuche folgend ihre
'Glückseligkeit' suchen, ohne Kants KI überhaupt auch nur begreifen zu können.
Eine transzendentale Deduktion seines Sittengesetzes legt Kant (leider) nicht vor. Eine
transzendentale Ableitung unserer Naturvorstellungen war in der KrV nur über Analyse der
Genese unserer Vorstellungen über die Natur möglich. Eine Darstellung und Erörterung genau dieser Genese hält Kant in der Moral für unerwünscht, weil sie zweifellos vorhandene
empirische Grundlagen unserer Moralvorstellungen aufzeigen würde, die sie bei Kant aber
wegen ihres apriorischen vernunftbasierten Anspruchs gerade nicht haben sollen. Unklar
bleibt freilich, warum der Mensch bei Naturerkenntnis kognitiv anders verfahren sollte, als
bei der Moralerkenntnis? Um sich von Humes Empirismus abzugrenzen, bestreitet Kant in der
Moral alle Erfahrungsgrundlagen, nimmt sich damit aber die Möglichkeit, die Genese von
Moral plausibel darlegen zu können und weicht statt dessen auf eine nur schwer nachvollziehbare 'Faktum-Theorie' aus129, nach der man im Grunde genommen davon auszugehen hat,
dass Kants KI in gewisser Hinsicht wenn auch nicht angeboren, so aber zumindest mit der
Ausbildung von Vernunft gegeben ist130, was angesichts der Diversität menschlicher Moralvorstellungen in der Welt eher unplausibel erscheint.
Die 'Faktum-Theorie' überzeugt im Rahmen der gesamten Kantischen Moraltheorie auch
deshalb nur wenig, weil sie die Komplexität der empirischen Außenwelt auf eine relativ einfache vernunftbasierte Innenwelt reduziert und diese Innenwelt der Außenwelt gegenüber auch
noch als überlegen, als allein maßgeblich erklärt. In Kants von Gefühlen, Neigungen, Interessen, von aller Empirie abgeschnittenen, vernunftbasierten apriorischen moralischen Welt kann
oder eigentlich besser soll (mit Blick auf Hume) weder erklärt werden, warum wir ein Interesse an Moral nehmen, noch wie wir uns dazu motivieren können, Moral Folge zu leisten: "Die
subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären131, ist mit der Unmöglichkeit,
ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könnte, einerlei ... ."132 Das Interesse an 'moralischen Gesetzen', an Moral allgemein, bereits an schlichten Verhaltensregeln lässt sich (wie erwähnt) ganz einfach mit
Selbsterhaltungsinteresse und Kooperationsvorteilen begründen. Kooperation bietet in der
Regel deutlich mehr Vorteile als die (gewaltsame) Austragung von Konflikten; Kooperation
braucht aber verbindliche (moralische) Regeln. Dieser naheliegende Rückgriff verbietet sich
jedoch für Kants apriorischen Moralentwurf, wodurch ein beachtliches Vakuum in der moraltheoretischen Begründungskette entsteht, über das man nicht (wie viele wohlmeinende KantInterpreten) einfach hinwegsehen darf. Nicht den Nutzen von Moral erklären zu wollen oder
zu können stellt den Sinn von Moral für jeden (halbwegs) vernünftigen Menschen fundamental in Frage und lässt Moral einem breiten Publikum als völlig zweckfreie akademische
Übung erscheinen. Kant gelingt es unter diesen Voraussetzung kaum zu einem anderen, als an
metaphysische Prosa erinnernden Resümee seine Moraltheorie zu gelangen, wenn er sagt, wir
128
Kant (KpV) S. 64 f.
"Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es
nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft ... herausvernünfteln kann ...". Kant (KpV) S. 55 f.
130
"Und jeder Mensch hat es [das Sittengesetz] wenn auch auf dunkle Art, in sich". Kant (MS) S 216.
Wie soll das eigentlich gehen, wenn man es nicht "aus vorhergehenden Datis der Vernunft ..
herausvernünfteln" kann?
131
"Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand
in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann". Kant (GMS) S. 459. "Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf ...". Kant (GMS) S. 459.
132
Kant (GMS) S. 459 f.
129
52
begreifen nicht die praktische Notwendigkeit des KI, wir "begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit".133 In dieser Hinsicht bedeutet die Unfähigkeit Kants, die Genese von Moral
plausibel darzustellen, einen klaren Rückschritt gegenüber Hume. Ein entscheidender Fortschritt Kants gegenüber Hume liegt allerdings darin, dass Moral nicht mehr (wenn man seine
Naturteleologie geflissentlich ignoriert - ausschließlich oder doch überwiegend) Naturausstattung, sondern Selbstgesetzgebung des Menschen, also Menschenwerk ist, ganz wesentlich auf
eigenständigen (rationalen) kognitiven Leistungen beruht.
Kant scheint sich mit den hohen Anforderungen zu übernehmen, die er in der Vorrede zur
GMS aufstellt, um Hume in seinen Augen hinreichend zu distanzieren. Mit Humes Prinzip der
Lustgewinnung und Schmerzvermeidung als elementaren menschlichen Handlungsmotiv haben wir einerseits den (möglichen) Ausgangspunkt und mit Kants Prinzip (gegenseitiger)
Selbstgesetzgebung, dem Zustimmungsprinzip sowie Humes Nutzenprinzip andererseits die
(möglichen) Endpunkte tragfähiger Moralvorstellungen bereits vorgestellt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird es darauf ankommen, beide Endpunkte unserer Moralvorstellungen klar, plausibel und systematisch angemessen miteinander zu verbinden. Nach meiner Auffassung werden erst konsensorientierte kontraktualistische Überlegungen den Humeschen und
Kantischen Endpunkt (hier das Nutzenprinzip, dort das Zustimmungsprinzip) dauerhaft miteinander verbinden können - sofern befriedigende Antworten auf die Fragen gefunden werden,
welches Verhalten, welche Moralvorschriften der Lustgewinnung und Schmerzvermeidung
am besten dienen, welchem Verhalten, welchen Moralvorschriften zur Lustgewinnung und
Schmerzvermeidung alle Menschen (rationalerweise) am ehesten zustimmen würden? Dass
alle Menschen ein faktisches Interesse an Lustgewinnung und Schmerzvermeidung haben und
darin ein wesentlicher Nutzen von Moralvorschriften liegt, dürfte kaum bestreitbar sein. Damit jedermann seinen optimalen Nutzen verfolgen, damit niemand (in der Theorie oder in der
Praxis) bevorzugt oder benachteiligt werden kann, kommt es darauf an, das mögliche (theoretische oder praktische) Versagen oder die mögliche (theoretische oder praktische) Bewährung
des Zustimmungsprinzips und Nutzenprinzips näher zu untersuchen.
Durch eine hier versuchte kontraktualistische Begründung des KI würden gleich seine drei
Hauptschwierigkeiten entfallen, nämlich die Motivationsproblematik, die Begründungsproblematik und die Ableitungsproblematik. Denn nicht nur für den KI, sondern auch und gerade
für das Zustimmungsprinzip gilt, dass jeder Mensch ein essentielles Interesse daran hat, im
moralischen Sinne (mindestens) gleichwertig zu sein und infolgedessen gleichberechtigt behandelt zu werden - und zwar als sinnliches Wesen (individuelle Bedürfnisbefriedigung), als
Verstandeswesen (individuelle Interessenverfolgung) und als Vernunftwesen (individuelle
Autonomiegestaltung). Autonomie bedeutet bei Kant in erster Linie moralische Autonomie,
in dem von mir verstandenen Sinn jedoch individuelle Selbstbestimmung und nicht kollektive
Selbstgesetzgebung im Sinne des Kantischen Menschenbildes; jeder Mensch soll selbst bestimmen, was für ein Mensch er sein will. In diesem Sinne kann ein Mensch auch autonom
sein, wenn er sich dafür entscheidet, Taschendieb zu werden. Autonomie soll hier also nicht
(wie bei Kant) an moralische Vorstellungen, sondern allein an Selbstbestimmung gebunden
sein. Entscheidend für die Moralität von Handlungen wäre entgegen Kants Auffassung im KI
hier nicht die Gesetzestauglichkeit von Maximen (in fragwürdiger Analogie zu Naturgesetzen), sondern deren Zustimmungsfähigkeit, Konsensfähigkeit, deren allgemeiner Nutzen (im
Sinne kontraktualistischer Moralbegründung).
1.1.3 Entscheidungsfreiheit, Motivation, Verpflichtung
Weder die Begründung Kants Zustimmungsprinzips, noch Humes Nutzenprinzips erfordert
zwingend Kants positiven Freiheitsbegriff (das Vermögen aus reiner Vernunft ohne sinnliche
133
Kant (GMS) S. 463.
53
Antriebe zu handeln). Allerdings reicht Kants negativer Freiheitsbegriff auch nicht aus, es
bedarf schon eines Begriffs praktischer instrumenteller Rationalität (im Humeschen Sinne),
der es ermöglicht, kurz-, mittel- und langfristig nach (moralischen) Regeln, Normen, Prinzipien zu handeln, die aber im Interesse bestmöglicher moralischer Motivation keineswegs von
subjektiven Neigungen, Wünschen und Interessen (völlig) frei sein müssen (im Sinne von
Humes MPV und Kants KI), sondern gerade durch diese subjektiven moralischen Einstellungen (entgegen Humes und Kants Auffassungen) begründet sein sollten. Im Alltag dürften sich
die meisten Menschen ohnehin ganz überwiegend von ihren Gefühlen, ihren Gewohnheiten,
ihrer langjährigen Erfahrung und damit vom Verstand lenken lassen; Vernunft wird in aller
Regel erst bei sehr schwierigen und wichtigen, bei (langfristigen) Entscheidungen von großer
Tragweite aktiviert.
Das Problem der Entscheidungsfreiheit stellt Humes Ansatz - wie jeden empiristischen
Ansatz - vor schier unüberwindliche Probleme, denn er möchte das (moralische) Verhalten
des Menschen ja gerade (naturwissenschaftlich) kausal erklären; insofern müssen gleiche
Wirkungen auf gleiche Ursachen rückführbar sein und gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen haben. Kausalität bedeutet bei Hume gemäß dem Newtonschen mechanistischen
Weltbild deterministische Kausalität: "Wir vergessen leicht, dass die menschlichen Absichten,
Pläne und Anschauungen Gründe sind, deren Wirkungen ebenso notwendig erfolgen wie die
der Wärme und Kälte, Nässe und Trockenheit."134 Als Teil der Natur unterliegt der Mensch
nach Hume wie andere Lebewesen auch Naturgesetzen. Ausgehend von seiner Grundeinsicht,
nach der alle Menschen versuchen, Freude zu erlangen und Schmerz zu vermeiden, könnte
man stark vereinfachend sagen, menschliches Handeln bestünde wesentlich in eben nichts
anderem, als der Lustsuche und Schmerzvermeidung. Alle menschlichen Handlungen lassen
sich auf diese Weise als Varianten, Variationen, Derivate dieses Grundprinzips erklären. Dieses bestechend einfache Erklärungsmuster wird von Hume zwar nicht selbst explizit angeboten, ergibt sich jedoch aus der Gesamtschau seiner Moraltheorie und bietet mehr Plausibilität,
als manche psychologische oder soziologische Handlungstheorie.
In diesem Sinne würden wir Menschen diejenigen Handlungen bevorzugen, die uns am
meisten Lust und am wenigsten Schmerz bereiten. Was uns im Einzelfall konkret am meisten
Lust und am wenigsten Schmerz bereitet, mag nach Charakter, Neigung, Erziehung unterschiedlich sein. Insofern wären Motiv und Handlung untrennbar naturgesetzlich kausal miteinander verwoben. Eine Person mit großem Ehrgeiz, wird mehr Mühen auf sich nehmen, um
mächtig oder berühmt zu werden, als jemand mit weniger Ehrgeiz und es demensprechend
sogar bis zur Bundeskanzlerin bringen können. In meinem Handeln würden sich dann mein
Charakter, meine stärksten Wünsche, meine Ziele offenbaren. Freiheit bestünde in diesem
(einfachen) Humeschen Sinne in der Verwirklichung meiner (naturgegebenen) Ziele, ohne
von anderen (durch Zwang) davon abgehalten zu werden. Verstand und Vernunft wären unter
diesen Voraussetzungen nur als verlängerter kognitiver Arm des Grundprinzips von Lustsuche und Schmerzvermeidung interpretierbar, indem sie es uns über die unmittelbar sinnliche
Ebene hinaus ermöglichen, nicht nur kurzfristig situationsgebunden eine Lust- und Schmerzbilanz zu ziehen, sondern auch mittel- und langfristig eine Nutzenprognose für unser Handeln
aufzustellen und das heißt wiederum nichts anderes, als einen Lust- und Schmerzsaldo. Von
Natur aus determiniert sind insofern nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern nach Hume auch
unsere Wünsche und Interessen; Verstand und Vernunft haben die Funktion, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, unsere Wünsche zu erfüllen, unsere Interessen durchzusetzen. Von diesem naturkausalistischen Weltbild ausgehend scheint es mit Hume sinnlos, moralische Forderungen aufzustellen, die gar nicht auf unseren (natürlichen) Bedürfnissen, Wünschen, Interessen aufbauen.
134
Hume (Treat) B 3, S. 37.
54
Unter solchen Voraussetzungen wäre Moral nur dann verwirklichbar, wenn sie uns kurz-,
mittel- und langfristig stärker als ein moralfreier Zustand dazu verhelfen würde, Lust zu vermehren und Schmerzen zu vermeiden. Dies scheint mir ein wesentlicher Gedanke für die Abschätzung der Realisierungschancen einer hier zu entwickelnden Globalmoral. Die zentrale
Aufgabe einer Moraltheorie würden hiernach darin liegen, Normen zu begründen, die allen
Menschen Lustoptimierung und Schmerzvermeidung bieten. Allerdings bieten solche Normen
nur dann Vorteile, wenn die Normadressaten auch einsehen, dass kurzfristiges lustoptimierendes, aber unmoralisches Verhalten ihnen selbst mittel- und langfristig schadet. Die Normadressaten müssten in diesem Sinne kurz-, mittel- und langfristig rationales Verhalten an den
Tag legen können, was nichts anderes bedeutet, als im Sinne des Kantischen negativen Freiheitsbegriffs ihrem natürlichen Antrieb zu kurzfristiger Lustoptimierung mittels Verstand und
Vernunft zugunsten mittel- und langfristiger Lustgewinnung widerstehen und sich damit eben
von naturgesetzlicher Determination (ein Stück weit) distanzieren.
Um dieser Anforderung zu genügen darf unser Handeln zumindest nicht vollständig Naturkausalität unterliegen; jedenfalls sind wir in der Lage, unsere natürlichen Handlungsantriebe durch Verstand und Vernunft (in bestimmtem Umfang) zu korrigieren, denn sonst wäre
jede (positive oder überpositive) Norm, erst recht jede normative Moraltheorie schlechterdings hinfällig. Deswegen belastet Hume ein Widerspruch zwischen seinem methodischen
(empiristischen) und seinem normativen (moralischen) Anspruch, den er in voller Tragweite
(leider) nicht erkennt. Wie auch bei anderen wichtigen moraltheoretischen Problemen vermag
er unterschiedliche Beobachtungen nicht zu einer stimmigen Perspektive zusammenzuführen.
Die Aporie besteht darin, dass er menschliches Verhalten gemäß seiner 'science of man' einerseits empirisch erklären und andererseits normativ korrigieren will. Von seinem empiristischen Anspruch her muss Hume behaupten, dass "unsere Handlungen in konstanter Verbindung mit unseren Motiven, unserem Temperament und den Umständen"135 stehen. Dieser
"konstante" Zusammenhang wird nach Hume durch Kausalgesetze determiniert. Ziel der Vorgehensweise ist es, menschliches Verhalten ähnlich (wissenschaftlich) erklären und prognostizieren zu können, wie die Astronomie Bewegungen von Himmelskörpern.136 Deshalb versteigt sich Hume sogar zu der Behauptung: "Keine Verbindung aber ist beständiger und sicherer als die Verbindung gewisser Handlungen mit gewissen Motiven und Charakteren."137 Humes Auffassung würde konsequent fortgeführt bedeuten, dass wir durch Erfahrung und Erkenntnis unser Verhalten gar nicht ändern können, mithin überhaupt nicht lernfähig wären wodurch auch (normative) Moraltheorie bereits im Ansatz jeden tragfähigen Sinn verlöre.
Hume macht hier den entscheidenden Fehler, die naturgesetzlich bestimmte Reaktion lebloser Gegenstände und zweckrationales Verhalten in einen Topf zu werfen, von der psychologischen Tatsache, dass wir die wiederholte Aufeinanderfolge von Ereignissen als kausal miteinander verbunden interpretieren, die bei Naturereignissen und Handlungsereignissen ähnlich
funktioniert, auf die Ähnlichkeit der Art des Kausalzusammenhangs zwischen Naturereignissen und Handlungsereignissen schließen zu können.138 Zwar wird Hungergefühl durch die
Natur kausal determiniert, aber nicht meine Entscheidung, jetzt, in einer Stunde oder erst in
fünf Stunden ein bestimmtes Lebensmittel einzunehmen oder sogar ganz darauf zu verzichten.
Zwar ist das Grundprinzip der Lustgewinnung und Schmerzvermeidung stark in unserer Natur
verankert, aber das Wissen um die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen unseres Handelns,
dessen Zugewinn an Lust und Verminderung von Schmerz beruht nicht (allein) auf natürlichen Anlagen, sondern (vor allem) auf kognitiven Leistungen, auf Erfahrung, Erkenntnis, auf
135
Hume (Treat) B 2, S. 407.
Vgl. Kulenkampff (1989) S. 88.
137
Hume (Treat) B 2, S. 410.
138
"Dieselbe aus der Erfahrung bekannte Verbindung hat dieselbe Wirkung auf den Geist, gleichviel
ob die verbundenen Dinge Motive, Willensakte und Handlungen, oder Raumgestalten und Bewegungen sind". Hume (Treat) B 2, S. 412.
136
55
Verstand und Vernunft. Und deshalb sind dieses Wissen und die daraus entspringenden Handlungen eben nicht naturgesetzlich kausal determiniert. Infolgedessen besteht der von Hume
behauptete (deterministische) naturkausale Zusammenhang zwischen Handlung, Charakter
und Motiv nur unter der Voraussetzung, dass eine Handlung ohne Rationalität instinktiv vollzogen wird. Es liegt in der Entscheidung jedes einzelnen Menschen, inwieweit er lieber kurzoder eher mittel oder doch langfristig der Lustgewinnung oder Schmerzvermeidung den Vorzug gibt. Charakter, Erziehung, Ausbildung mögen zwar gewisse allgemeine Tendenzen von
Handlungen favorisieren, aber nicht determinieren.
In der Moraltheorie geht es ohnehin nicht darum, was jemand aufgrund seines Charakters
(womöglich) tun würde, sondern um das, was er (rationalerweise) tun sollte, es geht also um
die Freiheit, eine rationale Wahl zu treffen, bestenfalls nach Regeln zu handeln, die für alle
Menschen (insgesamt) nützlich und deshalb moralisch sind. Ein Sollen (Normen, Ziele) auszusprechen wird erst in dem Zusammenhang sinnvoll, wo es Alternativen gibt, setzt Intentionalität und Rationalität von Entscheidungen voraus. Intentionalität und Rationalität erfordern
wiederum einen Willen und kognitive Fähigkeiten; ich kann nur dann einen (freien) Willen
haben, wenn ich Handlungsalternativen überhaupt erst erkennen und zwischen Handlungsalternativen wählen kann, wenn ich mich also zwischen verschiedenen Handlungsalternativen
entscheiden kann. Diese Entscheidung erfordert Rationalität, denn wenn ich (immer) nur das
mache, was meinen aktuell stärksten Gefühlen entspricht, habe ich nur Instinkt und keinen
(freien) Willen. Erst vor diesem Hintergrund erhalten Humes Auffassungen, dass Gefühle
ohne die Leitung des Verstandes blind seien oder dass wir vernünftig miteinander umgehen
sollten, eine belastbare Bedeutung.
Auch wenn Hume seines eigenen normativen Anspruchs wegen Entscheidungsfreiheit eigentlich anerkennen und rechtfertigen müsste, scheint sie wegen seines deskriptiven empiristischen Ansatzes unmittelbar auf das Problem der Handlungsfreiheit reduziert: Freiheit bedeutet bei Hume Freiheit vor äußerem Zwang. Solche Freiheit ist "eine Macht zu handeln oder
nicht zu handeln, je nachdem, was der Wille bestimmt."139 In diesem Sinne kann jemand frei
sein, obwohl sein Handeln durch seinen Charakter, seine Neigungen und seine persönliche
Lage (kausal) bestimmt wird. Freiheit vor äußerem Zwang im Humeschen Sinne ist zwar
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit, Verantwortung.140
"Handlungen sind ihrer eigensten Natur nach zeitlich und vergänglich und wo sie nicht von
irgendeiner Ursache in Charakter und Anlage der handelnden Person ausgehen, können weder
die guten ihr zur Ehre noch die schlechten ihr zur Schande gereichen."141 Natürlich entsteht
anhand dieser deterministischen naturkausalen Vorstellungen von Zurechnung die große moraltheoretische Schwierigkeit, wie Menschen für ein bloß durch biologische Anlagen bedingtes Handeln überhaupt verantwortlich gemacht werden sollen?
Gutes und böses, tugendhaftes und untugendhaftes Verhalten beruhen nach Humes Auffassung nicht auf (rationalen) Entscheidungen des Subjekts für oder gegen bestimmte Moralvorstellungen, sondern sind schlicht auf dessen intakte oder defekte psychologische Eigenschaften zurückzuführen.142 Handlungen werden dem Menschen nur deshalb als sittlicher Verdienst
oder moralisches Versagen angerechnet, weil sie die äußeren Zeichen guter oder schlechter
Affekte sind. Unter diesen Voraussetzungen würde Moralität auf bestimmten Charaktereigenschaften beruhen, für die der Besitzer letztendlich aber keine Verantwortung trägt, weil sie in
seiner biologischen Natur liegen. Hume glaubt, dass keine philosophische Theorie bisher eine
139
Hume (EnqU) S. 124.
Vgl. Kulenkampff (1989) S. 89.
141
Hume (EnqU) S. 127.
142
"Jedes moralische 'Vergehen aber beruht auf einer Fehlerhaftigkeit oder einem Mangel der Affekte.
Diese Fehlerhaftigkeit wiederum bemisst sich zum großen Teil danach, was in unserer geistigen Konstitution als der gewöhnliche Ablauf und die gewöhnliche Verfasstheit der Dinge gilt". Hume (Treat)
B 3, S. 52.
140
56
überzeugende Lösung für das Problem der Zurechenbarkeit gefunden hat und es aller Voraussicht nach auch keiner je gelingen werde. Der Einwand trifft eine bedenkliche Schwäche seiner ganzen Lehre, denn gerade die Zurechnung, ohne die - wie er selbst zugibt - moralische
Anstrengungen vergeblich bleiben, wird durch Leugnung der Entscheidungsfreiheit vollkommen unbegreiflich.143
Mit Bezug auf den naturgesetzlich bestimmten empirischen Charakter des Menschen gibt
Kant Hume sogar recht.144 Hume und Kant gehen Newtons Weltbild gemäß noch von deterministischer Kausalität im Naturgeschehen aus. Diese Einschätzung beruht nicht etwa auf
einem Beweis für die durchgehende deterministische Kausalität des Naturgeschehens, die sich
im übrigen (sogar im Kernbereich naturgesetzlicher Kausalität - der Physik) inzwischen als
falsch erwiesen hat, sondern auf der optimistischen (aus heutiger Sicht etwas naiv erscheinenden) Forderung der Aufklärung, das Naturgeschehen solle im Interesse seiner angestrebten
durchgängig (rationalen) naturgesetzlichen Interpretation von deterministischer Kausalität
beherrscht sein. Das entscheidende Argument Humes gegen Entscheidungsfreiheit liegt in der
empiristischen (und auch von Kant erhobene rationalistischen) Forderung des Ausschlusses
von Zufall, der durchgehend deterministisch kausal verknüpften Verbindung aller Naturgeschehnisse: "Und wenn die oben gegebene Definition zugestanden wird, ist Freiheit als Gegenteil von Notwendigkeit, nicht des Zwanges, dasselbe wie Zufall, der allgemein für nichtexistent gilt."145 Obgleich Kant die Erörterung der Freiheitsproblematik gegenüber Hume ganz
wesentlich erweitert und vertieft, gelangt er doch nach meiner Auffassung letztlich zu keinem
substanziellen Fortschritt.
Kant geht von einem negativen oder praktischen und einen positiven oder transzendentalen146 Freiheitsbegriff aus. Negative Freiheit wird bestimmt als Unabhängigkeit von "Antrieben der Sinnlichkeit“.147 Praktische Freiheit besteht dann, wenn die Entscheidungen eines
Menschen eben nicht durch "sinnliche Antriebe", sondern durch "Bewegursachen, welche nur
von der Vernunft vorgestellt werden" bestimmt werden.148 Praktische Freiheit im Sinne Kants
liegt damit gar nicht so weit von Humes Auffassung entfernt, der Mensch sei ohne Leitung
von Verstand und Vernunft 'blind', weil sie es ihm erst erlauben, sich nicht von seinen natürlichen Antriebe bestimmen zu lassen, sondern durch rationale Überlegungen auch längerfristige
Ziele und Interessen zu berücksichtigen. "Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen,
durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die
Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen
aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft."149 Allerdings kollidieren bei Hume und Kant diese (negativen) Freiheitsvorstellungen mit der Forderung nach durchgängiger deterministischer Interpretation des Naturgeschehens.
Negative Freiheit bildet bei Kant die Voraussetzung für positive Freiheit als dem Vermögen der Vernunft, sich selbst (moralische) Gesetze zu geben. Das Vermögen des Menschen,
sich unabhängig von seinen Neigungen bestimmen zu können, befähigt ihn zur moralischen
Selbstbestimmung (Autonomie). Transzendentale Freiheit charakterisiert Kant als "eine Un143
So Lauener (1969) S. 168 f.
Vgl. Kant (KrV) A 549 f., B 577f.
145
Hume (EnqU) S. 125.
146
Im Abschnitt "Der Kanon der reinen Vernunft" der Transzendentalen Methodenlehre am Ende der
Kritik der reinen Vernunft (KrV) unterscheidet Kant zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit. Vgl. Kant (KrV) A 800, B 828.
147
Kant (KrV) A 802, B 830.
148
Kant (KrV) A 802, B 830.
149
Kant (KrV) A 803, B831.
144
57
abhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt."150 Entscheidungen
sind praktisch frei, sofern sie auf vernünftige Überlegungen zurückgehen; sie sind transzendental frei, wenn diese Überlegungen selbst frei sind.151 Transzendentale Freiheit stellt lediglich eine Idee dar und wir können nach Kant uns dieser Freiheit weder bewusst werden noch
aus Erfahrung auf sie schließen. Die Kantische Selbstgesetzgebung belegt in meinen Augen
jedoch eher eine relative Freiheit (gegenüber durchgängiger, deterministischer Naturkausalität), aber nicht eine Freiheit in irgend einem absoluten Sinne, denn wir können in keinem Bereich absolutes Wissen erreichen, weil wir die Strukturen unseres Denkens nicht selbst entworfen haben und nicht frei wählen können. Freiheit kann sich in praktischer Hinsicht vor
allem darauf beziehen, (selbst begründete) Entscheidungen zu fällen. Diese Entscheidungsfreiheit wird um so größer bemessbar sein, inwieweit ein und das gleiche Lebewesen sich in
derselben Situation anders verhalten kann. Ein Krokodil, das als Reptil zu den weniger intelligenten Lebewesen gehört, wird immer angreifen, wenn es ein Geräusch im Wasser hört, weil
es damit Beute assoziiert und diese Assoziation unwillkürlich den Angriffsreflex des Krokodils auslöst. Demgegenüber haben Menschen innerhalb ihrer kognitiven Strukturen gewisse
Freiheitsgrade, insofern diese unsere möglichen Urteile (über die Natur oder Moral) nicht
prädestinieren. So können wir etwa selbst entscheiden, welche Bereiche der Natur oder
menschlichen normativen Verhaltens wir überhaupt untersuchen wollen.
Kant übersieht außerdem, dass es ein deutlich schwierigeres Unterfangen darstellt, innerhalb der uns (bisher) bekannten biologischen und psychologischen Grenzen frei (selbst bestimmt) zu entscheiden und einen wesentlich höheren kognitiven Aufwand erfordert, als moralisch zu handeln, denn bei moralischem Handeln muss man lediglich (allgemeine) vorgegebene moralische Regeln befolgen, etwa die (relativ einfache) Goldene Regel, Humes Nutzenprinzip oder Kants KI - wenn man hingegen frei (relativ zu seinen natürlichen Antrieben) entscheiden möchte, verlangt dies ausreichende Kenntnis über seine (individuellen und allgemeinen) genetischen, psychologischen, evolutionsbiologischen, kognitiven Eigenschaften (Möglichkeiten und auch Beschränkungen). Ein den Kantischen KI (nahezu lückenlos) beachtender
Mensch, der jedoch nicht die (oft unbewusst wirkenden) evolutionsbiologischen (psychologischen) Faktoren seines Handelns kennt, würde mitnichten frei handeln. Durch das im Zuge
verhaltensbiologischer, psychologischer oder neurologischer Forschung stetig anwachsende
empirische Wissen um mehr oder weniger angeborene Verhaltensmuster gewinnen wir die
Chance, die uns möglichen Freiheitsgrade zu erhöhen, wenn wir dieses Wissen in unserem
Handeln berücksichtigen. Da ich moralisch handeln kann, ohne mir der empirischen Bedingungen (die meine Entscheidungen mehr oder weniger bewusst beeinflussen) klar zu werden,
sind die zur Beachtung des KI erforderlichen Fähigkeiten und Freiheit entgegen Kants Auffassung keineswegs deckungsgleich. Wenn ich etwa eine schwierige Kindheit hatte, meine
Mutter während meiner Schwangerschaft geraucht oder Alkohol getrunken hat, wird das meine Entscheidungen mein Leben lang beeinflussen, auch wenn ich moralisch handle. Wenn ich
mir dieser Einflüsse auf meine Entscheidungen nicht klar werde, bleibe ich in gewissem
Rahmen unfrei, obwohl ich mich moralisch (im Sinne des KI) verhalte. Über den Kantischen
Argumentationsweg der Identifikation von moralischem Handeln mit Freiheit wird auch - wie
in der Literatur immer wieder zu recht beklagt - die Zurechenbarkeit unmoralischer Entscheidungen als freien Entscheidungen völlig unnötig blockiert.
Um diese Schwierigkeit zu umgehen, darf Freiheit meiner Ansicht nach nicht an der Moralität (oder Unmoralität) von Entscheidung festgemacht werden, sondern muss anhand der
Qualität der Entscheidung selbst bestimmt werden. Wenn ich mich entscheide, mich (für die
nächsten zwei Tage) meinen Neigungen hinzugeben, bin ich dennoch frei, auch wenn meine
150
151
Kant (KrV) A 802, B 830.
Vgl. Baumann, Peter. Die Autonomie der Person, Paderborn 2000. S. 142.
58
Neigungen durch Naturkausalität bestimmt sind, sofern ich andere mögliche Handlungsalternativen vorher erwogen und verworfen habe. Ich kann entscheiden, ob ich gefühlsbasiert oder
verstandesbasiert oder vernunftorientiert handeln oder nicht handeln will. Das sind schon
sechs grundlegend verschiedene Handlungsoptionen (wesentlich mehr, als die von Kant erwähnten zwei schlichten Alternativen, 'für oder wider das moralische Gesetz' zu handeln).
Zwischen allen sechs Handlungsoptionen kann ich hin- und herpendeln; den Ausschlag können letztendlich Gefühl oder Verstand oder Vernunft geben - je nachdem, wofür ich mich
entscheide - die Verantwortung (Zurechnung) für diese Entscheidung trage in jedem Fall ich
selbst. Zu den sechs grundlegenden Handlungsoptionen kommen noch zahlreiche weitere (untergeordnete) Handlungsvarianten hinzu, wenn ich sie auf das Handlungsmotiv, die Handlung
selbst oder die Handlungskonsequenzen beziehe. Ich kann mich verstandesbasiert für eine
Handlung entscheiden, ihre Konsequenzen vernunftbasiert bewerten, diese aber dann gefühlsbasiert durchführen. Daraus ergeben sich weitere zahllose Handlungsalternativen, wobei noch
völlig unberücksichtigt bleibt, dass ich auch über (verschiedene) Aspekte ein und derselben
Handlung (Motiv, Handlung, Konsequenzen) wiederum gefühlsbasiert, verstandesbasiert
und/oder vernunftbasiert urteilen/entscheiden kann - etwa über das Motiv zu 50 Prozent verstandesbasiert, zu 20 Prozent gefühlsorientiert und zu 30 Prozent vernunftorientiert. Unter
rationalen Gesichtspunkten werde ich die Handlungsvariante bevorzugen, die mir unter Risiko- und Nutzenerwägungen den größten sicheren Vorteil verspricht.
Auf einer sinnlichen Ebene unterliegt der Mensch in seinen kognitiven und voluntativen
Leistungen sicher am meisten natürlicher Determination. Durch Verstand im Sinne des Kantischen negativen Freiheitsbegriffs erlangt der Mensch über Wahrnehmung seiner Interessen was einerseits die Kenntnis seiner Bedürfnisse, die Kenntnis seiner Wünsche und deren Realisierungschancen voraussetzt - zu einer ersten nennenswerten Distanzierung gegenüber natürlicher Determination. Eine solche Distanzierung reicht etwa für den Bereich positiven Rechts
und Teile positiver Ethik völlig aus, in denen es durch Sanktionierung unangemessenen Verhaltens durch Bestrafung unattraktiv wird, sich regelwidrig zu verhalten. Diese verstandesbasierte Freiheit erfordert nicht mehr als prudentielle (instrumentelle) Rationalität. Sie setzt
nicht die Einsicht in den Sinn moralischer Gebote und Verbote, sondern schlicht und ergreifend nur die Kenntnis der faktischen Konsequenzen ihrer Beachtung oder Missachtung vor
dem einfachen Hintergrund des allgemeinen Humeschen Grundprinzips der Lustsuche und
Schmerzvermeidung voraus.
Gegen Kants Empirismuskritik in der Moral wäre einzuwenden, dass es nicht die Freiheit
der Naturerkenntnis beeinträchtigt, wenn sie auf Empfindungsdaten über Form, Größe Farbe
von Gegenständen beruht und ebenso wenig die Freiheit der Moralerkenntnis beeinträchtigt,
wenn sie auf Gefühlsdaten beruht, sofern diese Gefühlsdaten nicht bereits entscheidungsdeterminant sind, sondern Rationalitätsfilter durchlaufen. Maßgeblich für die Entscheidungsfreiheit sind die auf sinnlichen Daten vorgenommenen Hierarchisierungen durch den Menschen selbst, die nicht (zwangsläufig) entscheidungsbestimmend durch die Natur vorgegeben
sind. Jede Form unmoralischen Handelns führt Kant jedoch letztendlich auf egoistisches Verhalten zurück, verkürzt damit die Freiheitsproblematik ganz entscheidend und mit ihr auch
das Problem der Zurechnung. Eine unmoralische Handlung mit Hume und Kant lediglich als
Charakterschwäche auszulegen, erscheint angesichts der damit zusammenhängenden vielfältigen Problemlagen als deutlich zu anspruchslos.
Letztendlich gelingt es Kant ebenso wenig wie Hume Entscheidungsfreiheit und Naturkausalität in einem plausiblen Argumentationszusammenhang darzustellen. Damit bleiben aber
Humes und Kants Moraltheorien als (in sich abgeschlossene) Moralsysteme unvollendet, denn
Moral soll im Alltag, in der empirischen Welt wirksam sein und muss in ihrer möglichen Realisierung auch erklärbar sein. Deshalb darf eigentlich nur ein solcher Freiheitsbegriff in Anspruch genommen werden, der sich auch empirisch hinreichend belegen, verifizieren lässt.
Kant und Hume finden für das Problem der Entscheidungsfreiheit jedoch keine befriedigende
59
Lösung, weil sie dem Anspruch der neuzeitlichen Naturwissenschaft, dem Ideal der Aufklärung folgend, die Natur als durchgängig deterministischen Kausalzusammenhang begreifen.
Der Mensch wird folgerichtig ganz (Hume) oder in Teilen (Kant) als dieser Natur angehörend
und somit unfrei verstanden. Gegenüber damaligen vorherrschenden kirchlichen Vorstellungen von der Natur als durch ein allmächtiges unsterbliches Wesen geschaffen und gelenkt,
dem Menschen als Krone dieser Schöpfung und Ebenbild Gottes bedeuten diese aufklärerischen Bemühungen sicher einen gewaltigen Fortschritt. Allerdings bleiben mehr noch Hume
als Kant durch ihre dogmatischen Standpunkte unterschiedliche Freiheitsgrade verborgen, die
Lebewesen, allen voran der Mensch in dieser Natur vor allem durch (verstandes- und vernunftbasierte) Entscheidungen haben. Die Freiheitsproblematik wird uns wegen der bis zum
heutigen Tag zwischen Naturwissenschaftlern (in erster Linie Neurobiologen) und Geisteswissenschaftlern anhaltenden Diskussionen wohl vorerst erhalten bleiben.
Eines der wichtigsten anwendungsbezogenen Probleme im Rahmen der hier angestrebten
Globalmoral besteht natürlich in der Motivation zu moralischem Handeln. Grundsätzlich alle
Menschen dieser Erde sollen sich angesprochen und angespornt fühlen, den hier zu entwickelnden Normen Folge zu leisten und zwar unabhängig von ihrer Kultur, ihrem Alter, ihrem
Geschlecht, ihrer Religion, ihren politischen Ansichten, ihrem sozialen Status. Vor diesem
Hintergrund würde es wenig überzeugen, moralische Maximalforderungen aufzustellen, die
schwer verständlich sind und zudem noch auf einen bestimmen Kulturkreis zugeschnittene
weltanschauliche Voraussetzungen haben. Damit rückt in der Motivationsfrage die praktische
Realisierbarkeit in den Vordergrund und die theoretische Geltung von Moralvorstellungen in
den Hintergrund. Gleichwohl kann natürlich von keinem Menschen verlangt werden, offensichtlich unzureichend begründete Normen anzuerkennen, wodurch ein wissenschaftlicher
Mindeststandard (auch in der Motivationsfrage) auf jeden Fall gewahrt bleiben muss.
Moralvorstellungen setzten Rationalitätsanmutungen bei allen Handlungsakteuren voraus,
also das Vermögen aus (rationalen) Gründen handeln und demensprechend auch Regeln befolgen zu können. Dieser Rationalitätsanforderung muss sich auch die Moraltheorie in jederlei
Hinsicht selbst stellen, wenn sie nicht dogmatisch (wie vermeintliche göttliche oder bestimmte weltanschauliche Gebote) wirken will. Unter diesen Voraussetzungen steht die Motivationsproblematik nicht in erster Linie vor einem psychologischen Vorbehalt, sondern vor einem
Plausibilitätsvorbehalt rationaler Gründe. Als systematischen Ausgangspunkt in der Motivationsfrage nehme ich Humes elementare Einsicht, dass Menschen ohne Gefühle außerstande
sind, überhaupt einen Standpunkt einzunehmen, der sie handlungsfähig macht. Seine moral
sense Theorie werde ich mangels Erfolgsaussichten hingegen nicht mehr berücksichtigen - es
sei denn im unvermeidlichen Zusammenhang einer sachgerechten Interpretation seiner eigenen Lehre. Überraschenderweise stimmt - wie im letzten Kapitel bereits angeschnitten - Kant
mit Hume darin überein, dass uns nur ein Gefühl zum Handeln motivieren könne. Allerdings
beinhaltet dieses Gefühl bei Kant ein vernunftgewirktes Gefühl und kein natürliches sinnliches Gefühl. Inwiefern das überhaupt möglich scheint, muss erst noch geklärt werden - ebenso wie die sich daran unvermeidlich anschließende Frage, wie und warum wir uns motivieren
sollen, dieses spezielle Gefühl der Achtung zu entwickeln?
Den Nerv jeder Moraltheorie betrifft in meinen Augen das Problem der (möglichen) Motivation zur Beachtung ihrer Normen auch deshalb, weil die jeweilige Begründung gewissermaßen die Bewerbung, das Bewerbungsgespräch um die Gunst des Adressaten darstellt, das
ihn herausfordert zu entscheiden, was für ein Mensch er sein möchte. Damit hängen bei Hume
und Kant natürlich unvermeidlich die basalen Überlegungen zusammen, inwieweit eine moralische Handlungsmotivation eher emotional oder rational zustande kommen soll? Im besten
Fall könnte eine moralische Handlungsmotivation aufgezeigt werden, an deren Verwirklichung jedermann (emotional und rational) ein Interesse haben muss. Wir können nach Hume
nur zu etwas motiviert sein, wenn wir einen natürlichen Antrieb zum entsprechenden Hand60
lungszweck haben.152 Starke emotionale Antriebe werden evolutionsbedingt eher zu einer
Handlungsmotivation führen, als starke rationale Gründe. Insofern kann das Optimum nur
darin bestehen, für emotionale Antriebe einen rationalen Überbau zu schaffen oder umgekehrt
für rationale Gründe eine emotionale Basis zu suchen. Die zentrale Aufgabe lautet hier deshalb: Woran nehmen möglichst alle Menschen (notwendig) ein möglichst starkes (emotionales und rationales) Interesse? Beiden Bedingungen werden plausibler von Humes Prinzip der
Lustvermehrung und Schmerzvermeidung (Selbsterhaltung) erfüllt; der eigene Nutzen dürfte
ein wesentlich stärkerer Motivator für alle Menschen sein, als die nach Kant (vermeintlich)
wahre naturteleologische Bestimmung des Menschen.
Wie bereits erwähnt beruht Moraltheorie auf der Grundvoraussetzung, dass Akteure intentional handeln und (subjektive oder intersubjektive) Gründe zu Motiven werden können. Allerdings betrifft die Unterscheidung zwischen subjektiven Motiven und intersubjektiven
Gründen eine wichtige Zäsur, denn was für den Einzelnen ein gutes Handlungsmotiv bildet,
muss nicht unbedingt auch ein intersubjektiv guter Handlungsgrund sein.153 Umgekehrt sollte
jedoch ein intersubjektiv gültiger Handlungsgrund seiner allgemein erwünschten Realisierung
wegen auch ein für den Einzelnen rational erstrebenswertes subjektives Handlungsmotiv bieten. Die entscheidende Schwierigkeit - und das macht einen wesentlichen Teil aller moraltheoretischen Bemühungen aus - besteht nun darin, überzeugend darzulegen, wie aus intersubjektiven Gründen auch subjektive Motive werden können oder umgekehrt und besser, inwieweit subjektive Handlungsmotive zu intersubjektiven Gründen führen können.
Die Ebene subjektiver Motive würde ich als die verstandesbasierte (prudentielle) Handlungsebene und die Ebene intersubjektiver Gründe (an Hume angelehnt) als die vernunftbasierte Handlungsebene bezeichnen. Keinesfalls übersehen werden darf nun, dass beide Ebenen - die verstandesbasierte und die vernunftbasierte - rational sind; wir benötigen die verstandesbasierte Ebene, um vom gefühlsbasiert handelnden Subjekt zur (abstrakt idealen) vernunftbasierten Ebene zu gelangen und umgekehrt führt der Weg von der vernunftbasierten
Ebene zum gefühlsbasiert handelnden Subjekt nur über die Verstandesebene. Dieses Hauptproblem der Vermittlung von subjektiven Motiven mit intersubjektiven Gründen besteht
grundsätzlich für jeden anwendungsorientierten Typus normativer Moraltheorie, unabhängig
davon, ob es sich um eine Tugendlehre, eine Handlungstheorie, eine Werttheorie oder eine
Pflichtenlehre handelt. Ein großer Vorzug der Humeschen Moraltheorie gegenüber der Kantischen scheint mir darin zu liegen, dass Hume weitgehend plausibel darlegen kann, wie aus
subjektiven Bedürfnissen, Wünschen, Interessen, Motiven intersubjektive Gründe werden
können, was sich natürlich seiner induktiv-empiristischen Methodik verdankt, die von Einzelbeobachtungen, von Einzeltatsachen zu intersubjektiven Regeln und Prinzipien führt. Dieses
induktive Verfahren bildet relativ organisch auch unser Verhalten im Alltag ab, wenn wir uns
fragen, was wir selbst wollen und inwiefern dies (unter moralischen Gesichtspunkten) erlaubt,
erwünscht oder verboten sein mag?
152
Dass wir einen natürlichen Antrieb zur Moral haben, scheint eher Humes (emotivistischem)
Wunschdenken zuzurechnen sein, weil es dann viel weniger Unmoral in der Welt geben müsste. "Hätte die Moral nicht natürlicherweise einen Einfluss auf menschliche Affekte und Handlungen, so wäre
es nutzlos, dass man sich so viel Mühe gäbe, sie einzuprägen." Hume (Treat) B 3, S. 15.
153
Nehmen wir ein Beispiel: Ich besitze ein Waldstück, möchte aber mit dem Land einen größeren
Gewinn machen. Dafür scheint es mir ratsam, die Bäume abzuholzen und Kartoffeln anzupflanzen.
Mein Handlungsgrund, mehr Profit mit dem Waldstück zu machen ist subjektiv rational und mein
Handlungsmotiv den Wald abzuholzen und darauf Kartoffeln anzupflanzen ist ebenfalls subjektiv
rational. Aus intersubjektiver Sicht liefert jedoch der Wald einen Beitrag zum Umweltschutz, indem er
die Luft reinigt, Kohlendioxyd bindet und den Boden vor Erosion schützt. Da die Versorgung der Bevölkerung mit Kartoffeln bereits gesichert ist, ist die Abholzung des Waldes zugunsten eines Kartoffelackers aus intersubjektiver Sicht nicht gerechtfertigt.
61
Kant geht mit seiner deduktiv-rationalistischen Vorgehensweise genau den umgekehrten
Weg; sein Hauptaugenmerk besteht darin aufzuzeigen, welche Merkmale die Qualität intersubjektiver Gründe ausmachen Große Schwierigkeiten bereitet Kant folglich die Vermittlung
von intersubjektiven Gründen mit subjektiven Motiven. Kants Lösungsweg scheint nun einfach darin zu liegen, subjektive Motive schlechthin als unmoralisch auszuweisen und dieses
grundlegende moraltheoretische Problem (keinesfalls nur psychologischer Natur) dadurch in
den Hintergrund zu drängen. Damit macht es sich Kant aber eindeutig zu einfach, denn durch
weitgehende Ausklammerung der Verstandesebene und erst recht der Gefühlsebene fehlen
ganz wichtige kognitive und voluntative Bausteine in der moralischen Argumentationskette.
Menschen sind doch nur dadurch imstande ihr Leben zu bewältigen, weil sie von frühester
Kindheit an ein Leben lang Erfahrung sammeln - auch und gerade in moralischer Hinsicht.
Weil die verstandesbasierte subjektive Begründungsebene rationalen Handelns und vor allem
die ihr vorausgehende emotionale Ebene bei Kant nur sehr schwach ausgebildet sind, wirkt
die intersubjektive Begründungsebene seltsam isoliert gegenüber unserer eigenen Erfahrung,
entfremdet von unserer eigenen moralischen Praxis im Alltag, unorganisch, ohne hinreichenden Bezug zu unserem Leben, insgesamt wenig überzeugend, weitgehend dogmatisch.
Hume legt insgesamt eine recht plausible dreistufige Motivationstheorie vor, indem er versucht, von der unser Handeln sehr stark initiierenden Gefühlseben zu subjektiven verstandesbasierten und intersubjektiven vernunftorientierten Moralvorstellungen zu gelangen. Ausgangspunkt der Gefühlsebene bildet wiederum das bestimmende Prinzip der Lustsuche und
Schmerzvermeidung: "Der Geschmack, da er Lust und Unlust bringt und dadurch Glück oder
Unglück schafft, wird zu einem Handlungsmotiv und ist der erste Antrieb oder Impuls zum
Begehren oder Wollen."154 Alle subjektiven und intersubjektiven Moralvorstellungen sind als
(kurzfristige oder längerfristige) Varianten, Variationen, Derivate dieses Prinzips zu verstehen. Für Hume scheint keine Moralvorstellung tragfähig oder auch nur sinnvoll, die sich nicht
diesem Prinzip unterordnet; Gefühle haben bei Hume ganz anders als bei Kant eine (eigenständige) kognitive und motivationale Funktion.
Die entscheidende Bedeutung der ersten Rationalitätsebene, des Verstandes, liegt nach
Hume nun darin, durch den Vergleich von Vorstellungen verschiedener (möglicher) Handlungsalternativen und einen Abgleich mit bereits gemachter Erfahrung diejenigen Handlungsvarianten herauszufinden, die uns selbst (kurzfristig) den größten Nutzen bieten: "Der Verstand, weil kühl und gleichgültig, liefert kein Handlungsmotiv und weist nur dem von Begierde oder Neigung empfangenen Impuls den Weg, indem er uns die Mittel zur Erreichung des
Glücks und Vermeidung des Unglücks zeigt."155 Mit Hilfe des Verstandes erreichen wir bei
dieser Argumentationskette einen (ersten) Standpunkt, indem er unsere Bedürfnisse und Wünsche als Interessen gewissermaßen aus unserer (inneren) Gefühlswelt auf die (uns umgebende) Außenwelt projiziert und auf ihre Realisierbarkeit hin abgleicht. Aber nicht nur durch
(egoistische) Gefühle und darauf aufbauende eigene verstandesbasierte Überlegungen werden
wir zu Handlungen motiviert, sondern auch durch die Meinung anderer Menschen und damit
zeigt Hume einen wie ich finde (weiteren) interessanten Übergang von subjektiven Handlungsmotiven zu intersubjektiven Handlungsgründen an.156 Der Verstand wird solcherart zum
Mediator und Moderator zwischen subjektiver Gefühlsebene und intersubjektiver Vernunftebene. Diese Darstellung der sozialen Genese unserer Moralvorstellungen wirkt im Gegensatz
zu Kantischen Ausführungen recht modern und plausibel. Die Meinung anderer kann nach
Hume für uns sogar zu einer ebenso starken Motivation werden, wie die originären Affekte
154
Hume (EnqM) S. 226.
Hume (EnqM) S. 225f.
156
"Die Menschen ziehen eben immer die Gefühle anderer bei der Beurteilung ihres eigenen Ich in
Betracht". Hume (Treat) B 2, S. 326. "Die bloße Ansicht eines anderen, besonders wenn sie mit Affekt
vorgebracht wird, lässt die Vorstellung eines Gutes oder Übels Einfluss auf uns gewinnen, während sie
sonst ganz unbeachtet geblieben wäre". Hume (Treat) B 2, S. 428.
155
62
Stolz und Scham157. Wir wollen nach Motiven vorgehen, die zu solchen Handlungen führen,
die positive Reaktionen anderer auf unser Verhalten hervorrufen. Durch Rückkopplung unserer Vorstellungen angemessenen Verhaltens an die Vorstellungen anderer Menschen von
angemessenem Verhalten, wollen wir uns vor negativen Reaktionen der Mitmenschen auf
unser Handeln schützen. Im Grunde lässt sich dieses auf Absicherung bedachte Verhalten auf
Egoismus zurückführen, wir wollen als gute Kooperationspartner158 dastehen, weil uns das
(soziale) Vorteile bei der eigenen Bedürfnisbefriedigung verschafft.
Dass Hume als Humanist und großer Menschenfreund dieses Verhalten nicht auf Egoismus, sondern auf dem Sympathieprinzip beruhend verstanden wissen möchte, erstaunt nicht
weiter. Mit der kommunikativen Absicherung unseres Verhaltens anhand der Meinung unserer Mitmenschen (in unserer Umgebung) sind allerdings erst zahlreiche subjektive verstandesbasierte, aber noch keine intersubjektiven Moralvorstellungen gewonnen; letztere sind erst auf
Vernunftebene erreichbar, wo es um die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns geht.
Gleichwohl ist für Hume auch vernünftiges Handeln ohne emotivistische Basis unmöglich.
Die emotionale Grundlage intersubjektiven moralischen (vernünftigen) Handelns bildet wiederum das Sympathieprinzip, denn "das öffentliche Wohl ... ist uns gleichgültig, soweit nicht
Mitgefühl uns bewegt."159 Dadurch, dass wir mit anderen Menschen mitfühlen, teilen wir
nach Humes Ansicht (auch) deren Freude und deren Leid. Weil wir natürlich selbst Freude
suchen und Leid vermeiden wollen, liegt uns daran, dass andere Menschen (auch) Freude
vermehren und Leid vermeiden können.160 Deswegen wird Sympathie nach Hume "Hauptquelle"161 moralischer Unterscheidungen. Sympathie ist hier Voraussetzung moralischen Urteilens, aber nicht schon selbst Ausdruck moralischer Zustimmung oder Ablehnung. Insofern
kann im Rekurs auf das Sympathieprinzip zwar das Entstehen intersubjektiv relevanter moralischer Gefühle erklärt werden, aber das Sympathieprinzip selbst gibt kein Kriterium für die
Bestimmung (intersubjektiver) moralischer Vorschriften ab.
Diese Kriterienfunktion übernimmt erst Vernunft, deren entscheidende Funktion darin
liegt, dass sie nicht wie der Verstand, nur darauf abzielt was sich für uns selbst (kurzfristig)
vorteilhaft oder nachteilig auswirkt, sondern (mittels des Sympathieprinzips) was für alle
Menschen (langfristig) nützliche oder schädliche Konsequenzen hat. Auf diese Weise bewirkt
157
"Es gibt aber neben diesen direkten Ursachen des Stolzes und der Niedergedrücktheit noch eine
sekundäre Ursache. Dieselbe beruht auf den Meinungen anderer und wirkt in gleicher Weise auf unsere Gemütsbewegungen. Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwer wiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes, Tugend, Schönheit und Reichtum,
haben wenig Wirkung, wenn die Meinungen und Anschauungen anderer ihnen nicht Vorschub leisten.
Um diese Erscheinung zu verstehen, müssen wir einen Umweg machen und erst das Wesen der Sympathie deutlich machen". Hume (Treat) B 2, S. 337.
158
Im Mittelpunkt solcher Kooperationsverhätnisse steht für Hume (wiederum) das Eigentum, für
dessen Austausch es unverzichtbar ist, fremdes Eigentum zu beachten: "Nichts berührt uns näher, als
unser Ruf. Und unser Ruf hängt von nichts mehr ab als von unserem Verhalten mit Rücksicht auf das
Eigentum anderer". Hume (Treat) B 3, S. 68.
159
Hume (Treat) B 3, S. 208.
160
Diese Empathie ist inzwischen auch durch neuere psychologische Forschung recht überzeugend
empirisch belegt und scheint angeboren. Wenn ein Baby anfängt zu schreien, fangen die anderen Babys im Raum auch an zu schreien. Zahlreiche Experimente mit Affen und Ratten zeigen, dass nicht
nur Menschen, sondern auch (andere) höher entwickelte Säugetiere Mitgefühl entwickeln. Dabei zeigen Weibchen insgesamt mehr Empathie, als Männchen. Die quiekenden Hilferufe einer in einem
engen Käfig gefangenen Ratte motivieren eine außerhalb des Käfigs befindliche Ratte diese aus ihrem
engen Käfig zu befreien. Die quiekenden Hilferufe der gefangenen Ratte lösen bei der freien Ratte
Stress aus. Diesen Stress versucht sie durch deren Befreiung abzubauen. In diesem Sinne beruhte die
Hilfeleistung nicht auf Altruismus, sondern auf Egoismus. Es scheint Lebewesen einen evolutionären
Vorteil zu verschaffen, wenn sie einander helfen.
161
Hume (Treat) B 3, S. 207.
63
Vernunft bei unseren Affekten eine modifizierte Zielrichtung. Aber erst die kollektive Akzeptanz allgemeiner Verhaltensregeln verschafft eben diesen Verhaltensregeln intersubjektive
moralische Qualität.162 Der allgemeine Nutzen stellt deshalb ein gesellschaftlich anerkanntes
Moralkriterium dar, weil er für alle Menschen möglichst viel Freude und möglichst wenig
Leid bedeutet:163 "Durch die Vereinigung der Kräfte wird unsere Leistungsfähigkeit vermehrt;
durch Teilung der Arbeit wächst unsere Geschicklichkeit, und gegenseitiger Beistand macht
uns weniger abhängig von Glück und Zufall. Durch diese Vermehrung von Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit wird die Gesellschaft nützlich."164 Gegen das Humesche Moralkriterium vom (allgemeinen gesellschaftlichen) Nutzen als einfacher Klugheitsregel (ohne kategorischen Anspruch) hat bereits Kant protestiert und ihm folgen etliche Anhänger bis heute mit
dem Vorwurf, hier finde eine Profanisierung, eine Entwürdigung von Moral statt. Allerdings
müssten diese Kritiker erst einmal (überzeugend) darlegen, warum Moral mehr sein sollte, als
allgemein nützlich, wie im Humeschen Modell vorgeführt.165
Aus der Binnenperspektive der Humeschen Theorie scheinen mir die (im Grunde gegen
den gesamten Utilitarismus gerichteten) Einwände wichtiger, dass auch durch das Sympathieprinzip nicht (hinreichend plausibel) gezeigt würde, wie aus individualistisch orientierten
Egoisten kollektiv orientierte Altruisten werden, denn jede Gesellschaft sei von Konflikten
um Macht, Wohlstand, Ansehen, Konkurrenz durchzogen. Diese Konflikte dürfte es aufgrund
des Sympathieprinzips eigentlich gar nicht geben, geschweige denn Eigentumsdelikte oder
Verbrechen wie Körperverletzung, Ausbeutung, Versklavung, Pogrome an Minderheiten. Mir
scheint ein anderer Argumentationsweg aussichtsreicher, der auch intersubjektive Moralvorstellungen aus egoistischen Eigeninteressen begründet, denn kümmert uns das öffentliche
Wohl nicht nur insoweit, als unsere eigenen Interessen davon betroffen sind? Und wer bestimmt darüber, was für eine Gesellschaft als (allgemein) nützlicher gelten darf - der Bauunternehmer, der Umweltschützer, der Tierfreund, der Fabrikbesitzer, der Frauenarzt, der Dachdecker? Gerade wegen der pragmatischen Orientierung seiner Lehre bedarf das Problem der
(konkreten) Nutzenbestimmung bei Hume dringender Klärung. Unbesehen dieser Kritik in
Einzelpunkten beraubt sich Hume jedoch selbst der Früchte seiner insgesamt überzeugenden
Argumentation zu Genese und Begründung intersubjektiver Moralvorstellung dadurch, dass
er glaubt, wir handelten moralisch nicht etwa aus Einsicht in den daraus entstehenden (individuellen und allgemeinen) Nutzen, sondern weil wir für unser Verhalten über den moralischen
Sinn mit angenehmen Gefühlen belohnt würden. Diese nicht unbedingt schon seinem Empirismus, aber in jedem Fall seinem Anti-Rationalismus geschuldete Einschätzung verhindert,
in Vernunft die höchste kognitive moralische Instanz zu sehen und beeinträchtigt einmal mehr
den positiven Gesamteindruck seiner moraltheoretischen Überlegungen.
Hume schenkt der Motivationsproblematik relativ viel Aufmerksamkeit - jedenfalls ganz
erheblich mehr als Kant zunächst in der GMS; später in der KpV widmet er dem Thema ein
ganzes Kapitel, weil er zwischenzeitlich wohl dessen überragende theoretische und praktische
162
"Nach allem dem müssen wir annehmen, dass die Unterscheidung zwischen Rechtlichkeit und
Rechtswidrigkeit zwei verschiedene Grundlagen hat, nämlich die Grundlage des Selbstinteresses, das
sich dann einstellt, wenn die Menschen die Unmöglichkeit einsehen, in der Gesellschaft zu leben, ohne dass sie sich durch gewisse Regeln einschränken, und die Grundlage der Moral, die sich dann
ergibt, wenn dieses Interesse als allen Menschen gemeinsam erkannt wird und die Menschen bei der
Betrachtung von Handlungen Lust fühlen, die zum Frieden der Gesellschaft beitragen, und Unlust bei
der Betrachtung solcher, die demselben entgegenstehen. Die willkürliche und künstliche Übereinkunft
von Menschen schafft jenem Interesse Geltung". Hume (Treat) B 3, S. 109.
163
Vgl. Schrader (1984) S. 195.
164
Hume (Treat) B 3, S. 49.
165
So lautet Hepfers Kritik an Hume, wodurch denn Klugheitsregeln moralische Qualität erhielten?
Hepfer (1997) S. 98.
64
Bedeutung besser eingeschätzt haben mag. Das hier entscheidende 'Gefühl der Achtung' wird
noch in der GMS lediglich in einer Fußnote abgehandelt, in der KpV versucht Kant hingegen,
mit einer über mehrere Seiten reichenden, breit angelegten Argumentation zu überzeugen.
Zunächst macht es den Eindruck, als seien Egoismus und KI durchaus insofern miteinander
vereinbar, als Kant nur fordert, unser Egoismus solle mit dem KI in Einklang stehen.166 Ganz
in diesem Sinne könnte man dann von einem vernunftbasierten Egoismus sprechen, der gar
nicht einmal so weit von den Humeschen allgemeinen Nutzenvorstellungen entfernt wäre.
Diese Interpretation wird dadurch bestärkt, dass Kant eine Abweisung von Neigungen und
sinnlichen Antrieben nur in den Fällen fordert, "sofern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten."167 Unter der Voraussetzung ließe sich anscheinend ein Egoismus billigen, der aus Einsicht in die persönlichen Vorteile, die eine allgemeine Beachtung des KI mit sich bringt, zum
Handeln motiviert. Aber gerade diese Lösung wirkt für Kant inadäquat, da allein das Gefühl
der Achtung gegenüber dem KI zum Handeln motivieren soll; Handlungen verleiht nur das
Motiv der Achtung uneingeschränkten moralischen Wert. Aber warum und inwiefern ist diese
Einschränkung überhaupt sinnvoll? Durch Ausschluss von Neigungen, Eigenliebe und Mitgefühl wird dem Menschen die entscheidende emotivistische Basis, der stärkste Handlungsantrieb überhaupt genommen, wie Kant offenbar selbst einsieht.168
Denn Kant scheint Hume darin zuzustimmen, dass nur Gefühle handlungsauslösend sein
können. Dessen ungeachtet vertritt Kant die genaue Gegenposition zu Hume, indem er nicht
von natürlichen, angeborenen Gefühlen spricht, die im Dienste der Moral einsetzbar sind,
sonder von einem vernunftgewirkten apriorischen Gefühl der Achtung. Kant treibt einen
enormen rationalistischen Begründungsaufwand - angefangen bei der KrV, über die GMS,
KpV, MS - und doch hängt letztlich die gesamte moraltheoretische Argumentation am seidenen Faden des angeblich durch Vernunft zu bewirkenden Gefühls der 'Achtung vor dem Sittengesetz', das allein zu moralischem Handeln motivieren darf. Dieses Gefühl der Achtung
wirkt (auch im Kantischen Zusammenhang) eher ungewöhnlich, wobei ungeklärt bleibt, ob
Gefühle überhaupt erzeugt oder nicht durch Verstand und Vernunft lediglich kontrolliert, ob
Gefühle nicht einfach nur empfunden, deren Empfindung gar nicht (sinnvollerweise) gefordert werden können? Das von Kant propagierte Gefühl der Achtung trifft sogar im Lager
wohlmeinender Kant Interpreten auf einige Skepsis, denn es wird diskutiert, ob es sich bei
diesem Gefühl nicht eher um ein theoretisch gefordertes, gedachtes, als einem tatsächlich
empfindbaren Gefühl handelt.169 Der nähere Kontext, aus dem heraus dieses Gefühl bei Kant
166
"Alle Neigungen zusammen [...] machen die Selbstsucht aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst [...]."Die reine praktische Vernunft
tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetz einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbst liebe genannt wird". Kant (KpV) S. 129.
167
"Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: dass er als freier Wille,
mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben
und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz
bestimmt werde". Kant (KpV) S. 128.
168
"Nun finden wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, dass die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdrängt,
und unser pathologisch bestimmtes Selbst ... seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei". Kant (KpV) S. 131.
169
Die Schwierigkeit besteht nach Henrich in folgendem Umstand: Die Unterdrückung der Neigung
geschehe in der Sinnlichkeit, aber die Achtung als eine Erhebung passiere nicht in der Sinnlichkeit,
sondern in einem Urteil der Vernunft, also auf der intellektuellen Seite des sittlichen Lebens und bestehe nur im „Verhältnis der praktischen Vernunft zu sich selbst“. Der Grund dafür, dass die Achtung
als Erhebung intellektuell sei, bestehe darin, dass es für das Gesetz kein sinnliches Gefühl gebe und
die Achtung als Erhabenheit nur dadurch hergestellt werde, dass das Gesetz die Selbstliebe demütige
65
entwickelt wird, erinnert unangenehm an mit der Aufklärung bereits überholt geglaubte
christliche Wertvorstellungen in der Moraltheorie - die Überwindung der eigenen Triebhaftigkeit, die Sündhaftigkeit des Menschen anhand religiöser Überzeugungen (den Glauben an
eine höhere Macht). Die breite Skepsis gegenüber diesem speziellen Gefühl der Achtung entzündet sich auch an Kants Vorschlag, dass es nicht etwa anderen Menschen geschuldet sein
soll, deren Rechten (als Mitgesetzgeber), ihrer Würde, sondern offenbar überhaupt nur seinem
Moralprinzip (KI). Kant bestreitet sogar ausdrücklich, dass man gegenüber Personen Achtung
haben könne.170 In der Hierarchie moralisch relevanter Gefühle steht dieses Gefühl der Achtung bei Kant als vernunftgewirktes Gefühl an allererster Stelle.
Kants Argumentation lautet in ihren wichtigsten Schritten: Achtung beruht auf Selbstbeherrschung, der Unterdrückung unserer sinnlichen Natur durch unsere intellektuelle Natur und
bildet die Basis unserer Autonomie. Diese Überlegung überzeugt aber nur dann halbwegs,
wenn man mit Kant den Standpunkt teilt, die intellektuelle Natur sei die eigentliche Bestimmung des Menschen. Falls man diesen Standpunkt, das (zentrale) Naturteleologie-Argument,
diese weltanschaulich verankerte, nicht näher begründbare Wertung ablehnt, wird man auch
das Gefühl der Achtung nicht entwickeln können. Die Schlüssigkeit der Kantischen Moraltheorie (als System) hängt in der Motivationsfrage wesentlich am dünnen Faden der naturteleologischen Überzeugungen, die wiederum sehr angreifbar sind und nicht grundlos unvermittelt an so prominenter Stelle am Anfang der GMS erwähnt werden. Das Kantische Gefühl der
Achtung baut sich über eine Vorstellung der besonderen Bestimmung des Menschen nach
Kant in der Natur auf, für die sein KI zentrales Symbol darstellen soll und befördert im Grunde den von Kant ansonsten scharf kritisierten 'Eigendünkel' des Menschen als Spezies: "So ist
die echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere als das
reine moralische Gesetz selber, sofern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen
Existenz spüren lässt und subjektiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins
und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer sofern sehr pathologisch affizierten Natur
bewusst sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt."171 Kants Argumentation erscheint
hier sehr angreifbar: Die Menschheit erweist sich um so wertvoller, je mehr sie sich von Tieren unterscheidet - infolgedessen befindet sich die Menschheit durch (vollkommene) Moral
im allerhöchsten ontologischen Zustand, den sie überhaupt erreichen kann.
Wenn man die Vorstellung von der Erhabenheit der menschlichen 'übersinnlichen Existenz' ablehnt oder einfach nur unattraktiv findet, weil man meint, gerade eine solche überheblich wirkende Einstellung des Menschen gegenüber der übrigen Natur habe zu den globalen
Problemen geführt, vor denen wir mit Umweltzerstörung, Überbevölkerung und Klimakatastrophe stehen, dann hat sich für den Skeptiker hier die Auseinandersetzung mit der Kantischen Moraltheorie bereits erledigt. Mit dem Sittengesetz, das in uns den moralischen Handlungsantrieb bewirken soll, wird in einem Atemzug das Gefühl der 'Erhabenheit' gegenüber
der im Vergleich mit der restlichen Natur höheren Bestimmung des Menschen gefordert.
Deutlicher treten Kants idealistische Moralvorstellungen andernorts kaum zu Tage. Aus diesem (naiven) Idealismus resultiert eine große Schwächung und Angreifbarkeit der Kantischen
Moraltheorie insgesamt. Teilt man Kants Vorstellung von der höheren Bestimmung des Menschen nicht, sondern entlarvt sie als pure Weltanschauung oder sogar Ideologie, dann fallen
weite Teile seiner Morallehre in sich zusammen. Es kann mit Hume und allen anderen verantwortungsbewussten Menschen keinen Zweifel daran geben, dass Menschen vernünftig(er)
und darum achtenswert werde. Nach Henrich liegt die Achtung also nur im Sittengesetz, das nicht zur
Sinnlichkeit, sondern zur Vernunft gehöre. Henrich (1982) S. 36f.
Löhrer kritisiert: "Was wertende Diskriminierungen dieser Art generell fragwürdig macht, ist der Umstand, dass die diskriminierende Instanz sich selbst zum hochgeschätzten Teil ihrer eigenen Diskriminierung rechnet". Löhrer (2004) S. 187-207.
170
Vgl. Kant (KpV) S. 133ff.
171
Kant (KpV) S. 158.
66
miteinander umgehen sollen, aber dass dies wie Kant glauben machen möchte nur auf dem
Wege der Unterdrückung unserer Wünsche, Neigungen und Interessen durch Beachtung seines KI möglich sein soll, darf getrost bestritten werden.
Die Kantischen Überlegungen zum Gefühl der Achtung haben aber nicht nur schwerwiegende abstrakte theoretische, sondern auch dramatische praktische Implikationen für einen
konkreten Handlungsablauf, denn die bisher geübte Kritik lässt sich noch verschärfen, indem
man Handlungsvorschrift und Handlungsmotivation unmittelbar in einem Handlungsablauf
gegenüberstellt, indem man sich etwa am Beispiel des Kantischen absoluten Lügenverbots
eine konkrete Handlungssituation vorstellt, in der sich Handlungsvorschrift und Handlungsmotiv zu einer moralischen Handlung verbinden sollen: Nehmen wir an, ein uns fremder Jude,
ein mit uns befreundeter Jude oder wir selbst würden als Juden von der Gestapo verfolgt und
befragt, ob wir Juden seinen oder zumindest kennen. Eine wahrheitsgemäße Bejahung dieser
Frage würde für alle drei Personen den sicheren Tod bedeuten. Von unseren moralischen Intuitionen her würde sich wohl bei den meisten Menschen alles dagegen sträuben, einen Unschuldigen, einen Freund oder uns selbst dem sicheren (sinnlosen) Tod auszuliefern. Kants
Handlungstheorie folgend müsste man nun diese Gefühle des Mitleids oder Selbstmitleids
(Selbsterhaltungstriebs) überwinden und das Gefühl der Achtung für die höhere Bestimmung
des Menschen im Angesicht eines potentiellen Mörders entwickeln. Die allermeisten Menschen würden sich schon bei der bloßen Vorstellung eines solch grotesken Handlungsablaufs
eher irritiert, als erhaben fühlen. Dabei geht es hier gar nicht einmal um die später hier noch
zu behandelnde Frage nach der moralischen Rechtfertigung für ein absolutes Lügenverbot,
sondern nur darum zu zeigen, wie sehr Kants Morallehre als Handlungstheorie unseren (moralischen) Intuitionen widerspricht, wie gespenstisch bereits die (konkrete) Vorstellung eines
solchen Handlungsablaufs als moralisch verbindlich und sogar vorbildlich wirkt. Mit dieser
zugegebenermaßen zugespitzen Zusammenführung von moralischer Handlungsvorschrift (absolutes Lügenverbot) und Handlungsmotiv (Achtung) möchte ich keineswegs Kants Morallehre insgesamt verwerfen, ihre großartigen Momente bestreiten, sondern lediglich den Blick
für eine ihrer großen Schwächen schärfen, nämlich den ihrer weltanschaulich stark aufgeladenen Begründungs- und Realisierungsbedingungen.
Kant versucht sich in der GMS selbst gegen den naheliegenden Vorwurf in Schutz zu
nehmen, sein propagiertes Gefühl der Achtung verdunkle den moralischen Motivationszusammenhang mehr, als es ihn erhelle172, indem er erneut auf dessen apriorischen, empiriefreien,
vernunftbasierten Charakter hinweist. Allerdings wirkt dieser Hinweis einmal mehr weniger
überzeugend als hilflos, denn es erscheint weiterhin unklar, ob dieses Gefühl nicht einfach nur
ein theoretisch konstruiertes und praktisch gar nicht erfahrbares Gedankending darstellt, ob
jeder Mensch dieser Erde dieses Gefühl überhaupt jemals erfahren könnte oder auch nur erleben möchte. Dieses vernunftbasierte Gefühl der Achtung stellt zweifellos einen anti-empiristischen Höhepunkt in der Kantischen Morallehre dar und wirkt nicht nur künstlich, sondern
geradezu gekünstelt. Kritiker der Kantischen Moraltheorie könnten einwenden, dieses geforderte Gefühl der Achtung sei nicht nur allgemein unplausibel, sondern wirke sogar innerhalb
der rationalistischen Moralkonzeption Kants wie ein (gleich mehrfacher) Systembruch. Denn
wenn Vernunft unserer Sinnlichkeit tatsächlich in allen Belangen überlegen wäre, wozu bedürfte es dann noch eines Gefühls, um diese Überlegenheit faktisch zu realisieren? In dem
Fall wäre es doch einfach nur unklug, sich nicht völlig und rückhaltlos der Vernunft zu überlassen. Außerdem können nach der KrV sinnliche Inhalte nur über den Verstand zur Vernunft
gelangen; der Verstand bildet in jedem Fall Schnittstelle zwischen sinnlicher Ebene und Ver172
"Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunklen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein
wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluss empfangenes, sondern durch
einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich
auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden". Kant (GMS) S. 401, Fn.**.
67
nunftebene. Bei dem vernunftgewirkten Gefühl der Achtung wird jedoch nicht nur (ohne nähere Begründung) einfach die Verstandesebene übersprungen, sondern der Weg führt auch
noch umgekehrt von einer höheren zu einer niedrigeren kognitiven Ebene, nämlich von Vernunft zu einem Gefühl, was zusätzlichen Erklärungsbedarf hervorruft.
Der Grund, warum Kant dieses Gefühl der Achtung in sein Theoriegebäude einführt, mag
vielleicht weniger daran liegen, dass er tatsächlich annimmt, nur Gefühle seien handlungsauslösend (denn dafür gibt es nach meinem Befund gar keinen systematisch zwingenden Anlass),
sondern dass er vielmehr gegenüber Hume zeigen möchte, dass Vernunft sogar Macht über
unsere Gefühlswelt hat, also genau das umgekehrte Kräfteverhältnis zwischen Vernunft und
Gefühlen besteht, das Hume mit seiner Bemerkung andeutet, die Vernunft sei Sklave unserer
Sinnlichkeit. Kant behauptet nicht nur die kognitive Superiorität der Vernunft über die Sinnlichkeit (was man eigentlich sogar mit Hume noch bejahen kann, wenn man dessen moralsense Theorie ignoriert), sondern auch deren voluntative (motivationale) Superiorität (was
auch jenseits von Humes Überzeugungen erhebliche Zweifel auslösen dürfte). Kant sagt ausdrücklich, dass die Vernunft "ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung
der Pflicht einzuflößen" hat.173 Diese Aufforderung lässt sich wie das Gefühl der Achtung
selbst nur unter der Voraussetzung einer Akzeptanz des Naturteleologie-Arguments - der Erhabenheit der intellektuellen menschlichen Natur - überhaupt nachvollziehen.
Die apriorische Begründung des Gefühls der Achtung dient Kant offenbar wiederum als
Beleg für dessen uneingeschränkte Geltung, "dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig
a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können."174 Und gegen (vermeintliche oder tatsächliche) apriorische Urteile lässt Kant keinerlei Einwände gelten; durch den
apriorischen Charakter wird das Gefühl der Achtung nach Kants Meinung unangreifbar. Dabei übersieht Kant erneut, dass der rationalistisch konzipierten Relation von Begriffen nicht
unbedingt auch die gleiche empirische Relation der mit den Begriffen bezeichneten Sachverhalte einhergehen muss oder anders gesagt, dass die begriffliche Konstitution des Gefühls der
Achtung nichts über dessen faktische Existenz aussagt, darüber, ob dieses Gefühl überhaupt
(unter den von Kant beschriebenen Umständen) empfunden werden kann. Denn wie sollen
wir (evolutionsbiologisch) ein Gefühl entwickeln können, das keine empirische Grundlagen,
das weder eine erkennbare phylogenetische, noch eine ontogenetische Basis hat? Aber selbst
wenn wir dieses Problem übergehen, müsste immer noch geklärt werden, warum wir das Gefühl der Achtung überhaupt in uns erzeugen sollen? Aus dem Blickwinkel erheben sich kritische Bedenken gegenüber Kants gesamter rationalistischer Moralkonzeption: Welchen Sinn
können Moralvorschriften und moralische Handlungen (abseits des ideologisch aufgeladenen
Naturteleologie-Arguments) eigentlich haben, die nicht in meinem oder dem (wohlverstandenen, langfristigen, vernunftbasierten) Interesse aller Menschen liegen? Letztendlich fragt sich,
ob Kants rationalistische Moralkonzeption durch Ignoranz der empirischen Genese unserer
Moralvorstellungen nicht auch deren Realisierungschancen verspielt? Unter solchen Vorzeichen kann es nicht als (wissenschaftlicher) Verdienst Kant angerechnet werden, das zweifelhafte Gefühl vernunftbasierter Achtung gegen die zweifellos vorhandenen natürlichen emotionalen Grundlagen für moralisches Handeln - wie Mitleid, Mitgefühl, Respekt vor dem Leben, der Freiheit anderer Menschen - auf dem Altar überzogener rationalistischer Weltan173
Kant (GMS) S. 460.
"Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen
Kausalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und
indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch
der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also
ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt
wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können". Kant (KpV) S. 130.
174
68
schauung auszuspielen, sondern nur als Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Kants intellektuelle Anmaßung wirkt streckenweise wie eine sterile Trockenübung aus der sicheren
Distanz moralphilosophischer Elfenbeintürme. Wenn Kant schon kein plausibles Motiv für die
Realisierung seiner Moral anzugeben vermag, so überzeugt er nachfolgend vielleicht durch
die Begründung moralischer Pflichten eher und verschafft seinem unausgewogenen rationalistischen moralischen Standpunkt mehr Akzeptanz.
Hume untersucht das Problem der Verpflichtung aus einer psychologischen, soziologischen
und philosophischen (normativen) Perspektive. Ausgangspunkt aller Überlegungen bleibt
seine grundlegende Einsicht, dass nur Gefühle Handlungen auslösen können. Deshalb muss
natürlich auch eine Verpflichtung auf einem Gefühl beruhen, wenn sie überhaupt eine Handlung bewirken soll. Eine Verpflichtung, die nicht auf ein sie tragendes Gefühl sondern etwa
allein auf Vernunft aufbaute, wäre im Humeschen Sinne sinnlos, weil sie nicht realisierbar
wäre (was Kant im Gegensatz dazu wohl nicht sonderlich beunruhigen würde). Hume spricht
deshalb oft vom Gefühl der Verpflichtung (Kant hingegen - von einer auf Vernunft beruhender Pflicht). Darüber hinaus aber bestreitet Hume nicht nur die (psychologische) Realisierbarkeit von Verpflichtungen, die nicht auf Gefühlen beruhen, sondern auch deren moralische
(normative) Begründbarkeit.175 Insofern können wir nach Hume zu keinem Handeln verpflichtet sein, zu dem wir gar nicht (von Natur aus) motiviert sind; wir können nur zu etwas
(motiviert und) verpflichtet sein, wenn wir einen natürlichen Antrieb zum entsprechenden
Handlungszweck haben:176 "Keine Tat kann von uns als unsere Pflicht verlangt werden, wenn
nicht in der menschlichen Natur ein treibender Affekt oder ein treibendes Motiv liegt, das
imstande ist, die Handlung hervorzubringen. Dieses Motiv aber kann nicht das Pflichtgefühl
sein. Ein Pflichtgefühl setzt eine Verpflichtung schon voraus."177 Alle für den Menschen
überhaupt denkbaren (normativen) Verpflichtungen stehen nach Hume somit unter diesem
allgemeinen (psychologischen) Motivationsvorbehalt.
Weil die Verpflichtung zu moralischem Handeln eine Motivation zu moralischem Handeln
voraussetzt, wäre es sinnlos eine Handlung zur Pflicht zu erklären, zu der wir gar nicht motiviert sind, was wiederum ein uns motivierendes Gefühl erfordert, denn wir können (auch nicht
durch Vernunft) "aus uns selbst unsere eigenen Gefühle ebenso wenig ändern wie die Bewegungen des Himmels. Wir können also auch nie durch einen einzelnen Willensakt, insbesondere durch ein Versprechen, eine Handlung erfreulich oder unerfreulich, also moralisch oder
unmoralisch machen, wenn sie ohne einen solchen Akt den entgegengesetzten Eindruck hervorgebracht oder andere Eigenschaften besessen hätte."178 Dabei übersieht Hume allerdings,
dass es ganz entscheidend auf den Standpunkt (das Interesse an einer Handlung) ankommt,
der sie erfreulich oder unerfreulich macht. Für einen Pädophilen, Sadisten, Rassisten, Terroristen, Drogenabhängigen oder Sklavenhalter werden die seine Einstellungen begleitenden
Handlungen durchaus erfreulich sein, für die von diesen Handlungen betroffenen Personen
jedoch nicht unbedingt. Auch wenn sich Hume ständig darum bemüht, die Vernunftebene
zugunsten der Gefühlsebene zurückzudrängen, bleibt er für die Generierung eines intersubjektiven moralischen Standpunktes auf Vernunft angewiesen.
Von seinem psychologisch-soziologischen Ansatz aus unterscheidet Hume zwischen natürlichen Tugenden und Pflichten einerseits und künstlichen Tugenden und künstlicher Verpflichtung andererseits. Natürliche Tugenden beziehen sich auf natürliche, angeborene Ver175
Hume will nur bestätigen, dass man Pflichten nicht aus Vernunft deduzieren kann, weil sie letztlich
auf einem Gefühl beruhen, das der moralische Sinn erzeugt. Vgl. Lauener (1969) S. 207.
176
Dass nach Hume darüber hinaus Moral (selbst) in unserer Natur liegt, weil sie über den moralischen Sinn angenehme Gefühle in uns auslöst, darf durchaus bezweifelt werden: "Kein Prinzip des
menschlichen Geistes ist natürlicher als das Gefühl für Tugend ... ". Hume (Treat) B 3, S. 47.
177
Hume (Treat) B 3, S. 90.
178
Hume (Treat) B 3, S. 89.
69
haltensweisen, wie etwa die Fürsorge der Eltern für ihr Kind. Pflichterfüllung bedeutet für
Hume hier eine naturgemäße Verhaltensweise und auch die Pflichterfüllung mit Bezug auf
natürliche Pflichten scheint hier bei Hume nicht auf (rationalen) Entscheidungen, sondern auf
(natürlichen) emotionalen Dispositionen zu beruhen.179 Wenn es keine solchen angeborenen
motivierenden Handlungsantriebe gäbe, würde niemals in uns das Gefühl moralischer Billigung oder Missbilligung entstehen, so dass wir auch kein entsprechendes Gefühl der Verpflichtung empfinden könnten.180 Damit Eltern die Vernachlässigung ihrer Kinder vorgeworfen werden kann, sind immer schon naturgegebene Neigungen, für die Familie zu sorgen,
erforderlich. Denn ohne einen solchen natürlichen Beweggrund wäre gar kein Pflichtgefühl
möglich, das uns zu dieser Handlung veranlasst.181 Es steht somit für Hume fest, dass sich
unser Pflichtgefühl nur in Verbindung mit unseren Gefühlen entwickeln kann und deshalb
auch die Regeln einer Rechtsordnung trotz ihres künstlichen Ursprungs keineswegs von eben
dieser Gefühlswelt abgekoppelt sein dürfen.182
Demzufolge qualifiziert sich die Tugend der Rechtschaffenheit, der Beachtung von Recht,
von öffentlichen Regeln der Gerechtigkeit zwar als künstliche Tugend, beruht aber auf natürlichen Antrieben, nämlich Egoismus und erst das gemeinsame Interesse der Mitglieder einer
Gesellschaft an wechselseitiger Kooperation begründet die natürliche Verpflichtung, Gerechtigkeitsregeln anzuerkennen. Inwiefern aber fragt sich Hume, kann die durch Egoismus begründete natürliche Verpflichtung zur Rechtsbefolgung auch moralisch verpflichtend sein?
Die Rechtlichkeit wie alle anderen künstlichen Tugenden sind nach Humes Auffassung "Erfindungen", die ohne Vermittlung des Mitgefühls überhaupt nicht Gegenstand unserer sittlichen Billigung würden, weil wir (wenn unserer eigener Vorteil nicht direkt tangiert wird), das
Wohl der gesamten Menschheit aufgrund der egoistischen Konstitution unserer natürlichen
Anlagen gar nicht zum eigenen Anliegen machen könnten. Hume versucht hier ein Gemeinwohlinteresse zu erklären, das seinem optimistischen Menschenbild entsprechend nicht über
Egoismus, sondern nur durch das Gefühl der Sympathie, der Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen sensualistisch fundiert werden kann.183
Auch wenn Hume über das Gefühl der Sympathie einen idealisierten Überbau für den Zusammenhalt einer Gesellschaft durch ihre Rechtsordnung schafft, um den Menschen im Gegensatz zu Hobbes nicht als völligen Egoisten erscheinen zu lassen, so bleibt doch Egoismus
auch bei Hume im Grunde genommen die stärkste Antriebskraft für ihr Bestehen, für das Interesse ihrer Bürger, anerkanntes Mitglied einer Gesellschaft zu sein.184 Eben dieses gemeinsa179
"Ein Vater weiß, dass es seine Pflicht ist, für seine Kinder zu sorgen, er hat überdies eine natürliche
Neigung dazu. Hätte keine menschliche Kreatur diese Neigung, so könnte auch niemand eine entsprechende Verpflichtung haben". Hume (Treat) B 3, S. 91.
180
Vgl. Lauener (1969) S. 205.
181
"Wenn aber auch in einigen Fällen jemand eine Handlung nur aus Rücksicht auf die moralische
Verpflichtung tun mag, so setzt dies doch in der menschlichen Natur bestimmte Triebfedern voraus,
welche fähig sind, die Handlung hervorzurufen, und deren moralische Schönheit die Handlung verdienstlich macht". Hume (Treat) B 3, S. 42.
182
"So gewiss die Regeln der Rechtsordnung künstlich sind, so sind sie doch nicht willkürlich. Es ist
daher auch die Bezeichnung derselben als Naturgesetze nicht unpassend, wenn wir unter natürlich das
verstehen, was irgendeiner Spezies gemeinsam ist, ja sogar, wenn wir das Wort so beschränken, dass
nur das von der Spezies nicht Trennbare damit gemeint ist". Hume (Treat) B 3, S. 47f. Und weiter:
"Unser Pflichtgefühl folgt eben immer dem gewöhnlichen und natürlichen Lauf unserer Affekte".
Hume (Treat) B 3, S. 47.
183
Vgl. Hume (Treat) B 3, S. 109.
184
"So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für
das Allgemeinwohl ist die Quelle der moralischen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird. Dieses Prinzip der Sympathie ist zu schwach, um unsere Affekte zu leiten und zu kontrollieren; es hat
aber genügend Kraft, um unseren Geschmack zu beeinflussen und in uns die Gefühle der Zustimmung
oder Ablehnung entstehen zu lassen. Hume (Treat) B 3, S. 66.
70
me egoistische Interesse an der Durchsetzung und am Fortbestand einer Rechtsordnung reicht
nach meiner Auffassung völlig aus, um einer Rechtsordnung ihre normative intersubjektive
moralische Daseinsberechtigung zuzugestehen. Das von Hume angeführte Gefühl der Sympathie verklärt den Zusammenhang nur, warum wir bereit sind, anderer Menschen Rechte und
Interessen zu beachten, nämlich weil wir erwarten, dass dieser Respekt auch uns selbst entgegengebracht wird. Jemand, der etwa das Eigentum anderen Menschen respektiert, gilt als vertrauenswürdiger Kooperationspartner. Ein Mensch der zuverlässiger guter Kooperationspartner angesehen wird, hat Vorteile bei seiner Bedürfnisbefriedigung. Weil wir die potenzielle
Nützlichkeit aller Menschen für uns selbst einsehen, schätzen wir die Regeln, die das fruchtbare Zusammenleben mit ihnen erst möglich machen und drücken diese positive Bewertung
aus, indem wir sie in den Rang moralischer Regeln erheben.185
Die Entstehung künstlicher Tugenden und künstlicher (moralischer) Verpflichtung hängt
durch ihren Ursprung in Nützlichkeitsinteressen weitgehend von Vernunft ab, auch wenn sie
emotivistische Grundlagen hat. Im Gegensatz zu Kant kann Vernunft bei Hume aber keine
eigenen (völlig neuen) Motive erzeugen, sondern nur (instrumentell) in eine andere Bahn lenken. Damit widerlegt Hume nicht etwa seine früheren Bemerkungen über deren Ohnmacht,
denn sie generiert auch hier weder den Antrieb, noch den letztendlichen Zweck des Handelns,
sondern mit der Einsicht in die Vorteile, die eine staatliche Ordnung gewährt und damit nur
die Voraussetzungen dafür, sie als verpflichtend zu betrachten.186 Obwohl sie sich zwar nach
dem Kriterium der Nützlichkeit richten, gründen auch die künstlichen Tugenden letztlich im
moralischen Sinn, der allein über ihren sittlichen Wert entscheidet, indem er in uns jenes Gefühl der Billigung erweckt, zu welchem Verstand und Vernunft nach Humes Meinung nicht
entscheidend beitragen können.
Durch Einbindung des moralischen Sinnes werden Humes Überlegungen (auch) zur Pflicht
wiederum nur unnötig kompliziert, aber in keiner Hinsicht plausibler. Humes Vorstellungen
zur (Motivation und) Verpflichtung wären überzeugender, wenn man sie zu seinem Grundprinzip der Lustsuche und Schmerzvermeidung in direkten Bezug setzte. Eine Verpflichtung
zu einer moralischen Handlung könnte dann nur bestehen, wenn sie der (allgemeinen) Lustvermehrung und Schmerzvermeidung diente. Trotz Humes emotivistischer Verklärung moralischer Verpflichtung durch das Gefühl der Sympathie und den moralischen Sinn187 liegt der
Schwerpunkt des Begründungsaufwandes für moralische Verpflichtung (besonders im Enq.)
bei den Interessen aller Menschen: "Oder welche Moraltheorie kann jemals irgendeinem nützlichen Zweck dienen, außer wenn sie im einzelnen zeigen kann, dass alle Pflichten, die sie
empfiehlt, auch die wahren Interessen eines jeden Individuums sind."188 Damit werden für
moralische Pflichten alle Anforderungen disqualifiziert, die sich eben nicht diesem zweckrationalen Zusammenhang unterordnen, wie etwa Pflichten gegenüber Gott, kurzum religiöse
Gebote. Mit diesem ganz pragmatischen hedonistischen Grundkonzept der Verpflichtung
steht Hume natürlich auch im krassen Gegensatz zum Kantischen Pflichtbegriff, auf den jetzt
eingegangen wird.
185
Vgl. Hepfer (1997) S. 60.
Vgl. Lauener (1969) S. 183 f.
187
Die Kritik daran ist umfangreich und auch berechtigt. Hepfers Kritik an Hume: "Die Behauptung,
zu der ihn seine wenig präzise Kritik an der Rolle der Vernunft führt, nämlich Gefühle allein könnten
Motivation und Rechtfertigung moralischen Verhaltens sein, ist unbefriedigend: Gefühle sind nicht
nur abhängig von wandelbaren äußeren Umständen. Gefühle unterliegen auch nur gering der willentlichen Beeinflussung und treten normalerweise ungewollt auf - so dass eine Verantwortung für Handlungen, die aufgrund von Gefühlen zustande kommen, der handelnden Person nur in sehr viel geringerem Maß zugeschrieben werden kann, als es im Hinblick auf bewusst reflektierte Handlungen der Fall
ist". Hepfer (1997) S. 58f.
188
Hume (EnqM) S. 210.
186
71
Ganz anders als Hume unternimmt Kant keinerlei Anstrengungen, seine weitreichenden
Vorstellungen von moralischen Pflichten (Rechts- und Tugendpflichten, vollkommene und
unvollkommene Pflichten, innere und äußere Pflichten) empirisch zu untermauern, sondern
bestimmt eine moralische Pflicht dogmatisch erst einmal als vollständig KI-konformes Verhalten. Ein Mensch handelt nach Kant erst dann gut, wenn sein Verhalten durch Pflicht bestimmt wird und nicht einfach nur pflichtgemäß. Für Bedürftige vorgenommen Hilfe mit dem
Hintergedanken, später dafür einmal belohnt zu werden, gar das Himmelreich zu erwerben,
beinhaltet lediglich pflichtgemäßes und somit unmoralisches Verhalten. Allerdings scheint es
empirisch unmöglich, Handlungen anderer Menschen danach beurteilen zu können, ob sie aus
Pflicht oder doch nur pflichtgemäß vorgenommen werden, weil beide Handlungstypen in der
Regel das gleiche Erscheinungsbild bieten. Dessen ungeachtet beharrt Kant auf der Vorstellung, nur eine Handlung aus Pflicht sei moralisch gut, das heißt, eine Handlung muss ohne
konkrete Absicht, ohne konkreten Zweck (nur aus Pflicht) geschehen. "Die Handlung, die
nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung, objektiv
praktisch ist, heißt Pflicht, welche um dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nötigung, d. i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne wie sie auch geschehen mögen, enthält."189 Und weiter: "Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und
aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde."190 Moralisch von Kant aus gesehen, darf man zugespitzt
gesagt einem Kranken nur aus Pflicht helfen und nicht etwa deshalb, weil man aus Mitgefühl
seine Genesung wünscht. Eltern müssen die Liebe gegenüber ihren eigenen Kindern unterdrücken, um dem KI, um Kants moralischen Motivations- und Pflichtvorstellungen gerecht zu
werden, was beides für den gesunden Menschenverstand einigermaßen abstrus wirkt.
Die verschiedentlich zur Verteidigung der Kantischen Vorgehensweise vorgebrachten Argumente, es könne gar keine moralischen Handlungen geben, wenn es ganz im Humeschen
Sinne unmöglich wäre, "vernünftig zu handeln, ohne dass solche vernünftigen Handlungen
durch subjektive Interessen motiviert wären"191, scheinen mir nicht nur unbegründet, sondern
grundlegend falsch. Nach dieser Auffassung könnte es "dann auch keine allgemeinen moralischen Regeln geben, weil Menschen verschiedene Interessen haben (und wenn moralische
Regeln an diese Interessen rückgebunden werden müssten, wären sie, in ihrem Inhalt und ihrer Begründung, auch abhängig von diesen individuellen Interessen)."192 Bereits Hume zeigt
(wenn auch lückenhaft), dass es nicht nur basale Interessen gibt, die allen Menschen (rationalerweise) unterstellt werden können (Selbsterhaltung, Kooperation), sondern auch basale
Normen, an deren (allgemeiner) Beachtung jedermann (rationalerweise) unabhängig von seiner speziellen Lebenssituation ein Interesse haben muss (Bedürfnisbefriedigung, Gerechtigkeit, Rechtssicherheit). Bei Hume fehlt vor allem ein staatstheoretischer Rahmen mit Grundrechten, Menschenrechten, politischen Mitspracherechten, innerhalb deren Grenzen das Nutzenprinzip für alle Menschen abgesichert realisiert und konkretisiert werden kann. Gerade
darin besteht die Pointe einer plausiblen (alltagstauglichen) Moraltheorie und meine erklärte
Absicht, im Anschluss an Hume zu zeigen, dass moralisches Handeln in jedermanns Interesse
liegt. Nachdem der KI aber von Kant selbst bereits als nicht näher begründungsfähig ausgewiesen wurde, überrascht es nicht, dass auch sein Pflichtbegriff als nicht näher begründbar
dargelegt wird. Und so sind auch Kants Ausführungen über moralische Pflichten (leider) mehr
von (wenig angreifbaren) Definitionen, als von (halbwegs plausiblen) Argumenten geprägt.
189
Kant (KpV) S. 143.
Kant (KpV) S. 143.
191
Schönecker (2004) S. 28.
192
Schönecker (2004) S. 28.
190
72
Hintergrund der Haltung Kants in der Pflichtthematik sind letztendlich wie bei der Motivationsproblematik seine naturteleologischen Idealvorstellungen. Das damit verbundene Pathos
in Reminiszenz an den Preußischen Staat wirkt hier allerdings noch unerträglicher: "Pflicht!
du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in
dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst ... ."193 "Dass der Mensch sich bewusst ist, er
könne dieses, weil er es soll: das eröffnet in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm
gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung
fühlen lässt."194 In der Idee der Pflicht liegt "Heiligkeit", sie hat eine "göttliche Abkunft". Die
Unbegreiflichkeit dieser "muss auf das Gemüt bis zur Begeisterung wirken und es zu den
Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag."195 Den
Schluss der Grundlegung bildete der 'tiefsinnige' Gedanke, dass wir zwar die unbedingte
Notwendigkeit des Sittengesetzes nicht zu begreifen vermögen, "aber doch seine Unbegreiflichkeit". Die von Kant mit dem Pflichtgedanken verbundene, kaum verhüllte staatstragende
Säkularisierung religiöser Gebote befremdet. Auch Kants zentrale Botschaft, in der Moral
gehe es nicht darum, was geschieht, sondern was geschehen soll, "ob es gleich niemals geschieht"196, wirkt nicht erst seit den letzten beiden Weltkriegen und der unsere Existenz bedrohenden aktuellen globalen Katastrophen einigermaßen deplatziert.
1.2 Teleologie versus Deontologie
Eine wesentliche in der neueren Literatur eingebürgerte Unterscheidung betrifft die zwischen dem teleologischen und deontologischen Theorietypus. Dafür finden sich eine ganze
Reihe von Unterscheidungsmerkmalen, die für die Konzeption einer Globalmoral erheblich
sein könnten und deshalb auch zunächst bezüglich Hume und Kant untersucht werden. Besonders wichtig erscheinen die Fragen, ob der deontologische oder teleologische Ansatz Vorteile bei der Begründung oder Realisierung von Moral bietet und zwar hinsichtlich der Prinzipienebene, der Normebene und der Handlungsebene, ob sich spezifische Stärken des deontologischen oder teleologischen Ansatzes nutzen lassen, ohne deren Schwächen in Kauf nehmen
zu müssen? Darüber hinaus interessiert natürlich auch, ob deontologische Theorie zwangsläufig rationalistisch und teleologische Theorie notwendig empiristisch angelegt sein muss, ob
also auch von einem empiristischem Ansatz aus deontologische Theorie möglich wäre (etwa
die normative Ausgestaltung eines Nutzenprinzips). Allein die unterschiedlichen Auffassungen über Kants Moraltheorie als eher teleologisch oder eher deontologisch legen allerdings
die Vermutung nahe, dass es sich bei der Typisierung von Deontologie und Teleologie jeweils
um die Interpretation eng begrenzter Theorieteile handelt, denen in der Moraltheorie (in jeder
normativen Moraltheorie) eine bestimmte Funktion (zwangsläufig) zukommt.
Noch vor einer näheren Analyse des Humeschen und Kantischen Moraltypus sei daran erinnert, dass die systematische Konstitution von Normen oder Handlungszielen im Rahmen
einer ausgearbeiteten Moraltheorie nur vor dem Hintergrund eines bestimmten Menschenbildes sinnvoll erscheint. Denn nur wenn ein moralisches Realisierungsdefizit hinsichtlich eines
193
Kant (KpV) S. 154.
Kant (GemSpr) S. 287f.
195
Kants begnügt sich im Zusammenhang mit seinem Pflichtbegriff jedoch nicht mit einem Lobgesang
auf überpositives Recht, sondern weitet dieses sogar auf positives Recht aus, was dem preußischen
Staat zu Kants Lebzeiten sicher gerne gesehen haben dürfte und selbst wohl kaum schärfer hätte formulieren können. "Sobald etwas als Pflicht erkannt wird, wenn es gleich durch die bloße Willkür eines
menschlichen Gesetzgebers auferlegte Pflicht wäre, so ist es doch zugleich göttliches Gebot, ihr zu
gehorchen." Auch die Beobachtung der (selbst nicht göttlichen) "statutarischen bürgerlichen Gesetze"
ist zugleich "göttliches Gebot", sofern sie nicht dem Sittengesetze unmittelbar zuwider sind. Kant
(RGV) S. 99, Anm. **.
196
Vgl. Kant (GMS) S. 427.
194
73
bestimmten Menschenbilds (in der gesellschaftlichen Praxis) vorliegt, kann überhaupt Anlass
bestehen, eine normative Moraltheorie aufzustellen. Normen oder Handlungsziele legen fest,
wie einem bestimmten Menschenbild am ehesten entsprochen werden soll. Bei Hume ist es
das hedonistische, auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete, bei Kant das idealistische, auf
Autonomie, auf (moralische) Vollkommenheit abzielende Menschenbild. Aber auch zwischen
dem teleologischen und deontologischen Theorietypus selbst scheint noch vor jeder konkreten
Analyse eine gewisse funktionale Interdependenz zu liegen, denn Handlungsziele geben Normen Einheit und umgekehrt konkretisieren Normen Handlungsziele. Prinzip, Norm, Handlung
sind an einem bestimmten Menschenbild orientiert. Diesen grundlegenden, normativen moralischen Abstraktionsstufen möchte ich insofern Rechnung tragen, als ich im nächsten Kapitel
Teleologie und Deontologie eher strukturell (ohne Staat) und in den darauffolgenden inhaltlich (mit Staat) betrachte.
1.2.1 Prinzip, Norm, Handlung
Ein anerkannter Vorschlag zur Unterscheidung zwischen deontologischen und teleologischen Theorien als zwei strukturell gegensätzlichen Typen normativer Moral findet sich etwa
bei Frankena197 und Rawls.198 Diese Autoren bezeichnen genau diejenigen Ethiken als teleologisch, die das moralisch Richtige als eine Funktion des vormoralisch Guten bestimmen:
Gemäß teleologischen Ethiken sind Handlungen insofern moralisch richtig, als sie zur Maximierung eines vormoralisch Guten beitragen. Deontologische Ethiken werden als Negation
teleologischer Ethiken bestimmt: Alle Ethiken, die nicht teleologisch sind, sind demzufolge
deontologisch, und keine Ethik kann zugleich deontologisch und teleologisch sein. Akzeptiert
man die von Frankena, Rawls und vielen anderen vorgeschlagene Unterscheidung, so erhält
man einen relativ engen Teleologie- und einen weiten Deontologiebegriff. Vereinfachend
gesagt argumentiert teleologische Moral mit Handlungszielen und Handlungsfolgen, während
sich deontologische Moral weitgehend auf Handlungsarten oder Handlungsmotive bezieht.199
Vor dem Hintergrund dieser Abgrenzungsbemühungen bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass Humes und Kants Moraltheorien Prinzipientheorien sind; das Nutzenprinzip soll
ebenso wie das ZP und der KI unabhängig von allen Orten und Zeiten universell gelten. Die
entscheidende Herausforderung liegt jetzt darin, diese Prinzipien anhand der Teleologie- und
Deontologiedebatte positiv oder negativ zu beurteilen. Auf der Grundlage des Humeschen
hedonistischen Menschenbildes erweist sich nicht nur das der optimalen Bedürfnisbefriedigung dienende Nutzenprinzip als teleologisch, sondern auch das auf der Basis des idealistischen Menschenbildes Kants der menschlichen Autonomie dienende Moralprinzip in Gestalt
des KI oder des ZP. Das Nutzenprinzip soll optimale Bedürfnisbefriedigung ermöglichen, KI
und ZP hingegen (moralische) Autonomie. Hume und Kant scheinen von ihrem jeweiligen
197
Frankena gewinnt sein Verständnis deontologischer Theorie aus einer Negation der Charakteristika
teleologischer Ethik: "Deontological theories deny what teleological affirm. They deny that the right,
the obligatory, and the morally good are wholly, whether directly or indirectly, a function of what is
nonmorally good or of what promotes the greatest balance of good over evil for self, one's society, or
the world as a whole. They assert that there are other considerations that may make an action or rule
right or obligatory besides the goodness or badness of its consequences - certain features of the act
itself other than the value it brings into existence, for example, the fact that it keeps a promise, is just,
or is commanded by God or by the state." Frankena (1973) S. 15.
198
Auch Rawls bezieht sich zustimmend auf Frankena. Seiner ebenfalls viel zitierten Bestimmung
zufolge ist diejenige Theorie als deontologisch zu bezeichnen, "die entweder das Gute nicht unabhängig vom Rechten oder das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmt". Rawls (1971) S. 48.
199
Vgl. Horn, Christoph. Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen. In. Kritik der praktischen
Vernunft. Hrsg. Höffe, Otfried. Berlin 2002. S. 55.
74
Menschenbild so überzeugt, dass sie es nicht für notwendig erachten, eben dieses Menschenbild eigens noch zu hinterfragen und dementsprechend zu begründen.
Aber wie werden nun die Moralprinzipien selbst bei Hume und Kant begründet? Ich sehe
bei Hume mit etwas gutem Willen (unter Ausschluss des moralischen Sinnes) folgenden Argumentationsstrang: Der Mensch wird von seinen Gefühlen, von seinen Affekten geleitet.
Hinter diesen Gefühlen und Affekten stehen Bedürfnisse, deren Befriedigung jeder Mensch
als angenehm empfindet. In einem vormoralischen Sinne ist für alle Menschen dasjenige gut,
was seiner Bedürfnisbefriedigung dient. Deshalb sind diejenigen Fähigkeiten, Veranlagungen,
Charaktereigenschaften gut und damit Tugenden, die der eigenen Bedürfnisbefriedigung dienen, die für die eigene Bedürfnisbefriedigung nützlich sind. Von dieser Einschätzung ausgehend bedeutet es für Hume nur noch einen kleinen Schritt, diejenigen Tugenden als moralisch
auszuweisen, die für die Allgemeinheit, für den Erhalt und die Entwicklung einer Gesellschaft
nützlich sind. Von dieser Tugendlehre ausgehend kann ganz allgemein jedes Handeln als
nützlich und damit als gut eingestuft werden, dass für alle Menschen Vorteile schafft, das
hilft, die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen.
Und damit finden wir bei Hume eben jene für eine teleologische Moraltheorie als maßgeblich angesehene Grundfigur vor. Die vormoralische prudentielle Auffassung vom individuellen Nutzen wird durch eine allgemeingültige Umformulierung im Nutzenprinzip zum intersubjektiven Moralprinzip. Moralisch gut ist für Hume allgemeine optimale Bedürfnisbefriedigung, moralisch gut ist für Kant individuelle Autonomie. Sie wird vor dem Hintergrund entwickelt, dass ein Mensch, der Bedürfnisbefriedigung in den Mittelpunkt seines Handelns
stellt, im Grunde lediglich Naturkausalität folgt und damit nicht wirklich frei handelt. Aber
auch Autonomie im Kantischen Sinne stellt eher eine Aufgabe, ein moralisches Ideal und
nicht etwa die Definition eines bereits (real) bestehenden Ausgangszustandes dar. Kants Forderung nach Entwicklung der Menschheit zu ihrer wahren (moralischen) Bestimmung durch
individuelle Autonomieanstrengungen belegt die vormoralische Zielvorstellung, die durch den
KI und das ZP im Rahmen individueller und kollektiver Selbstgesetzgebung eigentlich nur
kriteriengerecht formuliert wird. Damit erweisen sich Humes und Kants Moralprinzipien auf
ihren jeweiligen anthropologischen Kontext bezogen beide als teleologisch angelegt und sind
beide überhaupt nur vor ihrem jeweiligen anthropologischen Hintergrund angemessen interpretierbar; Bedürfnisbefriedigung und Autonomie sind anthropologisch gefärbte Zielvorstellungen, die von Hume und Kant selbst moralisch nicht mehr näher hinterfragt werden, sondern den jeweiligen moralischen Argumentationsraum erst konstituieren.
Ein signifikanter Unterschied zwischen Humes und Kants Moralprinzipien besteht allerdings darin, dass Humes Nutzenprinzip ein materielles Moralprinzip darstellt, wohingegen
das Kantische ein formales. Beide Typen von Moralprinzip haben spezifische Vorteile und
Nachteile: Kants KI und ZP sind Prinzipien (gerechter) Normgenerierung, enthalten aber keine inhaltliche Zielbestimmung. Daraus kann sich das Problem der inhaltlichen Konkretisierung der Moralprinzipien ergeben, insbesondere beim KI, dessen normative Implikationen
etwa hinsichtlich des Kantischen Lügenverbots äußerst umstritten sind. Dies aus inhaltlicher
Unterbestimmung resultierende Gefahr besteht bei Kants ZP insofern weniger, als nicht das
Urteil eines Menschen über die moralische Qualität einer Norm oder Handlung den Ausschlag
gibt, sondern zumindest der beteiligten Menschen, idealerweise sogar aller Menschen überhaupt. Humes Moralprinzip wird zwar inhaltlich durch die Aufforderung zur Nutzenoptimierung bestimmt - enthält aber keine Regeln der Normgenerierung. Dies kann sich vor allem
dann nachteilig auswirken, wenn im sozialen Kontext der Konkretisierung von allgemeinem
Nutzen ein Machtgefälle zwischen den Handlungsakteuren besteht, wenn also die Meinungen
über den allgemeinen Nutzen auseinandergehen und einige Handlungsakteure aufgrund ihres
sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Ranges ihre Vorstellungen stärker durchsetzen
können, als Menschen in schwächerer Position.
75
Hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit sind für Humes NP und Kants ZP keine signifikanten
Unterschiede feststellbar. Beide Moralkriterien lassen sich - wie es sich für Moralprinzipien
gehört - relativ unproblematisch für die Normenebene und erst recht die Handlungsebene
konkretisieren und zwar global, regional und lokal. Dies kann von Kants KI nicht ohne weiteres behauptet werden, weil er durch die Maximenebene einen relativ komplexen Zwischenschritt in der moralischen Beurteilung erfordert und auch das darin verlangte "wollen können"
einiges an Abstraktionsvermögen voraussetzt, das ihn eher als wissenschaftliches theoretisches, denn als alltäglich pragmatisches Moralkriterium qualifiziert. Humes NP und Kants ZP
scheinen außerdem für die Beurteilung aller individuellen Aspekte von Moral geeignet, nämlich zur Beurteilung von (moralischer) Motivation, (moralischer) Handlung und (moralischen)
Handlungskonsequenzen: Es kann nämlich ohne weiteres gefragt werde, ob das Motiv für
eine Handlung (allgemeinen) Nutzen verspricht oder ob das Motiv für eine Handlung von jedermann (rationalerweise) befürwortet werden kann, ob eine Handlung von für alle Menschen
als nützlich eingestuft oder von allen Menschen unterstützt werden kann und ob die Konsequenzen einer Handlung für alle Menschen von Nutzen sind oder von allen Menschen akzeptiert werden können?
Das Kantische und Humesche Moralprinzip haben für die darunter liegende Abstraktionsebene (Normen) teleologische Funktion; die Normenebene muss sowohl bei Hume, als auch
bei Kant der Prinzipienebene folgen - dem Nutzenprinzip oder dem ZP. Die Normenebene
selbst zielt bei Hume teleologisch, auf bestimmte allgemeine Zustände ab, wohingegen sie bei
Kant deontologisch, auf bestimmte individuelle Verhaltensweisen hin orientiert. Ein weiteres
charakteristisches Merkmal deontologischer Theorien wird darin gesehen, dass die in ihrem
Rahmen begründeten moralischen Verpflichtungen weitgehend situationsindifferent akteursbezogen ('agent-relative') sind, während teleologische Ethiken als situationsbezogen akteursindifferent ('agent-neutral') gelten.200 Die Humesche und die Kantische Moraltheorie scheinen sich nahtlos in dieses Muster einzupassen: Das Nutzenprinzip favorisiert den allgemeinen
Zweck von Moral in einem auf optimale Bedürfnisbefriedigung abzielenden gesellschaftlichem Zustand vor individuellem moralischem Handeln. Das erste Ziel von Moral liegt nicht
im individuell moralisch handelnden Subjekt, sondern im allgemeinen moralischen Zustand
gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung. Alle Menschen sollen ihre Bedürfnisse ihrer sinnlichen
Natur gemäß optimal befriedigen können; nachgeordnet gilt als individuell moralisch verdienstvoll, als tugendhaft, was diesen Zweck befördert. Demgegenüber ist die Kantische Moraltheorie durch das ZP und den KI individualistisch aufgebaut. Moral als Autonomie kann
nur durch das einzelne Subjekt in der Orientierung am ZP und KI verwirklicht werden. Alle
allgemein moralisch erwünschten gesellschaftlichen Zustände bauen anders als bei Hume auf
dieser individuellen Moralität erst auf und gewinnen durch sie moralischen Wert.
Gemäß dem Humeschen utilitaristischen Moralprinzip sollen Normen allgemeinen Nutzen
stiften. Nun lässt sich durchaus vorstellen, dass entsprechende Normen miteinander konkurrieren, nicht aber einander widersprechen, da nach Hume stets dem größeren Nutzen der Vorzug geben werden muss. Der wichtigste Einwand gegen utilitaristische Theorie schlechthin,
das Nutzenprinzip könne zur Rechtfertigung einer Benachteiligung von Minderheiten führen
und damit elementare Gerechtigkeitsvorstellungen verletzen, scheint mir auch durch Hume
nicht entkräftet, selbst wenn für ihn Gerechtigkeit eine fundamentale Forderung auf der Normenebene darstellt. Nur leider versäumt es Hume, diese Forderung etwa durch entsprechende
Gerechtigkeitskriterien hinreichend zu konkretisieren und damit einen fehlgeleiteten Gebrauch des Nutzenprinzips zumindest theoretisch auszuschließen. Hume vertritt den Standpunkt, dass letzte Fragen der Moral nicht theoretisch-wissenschaftlich, sondern nur durch den
200
In Situationen, in denen die Zahl der Tötungen nur verringert werden kann, wenn ich selbst jemanden töte, gebietet die akteur-neutrale Regel, diese Person zu töten, während die akteur-relative Regel
dies verbietet.
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common sense entscheidbar sind. Vor diesem Hintergrund besteht natürlich die Gefahr, dass
der common sense ungeliebte Minderheiten benachteiligt - wie in der Geschichte der
Menschheit auch zweifellos öfters geschehen. Ungeachtet dieses kritikwürdigen Zusammenhangs bei Hume kann sich jeder Mensch auf das Nutzenprinzip und den Gerechtigkeitsgrundsatz berufen und entweder geltend machen, dass eine bestimmte Norm ungerecht sei oder
versuchen nachzuweisen, dass sie der Gemeinschaft keinen Nutzen biete.
Die Kantischen Moralprinzipien scheinen eher davor geschützt, der Beliebigkeit eines
common sense anheimzufallen, weil Kant aus der Perspektive einer virtuellen Gemeinschaft
vernünftiger Subjekte argumentiert, auch wenn sich dahinter natürlich seine eigene (vernünftige) Meinung verbirgt, die grundsätzlich auch Kritik verdient. Aber immerhin lässt die Kantische Position Raum für das vernünftigere Argument. Kant trägt selbst einige Beispiele für die
Konkretisierung des KI auf der Normenebene vor, anhand derer die Qualität seiner Argumentation an seinem eigenen hohen Anspruch der Allgemeingültigkeit und Empirieunabhängigkeit überprüft werden kann. Es geht im Einzelnen um Selbstmord, um den Bruch eines Rückzahlungsversprechens, um ein rostendes Talent und um unterlassene Hilfeleistung. Keines der
Beispiele kann im Lichte der von Kant selbst mit dem KI aufgestellten Ansprüche restlos
überzeugen.201 Bei den Beispielen um den Bruch eines Rückzahlungsversprechens und der
unterlassenen Hilfeleistung kommt noch erschwerend hinzu, dass Kant hier mit den Konsequenzen argumentiert, die entsprechende Normen hätten, die ein solches Verhalten zuließen.
Wenn aber die Anwendung des KI gemäß Kants eigener Versuche Empirie zwingend erfordert, dann dürfte Kant eigentlich nicht verlangen, dass der KI vom Subjekt ohne Rücksicht
auf Konsequenzen beachtet wird. Jedenfalls scheint die Anwendung des KI bei weitem nicht
so einfach und überzeugend durchführbar, wie von Kant stets behauptet.
Auch wenn die deontologische Perspektive bei Kant im Vordergrund seiner Theorie zu
stehen scheint, so darf doch mit guten Gründen bestritten werden, ob das Projekt einer Ableitung allgemein verbindlicher Normen aus dem KI überhaupt erfolgversprechend gelingen
kann. Anders liegt der Fall nach meiner Auffassung beim Zustimmungsprinzip, weil sich der
geforderte Konsens auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen vorstellen lässt. Während über
die normative Konkretisierung des KI das einzelne vernünftige Subjekt entscheidet, fordert
das ZP in seiner stärksten Form die Konsensfindung aller vernünftigen Subjekte und diese
Konsensbestimmung lässt sich über das Demokratieprinzip und das Mehrheitsprinzip relativ
komfortabel auf konkretere gesellschaftliche Willensbildungsprozesse herunterbrechen. Über
dieses auf mehreren Abstraktionsebenen konkretisierbare ZP kann auch der gegen jede Gerechtigkeitsforderung oftmals erhobene Einwand ihrer phrasenhaftigkeit entkräftet werden,
denn (so lautet der Einwand weiter) Gerechtigkeitsvorstellungen seinen stets kulturabhängig
und damit wenig universell tragfähig. Abgesehen davon, dass selbst kulturrelevant befangene
Gerechtigkeitsvorstellungen noch den Vorzug bieten mögen, grobes Unrecht eben wegen dieser kulturspezifischen Gerechtigkeitsvorstellung abzumildern, liegt mit Kants auf unterschiedlichen normativen Ebenen konkretisierbares ZP gerade ein solches Gerechtigkeitskriterium
vor, dass die Kritiker jeder Gerechtigkeitsvorstellung offenbar vermissen.
Interessanter als die Frage, ob die auf Hume zurückgehende utilitaristische moraltheoretische Tradition eher auf teleologischen Elementen aufbaut und die Kantische eher auf deontologischen, scheint mir das Problem, ob mit deontologischer oder teleologischer Theorie ein
201
Hume wirft den Rationalisten und damit indirekt auch Kant vor, anstatt mit Beispielen zu arbeiten,
bei Allgemeinheiten zu bleiben und undefinierte Begriffe zu benutzen. Diesen Vorwurf scheint sich
Kant zu Herzen genommen haben, allerdings mit ziemlich unglücklichen Beispielen, die seine Theorie
nicht unbedingt stützen: "Es ist leicht für eine falsche Hypothese, einen gewissen Anschein von Wahrheit aufrechtzuerhalten, solange sie ausschließlich bei Allgemeinheiten bleibt, undefinierte Begriffe
benützt und Vergleiche anstellt, anstatt mit Beispielen zu arbeiten. Das ist in besonders auffallender
Weise bei jener Philosophie zu bemerken, die das Erkennen aller moralischen Unterschiede dem Verstand allein, ohne Mitwirkung des Gefühls, zuschreibt". Hume (EnqM) S. 217.
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wichtiges moraltheoretisches Ergebnis zwangsläufig verfehlt wird, ob der deontologischen
oder teleologischen Vorgehensweise spezifische Stärken oder Schwächen anhaften? Der in
dieser Hinsicht wohl bedeutsamste Vorwurf von deontologischer Seite betrifft die unbedingte
Verbindlichkeit moralischen Sollens und seinen Vorrang gegenüber allen subjektiven Zwecksetzungen. Weil diese "unbedingte Verbindlichkeit" nur im Rahmen deontologischer Theorie
darstellbar sei, ließen sich deontologische Vorstellungen nicht in teleologische Theorie integrieren. Polemisch geantwortet scheint die (vermeintliche oder tatsächliche) Kategorizität Kantischer Moralgebote für manche Anhänger einen ähnlich hohen Stellenwert zu haben, wie der
Heilige Gral für die Ritter der Tafelrunde oder die Zehn Gebote für überzeugte Christen. Allerding vermisse ich bei Kant (und seinen Epigonen) eine plausible Begründung für diese Kategorizität, die über deren schlichte Behauptung deutlich hinausgeht. Jedenfalls scheint mir
der KI kein Garant für Kategorizität zu sein, dafür kommt in meinen Augen eher das ZP in
Frage. Aber auch in dieser Hinsicht hat Kant nach meiner Auffassung kein Alleinstellungsmerkmal, denn das Nutzenprinzip kann dem Anspruch auf vergleichbaren Niveau gerecht
werden und wirkt zudem noch stichhaltiger: Weil Bedürfnisbefriedigung notwendig stattfinden muss und die Ressourcen in unserer Welt begrenzt sind, darf auch das Nutzenprinzip
rundweg kategorisch interpretiert und entsprechend geadelt werden.
Die unterschiedliche Reichweite und abweichende Qualität der drei zur Diskussion stehenden Moralprinzipien, nämlich NP, KI und ZP möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, in
dem es um die prinzipiengerechte Verwendung von Wasser geht: Nehmen wir an, ein Mitteleuropäer hat die Maxime, so viel Wasser in seinem Alltag zu verbrauchen, wie es ihm beliebt,
also nicht nur ausgiebig davon zu trinken, sondern auch damit zu kochen, seinen Garten im
Sommer zu wässern und sein Auto zu waschen. Da es in Mitteleuropa in der Regel viel mehr
Wasser gibt, als verbraucht werden kann, taugt diese Maxime in Mitteleuropa fraglos als allgemeines Gesetz. Aber schon in einem sehr warmen Sommer wird diese Maxime bezogen auf
Mitteleuropa nicht mehr gesetzesfähig und erst recht nicht in Südeuropa oder gar in Afrika
oder im Nahen Osten. Andersherum wäre die für Länder mit permanenter Wasserknappheit
gesetzesfähige Maxime des sparsamen Wasserverbrauchs nicht für Mitteleuropa mit lauen
Sommermonaten und viel Niederschlägen gültig. Was folgt daraus? Die aus dem KI gewonnenen Normen sind keineswegs zeitlich und räumlich so unabhängig, wie Kant und seine Befürworter das (nicht zuletzt mit seinen eigenen Beispielen) Glauben machen wollen. Deutlich
besser schneiden hier das NP und das ZP ab, denn im ersteren Fall kann optimaler Nutzen für
alle Menschen nur durch unterschiedlich hohen Wasserverbrauch erzielt werden, der somit
per se geographisch und temporal schwankt und andererseits darf auch die (rationale) Zustimmung aller Menschen nur zu einem regional und zeitlich angepassten Wasserverbrauch
unterstellt werden. Nehmen wir noch ein weiteres Beispiel zur Demonstration der differierenden Qualität von KI, ZP und NP: Die Maxime, nach der Andersgläubige entweder bekehrt
oder geächtet werden sollen, lässt sich ohne weiteres (widerspruchsfrei - wohl eher mit dem
Buchstaben, als dem Geist des KI verbunden) als allgemeines Gesetz denken. Diese Maxime
wurde lange Zeit eifrig von katholischen Kirchenfürsten propagiert und erfreut sich inzwischen auch bei islamistischen Eiferern, Fanatikern, Fundamentalisten wachsender Beliebtheit.
Dass diese Maxime im Gegensatz zu ihrer Vereinbarkeit mit dem KI jedoch keineswegs mit
dem Zustimmungsprinzip oder dem Nutzenprinzip in Einklang steht, muss wohl kaum noch
im Detail ausgeführt werden.
Allein unter moraltheoretischen Gesichtspunkten betrachtet stehen Handlungen unter einem zweifachen moralischen Geltungsvorbehalt, nämlich dem von Normen und dem des jeweiligen Moralprinzips. Mithin hat eine moralische Handlung einer entsprechenden Norm
und dem sie begründenden Prinzip zu gehorchen. Mit Blick auf das hier zur Debatte stehende
NP, ZP und den KI muss unterschieden werden, ob nur die Handlungsabsicht (das Motiv einer Handlung), die Handlung selbst oder (auch) ihre Konsequenzen unter den moralischen
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Geltungsvorbehalt fallen sollen. Nicht nur für Kant202, sondern auch für Hume203 stellt das
Handlungsmotiv den wichtigsten Bezugspunkt moralischer Bewertung dar, weil es tugendhafte Handlungseinstellungen (einen tugendhaften Charakter) offenbart. Gleichwohl lassen sich
das NP, das ZP und der KI auf jeden der drei Handlungsaspekte separat beziehen: Man kann
also durchaus fragen, ob das Motiv einer Handlung dazu taugt, Nutzen zu stiften, ob ein
Handlungsmotiv universalisierbar ist oder ob ein Handlungsmotiv bei allen Menschen Zustimmung finden könnte? Gleiches gilt für die Handlung selbst und deren Konsequenzen. Nun
kann kaum bestritten werden, dass sich eine Handlung (und nicht bloß irgendein Verhalten)
aus allen drei Elementen zusammensetzt. Weiterhin führt kaum bezweifelbar (zumindest im
Regelfall) ein moralisches Handlungsmotiv zu einer moralischen Handlung und die wiederum
zu moralischen Handlungskonsequenzen oder andersherum, geht moralischen Handlungskonsequenzen eine moralische Handlung und dieser wiederum ein moralisches Handlungsmotiv
voraus. Gleichwohl scheint sich bei Hume und Kant das Gewicht bei der ethischen Bewertung
einer Handlung zugunsten des Motivs und bei ihrer rechtlichen Bewertung zugunsten ihrer
Konsequenzen zu verschieben.
Nunmehr interessiert, ob eher das NP, das ZP oder der KI alle drei (faktisch untrennbaren)
Aspekte einer Handlung besser moralisch beurteilbar machen? Das Nutzenprinzip scheint mir
alle drei (theoretisch isolierbaren) Handlungsaspekte relativ gut zu treffen, denn man kann
ohne weiteres sagen, dass bestimmte Handlungsmotive, bestimmte Handlungen oder bestimmte Handlungskonsequenzen für sich genommen der Allgemeinheit mehr oder weniger
nutzen oder schaden. In gleicher Weise einfach lassen sich auch mit dem Zustimmungsprinzip
alle drei Handlungsaspekte grundsätzlich separat beurteilen. Der entscheidende Unterschied
zwischen Nutzenprinzip, Zustimmungsprinzip und Kantischem KI besteht nun aber darin,
dass NP und ZP ein einstufiges Prüfungsverfahren ermöglichen, während der KI ein zweistufiges Verfahren erforderlich macht, denn beim KI muss zunächst eine Universalisierung eines
Handlungsmotivs, einer Handlung oder der Handlungskonsequenzen vorgenommen werden,
um dann in einem zweiten Schritt erst deren Gesetzestauglichkeit überprüfen zu können. Mithin bieten das Nutzenprinzip und das Zustimmungsprinzip mit Blick auf die vorzulegende
Globalmoral den nicht unerheblichen Vorteil einer spürbar leichteren Anwendbarkeit, die
auch zur besseren Orientierung beitragen dürfte.
Ein häufig thematisierter Unterschied zwischen deontologischen und teleologischen Moraltheorien wird auch darin gesehen, dass in letzteren alle Handlungen entweder als moralisch
richtig oder als falsch zu gelten haben, weil es sich bei ihren moralischen Forderungen um
Maximierungsgebote handele, die eine Differenzierung moralisch besserer und schlechterer
Handlungsalternativen zulasse und stets die besseren jeweils moralisch geboten seien. Demgegenüber wiesen deontologische typischerweise neben den Bereichen des moralisch Gesollten und des Verbotenen einen relativ weiten Bereich des moralisch Erlaubten aus. Diesen
202
"Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird,
also auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser
erwarteten Wirkung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlichkeit seines Zustandes, ja gar Beförderung fremder Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursachen zustande gebracht werden, und es brauchte also dazu nicht den Willen eines vernünftigen Wesens, worin gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann." Kant (GMS) S. 401.
203
"Es ist evident, dass wir, wenn wir Handlungen loben, nur auf die Motive achten, die sie hervorriefen; wir betrachten die Handlungen als Anzeichen gewisser Geistes- und Charaktereigenschaften. Das
äußere Tun an sich hat keinen Wert. Wir müssen die moralische Qualität im Inneren suchen. Da wir
das nicht unmittelbar können, so richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die entsprechenden Ausdrucksformen des Innenlebens, nämlich auf Handlungen. Aber diese Handlungen gelten eben nur als
Zeichen des Inneren, und der eigentliche Gegenstand unserer Zustimmung und unseres Lobes ist das
Motiv, das sie erzeugte". Hume (Treat) B 3, S. 39.
79
zentralen Einwand gegenüber dem Utilitarismus was die moralische Abstufbarkeit seiner moralischen Urteile angeht, er lasse nur die den optimalen Nutzen stiftende Handlung als moralisch zu und disqualifiziere alle anderen weniger nützlichen Handlungen pauschal als unmoralisch, halte ich substanziell für unberechtigt. Ich glaube nicht, das Hume diesen Standpunkt
vertreten würde und selbst Bentham, der als (erster) ausgemachter (reiner) Utilitarist gilt, hat
das Handlungsoptimum bezogen auf den Nutzen nur vom Staat (mit seinem Beamtenapparat)
gefordert und nicht von jedem einzelnen Bürger, von Privatpersonen. Dennoch lässt das Nutzenprinzip natürlich wesentlich feinere Unterscheidungen in der Beurteilung der moralischen
Qualität einer Handlung zu, als lediglich die drei von Kant genannten Abstufungen des Geboten, Erlaubten und Verbotenen, was in meinen Augen einen Nachteil hinsichtlich der moralischen Differenzierbarkeit moralischer Handlungsabläufe bedeutet.
Ein wesentlicher aus dem Streit zwischen Deontologen und Teleologen gegen Kant resultierender Einwand richtet sich darauf, wie überhaupt die moralische Qualität einer Handlung
beurteilt werden soll, wenn nicht auch auf deren Konsequenzen Bezug genommen wird? Dass
Kant seinem selbst gestellten Anspruch anhand seiner eigenen Beispiele oft nicht gerecht
werden kann, wurde bereits erwähnt. Durch seinen dezidierten Anti-Empirismus zäumt Kant
für mich das Pferd mit seinem KI in genau der falschen Reihenfolge auf, denn wir können
doch nur solche Maximen als allgemeine Gesetze akzeptieren oder solchen Handlungen zustimmen, die jedermanns Bedürfnisbefriedigung ermöglichen, die überhaupt notwendige Bedingung seiner (Kantisch gesprochenen) intelligiblen und empirischen Existenz sind. Also
müsste am Anfang auch der Kantischen Moraltheorie überhaupt die Frage stehen, welche
(moralisch relevanten) Grundbedürfnisse der Mensch hat und unter welchen moralischen Bedingungen diese erfüllt werden können? Erst danach wären Kantischen Überlegungen über
den KI und seine Autonomiebedingung angebracht. In meinen Augen kann weder über die
Moralität eines Handlungsprinzips, noch einer Handlungsnorm oder auch nur einer Handlung
sinnvoll ohne Rücksicht auf ihre Konsequenzen geurteilt werden. Die Konsequenzen einer
Handlung sind nur im Hinblick auf ein allgemeines Handlungsziel als gut oder schlecht
beurteilbar, denn ohne dieses Handlungsziel sind die Konsequenzen einer Handlung völlig
indifferent. Im Utilitarismus besteht dieses allgemeine Handlungsziel in allgemeiner Nutzenoptimierung, bei Kant im autonomen Mensch. Letztendlich entscheidend für diese Handlungsziele sind die bereits erwähnten unterschiedlichen Menschenbilder - im Utilitarismus das
hedonistische, bei Kant das idealistische.
Alle konkreten moralischen Normen ergeben sich bei Kant erst aus der Anwendung des
dem KI innewohnenden Verallgemeinerungsverfahrens. Zwar bemüht sich Kant, die damit
erforderliche Folgenabschätzung durch Beschränkung auf Maximen (Handlungseinstellungen) von einem Empiriebezug zu lösen und allein vom Widerspruchsprinzip abhängig zu machen, aber in dieser Absicht greifen Kants Überlegungen zu kurz, denn es können sich durchaus bestimmte Handlungsmotive, Handlungen und deren Konsequenzen (als allgemeine Gesetze) widersprechen, aber nicht unbedingt bereits deren Maximen.204 Ein und die die gleiche
Maxime mag darüber hinaus bei verschiedenen Menschen mit unterschiedlichem Charakter,
Bildung, Urteilsvermögen auf verschiedenen Handlungsmotiven beruhen, zu unterschiedli204
Maximen erscheinen oft zu unscharf, um den moralischen Gehalt einer Handlung hinreichend bewerten zu können. Beispielsweise könnte ich den mit dem kategorischen Imperativ durchaus zu vereinbarenden Entschluss fassen, vegetarisch zu leben. Diese Maxime kann allerdings vielerlei Gründe
haben und zwar moralische ebenso wie unmoralische: Mitleid gegenüber Tieren, Ekel vor Fleisch
nach entsprechenden Fernsehbildern, gesund leben zu wollen, Verachtung gegenüber der Fleischindustrie, Antipathie gegenüber meinem Metzger, oder die Achtung vor dem Leben anderer Kreaturen,
die ähnlich wie Menschen einen Anspruch auf ein 'glückliches' Leben haben sollen. Dieses Beispiel
zeigt recht anschaulich, dass die Universalisierung von Handlungsgründen der Universalisierung von
Handlungsmaximen - jedenfalls im Falle des Vegetarismus - deutlich überlegen ist, weil bestimmte
Handlungsgründe Handlungsmaximen regelmäßig vorausgehen.
80
chen Handlungen und erst recht zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen führen.205 Zur
vollständigen Prüfung der Moralität einer Handlung reicht die Maximenebene mithin gar
nicht aus, sie kann lediglich einen ersten Anhaltspunkt dafür geben. Eine Bestimmung des
moralischen Gehalts von Maximen wirkt ohne Beachtung der aus eben diesen Maximen erwachsenen konkreten Handlungen und deren faktische Konsequenzen mithin unvollständig moralische Pflichten sind durch den Filter der Verallgemeinerung betrachtet nur unter Berücksichtigung der von ihnen hervorgerufenen Konsequenzen (hinreichend) rechtfertigbar.
Und die Moralität der aus Maximen sich im Einzelfall ergebenden Handlungskonsequenzen lässt sich im Rahmen Kantischer Moraltheorie verbleibend wiederum nur mit Blick auf
das von Kant propagierte Menschenbild, die positiven oder negativen Auswirkungen beurteilen, den diese Handlungskonsequenzen im Dienste der Realisierung eben dieses idealistischen
Menschenbildes ("Reich der Zwecke") haben, nämlich größtmögliche Autonomie als Ausdruck innerer Freiheit (in der Ethik) und äußerer Freiheit (im Recht). Bezogen auf die Maximenbewertung reicht das Widerspruchsprinzip zur sachgerechten Anwendung des KI bei weitem nicht aus, sondern inhäriert unausgesprochen auch die Beurteilung deren Auswirkungen
auf Kants naturteleologisch inspiriertes idealistisches Menschenbild. Den am bloßen Wortlaut
des KI verbleibenden Interpretationen - zumal der analytischen Schule - entgeht damit der
eigentliche Sinn dieses Moralprinzips.206
Meine Absicht liegt gar nicht darin, einen uneingeschränkten Konsequentialismus zu verteidigen, der die Handlung selbst und auch das Handlungsmotiv völlig unberücksichtigt lässt.
Dennoch gibt es einige schwerwiegende Vorwürfe seiner Kritiker, die hier im Interesse vor
allem der Humeschen, aber auch meiner eigenen Position nicht unkommentiert bleiben dürfen. So wird behauptet, es gebe Handlungen, die 'in sich' gut und andere, die grundsätzlich
moralisch schlecht seien, wie 'das Lügen' oder 'das Töten'. Die entscheidende Frage kann auch
hier wiederum nur sein, woher wir dies wissen sollen, wenn nicht durch die von uns befürworteten oder abgelehnten Konsequenzen dieses Handelns. Durch eine Lüge kann das Vertrauen eines anderen Menschen verletzt werden, was bei diesem seelischen Schmerz hervorrufen mag und durch das Töten wird die Existenz eines möglicherweise unschuldigen Menschen
beendet , der dadurch seinen kostbarsten Besitz, nämlich sein Leben verliert. Auf der anderen
Seite zeigt sich aber eben auch, dass ein Lügenverbot oder ein Tötungsverbot nicht kategorisch, nicht absolut gelten kann, weil etwa durch eine Lüge aus Höflichkeit anderen Menschen
geschmeichelt, ihnen eine Freude gemacht werden kann, anstatt sie zu verletzen, weil etwa
durch die Tötung eines Geiselnehmers unschuldige Menschen gerettet werden können. Nach
Kant sollen nicht die Konsequenzen einer Handlung moralisch entscheidend sein, sondern die
der Handlung zugrundeliegende Maxime. Die jeweilige Maxime (KI) scheint aber doch nur
205
Ein Beispiel mag zeigen, dass das Kantische Moralprinzip mit der Maximenebene nicht alle konkreten Handlungsaspekte hinreichend konkret erfassen kann: Nehmen wir an, ich habe die Maxime,
meine Arbeit, gewissenhaft zu erledigen, so ist dies sicher mit dem kategorischen Imperativ vereinbar
und durchaus im Kantischen Sinne geboten. Als Beamter, Architekt, Maurer oder Arzt wird dies anderen Menschen auch zugute kommen. Wenn ich jedoch meinen Lebensunterhalt als Dieb, Rauschgifthändler oder Aufseher in einem Konzentrationslager verrichte, kann diese Maxime niemals die damit
verbundenen unmoralischen Tätigkeiten rechtfertigen.
206
Die Qualität einer Moraltheorie an einzelnen, womöglich sogar noch aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissenen Worten, Begriffen, Sätzen bewerten zu wollen, halte ich ohnehin für unangemessen; es gilt in meinen Augen stets den bestmöglichen Sinn einer (moral)theoretischen Leistung zu
ermitteln. Sprache ist ohne die hinter ihr stehenden rationalen Fähigkeiten undenkbar, so haben etwa
auch viele hochentwickelte Tiere rationale Fähigkeiten, die sie gar nicht sprachlich artikulieren können, weshalb sie lange nicht erkannt und hinreichend gewürdigt wurden. Da Menschen und Tiere eine
gemeinsame Evolutionsgeschichte haben, darf davon ausgegangen werden, dass auch beim Menschen
nach wie vor viele kognitive Leistungen vor dem Spracherwerb stehen und diese kognitiven Leistungen nicht immer adäquat sprachlich umgesetzt werden können.
81
vor dem Hintergrund ihrer Realisierung, der durch sie hervorgebrachten Konsequenzen sinnvoll beurteilbar, denn andernfalls ginge es nur um die Bewertung einer Gesinnung und nicht
um Veränderung in dieser Welt, was angesichts der aktuell weltweit drängenden Probleme für
eine Globalmoral völlig unakzeptabel erscheint.
Das schwerwiegendste, in meinen Augen zugleich unhaltbarste Argument gegen den Konsequentialismus lässt sich bis Kant zurückverfolgen und dient ihm (neben anderen Gründen)
als Rechtfertigung seines Anti-Empirismus. Dieser typisch deontologische Einwand besagt im
Kern, wir könnten die Konsequenzen unseres Handelns (oft) gar nicht weit genug überblicken, um sie zu dessen Maßstab machen zu dürfen. Oder anders formuliert: "Konsequenzen
einer Handlung, die wir weder voraussehen können noch zu verantworten haben, dürfen bei
der Frage, was moralisch wertvoll ist, keine Rolle spielen."207. Die sich mir hier unvermeidlich aufdrängende Replik lautet, ob wir denn überhaupt handeln sollten, wenn wir die Konsequenzen unseres Handelns gar nicht überschauen können, ob es überhaupt verantwortbar ist
zu handeln, wenn wir dessen Folgen nicht absehen? Wer glaubt, moralisch handeln zu können, ohne die Konsequenzen seines Handelns beherzigen zu müssen, handelt in meinen Augen irrational, verantwortungslos, rücksichtslos, blind und damit bereits jenseits aller moralischen Grundanforderungen. Wer den Konsequentialismus rundherum ablehnt, wie seine
schärfsten Kritiker, bringt sich um jede Chance, die Zukunft noch gestalten zu können. Somit
trifft die Auffassung völlig zu, der Konsequentialismus sei "auch eine Form der Wertethik.
Denn von 'guten' oder 'schlechten' Resultaten zu sprechen, macht natürlich nur dann Sinn,
wenn es Werte und Wertmaßstäbe gibt, die es erlauben bestimmtes Verhalten entsprechend zu
qualifizieren."208 Und in diesem Sinne setzten natürlich nicht nur der Konsequentialismus,
sondern auch Hume und sogar Kant realisierungsbedürftige Werte, Ziele, Zwecke voraus,
auch wenn sie nicht immer offen dafür eintreten.
Der Mensch hat über Reflektion die Fähigkeit, verschiedene Konsequenzen seines Wollens
und Handelns einzuschätzen und sein Wollen von diesen Konsequenzen abhängig zu machen.
Erst dieses Vermögen macht ihn zu einem verantwortungsfähigen (menschlichen) Wesen.
Verstand und Vernunft dienen (wie Hume in aller Deutlichkeit gezeigt hat) gerade dazu, die
kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen einer Handlung abzuschätzen. Daran ändern
auch Kants und Humes Überzeugungen nichts grundlegendes, das Handlungsmotiv (bei Hume wegen des geforderten tugendhaften Charakters und bei Kant wegen der gewünschten
Bestimmung der Handlung durch 'reine' Vernunft) und nicht die Handlungskonsequenzen als
moralisch wertvoller zu erachten. Denn ein Handlungsmotiv zu wählen und eine entsprechende Handlung auszuführen ohne die Verantwortung für die Handlungskonsequenzen tragen zu
wollen scheint moraltheoretisch inkonsequent und moralpraktisch verantwortungslos. Ein
Handlungsmotiv, das zu unmoralischen Handlungskonsequenzen führt, kann mitnichten moralisch sein. Unbestritten bleibt natürlich, dass ein moralisches Handlungsmotiv, eine moralische Handlung und moralische Handlungskonsequenzen in einer Handlung vereinigt moralisch höher zu bewerten sind, als lediglich moralische Handlungskonsequenzen.
Richtig am Einwand gegen den Konsequentialismus scheint mir die Feststellung, dass wir
die Konsequenzen unseres Handelns mit völliger Gewissheit oft erst nachträglich, also nach
erfolgter Handlung beurteilen können. Wenn Erfahrungs- und Erkenntnisbildung (evolutionsbiologisch) überhaupt einen Sinn haben, die uns zu jenem überlegenen Lebewesen auf diesem
Planeten gemacht haben, dann doch den, unser Handeln planen zu können, weil wir die kurz-,
mittel- und langfristigen Konsequenzen unseres Handelns abzuschätzen imstande sind. Ohne
dieses verstandes- und vernunftbasierte Planungsvermögen hätten wir weder urzeitlich Waffen gegen Raubtiere, noch jemals Ackerbau und Viehzucht, geschweige denn Raumfahrt betreiben können. Wie wir indes die drohende Klimakatastrophe abwenden sollen, ohne die
207
208
Schönecker (2004) S. 50.
Schönecker (2004) S. 47.
82
Konsequenzen unseres Handelns zu berücksichtigen, erscheint mir völlig rätselhaft. Natürlich
können wir die kurzfristigen Konsequenzen unseres Handelns wegen der geringeren Anzahl
an Variablen besser beurteilen, als die mittelfristigen und erst recht als unsere langfristigen,
aber unsere prognostischen Fähigkeiten und Fertigkeiten verbessern sich zunehmend und es
steht fest, dass wir etwa mit (weiterhin) zunehmender Umweltverschmutzung das Problem der
Erderwärmung wegen der steigenden Aufheizung der Atmosphäre nicht lösen. Unbestreitbar
scheint ebenso, dass wir komplexe Aufgaben des Umweltschutzes weniger mit Hilfe Kants
statischer kategorisch-deontologischer Vorstellungen, wie sie in einem absoluten Lügenverbot
oder einem strikten Tötungsverbot zum Ausdruck kommen, als vielmehr mit differenzierten,
dynamischeren teleologischen allgemeinen Nutzenerwägungen moralrelevant erfassen und
normieren können.
In keinem Fall aber kann sich die Moralität, der Wert einer Handlung allein aus der bloßen
Geltung ihrer Motivation und erst recht nicht aus bloßer, inhaltlich unbestimmten Reflexivität
ihrer Motivation ergeben, wie sowohl in der vermeintlichen Nachfolge Humes209, aber auch
Kants210 gelegentlich behauptet wird, sondern nur aus der abstrakten und konkreten allgemeinen Akzeptanz ihrer Motivation und der von ihr verursachten Handlungen und Handlungskonsequenzen. Wir beurteilen die Qualität der Arbeit eines Bäckers, Architekten oder Arztes
doch auch (vorrangig) an deren Ergebnis und eben nicht anhand ihrer Motive - warum sollte
dies in der Moral anders sein? Einen Architekten, der in bester Absicht ein Haus baut, das
nach zwei Jahren wegen Konstruktionsfehlern einstürzt, werden wir kaum loben wollen.
1.2.2 Nutzen, Gerechtigkeit, Handlungsfreiheit
Standen bislang (strukturelle normative) deontologische und teleologische Aspekte moraltheoretischer Erwägungen fernab jeder Staatlichkeit im Mittelpunkt, so geht es jetzt um (inhaltliche normative) Vorzüge und Nachteile deontologischer und teleologischer Theorie unter
Berücksichtigung eines Staatswesens. Nach den zurückliegenden Ausführungen zur individualistischen Ausgestaltung und Anwendung des NP, ZP und KI lässt sich erwarten, dass teleologische Theorie eine stärkere (topologische) Quantifizierbarkeit und deontologische Theorie eine schärfere Qualifizierbarkeit normativen staatlichen Handelns erlaubt. Dabei muss
natürlich (wie bisher) beachtet werden, dass die Kantische Moraltheorie auch in der Staatslehre durch ihre rationalistische Begründungsstruktur ein anderes Abstraktionsniveau innehat, als
die (diesbezüglich) empiristischen Überlegungen Humes. Während Kant die normativen Beziehungen rationaler Vernunftsubjekte auf seiner systematischen staatstheoretischen Ebene
ganz überwiegend nur von ihrer Geltungsseite her beschreibt, reichert Hume seine normativen
Vorstellungen (vom Staat) wie gewohnt durch bisweilen anekdotenhaft wirkende (genetische)
Beobachtungen an. Hume geht es eher um die (empirischen) Entstehungsbedingungen von
Gesellschaften, Kant befasst sich mehr mit den (rationalen) Geltungsgrundlagen eines Staates,
weshalb seine Überlegungen zur (historischen) Staatenbildung wesentlich kürzer sind.
Das zentrale Gegensatzpaar der empiristischen (Humeschen) und rationalistischen (Kantischen) Staatszielbestimmung sind nicht Nutzen und Gerechtigkeit, sondern Nutzen und Handlungsfreiheit, weil Gerechtigkeit von beiden Ansätzen (vehement) gefordert wird. Gerechtigkeit bedeutet mit Bezug auf Nutzen womöglich jedoch etwas ganz anderes als im Hinblick auf
Handlungsfreiheit, denn Nutzenoptimierung schließt nicht unbedingt Freiheitsmaximierung
und umgekehrt Freiheitsmaximierung nicht unbedingt Nutzenoptimierung mit ein. Grundsätzlich lässt sich das Nutzenprinzip auch in eine deontologische Theorie und umgekehrt das
Freiheitsprinzip in eine teleologische Moraltheorie einbinden. Die entscheidende Frage im
Streit zwischen Hume und Kant wird sein, wo sich Freiheitsvorstellungen und Nutzenerwä209
Vgl. Steinfath, Holmer. Orientierung am Guten. Praktische Überlegungen und die Konstitution von
Personen. Frankfurt/Main 2001.
210
Vgl. Leist, Anton. Die gute Handlung. Eine Einführung in die Ethik. Berlin 2000.
83
gungen im Normalfall treffen oder voneinander abweichen? Grundsätzlich könnten Kantische
Freiheitsforderungen auch Hauptgegenstand teleologischer Theorie sein, indem das Nutzenprinzip einfach durch ein Freiheitsprinzip ergänzt, indem also die bestmögliche Verwirklichung von Handlungsfreiheit zum allgemein nützlichen Handlungsziel erhoben wird. Umgekehrt könnte das Nutzenprinzip auch Gegenstand deontologischer Normierungsversuche sein.
Insofern scheint mir die Unterscheidung zwischen Teleologie und Deontologie zwar geeignet,
um den Humeschen vom Kantischen Theorietypus strukturell halbwegs treffend abzugrenzen,
aber nicht sehr aussagekräftig, um spezifische inhaltliche moraltheoretische Ansprüche zu
begründen oder gar abzusichern.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen deontologischer und teleologischer Staatstheorie
wird in der Unterscheidung zwischen der temporären und räumlichen Reichweite von Normen
gemacht. Allerdings bleibt bei dieser Einschätzung der in aller Regel unterschiedliche Abstraktionsgrad Humescher und Kantischer normativer Forderungen unberücksichtigt. Dessen
ungeachtet scheint zumindest auf der Prinzipienebene wie bereits festgestellt kein signifikanter Unterschied in der normativen Reichweite vorzuliegen, wenn man an das Nutzenprinzip
und das Zustimmungsprinzip denkt; beide dürfen gleichermaßen als geographisch und temporär unabhängig gelten. Unterschiede könnten jedoch hinsichtlich der temporären und territorialen Reichweite der aus dem Nutzenprinzip und Zustimmungsprinzip ableitbaren konkreten
Normen bestehen. Kant behauptet zwar absolut gültige Normen aus dem mit dem Zustimmungsprinzip verwandten KI ableiten zu können, aber da sich der KI auf individuelles moralisches Handeln beschränkt und der Staat nach Kant zu moralischem Handeln gar nicht verpflichtet ist, sondern nur zu rechtlichem, bleibt er in diesem Kapitel unberücksichtigt.
Ausgangspunkt für die Humeschen staatstheoretischen Überlegungen sind Einsichten in
das empirische Erfordernis einer Gesellschaft schlechthin. Hume betont wiederholt, dass eigentlich nur der Egoismus des Menschen in Verbindung mit der allgemeinen Güterknappheit
Entstehungsgründe eines Gemeinwesens sind.211 Bereits hier argumentiert er ganz utilitaristisch mit dem Nutzen einer Rechtsordnung, die bei ausreichendem Wohlwollen der Menschen
untereinander und ausreichender (natürlicher) Güterversorgung seiner Auffassung nach hinfällig wäre.212 Allerdings übersieht Hume, dass Konflikte nicht unbedingt nur wegen einer
von Natur aus begrenzten Anzahl von Gütern besteht, sondern vor allem auch deshalb, weil
Menschen in der Regel mehr besitzen wollen als andere - selbst dann noch, wenn sie bei weitem genügend Güter zu ihrer eigenen (elementaren) Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung
haben, mithin das Erfordernis von Moral nicht allein aus Güterknappheit resultiert. Diese auf
Egoismus rückführbare Gier beruht in meinen Augen vor allem darauf, dass bei allen Menschen ein Interesse daran besteht, in der sozialen Hierarchie einer Gesellschaft möglichst weit
oben zu stehen, weil dann die Chancen, seine eigenen Interessen durchzusetzen, deutlich steigen. Einen möglichst hohen Rang innerhalb der Hierarchie einer Population erwirbt ein Gesellschaftsmitglied vor allem durch Wohlstand. Demzufolge besteht das Erfordernis nach einer die soziale Hierarchiebildung regelnden Rechtsordnung selbst dann, wenn die Natur genügend Nahrungsmittel für alle Menschen zur Verfügung stellen würde.
Die Vorstufe eines (rechtlichen) Regelrahmens von Geboten und Verboten entsteht bereits
aufgrund der nach Hume empirisch erforderlichen Vergesellschaftung des Menschen. Durch
211
"Man steigere das Wohlwollen der Menschen gegeneinander oder die Freigiebigkeit der Natur in
genügendem Maße, und die Rechtsordnung wird überflüssig". Hume (Treat) B 3, S. 60. "Die Selbstsucht des Menschen wird dadurch angestachelt, dass wir im Verhältnis zu unseren Bedürfnissen nur
wenig Güter besitzen". Hume (Treat) B 3, S. 60. "Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und
der beschränkten Großmut der Menschen, in Kombination mit der knappen Fürsorge, die die Natur
für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung". Hume (Treat) B 3, S. 61.
212
"Es ist aber offensichtlich, dass der einzige Grund, weshalb bei ausgedehntem Wohlwollen der
Menschen und einem Überfluss an allem der Begriff der Rechtsordnung vernichtet werden würde,
darin besteht, dass diese Bedingungen denselben unnütz machten". Hume (Treat) B 3, S. 61f.
84
die Vergesellschaftung kann der Mensch im Zuge der mit ihr verbundenen Arbeitsteilung
seine Bedürfnisse weitaus besser befriedigen als auf sich alleine gestellt.213 Die ersten Gesellschaften bilden nach Humes Vorstellungen relativ lose Stammesverbände, noch ohne staatliche Strukturen und dezidierte Rechtsordnung. Der Zusammenhalt innerhalb dieser Populationen wächst mit der Einsicht ihrer Mitglieder in die Vorteile der gesellschaftlichen Zusammenarbeit.214 Durch Spezialisierung kann Arbeit besser aufgeteilt und hochwertiger erledigt
werden, wovon alle Gesellschaftsmitglieder profitieren. Erst der Zusammenschluss mehrerer
kleinerer Populationen zur Bildung größerer Gesellschaften erfordert die Errichtung einer
Rechtsordnung, weil in der Anonymität solch umfangreicher Vereinigungen von Menschen
soziale Verhaltensweisen nicht mehr durch den ständigen persönlichen Kontakt aller Menschen untereinander gewährleistet werden können.
Für deren erfolgreichen Bestand sieht Hume (unterhalb der durch das Nutzenprinzip bestimmten Prinzipienebene, aber noch oberhalb der einfachen Normenebene) drei unveränderliche "Grundgesetze des Naturrechts" als unverzichtbar an, nämlich das "der Sicherheit des
Besitzes, das der Übertragung durch Zustimmung" und das ''der Erfüllung von Versprechen".215 Der überpositiv anmutende, territorial und temporär unabhängige Anspruch dieser
drei Fundamentalgesetze lässt sich nach Hume auf deren (elementaren) Nutzen für jede (höher
entwickelte) Gesellschaft zurückführen. In Übereinstimmung mit der modernen naturrechtlichen Tradition von Hobbes bis Kant nimmt Hume die Geltung normativer Grundsätze an, die
jeder Staatsgründung vorausgehen. Im Unterschied zur modernen naturrechtlichen Tradition
begründet Hume jedoch keine natürlichen, angeborenen Rechte des Menschen und die Vergesellschaftung als Vorstufe zur Staatenbildung beruht nicht auf Vertrag, sondern auf einer
(formlosen) Übereinkunft der Gesellschaftsmitglieder auf der Grundlage ihrer Einsicht in die
Vorteile der Vergesellschaftung.216 Deshalb bedeutet der Naturzustand bei Hume (ganz im
Gegensatz zur modernen naturrechtlichen Tradition) auch kein Krieg aller gegen alle, sondern
beruht auf dem gemeinsamen Interesse aller Gesellschaftsmitglieder am Erhalt der Gesellschaft, wofür der Respekt gegenseitigen Eigentums nach Hume die Grundlage bildet, was
wiederum ein allgemeines Bewusstsein von Recht, Rechtsordnung und Gerechtigkeit erzeugt.
213
„Unter allen Tieren, die den Erdball bevölkern, gibt es keines, gegen das die Natur auf den ersten
Blick grausam verfahren zu sein scheint; nur gegen den Menschen [scheint sie grausam]. Wie zahllos
sind die Bedürfnisse und notwendigen Ansprüche, mit denen sie ihn belastet, und wie gering die Mittel, die sie ihm zur Befriedigung derselben gewährt hat. […] Nur durch Vergesellschaftung kann er
diesen Mängeln abhelfen und sich zur Gleichheit mit seinen Nebengeschöpfen erheben, ja sogar eine
Überlegenheit über dieselben gewinnen. Durch die Gesellschaft wird seine Schwäche ausgeglichen,
und wenn auch innerhalb derselben seine Bedürfnisse sich jeden Augenblick vermehren, so nehmen
doch seine Fertigkeiten in noch höherem Grade zu.“ Hume (Treat) B 3, S. 48.
214
"Soll sich aber die Gesellschaft bilden, so muss dieselbe nicht nur für den einzelnen vorteilhaft
sein, sondern die Menschen müssen sich dieser ihrer Vorteile auch bewusst werden. Es ist aber unmöglich, dass sie im wilden, unkultivierten Zustande einzig durch Überlegung und Nachdenken zu
dieser Erkenntnis kommen". Hume (Treat) B 3, S. 49f.
215
Hume (Treat) B 3, S. 100.
216
"Diese Übereinkunft hat nicht den Charakter eines Versprechens; auch das Versprechen entsteht,
wie wir später sehen werden, erst auf Grund einer Übereinkunft. Eine solche Übereinkunft beruht auf
dem allgemeinen Bewusstsein des gemeinsamen Interesses; dieses Bewusstsein geben sich alle Mitglieder der Gesellschaft wechselseitig kund, und sie werden so veranlasst, ihr Verfahren nach gewissen Normen zu ordnen. Ich sehe, es liegt in meinem Interesse, einen anderen im Besitz seiner Güter zu
lassen, vorausgesetzt, dass er in gleicher Weise gegen mich verfährt. Er seinerseits ist sich eines gleichen Interesses bei der Regelung seines Verhaltens bewusst. Wird dies Bewusstsein eines gleichartigen Interesses wechselseitig kundgetan, ist es also beiden bekannt, so erzeugt es ein entsprechendes
Wollen und Verhalten. Und dies kann füglich eine Übereinkunft oder ein wechselseitiges Einverständnis genannt werden. Das Zwischenglied eines Versprechens ist dazu nicht erforderlich". Hume
(Treat) B 3, S. 54.
85
Der (natürliche) Egoismus des Menschen, das Eigentum anderer Menschen nicht zu achten,
wird durch die Eigentumsvorschriften in der Gesellschaft in seine Schranken gewiesen.217 Die
Befolgung des Rechts wird wegen ihrer überragenden Bedeutung für Erhalt und Entwicklung
der Gemeinschaft zu einer allgemeinen Tugend. Die Einhaltung von Versprechen bildet nach
Hume keine natürliche Neigung des Menschen, sondern entspringt einem Gefühl der Verpflichtung, welches seinerseits aus Konventionen resultiert. Also müsse die Rechtsordnung
schon bestehen, damit dem Versprechen sein verpflichtender Charakter zukommt.218 Deshalb
liege der Ursprung des Rechtssystems selber nicht in einem Urversprechen, denn vor der
Etablierung eines Rechtssystems seien Versprechen sinnlos.
Mit zunehmendem Komplexitätsgrad einer Gesellschaft und dementsprechend auch ihrer
Rechtsordnung merkten die Menschen, dass sie die Gesellschaft ohne Staatsgefüge nicht mehr
aufrechterhalten können. Hauptaufgabe der Staatsmacht sei deshalb die Durchsetzung einer
Rechtsordnung.219 Idealerweise wird die Staatsführung nach Hume gewählt und die Bürger
versprechen sich gegenseitig, ihren Anweisungen zu folgen. Die bürgerliche Verpflichtung,
sich an dieses Versprechen zu halten, beruht auf dem bereits erwähnten naturrechtlichen
"Fundamentalgesetz", nach dem einmal gegebene Versprechen eingehalten werden müssen.220
Von diesen idealtypischen normativen Vorstellungen abweichend erkennt Hume realistischerweise an, dass für die meisten Menschen historisch gesehen eine Wahlmöglichkeit (bei
der Staatsgründung) niemals faktisch bestanden hat221, weil sie in bereits bestehende gesellschaftliche Verhältnisse hineingeboren wurden.
Die klassischen modernen Vertretern der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant)
haben (entgegen Humes Auffassung) jedoch keineswegs übersehen, dass weder der Urvertrag
217
"Sobald man nun diese Übereinkunft hinsichtlich der fremden Enthaltung von Besitz eingegangen
ist und jedermann Sicherheit seines Besitzes erlangt hat, stellen sich alsbald die Vorstellungen von
Rechtsordnung und Rechtswidrigkeit, von Eigentum, Recht und Verpflichtung ein. Diese letzteren
Begriffe sind völlig sinnlos, außer unter jenen Voraussetzungen". Hume (Treat) B 3, S. 55. "Der Affekt des Eigennutzes wird durch die Regel, die die Sicherheit des Besitzes begründet, in Schranken
gehalten". Hume (Treat) B 3, S. 58.
218
Vgl. Lüthe (1991) S. 72. "Es gibt aber von Natur keine Neigung, Versprechungen zu halten, die
sich vom Sinn für ihre Verbindlichkeit unterscheidet. Daraus folgt, dass Treue im Halten von Versprechungen keine natürliche Tugend ist und dass Versprechungen, ehe es menschliche Abmachungen und
Konventionen gab, keine Kraft hatten". Hume (Treat) B 3, S. 91.
219
"Merken nun aber die Menschen, dass die Rechtsnormen zwar ausreichen, um die Gesellschaft zu
erhalten, dass es ihnen aber aus sich selbst heraus unmöglich ist, diese Normen in großen und kultivierten Gesellschaften aufrechtzuerhalten, so führen sie eine Obrigkeit ein; sie machen diese neue
Erfindung zur Erreichung ihrer Zwecke und zur Erhaltung der alten oder zur Erwerbung neuer Vorteile durch strenge Ausübung der Rechtsnormen. Unsere bürgerlichen Pflichten hängen also insoweit mit
unseren natürlichen zusammen, dass die ersteren hauptsächlich um der letzteren willen erfunden sind;
d. h., dass den Hauptzweck der Obrigkeit die Nötigung der Menschen zur Einhaltung der natürlichen
Rechtsnormen bildet". Hume (Treat) B 3, S. 120f. "Das Ziel unserer bürgerlichen Pflichten ist die
Erzwingung der natürlichen Pflichten; aber das erste Motiv der Erfindung wie der Ausführung beider
ist nichts als Selbstsucht". Hume (Treat) B 3, S. 121.
220
"Diese gehen demnach der Regierung voran; sie legen eine Verpflichtung auf, ehe an die Pflicht der
Untertanentreue gegen die Obrigkeit auch nur gedacht wurde. Ja ich gehe weiter und behaupte, es
muss angenommen werden, dass die Regierung bei ihrer ersten Einführung natürlicherweise jenen
Gesetzen des Naturrechts und besonders demjenigen, welches das Halten von Versprechungen fordert,
ihre verpflichtende Kraft verdankte. Haben die Menschen einmal eingesehen, dass eine Regierung
nötig ist, um den Frieden zu erhalten und die Rechtsnormen auszuführen, so versammeln sie sich naturgemäß, wählen eine Obrigkeit, bestimmen deren Macht und versprechen ihr Gehorsam". Hume
(Treat) B 3, S. 118. "Das Versprechen muss demnach als die ursprüngliche Sanktion der Obrigkeit und
als erste Quelle der Verpflichtung zum Gehorsam gegen dieselbe angesehen werden". Hume (Treat) B
3, S. 118.
221
Vgl. Hume (Treat) B 3, S. 126ff.
86
noch der Naturzustand historische Fakten sind. Ihre Theorien beruhen nicht auf historischempirischen, sondern kontrafaktisch-rationalen Argumenten. Hume bietet selbst keine ausgearbeitete normative Theorie vom Naturzustand, weil der Naturzustand als Abstraktion vom
staatlichen Zustand lediglich eine Begründungsfigur für die Herleitung bürgerlicher Rechte
und staatlicher Pflichten beinhaltet und eben nicht auf empirischen Fakten beruht, sich durch
empirische Beobachtung weder verifizieren, noch falsifizieren lässt und damit jenseits des
Humeschen empiristischen methodischen Rahmens liegt.222 Gleichwohl nimmt er auf einen
natürlichen, vorstaatlichen Zustand ausführlich Bezug, auch wenn er den normativen Gehalt
der Theorie vom Naturzustand ganz offensichtlich nicht verstanden hat, insofern er sie als
"Erdichtung" bezeichnet.223 Auch seine weiteren Erläuterungen zur Vertragstheorie belegen,
dass Hume ihr normativer Status unklar bleibt, es geht ihr mit Locke, Rousseau und Kant in
der Hauptsache nämlich nicht darum, ob bestehende Staaten tatsächlich auf einem solchen
ursprünglichen Vertrag beruhen, sondern ob sie durch ihre Ausgestaltung, durch ihre Aufgaben und die Grenzen ihrer Befugnisse als auf einem ursprünglichen Vertrag beruhend angesehen werden könnten, ob also alle Bürger ihr Einverständnis zu Struktur und Ausübung jeweils
bestehender staatlicher Macht geben könnten.
Diese wesentliche kontraktualistisch begründete Pointe des modernen Naturrechts entgeht
Hume, wenn er darauffolgend versucht, die Autorität einer Staatsmacht (sogar einer absolutistischen Regierung), als auf schlichter Gewohnheit beruhend auszuweisen.224 In völliger Verkennung der Diskrepanz zwischen faktischer Wirksamkeit und normativer Geltung verrennt
sich Hume im krassen Fehlurteil, die faktische Unterwerfung von Bürgern unter eine bestehende (absolutistische) Staatsordnung beweise die normative Geltung eben dieser (absolutistischen) Staatsführung. Durch einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte empirischer
Staaten fühlt sich Hume in seiner Einschätzung bestätigt, denn es gebe "kaum ein Geschlecht
von Königen oder eine Staatsform", die nicht an ihrem Beginn auf "Usurpation und Empörung" gegründet worden sei. Allerdings gewähre die mit der Zeit einsetzende Gewohnheit
"ihrem Recht Bestand". Die Macht der Gewohnheit wirke "allmählich auf die Menschen, versöhnt sie mit jeder beliebigen Autorität und lässt dieselbe gerecht und verständig erscheinen."225 Leider scheint Kant abseits seiner systematischen rationalistischen Begründungsebene auf empirischer Anwendungsebene offenbar ähnlich zu denken wie Hume, wenn er dem
Menschen rät, sich der aktuell herrschenden Gewalt zu unterwerfen - ihr Ursprung mag sein,
"welcher er wolle."226 Hume verkennt jedoch den normativen Sinn der kontraktualistischen
Argumentationsfigur im ursprünglichen Vertrag, die zumindest bereits bei Locke und später
bei Kant (auf rationalistischer Begründungsebene) dazu dient, Bürgerrechte (Grundrechte und
222
Die Theorie vom Naturzustand beruht eben nicht (jedenfalls nicht was Kant anbelangt), auf "Interesse und menschlicher Konvention", wie Hume glauben machen will: So betrachtet sei der der Versuch "fruchtlos, wenn man die einen auf die anderen zurückführen und in den Gesetzen des Naturrechts für unsere bürgerlichen Pflichten eine bessere Grundlage finden will, als es das Interesse und
die menschliche Übereinkunft darstellen, während doch in Wahrheit diese Gesetze gleichfalls auf dieser Grundlage aufgebaut sind". Hume Treat) S. 120.
223
Hume (Treat) B 3, S. 59.
224
"Da aber eine solche absolute Regierung eine ebenso natürliche und übliche Art der Regierung ist
wie jede andere, so muss sie auch irgendwelche verpflichtende Kraft haben. Und die Erfahrung beweist, dass Menschen, die ihr unterworfen sind, ihr eine solche zugestehen. Dies ist ein deutlicher
Beweis, dass wir im gewöhnlichen Leben nicht meinen, unserer Gehorsam hänge von unserer Zustimmung oder einem Versprechen ab". Hume (Treat) B 3, S. 128.
225
Hume (Treat) B 3, S. 137. "Nachdem aber eine Regierung ... eine beträchtliche Zeit ... bestanden
und das spezifische Interesse, an der Unterwerfung haben, ein eigenes moralisches Gefühl hervorgebracht hat, ändert sich die Sache vollständig. Es kann jetzt nicht mehr durch ein Versprechen festgesetzt werden, wer die Obrigkeit sein soll; denn das Versprechen ist jetzt nicht mehr Grundlage der
Regierung". Hume (Treat) B 3, S. 135.
226
Vgl. Kant (MS) S. 319.
87
demokratische Mitwirkungsrechte) sowie Staatsfundamentalprinzipien (Rechtsstaat) zu etablieren. An der Theorie vom ursprünglichen Vertrag zeigt sich einmal mehr, dass Humes empiristisch-deskriptive Methodik eher zur Erklärung der Genese von Recht und Ethik taugt, als
zur Begründung ihrer Geltung. Immerhin kann Hume aber durch seine recht plausible These
vom Interesse des Menschen (und Bürgers) am eigenen Nutzen eben diese Genese relativ
überzeugend nachzeichnen.
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen deontologischer und teleologischer Theorie wird darin gesehen, dass deontologische Moraltheorie einen Vorrang des Rechten vor dem
Guten, während teleologische umgekehrt einen Vorrang des Guten vor dem Rechten bevorzuge.227 Sinn und Zweck des Staates liegen bei Hume und Kant im Erhalt der Rechtsordnung.
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten trifft klarerweise auf die Kantische Moraltheorie zu,
weil das Gute (die Ethik) nach Kant mit einer Gesinnung einhergeht, die unter keinen Umständen erzwungen werden kann. Das eigentlich Gute betrifft auch bei Hume das (tugendhafte) Motiv einer Handlung. Gegenstand der Humeschen Staatslehre bildet jedoch das Recht,
die Rechtsordnung. Zwar behandelt Hume im Rahmen seiner Staatslehre auch künstliche Tugenden, als Tugenden, die erst durch eine Rechtsordnung aufgrund von Konvention entstehen,
aber soweit ersichtlich liegen die zentralen Aufgaben des Staates in erster Linie in der Sicherung der Rechtsordnung und erst in zweiter Linie in der Beförderung der diese Rechtsordnung
unterstützenden künstlichen Tugenden, denn natürliche Tugenden sind angeboren und damit
staatlicher Disposition weitgehend entzogen. Hume und Kant unterscheidet in der Trennung
von Recht und Ethik jedoch wesentlich, dass Kant dafür zwei unterschiedliche (geltungstheoretische) Ansätze benötigt, während Hume Rechtlichkeit und Tugend (genetisch) einheitlich
aus dem daraus entstehenden Nutzen für die Allgemeinheit erklären kann.
Im Mittelpunkt staatlichen Handelns steht für Hume wiederum das Nutzenprinzip. Dessen
Bestimmung erfolgt bei Hume unter Berufung auf den common sense, indem er analysiert,
welche Verhaltensweisen in einer Gesellschaft in der Regel am meisten geschätzt werden.
Dabei kommt er zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es wohl diejenigen Eigenschaften sind, die der Gesellschaft am meisten nutzen. Seine Einschätzung sieht Hume sowohl von
"den Grundsätzen der Philosophie, als auch des gemeinen Menschenverstandes bestätigt."228
Kern der staatlich abzusichernden Rechtsordnung sollte nach Hume die Beachtung der drei
bereits für den Bestand einer Gesellschaft als unverzichtbar ausgewiesenen "Fundamentalgesetzte" sein, nämlich "die Sicherheit des Besitzes, seine Übertragung durch Zustimmung und
das Halten von Versprechen."229 Im staatlichen Zustand kommen für Hume außerdem noch
Rechtssicherheit und Gerechtigkeit hinzu. Die Begründung für alle diese temporär und territorial unabhängigen Fundamentalnormen liegt nach Hume im Nutzen für jedes Gemeinwesen.
227
Vgl. Frankena (1973) S. 14f.
"Dass Gerechtigkeit nützlich für die Gesellschaft ist und folglich wenigstens ein Teil ihrer Wertschätzung aus dieser Überlegung stammen muss, dies zu beweisen wäre ein überflüssiges Unternehmen". Hume (EnqM) S. 101. "Die Notwendigkeit von Gerechtigkeit für den Bestand der Gesellschaft
ist die alleinige Grundlage dieser Tugend; und da kein moralischer Vorzug höher geschätzt wird, können wir schließen, dass dieses Moment der Nützlichkeit im allgemeinen den stärksten Einfluss hat und
auf unsere Gefühle uneingeschränkte Macht ausübt. Die Nützlichkeit muss daher die Quelle eines
erheblichen Teils des Ansehens sein, welche der Menschlichkeit, dem Wohlwollen, der Freundschaft,
dem Gemeinschaftssinn und anderen sozialen Tugenden derselben Art zugeschrieben wird; ebenso wie
sie die einzige Quelle der moralischen Billigung ist, welche der Treue, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit,
Integrität und den anderen schätzenswerten und nützlichen Eigenschaften und Prinzipien gezollt wird.
Es steht völlig in Einklang mit den Grundsätzen der Philosophie und sogar des gesunden Menschenverstandes ... ". Hume (EnqM) S. 125.
229
Hume (Treat) B 3, S. 100.
228
88
Kritiker des Utilitarismus allgemein und des Humeschen Nutzenprinzips speziell erheben
den gewichtigen Einwand, es sei nicht hinreichend geklärt, wie die individuelle Pflicht zur
Steigerung des Allgemeinwohls begründet sei. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern genau Hume
eine solche individuelle Pflicht gegenüber der staatlichen Aufgabe abgrenzt, dafür zu sorgen,
dass einerseits die Bürger ihren jeweils eigenen Nutzen verfolgen können und zusätzlich allgemeiner Nutzen entsteht (etwa über Steuerabgaben zur Finanzierung von Wohlfahrt und Infrastruktur). Gleichwohl wäre eine individuelle Pflicht zu allgemeinen Nutzensteigerung
durchaus mit den Intentionen der Humeschen Staatslehre unter der Voraussetzung vereinbar,
dass dem einzelnen Bürger durch Förderung des Allgemeinwohls gleichzeitig auch individueller Nutzen entsteht. Im Sinne Humes überpositiver Forderung nach Gerechtigkeit darf man
wohl annehmen, der Staat habe eine Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Bürger zu einem fairen
Anteil zum Gesamtnutzen beitragen und zu einem fairen Anteil von diesem Gesamtnutzen
auch profitieren. Allerdings scheinen diese Überlegungen einigermaßen vage und offenbaren
ein Versäumnis utilitaristischen Gedankenguts.
Denn wodurch gewährleistet der Utilitarismus, dass allgemeiner Nutzen auch dem eigenen
Vorteil dient und nicht ganz oder überwiegend ausgewählten privilegierten Bevölkerungsschichten, die durch Herkunft, Abstammung, ihre religiösen oder politischen Überzeugungen
der jeweiligen Regierungsführung besonders nahe stehen? Kein Mensch wird rationalerweise
in das Gemeinwohl einer Gesellschaft investieren, wenn er nicht sicher sein kann, seinen gerechten Anteil daraus zurückzuerhalten, wenn er befürchten muss, dass andere (sogar unter
Berücksichtigung des Nutzenprinzips) früher oder später einmal mehr erhalten, als er selbst.
Bei Hume fehlt eine (rechtlich) fundierte, inhaltlich oder formal ausgekleidete Gerechtigkeitskonzeption, die garantiert, dass jedermann gleichberechtigt an den Früchten des Gemeinwohls
partizipiert. Dies scheint sogar Hume aufzufallen, wenn er die Forderung nach Gerechtigkeitsregeln und ihre Gültigkeit für "alle Zeiten und Orte"230 aufstellt. Leider bleibt es bei dieser
Forderung, die Hume selbst nicht normativ mit Leben erfüllen, konkretisieren kann. Eine Absicherung individueller Interessen gegenüber dem Gemeinwohl könnte wohl nur durch eine
entsprechende Staatsform mit demokratischen Teilhaberechten realisiert werden, die gewährleisten, dass bereits die staatlichen Zielvorstellungen vom Gesamtnutzen den Interessen aller
Bürger entsprechen. Darüber hinaus müssten auch einschlägige Grundrechte den (einklagbaren) Rechtsanspruch jedes Bürgers auf gerechte Teilhabe am Gesamtnutzen festlegen, damit
er nicht auf das bloße Wohlwollen der jeweiligen Staatsführung angewiesen bleibt. Aber sowohl Hume selbst, als auch der ihm folgende (ausgeprägte) Utilitarismus erwähnt (soweit
ersichtlich) lediglich ein Prinzip der Normgeltung, nämlich den Nutzen, aber keine (verbindlichen) Kriterien der Normgenerierung - zu einer gerechtigkeitsfördernden Staatsorganisation
erfahren wir hier recht wenig.
Kaum anzweifelbar scheint, dass eine demokratische Staatsform, Gewaltenteilung, Grundrechte für den einzelnen Bürger von großem Nutzen sind und insofern auch innerhalb Humes
utilitaristischen Argumentationsrahmens liegen. Allerdings kann durchaus bezweifelt werden,
ob diese staatstheoretisch erforderlichen Einrichtungen auch für die Allgemeinheit, für das
Allgemeinwohl, für den Gesamtnutzen in jedem Fall vorteilhaft wären. Deshalb fragt sich
schon, ob Grundrechte, Demokratie und Gewaltenteilung mit Hilfe utilitaristische Theorie
überhaupt begründbar sind? Es reicht nicht aus, mit zeitgenössischen Vertretern des Utilitarismus die Vereinbarkeit von Grundrechten, Demokratie und Gewaltenteilung mit dem Utilitarismus einfach nur zu behaupten, denn das spezifisch systematische philosophische Interesse liegt gerade darin, diese staatstheoretischen und mittlerweile in vielen Ländern (positivierten) staatsrechtlichen Errungenschaften der Neuzeit auch zu begründen. An dieser Problematik offenbart sich wohl eine methodische Schwäche des Utilitarismus (Humescher Prägung),
denn in der staatstheoretischen Betrachtung steht das Allgemeinwohl vor den Rechten und
230
Hume (Treat) B 3, S. 209.
89
Interessen des einzelnen Menschen - im Gesamtnutzen liegt die dominierende staatstheoretische Stoßrichtung. Natürlich wird es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, von der Perspektive des Allgemeinwohls zur Begründung individueller Rechte zu gelangen. Einfacher
wäre es wohl, vom Interesse des einzelnen Menschen an seinem eigenen Nutzen zu einer entsprechenden Staatsform, zur Gewaltenteilung, den Grundrechten zu gelangen. Diese Institutionen würden dem Zweck dienen, seinen Nutzenanspruch abzusichern. Aber eine solche Begründungskette scheint weniger mit einer utilitaristischen, als eher mit einer kontraktualistischen Argumentationsfigur (überzeugend) durchführbar.
Kant geht auf der abstrakten rationalistischen systembildenden Ebene seiner Staatstheorie
den hier geforderten umgekehrten Weg wie Hume und nach ihm folgende Utilitaristen - der
einzelne Mensch steht vor dem Allgemeinwohl, Individualrechte haben Vorrang gegenüber
Staatsinteressen. Allerdings fragt sich, ob Kant auch eine Begründung von Individualrechten
bis hin zu Allgemeinwohlforderungen gelingt? Grundlage der Kantischen Staatstheorie bildet
(der KI des Rechts und damit verbunden) das Rechtsprinzip, welches jede Handlung erlaubt,
die mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen vereinbart werden kann. Nicht der
allgemeine Nutzen, sondern, die individuelle Freiheit steht in Kants Staatstheorie im Vordergrund. Jeder Mensch hat nach Kant von Natur aus ein angeborenes Recht auf größtmögliche
Freiheit, das aus dem Rechtsprinzip abgeleitet wird, aber nach meiner Auffassung auch mit
dem Zustimmungsprinzip korreliert, da jeder Mensch im Rahmen der Kantischen kontraktualistisch angelegten (und deshalb im Vergleich zu seiner übrigen Moraltheorie insgesamt auch
deutlich plausibleren) Rechtsvorstellungen nur ein solches Handeln anderer akzeptieren muss,
das mit dem eigenen Anspruch auf größtmögliche Freiheit harmoniert. Weil dieses überpositive Recht auf Freiheit im Naturzustand fernab jeder öffentlichen Gewalt nicht gesichert werden kann, hat jeder Mensch die Pflicht, mit seinesgleichen einen Staat zu gründen.
Ein solcher Staat darf nach Kants systematischen vernunftbasierten kontrafaktischen Überlegungen nur ein demokratisch organisierter Staat sein, in dem die Mitgliedschaft jedes Bürgers in der gesetzgebenden Körperschaft garantiert, dass keine ungerechten, etwa Minderheiten benachteiligende Normen beschlossen werden. Der enge und starke systematische Begründungszusammenhang bei Kant zwischen dem Demokratieprinzip einerseits und dem
Rechtsprinzip, vor allem aber dem Zustimmungsprinzip andererseits, lässt sich nicht übersehen. Mit dem Zustimmungsprinzip begründet Kant eigentlich das von Hume verzweifelt gesuchte zeitneutrale und ortsunabhängige Gerechtigkeitsprinzip. Zur Sicherung ihrer Freiheit
beschließen die Bürger mit ihrem angeborenen Recht auf größtmögliche Freiheit, mit dem
Rechtsprinzip und dem Zustimmungsprinzip übereinstimmend nur solche Gesetze, die jedermann eben jene größtmögliche Freiheit gewährleisten. Zur Absicherung ihrer Handlungsfreiheit richten die Bürger einen gewaltenteiligen Staat ein und billigen sich gegenseitig verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte zu, an die Exekutive und Jurisdiktion gebunden sind.
Über das essentielle Staatsziel der Freiheitssicherung hinaus bieten die Kantische staatstheoretischen Überlegungen keine Anhaltspunkte zu weiteren Aufgaben öffentlicher Gewalt, insbesondere nicht zu Allgemeinwohlforderungen. Manche Interpreten meinen, dass Kant solchen Allgemeinwohlanmutungen eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, weil diese den
individuellen bürgerlichen Freiheitsspielraum einschränken (könnten), was dem Tenor der
gesamten Kantischen Staatslehre widerspräche.
Diese Einschätzung gilt wohl sogar bezogen auf Kants konkretere empirisch orientierte
staatstheoretische Ebene, wo der Gemeinwohlgedanke ebenfalls nicht thematisiert wird, obwohl die sozialen Verhältnisse im damaligen, von zahllosen ehrgeizigen Kriegszügen (Friedrich des Großen) ausgemergelten Preußen dazu wahrlich hätten Anlass geben können. Versuche zur Integration von Allgemeinwohlforderungen in eine Kantische Staatsrechtskonzeption
sind erst viel später mit Rawls und Sen gemacht worden. Sie begründen diese Allgemeinwohlforderungen über eine Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien oder den Wert von Freiheits90
rechten. Allerdings sind diese Vorstellungen mit vielen Zusatzannahmen verbunden und wirken mit dem utilitaristischen Nutzenprinzip verglichen relativ unübersichtlich, kompliziert.
Viel naheliegender und einfacher erscheint mir demgegenüber, das Humesche Nutzenprinzip
mit dem Kantischen Zustimmungsprinzip zu verbinden. Über diese Allianz von Teleologie
und Deontologie, von Allgemeinwohl und Individualrechten wird im Rahmen meines kontraktualistischen Ansatzes im übernächsten Kapitel noch zu verhandeln sein.
Der Bedeutung des Verhältnisses von Allgemeinwohl und Individualinteressen angemessen lohnt es, noch einen kurzen Blick auf die allerdings nicht sonderlich ausgeprägten politischen Theorien Humes und Kants zu werfen. Vorab sei gesagt, dass beide bei der Realisierung ihrer staatstheoretischen Vorstellungen doch sehr auf die Obrigkeit und nicht auf den
(mündigen) Bürger setzen. Das mag bei Kant mehr überraschen, als er doch durch den KI des
Rechts, das Rechtsprinzip, den Autonomiegedanken, das Demokratieprinzip, sein Ideal größtmöglicher Handlungsfreiheit jedenfalls auf der vernunftbasierten moraltheoretischen Ebene
starke Anforderungen an das moralische Subjekt stellt und ihm zu deren Verwirklichung eigentlich auch umfangreiche politische Rechte gegenüber dem empirischen Staat einräumen
müsste. Die überragende Bedeutung des (empirischen) Staates in Humes politscher Philosophie überrascht hingegen weniger, da unter dem Primat des Nutzenprinzips natürlich allein
der Staat das Allgemeinwohl fördern, den größten Nutzen für alle Bürger sichern kann.
Obwohl die Beachtung von (an erster Stelle eigentumssichernden) Rechtsnormen eigentlich im Interesse jedes Bürgers liegt, kann es nach Hume zu Konflikten innerhalb einer Gesellschaft kommen. Hume erklärt diese Störungen mit einer natürlichen Zeitpräferenz des
Menschen, die darauf beruht, dass Menschen ihren naheliegenden, kurzfristigen sicheren Vorteil einem unsichereren langfristigen Vorteil vorziehen.231 Die entscheidende politische Funktion des Staates und damit der Kern des obrigkeitsstaatlichen Denkens besteht bei Hume darin, diese Zeitpräferenz wenn nicht zu überwinden, so doch wenigstens abzumildern, indem
sie die Bevölkerung davon überzeugt, dass die Beachtung von Rechtsnormen in ihrem eigenen Interesse liegt, indem sie die Bevölkerung durch Mitarbeit an öffentlicher Infrastruktur
(Brücken, Kanäle, Häfen Armee232) dafür gewinnt, den eigenen Nutzen zum Wohle der Allgemeinheit zu suchen.233 Dass Hume von der Zeitpräferenz des Menschen ausgerechnet die
231
"Was im Raume und in der Zeit uns unmittelbar nahe liegt, weckt eine solche lebhaftere Vorstellung in uns, hat einen entsprechenden Einfluss auf den Willen und die Affekte und wirkt gemeinhin
mit mehr Kraft als ein Gegenstand, der entfernter und matter beleuchtet ist. Mögen wir auch voll überzeugt sein, dass der letztere Gegenstand wertvoller ist als der erstere, wir sind doch nicht imstande,
unsere Handlungen nach diesem Urteil einzurichten, sondern geben dem Drängen unserer Affekte
nach, die immer für das eintreten, was nahe ist und unmittelbar vor uns liegt. Dies ist die Ursache dafür, dass Menschen so oft im Widerspruch zu ihrem erkannten Interesse handeln, und besonders, dass
sie einen kleinen gegenwärtigen Vorteil der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Gesellschaft, die so
sehr von der Einhaltung der Rechtsnormen abhängt, vorziehen." Hume (Treat) B 3, S. 110f. "Hätte
jeder Mensch genügend Klugheit, jederzeit das starke Interesse wahrzunehmen, das ihn zur Beachtung
von Gerechtigkeit und Fairness verpflichtet, und genügend Willensstärke, beständig in der Verfolgung
eines allgemeinen und fernliegenden Interesses zu beharren, anstatt den Verlockungen gegenwärtigen
Vergnügens und Vorteils nachzugeben; in diesem Fall hätte es nie so etwas wie eine Regierung oder
staatliche Gesellschaft gegeben, sondern jeder lebte, seiner natürlichen Freiheit folgend, in vollkommenem Frieden und vollkommener Harmonie mit allen anderen". Hume (EnqM) S. 126.
232
"Die Obrigkeiten haben ein unmittelbares Interesse an dem Vorteil der größeren Menge ihrer Untertanen". "So werden Brücken gebaut, Häfen eröffnet, Wälle errichtet, Kanäle gezogen, Flotten ausgerüstet und Armeen geschult; überall durch die Fürsorge der Regierung, die zwar aus Menschen mit
allen menschlichen Schwächen zusammengesetzt ist, aber immerhin vermöge einer der besten und
feinsten menschlichen Erfindungen, die man ausdenken kann, ein Ganzes darstellt, das bis zu einem
gewissen Grad von allen diesen Schwächen frei ist.“ Hume (Treat) B 3, S. 115.
233
"Die Regierung erstreckt ihren wohltätigen Einfluss aber noch weiter; sie schützt die Menschen
nicht nur in den Vereinbarungen, die sie zu ihrem gegenseitigen Besten eingehen, sondern sie zwingt
91
Obrigkeit (weitgehend) ausnimmt234, obwohl er beiläufig einräumt, dass "die Institution der
Regierung leicht korrumpiert und ihre Herrscher zu Tyrannen und Feinden des öffentlichen
Wohls werden können"235 erstaunt schon ein wenig. Humes inkonsequente Vorgehensweise
erinnert an Kants völlig unbegründet wirkenden Perspektivenwechsel von der Ebene des Vernunftrechts zur empirischen Rechtsebene oder an den staatstheoretischen salto mortale von
Hobbes bei seinem Erklärungsversuch für den Wechsel des Menschen vom natürlichen in den
bürgerlichen Zustand unter Preisgabe aller individuellen Rechte. An eine wirksame Begrenzung staatlicher Macht wie bei Kant auf der systematischen rationalistischen Ebene etwa
durch Demokratie oder Gewaltenteilung denkt auch Hume offenbar (noch) nicht236, selbst
wenn sich die staatlichen Normen im Rahmen des Nutzenprinzips und den daraus folgenden
Fundamentalgesetzen, dem Gerechtigkeitsprinzip sowie dem Gebot der Rechtssicherheit "beständig auf die politische Verfassung, die Sitten, das Klima, die Religion, den Handel oder die
spezielle Situation jeder Gesellschaft beziehen"237 sollen. Diese wohlbegründbare Forderung
inhäriert jedoch (ähnlich wie die politischen Forderungen Kants auf empirischer staatspolitischer Ebene) keinen (rechtsverbindlich erzwingbaren) Anspruch des Bürgers auf Erfüllung
staatlicher Pflichten.
Die entscheidende Ergänzung Humes gegenüber Kant hinsichtlich der staatlichen Funktion
betrifft die Förderung des Allgemeinwohls, die sozialstaatliche Funktion. In der Terminologie
Buchanans ausgedrückt, kommt zum "protective state" bei Hume auch noch der "productive
state" hinzu. Humes Ansatz zeichnet sich durch Versuche aus, unter Bezugnahme auf den
Gerechtigkeitsgrundsatz einige (wiederum weitgehend unsystematische) Vorstellungen zu
sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln. Hume bezieht Gerechtigkeitsregeln nicht auf die allgemeine Handlungsfreiheit (wie viel stärker bei Kant der Fall), sondern vor allem auf Eigentumsrechte, die allerdings auch bei Kant eine hervorgehobene Rolle spielen. Die Verpflichtung zur Beachtung insbesondere von Eigentumsvorschriften ergibt sich für Hume aus deren
überragenden Nutzen für die Allgemeinheit;238 gesellschaftliche Kooperation erhält erst durch
sie häufig, solche Vereinbarungen zu treffen und nötigt sie, ihren eigenen Vorteil in der Mitarbeit an
allgemeinen Zwecken oder Zielen zu suchen. Keine Eigenschaft der menschlichen Natur erzeugt verhängnisvollere Irrungen, als diejenige, zufolge deren wir das Gegenwärtige dem Entfernteren und
Späteren vorziehen und die Gegenstände mehr um ihrer Beziehung zu uns, als um ihres wahren Wertes willen wünschen.“ Hume (Treat) B 3, S. 114.
234
"Und da es unmöglich ist etwas Wesentliches in unserer Natur zu ändern oder abzustellen, so können wir nichts anderes tun, als unsere Lage und Umstände so zu verändern, dass die Einhaltung der
Rechtsnormen unser nächstes und ihre Übertretung unser entferntestes Interesse wird. Dies ist aber
unausführbar in Bezug auf die ganze Menschheit; es kann nur wenigen gegenüber geschehen. Nur
wenige können wir in solcher Weise unmittelbar für die Ausübung der Rechtsordnung interessieren.
Und diese wenigen nun, das sind die Personen, die wir bürgerliche Obrigkeit, Könige und Minister,
Leitende und Regierende nennen. Sie sind dem größten Teil des Staates gegenüber neutrale Persönlichkeiten und haben daher kein oder nur ein sehr entferntes Interesse an Akten der Rechtswidrigkeit;
sie sind mit ihrem augenblicklichen Zustand und mit ihrer Stellung in der Gesellschaft zufrieden und
haben daher ein unmittelbares Interesse an allen Akten, die den Rechtsnormen gemäß sind, da diese
zur Erhaltung der Gesellschaft so notwendig sind". Hume (Treat) B 3, S. 113.
235
Hume (Treat) B 3, S. 133.
236
"Dieselben Menschen, die die Rechtsnormen in Taten umsetzen, entscheiden auch die Streitigkeiten, welche über dieselben entstehen, und da sie dem größten Teil der Gesellschaft gegenüber neutral
sind, so werden sie gerechter entscheiden, als es jeder in seiner eigenen Angelegenheit tun würde".
Hume (Treat) B 3, S. 114.
237
Hume (EnqM) S. 117.
238
"Die übliche Situation der Menschen hält die Mitte zwischen diesen Extremen. Wir sind von Natur
aus für uns und unsere Freunde voreingenommen, sind aber fähig, den Vorteil zu erkennen, der sich
aus einem unparteiischen Verhalten ergibt. Wenige Genüsse empfangen wir aus der offenen und frei-
92
die staatlich garantierte Institution des Eigentums die erforderliche Sicherheit, den notwendigen Vertrauensschutz. Die überragende Bedeutung des Eigentums in Humes staatstheoretischen Vorstellungen wird darin deutlich, dass er sogar von der "heiligste[n] Achtung vor dem
Eigentum"239 spricht. Erst vor dem Hintergrund einer Eigentumsordnung wird der Gerechtigkeitsgrundsatz bei Hume zum Thema. Daraus erhellt, dass Gerechtigkeit bei Hume keine (feste) deontologische Wertvorstellung an sich bildet, sondern nur eine aus dem Nutzenprinzip
ableitbare, derivate Bedeutung hat.240 Allerdings übersieht Hume in seiner Eigentumslehre,
dass Menschen ohne Eigentum (auch langfristig) nicht von Eigentumsregeln profitieren.241
Mit der Forderung nach Gerechtigkeit vor allem bei der freien Verfügung über Eigentum
meint Hume jedoch nicht eine gleiche staatlicherseits zu gewährende Eigentumsverteilung,
denn auch die Eigentumsverteilung steht unter dem Nutzenvorbehalt für die Allgemeinheit.242
Gerechtigkeit schließt nur das Recht auf variablen individuellen Besitz ein, da es eine vollkommene Gleichheit unter allen Menschen nach Hume nicht geben kann. Selbst wenn alle
Güter gleich verteilt wären, blieben einige Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten anderen
überlegen. Hume zufolge fördert deshalb eine Gesellschaft, in der alle gleich sind, nicht deren
optimalen Nutzen, denn befähigteren Menschen fehle ein wichtiger Anreiz, ihre Fähigkeiten
zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen.243 In dieser Einschätzung liegt allerdings keine
normative moralphilosophische Perspektive, sondern eher eine ganz pragmatische sozialwissenschaftliche oder nationalökonomische, denn natürlich lassen sich Kriterien für soziale Gerechtigkeit nicht ohne weiteres zeit- und ortsunabhängig formulieren. Dennoch besteht für
Hume kein Zweifel, dass eine angemessen gleichmäßige Eigentumsverteilung der Gesellschaft insgesamt den größtem Nutzen bringt: "Ebenso muss zugestanden werden, dass immer
dort, wo von dieser Gleichheit abgegangen wird, wir den Armen mehr an Bedürfnisbefriedigung rauben, als wir den Reichen hinzufügen, und dass der törichte Genuss einer frivolen
Eitelkeit eines einzigen Individuums häufig mehr kostet als das Brot vieler Familien, ja gan-
giebigen Hand der Natur; aber durch Geschicklichkeit, Mühe und Fleiß können wir sie in großer Anzahl gewinnen. Dadurch werden aber die Eigentumsideen unentbehrlich; von hier leitet die Gerechtigkeit ihre Nützlichkeit für die Öffentlichkeit ab; und darauf allein beruht ihr Wert und ihre moralisch
verpflichtende Kraft". Hume (EnqM) S. 107.
239
Hume (EnqM) S. 121.
240
"Das Wüten und die Gewalttätigkeit des Bürgerkrieges; was ist das anderes als eine Aufhebung der
Gerechtigkeit zwischen den kriegführenden Parteien, die erkennen, dass diese Tugend für sie nicht
länger von irgendeinem Nutzen oder Vorteil ist? Hume (EnqM) S. 106.
241
Vgl. Hepfer (1997) S. 99.
242
"Wir dürfen daher schließen, dass wir, um Gesetze zur Eigentumsregelung zu erstellen, mit der
Natur und der Lage des Menschen vertraut sein müssen; und scheinbar Bestechendes, das jedoch
falsch sein könnte, zurückweisen und nach denjenigen Regeln suchen müssen, die aufs Ganze gesehen
die nützlichsten und vorteilhaftesten sind. Gewöhnlicher Menschenverstand und geringe Erfahrung
sind für diesen Zweck ausreichend; vorausgesetzt, man lässt sich nicht von allzu großer Selbstsucht
oder von allzu überspanntem Enthusiasmus hinreißen". Hume (EnqM) S. 114f.
243
"Doch die Historiker und sogar der gesunde Menschenverstand können uns belehren, dass diese
Ideen von einer vollkommenen Gleichheit, so bestechend sie auch zu sein scheinen tatsächlich undurchführbar sind, und dass sie, selbst wenn sie es nicht wären, doch äußerst schädlich für die
menschliche Gesellschaft sein würden. Wie gleichmäßig Eigentum auch verteilt sein mag, der unterschiedliche Grad an Geschicklichkeit, Sorge und Fleiß wird diese Gleichheit sofort durchbrechen.
Hindert man aber die Entwicklung dieser Tugenden, drückt man die Gesellschaft auf das Niveau äußerster Armut herab; und anstatt Not und Bettelei bei einigen wenigen zu verhindern, macht man sie
für die ganze Gesellschaft unabwendbar. Auch wäre die genaueste Überwachung notwendig, um jede
Ungleichheit bei ihrem ersten Auftreten zu bemerken; und die strengste Gerichtsbarkeit, um sie zu
bestrafen und zu beseitigen. Aber abgesehen davon, dass so große Machtkonzentration bald in Tyrannei ausarten und mit großer Parteilichkeit ausgeübt werden müsste; wer könnte sie in einer solchen
Situation, wie sie hier angenommen wird, überhaupt innehaben?" Hume (EnqM) S. 114.
93
zer Landstriche."244 Die ungebrochene Aktualität dieser Überlegung wird allerdings deutlich
getrübt, weil nach Humeschen Vorstellungen wohl sogar ein solcher Staat moralisch akzeptabel wäre, in dem alle Menschen im Wohlstand leben, aber keinerlei Grundrechte oder politische Rechte besitzen. Bei Hume speziell und im Utilitarismus allgemein mangelt es generell
an der Begründung von Grundrechten und Demokratie, um die Nutzenoptimierung, die Verteilung des allgemein erwirtschafteten Nutzens (individuell einklagbar) abzusichern.
Kants äußerst spärliche Überlegungen zum Allgemeinwohl und das Fehlen jeglichen sozialreformerischen Ansatzes mögen (wie erwähnt) darauf zurückzuführen sein, dass Kant einerseits seinen erklärtermaßen vernunftbasierten moraltheoretischen Ansatz nicht durch starke,
seiner Grundintention widersprechende empirische Bezüge (ohne die Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit nun einmal fruchtlos und blutleer wirken) in Frage stellen wollte und andererseits in seine Kritik an sozialen Missständen den von ihm in seinen Grundzügen offenbar
geschätzten Preußischen Staat wohl hätte an vorderster Stelle an den Pranger stellen müssen.
Im Gegensatz zu den Humeschen Vorstellungen wäre es im Kantischen Sinne nicht ungerecht, wenn 90 Prozent der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums lebt und 10 Prozent im Überfluss - Gerechtigkeit bezieht sich nach Kant auf Freiheitsschutz durch den Staat
und nicht auf soziale Gewährleistungsrechte der Freiheitsausübung. Bei Kant wäre auch ein
Nachtwächterstaat moralisch möglich, der lediglich die Freiheit seiner Bürger im Inneren und
nach Außen schützt, aber keine Sozialpolitik, keine Bildungspolitik, keine Infrastrukturmaßnahmen (Straßen, Brücken, Strom, Wasser) betreibt, dem also die Bedürfnisse seiner Bürger
und soziale Ungerechtigkeit gleichgültig sind, der vom Ehrgeiz seines Staatsoberhaupts getrieben stattdessen lieber (völlig überflüssige) Eroberungskriege zu Lasten seiner Untertanen
führt. Schmerzlich vermisst werden bei Kant deshalb allgemeine Nutzenüberlegungen, die
garantieren, dass jeder Bürger seine Freiheitsrechte auch faktisch optimal realisieren kann.
1.2.3 Regelfall und Ausnahmefall
Ein weiterer Maßstab für die Qualität teleologischer und deontologischer Moraltheorie mit
Blick auf eine Globalmoral könnte nicht nur in ihrer Einfachheit und großen Reichweite liegen, plausible Lösungen oder zumindest Lösungsverfahren für möglichst viele Regelfälle anzubieten, sondern auch für möglichst zahlreiche Ausnahmefälle. Bezüglich Humes Nutzenprinzip konnte bislang weder eine unkompliziertere Anwendung, noch eine größere Reichweite als für das Kantische Rechtsprinzip oder Zustimmungsprinzip nachgewiesen werden.
Gleichwohl lässt seine Konkretisierung durch Hume wegen mangelnder Grundrechte und
politischer Mitwirkungsrechte gravierende staatstheoretische Defizite erkennen. Nunmehr
fragt sich, ob es in Humes oder Kants Staatstheorie mehr und schwerwiegendere Ausnahmefälle gibt, was im grundlegenden Problem mündet, ob und inwieweit der (empirische) Staat
vom normativen Rahmen des Nutzenprinzips (NP), Freiheitsprinzips (FP) oder Zustimmungsprinzips (ZP) abweichen darf? Im Regelfall konkretisiert und positiviert der Staat (idealerweise) bei Kant das Freiheitsprinzip und Zustimmungsprinzip, bei Hume das Nutzenprinzip in Übereinstimmung mit allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen. Dabei kann erst einmal
unberücksichtigt bleiben, dass Gerechtigkeit für Kant im Kontext von Freiheitsprinzip und
Zustimmungsprinzip etwas anderes bedeutet als für Hume in Verbindung mit dem Nutzenprinzip und seinen Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit.
Die pauschale Bezeichnung Humescher utilitaristischer Moralvorstellungen als teleologisch scheint zumindest auf der Normenebene insofern irreführend, als sich optimale Handlungskonsequenzen für alle Menschen wegen der sonst entstehenden Rechtsunsicherheit nur
über ein entsprechendes Normengefüge verwirklichen lassen. Keineswegs leugnet Hume das
Erfordernis staatlicher Rechtsnormen, denn sie ergeben sich aus sachgerechter Anwendung
244
Hume (EnqM) S. 112.
94
des Nutzenprinzips und lassen sich nach utilitaristischer Auffassung wohl nur deshalb nicht
im Rahmen einer Moraltheorie allgemeingültig formulieren, weil sie wegen unterschiedlicher
Präferenzen von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich ausfallen mögen. Hume sagt
selbst, dass sich die positiven Gesetze eines Staates im Rahmen der aus dem Nutzenprinzip
begründbaren, temporär und territorial unabhängigen Rechtsprinzipien "beständig auf die politische Verfassung, die Sitten, das Klima, die Religion, den Handel oder die spezielle Situation jeder Gesellschaft beziehen"245 sollen. Es kann deshalb nicht ernsthaft bestritten werden,
dass jedes (empirische) Gemeinwesen allgemeine Verhaltensvorschriften benötigt.
Aus der Anwendung des Nutzenprinzips im empirischen Staat können sich allerdings zwei
grundlegende Probleme ergeben, nämlich ob der Staat zugunsten des Nutzenprinzips von seinen eigenen (positivierten) Normen abweichen darf und ob allgemeines staatliches und individuelles bürgerliches Nutzendenken in Konkurrenz treten dürfen? Oberflächlich gesehen
müsste eine (streng) utilitaristische Theorie auf den ersten Einwand antworten, der Staat dürfe
jederzeit innerstaatliche Normen oder auch internationale Verträge mit anderen Ländern brechen, wenn es dem Nutzen der eigenen Gesellschaft dient. Allerdings kann in Abrede gestellt
werden, ob ein Gemeinwesen seinen Bürgern (mittel- und langfristig) wirklich nutzt, wenn es
eigene Normen missachtet oder völkerrechtliche Verträge bricht. Darüber hinaus hätte ein
solcher Vertragsbruch nicht nur negative Auswirkungen auf die Kooperation mit anderen
Ländern, sondern auch auf den Status der Vorbildfunktion für die eigenen Bürger. In das Kalkül dieser Nutzenrechnung wäre also auch der für einen solchen Staat entstehende beträchtliche internationale und innerstaatliche Vertrauensschwund einzurechnen. Deshalb dürfte
Rechtssicherheit zu den unumstößlichen Säulen auch einer utilitaristischen Staatstheorie zählen und nicht ohne Grund gehört Rechtssicherheit bei Hume zur temporär und territorial unabhängigen normativen Fundamentalebene direkt unterhalb der durch das Nutzenprinzip vorgegebenen Prinzipienebene, aber noch oberhalb der einfachen Normenebene. Auch nach teleologischer (utilitaristischer) Theorie kann auf eine normative (deontologische) Ebene im Staat
wegen der sonst mangelnden Rechtssicherheit nicht verzichtet werden.
Ein weiterer häufig gegen den Utilitarismus vorgebrachter Einwand lautet, wenn die Verurteilung eines Unschuldigen, der vielleicht einer ungeliebten Minderheit angehört, dem Gemeinwesen mehr Nutzen als Schaden verspricht, weil sie etwa die Vorurteile der betreffenden
Gesellschaft gegenüber dieser Minderheit bestätige, müsse der Staat für die Verurteilung des
Unschuldigen sorgen. Und andererseits müsse der Staat für den Freispruch etwa eines beliebten und bekannten, aber schuldigen Filmschauspielers sorgen, wenn der Schaden durch seine
Verurteilung höher sei, als der Nutzen. Beide Überlegungen widersprechen unseren Gerechtigkeitsvorstellungen zutiefst und machten jegliches Handeln im Grunde unkalkulierbar, weil
seine Rechtsfolgen nachträglich durch das Nutzenkalkül revidiert werden können. Nun sind
Gerechtigkeit und Vertrauensschutz (wie auch Hume immer wieder betont) für eine Gesellschaft von so elementar hohem Nutzen, dass der Staat beide Grundregeln im Regelfall nicht
brechen darf. Aber sogar im Ausnahmefall wird er von dieser Linie nicht abweichen können,
ohne die fundamentalen Kooperationsregeln einer Gesellschaft selbst zu beschädigen und
deshalb einen derartigen Rechts- und Vertrauensbruch nur im äußersten Notfall mit einer sehr
guten Begründung hinsichtlich des hierdurch erzielbaren überragenden Nutzens gegenüber
den eigenen Bürgern rechtfertigen können.
Wesentlich komplizierter als in den vorhergehend genannten Fällen, wo allein der Staat
den Maßstab des Nutzens festlegt, wird die Problemlage im Utilitarismus, wenn man unterstellt, jeder einzelne Bürger innerhalb des Staates hätte zusätzlich noch die Berechtigung, sein
eigenes Nutzenkalkül auch gegenüber staatlichem Handeln und seinen Normen durchzusetzen. Dann könnte der Ausnahmefall eintreten, dass ein bestimmtes individuelles Verhalten als
rechtmäßig gilt, weil es den größten gesellschaftlichen Gesamtnutzen bewirkt, obwohl es (po245
Hume (EnqM) S. 117.
95
sitiven) staatlichen Normen widerspricht. Diese Normenkonkurrenz wäre nur vermeidbar,
wenn alle positiven staatlichen Normen unter einen (individuellen) Nutzenvorbehalt gestellt
würden. Ein solches (reines) handlungsutilitaristisches Staatsmodell scheint faktisch in keinster Weise (erfolgversprechend) realisierbar, weil unbesehen der bereits genannten rechtstheoretischen Bedenken auf der Grundsatzebene (Rechtssicherheit, Gerechtigkeit) unweigerlich
chaotische gesellschaftliche Verhältnisse entstehen würden, wenn niemand das (tatsächliche
oder vermeintlich rechtskonforme) Handeln anderer antizipieren könnte und alle Handlungen
unter dem Generalvorbehalt einer allgemein verbindlichen Nutzenprüfung durch Gerichte
oder staatliche Verwaltung stünden. Das gesamte (öffentliche) Leben käme zum Stillstand
und insofern scheint nur ein solches utilitaristisches Staatsmodell realistisch, in dem der Staat
im Sinne des Regelutilitarismus Gesetze erlässt, innerhalb dessen normativen Rahmens alle
Menschen ihr eigenes Nutzenkalkül anwenden dürfen. Einen (aussichtsreichen) individuellen
Handlungsutilitarismus kann es mithin nur in den Grenzen eines allgemeinen staatlichen Regelutilitarismus geben. Die Pflicht zur Nutzenmaximierung richtet sich in erster Linie an den
Staat (etwa keine Verschwendung von Steuergeldern) und erst in zweiter Linie an alle Bürger
als Pflicht zur (allgemeinen) Nutzenorientierung.
An den Staat sind deutlich höhere Anforderungen an die Beachtung des Nutzenprinzips zu
stellen, als an den einzelnen Bürger und zwar nicht allein deshalb, weil der Staat das Normengefüge bestimmt und absichert, innerhalb dessen Bürger überhaupt erst selbst im Sinne des
Nutzenprinzips aktiv werden dürfen, sondern weil er als Vertreter der Interessen aller Bürger
stärker in diesem Sinne moralisch verpflichtet gilt und einen Verwaltungsapparat besitzt, um
selbst komplizierte, detaillierte mittel- und langfristige Folgenabschätzungen machen zu können. Die entscheidende Stoßrichtung der utilitaristischen Gesellschaftstheorie hinsichtlich der
Nutzenmaximierung liegt demnach beim Staat (sozialreformerisch). Der Utilitarismus analysiert, was der einzelne Mensch stellvertretend für alle Menschen typischerweise will, um den
Staat darauf zu verpflichten, eben diese Interessen optimal zu realisieren. Die am Utilitarismus oft kritisierte Gefahr einer intellektuellen und motivationalen Überforderung der handelnden Privatpersonen durch den stets individuell zu realisierenden maximalen Nutzen erscheint vor dem hier aufgezeichneten Hintergrund weitgehend gegenstandslos.
Für alle Bürger besteht ein Motiv zu gemeinwohlorientiertem Verhalten im Anreiz, davon
mehr zu profitieren, als nur im Eigeninteresse zu handeln. Sofern der Staat die Nutzenorientierung am Gemeinwohl durch alle Bürger sichern will, muss er dafür sorgen, dass alle Bürger auch von dem so erbrachten Nutzen angemessen partizipieren, indem er für (soziale) Gerechtigkeit sorgt. Interessanterweise liegt in Rechtssicherheit nicht nur die zentrale Forderung
der Humeschen Staatstheorie, sondern auch der Kantischen, wird jedoch unterschiedlich begründet: Während bei Hume Rechtssicherheit wegen des daraus erwachsenden allgemeinen
Nutzens alternativlos scheint, dient Rechtssicherheit bei Kant dem Schutz der individuellen
Freiheitssphäre, bildet ein wichtiges Argument für die Überwindung des Naturzustands und
Gründung eines bürgerlichen Gemeinwesens - wobei man auch im Falle Kants das Nutzenargument betonen dürfte, denn was nutzen angeborene Rechte (im natürlichen Zustand), wenn
sie faktisch gegenüber anderen Menschen nicht realisierbar sind? Je nachdem, von welchem
Standpunkt man argumentiert, kann die Forderung nach Rechtssicherheit sowohl teleologischen, als auch deontologischen Charakter haben. Aus Sicht der Handlungsebene kommt
Rechtssicherheit (wie alle Normen) eine teleologische Funktion zu, der verschiedene Einzelvorschriften (deontologisch) untergeordnet sind. Aus Sicht der Prinzipienebene in Gestalt des
Nutzenprinzips erhält Rechtssicherheit als Funktion des allgemeinen Nutzens (nur) eine untergeordnete deontologische Funktion. Die deontologische oder teleologische Bedeutung einer
Norm ergibt sich somit aus ihrer Stellung in der Hierarchie unterschiedlicher Abstraktionsebenen mit Bezug auf ihr übergeordnete oder untergeordnete Normen.
96
Neben den genannten Regelfällen scheint jetzt noch eine Untersuchung der Leistungsfähigkeit deontologischer und teleologischer Moraltheorie in Ausnahmefällen am Beispiel von
Humes und Kants Staatslehren lohnenswert. Einen Ausnahmefall würde ich grob entweder als
Normenkollision oder als staatliches Unrecht klassifizieren. Wie kann es zu einer Normenkollision kommen? Das Nutzenprinzip bei Hume und das Freiheitsprinzip bei Kant sind beide
teleologisch angelegt - der Staat hat die zentrale Aufgabe, einerseits das Nutzenoptimum und
andererseits das Freiheitsmaximum für seine Bürger zu realisieren. Dies erfordert nicht nur
eine grundlegende Hierarchisierung von Nutzenvorstellungen, sondern auch von Freiheitsvorstellungen für ein Gemeinwesen. Das Problem eines Normenkonflikts kann hier weniger
durch einen Zielkonflikt auf der (abstrakten) Prinzipienebene ausgelöst werden als vielmehr
durch einen Zielkonflikt auf der (deutlich konkreteren) Normenebene. Gemeinhin wird als
großer Vorteil des Utilitarismus angenommen, dass es (im utilitaristischen Staat) gar nicht zu
Normenkollisionen (im Gegensatz zum deontologisch orientierten Kantischen Staat) kommen
kann. Diese oberflächliche Betrachtung scheint mir falsch, denn gegen Normenkonflikte immun wirkt auch nicht die Normenebene in Humes utilitaristischen Staatsmodell, weil das Nutzenprinzip im empirischen Staat in jedem Fall hinreichend (positiv-rechtlich) konkretisiert
werden muss, um einen verlässlichen Handlungsrahmen abgeben und damit auch Rechtssicherheit wie Vertrauensschutz gewährleisten zu können.
Aus aktuellen politischen Diskussionen wissen wir, dass etwa Belange des Umweltschutzes und Interessen wirtschaftlichen Wachstums oder Freiheitsansprüche des Bürgers mit
Sicherheitsinteressen des Staates kollidieren können. Diese Normierungsprobleme bestehen
natürlich besonders für deontologische Staatstheorie unter dem Vorzeichen des Kantischen
Gebots zum Freiheitsmaximum. Anders als für deontologische Moraltheorie kommt aber im
Utilitarismus noch erschwerend hinzu, dass eine Hierarchisierung von Nutzenvorstellungen,
eine Hierarchisierung der Werte, die eine Nutzenhierarchie ermöglichen, nicht immer nach
entsprechender Erfahrung und nicht immer aufgrund gesicherter Erkenntnislage festgelegt
werden können, sondern oftmals bereits vorher normiert werden müssen, weil es sonst keine
Rechtssicherheit geben kann. Dadurch aber unterliegt der Utilitarismus grundsätzlich der Gefahr auch nachträglicher Normenkollisionen, wenn sich nämlich herausstellen sollte, dass die
eingeführten Normen nicht den gewünschten Nutzen erbracht, sondern unter Umständen sogar geschadet haben. Das Problem von Normenkollisionen kann es also durchaus auch im
Utilitarismus geben und entsteht nicht erst dadurch (wie seine Kritiker meinen), dass wichtige
staatstheoretische Grundsätze, die mit dem Nutzenprinzip kollidieren könnten (zum Beispiel
Gerechtigkeitsforderungen Freiheitsgewährleistungen oder Demokratie) aus dem Bereich der
Moral mehr oder weniger eliminiert würden.
Die entscheidende Bewährungsprobe für Humes und Kants Staatstheorien ergibt sich nun
vor dem systematischen Hintergrund, inwiefern Normenkollisionen eher mit teleologischer
oder mit deontologischer Theorie vermeidbar oder überwindbar sind. Grundsätzlich brauchen
eine deontologische und eine teleologische Staatstheorie sowohl (konkrete, positivierte) Normen, Regeln, als auch (abstrakte, normenübergreifende) Ziele wegen der einerseits erforderlichen Rechtssicherheit und andererseits der nicht zu leistenden lückenlosen Normierbarkeit
erwünschter oder unerwünschter Handlungen. Aufgrund der (nahezu) unbegrenzten Vielzahl
an Handlungsoptionen, müsste im Utilitarismus auch die Anzahl moralischer Regeln (nahezu)
unbegrenzt sein, die den optimalen Gesamtnutzen (jeder denkbar möglichen Güterabwägung)
bestimmen und bei Kant die Anzahl moralischer Vorrangregeln für Normenkollisionen. Weil
eine solche lückenlose Normierung undurchführbar ist, würde die darunter liegende (lückenhafte) Normenebene ohne richtung- und zielgebende Prinzipienebene letztendlich unvollständig bleiben. Insofern erscheint es wichtig, wenn nicht sogar unverzichtbar, dass im Falle entstehender oder entstandener Normenkollisionen auf die Prinzipienebene als allgemein verbindlichen Entscheidungsmaßstab zurückgegriffen werden kann.
97
Ein nicht unterschätzbarer Vorteil Kantischer Moraltheorie besteht darin, dass sie mit dem
Zustimmungsprinzip ein von inhaltlicher Determination befreites Verfahrensprinzip als gerechtigkeitssicherndes Moralkriterium begründet. Unabhängig davon, ob man nun eher dem
Nutzenprinzip oder dem Freiheitsprinzip zugeneigt sein mag, lässt sich dieses Zustimmungsprinzip auf unterschiedlichen moralischen Ebenen, auf einer (abstrakten) staatstheoretischen
Ebene als Einstimmigkeitsprinzip vernünftiger Subjekte, auf einer (konkreten) politischen
Ebene als Mehrheitsprinzip mündiger Bürger (bei Wahlen oder Abstimmungen) oder als Konsensprinzip öffentlicher Meinungsbildung in Anschlag bringen. In diesem Sinne kann das
Zustimmungsprinzip bei Normenkollisionen dahingehend angewandt werden, solche Hierarchisierungen vorzunehmen, die sich (theoretisch) jedermann rationalerweise wünschen kann,
die sich zumindest (faktisch) eine Mehrheit wünscht oder die von einer breiten Öffentlichkeit
getragen werden. Die Geltung und Praktikabilität des Zustimmungsprinzips zu bejahen, bedeutet jedoch keineswegs, auch die von Kant selbst mit seiner Hilfe (oder der Hilfe des KI)
vorgenommenen Konkretisierungen zu befürworten.
Als gutes Beispiel für eine Normenkollision im Kantischen Moralsystem eignet sich das
(absolute) Lügenverbot, weil es wie kaum ein anderes Lehrstück seiner Moraltheorie demonstriert, wie sehr der Sinn von Moral durch eindimensionalen Rationalismus beschädigt werden
kann. Im absoluten Lügenverbot offenbart sich eine, wenn nicht sogar die große Schwäche
Kants deontologischer Theorie, nämlich sein fast manisches Bestreben, nicht nur (abstrakte)
moralische Prinzipien, sondern sogar (konkrete) moralische Normen ohne Empiriebezug aus
(reiner) Vernunft ableiten zu wollen. Ich beschränke mich hier auf den (auch für Kant) wichtigeren rechtlichen Aspekt, und behandle nicht den ethischen. Kant argumentiert, dass Wahrhaftigkeit eine Pflicht sei, "die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muss, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt,
schwankend und unnütz gemacht wird." ... "Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes,
durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft
(ehrlich) zu sein."246 Zunächst überrascht, dass beim absoluten Lügenverbot mit den Konsequenzen, hier sogar ganz im Humeschen Sinne mit dem Nutzen einer Handlung argumentiert
wird, obwohl nach Kantischer Lesart eigentlich das Motiv der Handlung ausschlaggebend
sein soll. Im Fall der Lüge aus Höflichkeit oder zur Rettung des Lebens eines Unschuldigen
scheinen beide Motive ehrenhaft.
Weiterhin fällt auf, dass Kants Dammbruch-Argument empirisch betrachtet schlichtweg
falsch wirkt, denn eine Lüge aus Höflichkeit wird seit Jahrtausenden von Menschen nicht nur
akzeptiert, sondern gehört sogar zum guten Ton einer gehobenen, wohlgeratenen Erziehung,
ein Vertragsbruch hingegen eindeutig nicht.247 Die Maxime nur dann zu lügen, wenn es niemandem schadet hat (empirisch belegbar) eben nicht diese Dammbruch-Konsequenzen. Kant
vollzieht hier eine extrem vereinfachende, völlig unzureichende moralische Differenzierung
zwischen einem Vertragsbruch, dem Bruch eines Versprechens und einer Lüge aus Höflichkeit: Ein Vertragsbruch verursacht oft hohen materiellen und als schwerwiegender Vertrauensbruch auch immateriellen Schaden. Nicht zuletzt aus diesem Grund werden (wichtige)
246
Kant (vRMl) S. 639.
Ebbinghaus verteidigt Kants Ansatz bedingungslos sogar bis zur absurden Einschätzung, dass eine
Lüge weitaus unmoralischer sei, als das Töten eines Menschen: "Weit entfernt also, dass derjenige, der
eine Gewalttat gegen das Leben eines anderen plant, dadurch irgend jemanden zur Lüge legitimieren
könnte, so ist es vielmehr der Lügner, der durch die von ihm in Anspruch genommene Befugnis denjenigen legitimiert, der das Leben anderer willkürlich zerstören will. Und wenn die Maxime des Mörders freilich die gesetzliche Sicherheit des Lebens aufhebt, so geht die des Lügners weit darüber hinaus, indem sie aller möglichen Sicherheit, sei es des Lebens, sei es wovon sonst, überhaupt den Charakter eines Gesetzlichen Anspruches, d. h. eines Rechtes nimmt". Ebbinghaus, Julius. Kant's Ableitung des Verbotes der Lüge aus dem Recht der Menschheit . In: Kant und das Recht der Lüge. Geismann, Georg, Oberer, Hariolf (Hrsg.), Würzburg 1986. S. 79.
247
98
Verträge, von denen die Existenz einer Privatperson oder ganzer Unternehmens abhängen, vor
einem Notar geschlossen, der den beidseitigen Willen der Vertragspartner, die Rechtsverbindlichkeit der geschlossenen Vereinbarung bekräftigt. Sollte eine der vertragschließenden Parteien seinen Teil der vertraglich festgelegten Verpflichtung nicht erfüllen, kann die andere
Partei die Einhaltung des Vertrags vor Gericht einklagen und Schadensersatz fordern. Ein
Vertragsbruch schadet dem Ansehen ganz erheblich und bewirkt den Ruf als schlechter, unseriöser Kooperationspartner. Deshalb wird niemand (leichtfertig) einen Vertragsbruch begehen. Weit weniger fällt der Bruch eines Versprechens als moralische Verfehlung von seinen
Konsequenzen her betrachtet ins Gewicht. Ein Versprechen beinhaltet oft eine einseitig ausgesprochene Vergünstigung, bedeutet einen mittelschweren Fall von Vertrauensbruch mit (in
der Regel) vernachlässigbarem bis geringem Schaden. Bei einer Lüge aus Höflichkeit schließlich entsteht kein Vertrauensbruch, noch nicht einmal Schaden, sondern meistens Nutzen; im
Extremfall können nationale und sogar internationale (gewaltsame) Konflikte verhindert werden (wenn etwa Menschen höflich kooperieren, die sich gar nicht mögen). Ohne Lügen aus
Höflichkeit wäre das Miteinander in nahezu jeder uns bekannten Gesellschaft unerträglich,
wenn nicht sogar unmöglich. Eine Lüge aus Höflichkeit lässt sich nach Auffassung vieler
(Kant wohlmeinenden) Interpreten durchaus mit dem KI und ZP vereinbaren.248
Mangels möglicher moralischer Differenzierungsgrade macht es bei Kant aber keinen (signifikanten) Unterschied, ob jemand aus Hilfsbereitschaft lügt (um das Leben eines unschuldigen Menschen zu retten) oder aus Habgier (um sich das Eigentum eines unschuldigen Menschen anzueignen) weil lügen kategorisch (absolut) untersagt bleibt - völlig unabhängig vom
Motiv und den Handlungskonsequenzen; beide Fälle sind als gleichermaßen unmoralisch zu
bewerten. Dieses unbefriedigende Resultat scheint mir allerdings weniger der deontologischen Struktur der Kantischen Moraltheorie anlastbar, denn eine Lüge aus Höflichkeit oder
zum Schutz Unschuldiger ist wie gesagt durchaus mit dem KI des Rechts, dem Zustimmungsprinzip und dem Freiheitsprinzip vereinbar, als vielmehr Kants dogmatischen Rationalismus
geschuldet, seinem überheblichen (und vergeblichen) Bemühen, nicht nur Prinzipien, sondern
sogar Rechtsnormen und einzelne Handlungen ohne ausreichenden Empiriebezug, nur anhand
(reiner) Vernunft als moralisch oder unmoralisch auszuweisen. Deutlich unproblematischer
schneidet in dem Fall das teleologische Nutzenkonzept Humes ab, denn es ermöglicht abhängig vom Motiv, der Handlung und ihren Konsequenzen eine relativ feine Abgrenzung moralischer Abstufungen und erlaubt die Höflichkeitslüge und die Notlüge zum Schutz Unschuldiger mit unseren eigenen (intuitiven) Moralvorstellungen übereinstimmend als allgemein nützlich und damit vor dem Hintergrund des Grundprinzips der Vermehrung von Freude sowie der
Vermeidung von Leid als moralisch (rechtlich) zulässig, wenn nicht sogar als moralisch
(ethisch) geboten, als tugendhaft zu charakterisieren.
Die zweite große Gruppe von Ausnahmefällen in Humes und Kants Staatstheorien betreffen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bürgern und Staat über die Auslegung und Konkretisierung des Nutzenprinzips oder des Rechtsprinzips, des ZP und im Extremfall sogar die
völlige Ignoranz des Nutzenprinzips, Rechtsprinzips oder ZP durch den Staat, also verkürzt
gesagt staatliches Unrecht. Weder bei Hume, noch bei Kant gibt es Verfahren, Streitigkeiten
zwischen Staat und Bürgern durch konstitutionell abgesicherte Vorgehensweisen beizulegen.
Erschwerend kommt bei Hume hinzu, dass die Bürger keine (demokratische) Kontrolle über
das staatliche Handeln haben, keinen Einfluss auf Auslegung, Realisierung und Kontrolle des
NP durch konkrete (positiv-rechtliche) Normen nehmen können. Diese Kompetenzen liegen
allein in Händen einer Regierung, weil die (meisten) Bürger nach Hume überhaupt unfähig
sind, langfristige Interessen der Allgemeinheit gegenüber ihren eigenen individuellen kurzfristigen Interessen hinreichend zu gewichten. Auch auf Kants empiriebezogener staatstheore248
Vgl. Otfried Höffe (1992) S. 195.
99
tischer Ebene könnte eine Regierung im Ausnahmefall ein demokratisches Votum ignorieren,
verfälschen oder gar nicht erst zustande kommen lassen. Dass in solch heiklen Situationen
Verfassungsgerichte einen friedlichen Lösungsweg anbieten, war Hume und Kant beim damaligen verfassungstheoretischen Entwicklungsstand (leider) noch nicht klar. Ich bin mir nicht
einmal sicher, ob Hume im Gegensatz zu Kant die Einrichtung einer Verfassung überhaupt
für erforderlich gehalten hat. Dadurch bleibt den Bürgern bei Hume und Kant die Chance
verwehrt, Grundrechte zum Schutz ihrer basalen Interessen gegenüber dem Staat auf einem
(gewaltfreien) Rechtsweg durchzusetzen.
Humes Fundamentalgesetze stehen offenbar stets unter einem Nutzenvorbehalt, obwohl er
anscheinend annimmt, dass deren Beachtung in jedem denkbaren Fall Nutzen stiftet und sie
damit sowohl über einen temporären, als auch territorialen Intersubjektivitätsanspruch verfügen. Jedoch besitzen die Bürger keinerlei Rechtsanspruch, die Beachtung etwa des Nutzenprinzips, des Gerechtigkeitsgrundsatzes oder des Gebots der Rechtssicherheit gegenüber dem
Staat einzufordern. Die Fundamentalnormen im Humeschen Sinne sind nicht als verbindliche
normative Kriterien für den Staat zu verstehen, deren Verletzung eine Rechtsunwirksamkeit
entsprechenden staatlichen Handelns nach sich zöge, sondern eher als Orientierungspunkte
staatlichen Handelns gedacht. Denn selbst ein unvollkommener Staat schützt die Interessen
seiner Bürger nach Hume immerhin noch besser, als ein nicht vorhandener Staat;249 ohne Staat
würden die Menschen in einen Naturzustand zurückfallen, "der unendlich schlimmer ist als
die denkbar schlechteste Lage in der Gesellschaft."250 In dieser Hinsicht steht der Bürger
staatlicher Willkür ähnlich hilflos gegenüber, wie auf der empirieorientierten politischen
Staatsebene Kants, weil sein idealer Staat dem empirischen lediglich als "Richtschnur" dienen
soll. Kant glaubt ebenfalls, dass selbst ein noch so unzureichender, willkürlicher staatlicher
Zustand den Vorzug vor jedem rechtlosen Zustand verdient. Allerdings endet die Humesche
Gehorsamspflicht gegenüber einer Regierung übereinstimmend mit dem bei ihrer Einrichtung
(stillschweigend oder ausdrücklich) gegebenen Versprechen dann, wenn sie die Rechtsordnung nicht mehr gegenüber inneren oder äußeren Feinden zum Nutzen aller Bürger absichern
vermag.251 Für Hume bedarf es sorgfältiger Überlegung, die Vorteile und Nachteile einer unvollkommenen Regierung, möglichen Widerstand und die Konsequenzen eines rechtlosen
Zustandes gegeneinander abzuwägen.252 Sollte das Ergebnis der Einschätzung über den Nutzern einer Regierung jedoch negativ ausfallen, dürfen die Bürger nicht nur Widerstand leisten,
sondern haben in Übereinstimmung mit dem Nutzenprinzip sogar ein Recht auf Widerstand.253 Das Nutzenprinzip findet bei Hume somit auch im Ausnahmefall auf der staatstheo249
"Mögen aber auch die einzelnen den Rechtsnormen entsprechenden Akte dem allgemeinen oder
dem Privatinteresse zuwiderlaufen, so ist doch sicher, dass der ganze Aufbau oder das System derselben für die Erhaltung der Gesellschaft und die Wohlfahrt des einzelnen höchst nützlich, ja unbedingt
erforderlich ist." Hume (Treat) B 3, S. 63.
250
Hume (Treat) B 3, S. 63f.
251
"Ich suche nach einem solchen Nutzen, der das ursprüngliche Motiv ihrer Einführung und unseres
Gehorsams gegen sie war. Dieser Nutzen besteht in Schutz und Sicherheit, zu denen wir niemals gelangen können, solange wir vollständig frei und unabhängig sind. Der den Untertanen gewährleistete
Nutzen ist also die unmittelbare Sanktion der Regierung und kann jene nicht überdauern". Hume
(Treat) B 3, S. 130.
252
"Wir müssen immer die Vorteile, die uns aus der Autorität erwachsen, gegen die Nachteile abwägen; dann werden wir vorsichtiger in der praktischen Umsetzung der Lehre vom Widerstande. Die
gewöhnliche Ordnung verlangt Unterwerfung und nur in Fällen schwerer Tyrannei und Unterdrückung
ist eine Ausnahme zulässig". Hume (Treat) B 3, S. 133f.
253
"Treibt demnach die Staatsregierung ihre Unterdrückung so weit, dass ihre Autorität ganz unerträglich wird, so sind wir nicht länger verpflichtet, uns ihr zu unterwerfen". Hume (Treat) B 3, S. 130.
"Unsere allgemeine Kenntnis der menschlichen Natur, unsere Betrachtung der vergangenen Geschichte der Menschheit, unsere der Gegenwart entnommenen Erfahrungen, alle diese Momente müssen uns
bestimmen, jene Ausnahme offenzulassen, und uns zu dem Schlusse führen, dass wir den Gewalttätig-
100
retischen Ebene konsequente Anwendung, angefangen von der Gründung des Staates, über
die Aufgaben des Staates bis hin zu deren Grenzen und dem Widerstandsfall.
Ganz im Gegensatz zu Hume lehnt Kant ein Widerstandsrecht des Bürgers gegenüber willkürlicher staatlicher Gewalt rundweg ab - vollkommen unabhängig davon, ob es sich nur um
relativ leichte oder schwere und andauernde Verstöße gegen die auf der staatstheoretischen
Ebene festgelegten Rechtsprinzipien handelt. Zwar schließt Kant auf der systematischen Ebene des Vernunftrechts einen Widerstandsfall aus, weil alle Bürger die gesetzgebende Gewalt
innehaben, auf seiner politisch-empirischen Ebene kann es jedoch gleichwohl geschehen, dass
der Staat anhaltend und schwerwiegend gegen das RP und ZP verstößt, ohne Konsequenzen
befürchten zu müssen, sofern die Bürger keine (positivierten) Grundrechte und politische Partizipationsrechte haben. Im Ausnahme- und Extremfall staatlich organisierter Tyrannei dürfen
die Bürger nicht einmal Widerstand leisten, geschweige denn, dass sie überhaupt (wie bei
Hume) ein (überpositives) Widerstandsrecht hätten. Kant glaubt von seiner eindimensionalen
dogmatischen rationalistischen Position aus jeden Widerstand gegen die Staatsführung ablehnen zu dürfen.254 Auch wenn Kants Überlegungen zum Widerstandsrecht auf einer anderen
Abstraktionsebene (empirisch) liegen, als seine Theorie vom KI (rationalistisch), so entwerten
erstere letztere doch ganz erheblich, denn von der anspruchsvollen Idee des Menschen als
Mitgesetzgeber bleibt unter (ungünstigen) politisch-praktischen Bedingungen nur die Vorstellung des Bürgers als eines Befehlsempfängers (willkürlicher) staatlicher Anordnungen übrig.
Anders als beim Widerstandsrecht scheint es auch Ausnahmefälle zu geben, die moraltheoretisch kaum noch aufzulösen sind und damit die Grenzen der Normierbarkeit schlechthin
aufzeigen. Gegen deontologische, akteur-relative Moraltheorie des Kantischen Typs richtet
sich etwa der Einwand von utilitaristischer Seite, sie werde unseren Rationalitätsanforderungen in der Moral nicht gerecht, weil sie es nicht gestatte, einen unschuldigen Menschen zu
töten, wenn hierdurch das Leben fünf unschuldiger Menschen gerettet werde.255 Damit widerspräche deontologische Theorie unserer moralischen Rationalität, weil sie verhindere, unmoralisches Handeln zu minimieren.256 Aus Sicht von Konsequentialisten hat diese Einschätzung
sehr weitreichende Folgen für die Begründbarkeit von deontologischer Theorie schlechthin,
die dadurch nämlich zum Scheitern verurteilt sei. Demgegenüber habe ich bereits mehrfach
herausgestellt, dass es schon aus Gründen der Rechtssicherheit kein Gemeinwesen (Humescher Prägung) geben darf, in dem das Urteil über so weitreichende Rechtsfolgen einer Handkeiten der obersten Macht Widerstand entgegensetzen dürfen, ohne ein Verbrechen oder eine Unrechtlichkeit zu begehen". Hume (Treat) B 3, S. 131f.
"Es steht also fest, dass unter unseren moralischen Begriffen sich kein so absurder Begriff findet, wie
der des passiven Gehorsams, sondern dass unsere moralischen Begriffe in Fällen starker Tyrannei und
Unterdrückung Widerstand gestatten". Hume (Treat) B 3, S. 132.
Baier ist somit zuzustimmen, wenn er behauptet, Humes Staatstheorie schließe in jedem Fall solche
Prinzipien aus, die zu "Tyrannical governments, schemes of property that deny woman and property
rights, and property conventions that make people into property"Baier (1990) S. 27.
254
Kritik am Kantischen Verbot eines Widerstandsrechts: Nagler, Michael. Über die Funktion des
Staates und des Widerstandsrechts. Sankt Augustin 1991.
255
Der wichtigste Gesichtspunkt aus Kantischer Sicht liegt hier im Verpflichtungsgrund: Die engen
Rechtspflichten haben Vorrang vor den weiten Tugendpflichten: Übereinstimmend mit unseren moralischen Grundintuitionen darf man im Namen der Wohltätigkeit niemals einen anderen Menschen
töten.
256
Der Einwand lautet, grob skizziert, wie folgt: Wenn bestimmte Handlungen (wie z. B. das Töten
Unschuldiger) in sich schlecht sind, dann sei es ein Gebot der Rationalität, dafür zu sorgen, die Zahl
derartiger Handlungen zu minimieren. Wenn das Töten Unschuldiger in sich schlecht ist, dann seien
zehn solcher Tötungshandlungen schlechter als eine. Es wirke daher paradox, wenn in einer Situation,
in der ich zehn Tötungen nur verhindern kann, indem ich selbst jemanden töte, akteur-relative Einschränkungen mir verbieten würden, zu töten.
101
lung (wie den Tod anderer Menschen) dem Kalkül einzelner Bürger überlassen bleibt. Insofern ist auch in dem von Humeschen Utilitarismus bestimmten Staat keine (positive) Norm
vorstellbar, die es erlaubt, einen unschuldigen Menschen zu töten, um fünf unschuldige Menschen zu retten. Auf staatlicher Ebene sind hier keine signifikanten inhaltlichen oder strukturellen Unterschiede zu einer deontologischen Moraltheorie auszumachen; auch teleologisch
orientierte Moraltheorie lässt sich nur mit Hilfe positiver Normen im Staat verwirklichen.
Deshalb läuft umgekehrt der (deontologische) Vorwurf ins Leere, im Utilitarismus mache es
keinen Unterschied, ob ich jemanden umbringe oder ob jemand stirbt, weil ich ihm nicht helfe
(helfen kann), denn die staatliche Rechtsordnung muss beide sehr unterschiedlichen Fallgruppen unter allen Umständen (positiv) normieren. Jeder Bürger, jede Gesellschaft, jeder Staat
wäre hoffnungslos überfordert, wenn die Realisierung des Nutzenprinzips (im Sinne eines
naiven Handlungsutilitarismus) direkt, ohne vereinheitlichende, Rechtssicherheit bewirkende
positiv-rechtliche (normative) Kodifizierung in die Hände einzelner Bürger gelegt würde.
Es wirkt auf mich erheiternd und ermüdend zugleich, wenn (besonders im anglo-amerikanischen Sprachraum) durch unendlich fantasievoll ausgedachte Einzelfälle immer wieder
versucht wird, eine ganze Moraltheorie auszuhebeln. Vermutlich wird keine Moraltheorie,
wird kein Moralprinzip jemals imstande sein, alle möglichen Konfliktsituationen (per se) restlos zufriedenstellend aufzulösen. Wenn aber eine naturwissenschaftliche Theorie nur deswegen fallen gelassen würde, weil sie sich zwar ganz überwiegend bewährt, jedoch in Teilen
versagt, wäre es um den naturwissenschaftlicher Fortschritt schlecht bestellt. Wir sollten auch
in der Moralwissenschaft zumindest so lange an bewährter Theorie festhalten, bis wir bessere
zur Verfügung haben. Wissenschaftliche Forschung könnten wir jederzeit schadlos unterbrechen oder sogar ganz einstellen, aber handeln müssen wir tagtäglich und dafür brauchen wir
moralische Maßstäbe, die verhindern, dass wir im Chaos oder in lebensbedrohlichen Konflikten versinken. Das kann nur bedeuten, wir sollten nicht aufhören, bestmögliche Moralvorschriften auf allen Abstraktionsebenen zu suchen und zu finden.
Man wird sich jedoch von der naiven Vorstellung befreien müssen, Moralphilosophie könne mit einem Moralprinzip (und dessen Ableitungen) alle theoretisch vorstellbaren Dilemmata oder alle konkret möglichen Handlungskonflikte lösen. Moralphilosophie kann nur Gerechtigkeitsvorstellungen begründen, Wertvorstellungen vermitteln, Orientierung geben - und
zwar in erster Linie für möglichst viele Regelfälle und erst in zweiter Linie für Ausnahmefälle. Eben besonders für die Bewältigung von Ausnahmefällen bedarf es der Entwicklung einer
konsensbasierten moralphilosophischen Kasuistik, die - ähnlich wie bei umstrittenen Problemen in der Rechtswissenschaft hinsichtlich der Auslegung positiver Normen - Problemfälle
allmählich in den Griff bekommt. Wenn (extreme) Ausnahmefälle auch kaum (sinnvoll) normierbar sind, so können wir doch wenigstens versuchen, einen Lösungsweg anzubieten. Und
der könnte ausgerechnet in dem von Kant gefundenen Zustimmungsprinzip liegen: Wo keine
Norm (oder keine hinreichende Normierung) besteht, erwächst ein besonderer Begründungsbedarf, eine besondere Verantwortung für denjenigen (Staat oder Bürger), der ohne normative
Grundlage oder sogar entgegen bestehender normativer Grundlagen vorgeht, sein Handeln
(intersubjektiv) zu rechtfertigen. Letztendlich muss dann der wissenschaftliche, der politische
und der öffentliche Konsens über die Stichhaltigkeit dieser Argumente entscheiden, wodurch
zwar aus theoretischer moralwissenschaftlicher Sicht keine abgeschlossene inhaltliche Lösung
für jeden denkbaren Ausnahmefall gegeben, aber immerhin ein Lösungsweg, ein Lösungsverfahren für jeden denkbaren Ausnahmefall aufgezeigt werden kann.
1.3 Empirismus versus Rationalismus
Geeigneter, weil präziser und aussagekräftiger als das Begriffspaar Deontologie und Teleologie, scheint mir zur strukturellen Abgrenzung Kantischer und Humescher Moraltheorie deren empiristische und rationalistische Vorgehensweise zu sein. Obwohl die Merkmale Deon102
tologie und Teleologie einerseits sowie Empirismus und Rationalismus andererseits jeweils
die Kantische und Humesche Theorie treffen, besteht kein (zwingender) Zusammenhang zwischen Deontologie und Rationalismus sowie Empirismus und Teleologie. Von beiden methodischen Richtungen aus lassen sich nach meiner Auffassung Moraltheorien mit teleologischen
und deontologischen Funktionen entwickeln - mit grundsätzlich gleichem Intersubjektivitätsanspruch. Eine Bewertung des optimalen Nutzens für eine Gesellschaft (unter hedonistischen
Gesichtspunkten der Bedürfnisbefriedigung) lässt sich allerdings wohl besser empirisch,
durch Analyse ihres Entwicklungsstands, ihrer natürlichen und geistigen Ressourcen, ihren
Bedürfnissen und nicht von einem rationalistischen Standpunkt aus eruieren. Umgekehrt sind
Gerechtigkeitsgesichtspunkte wohl deutlich besser in einer rationalistischen, als in einer empiristischen Perspektive aufgehoben. Insofern wirkt die empiristische Methodik prädestiniert für
die Entwicklung von Nutzenüberlegungen und die rationalistische für die Begründung von
Gerechtigkeitspositionen. Der theorieprägende Unterschied zwischen Humescher und Kantischer Moraltheorie liegt demnach wohl weniger in teleologischer oder deontologischer Theoriestruktur, als vielmehr in empiristischer oder rationalistischer Methodik.
Weder eine empiristische Moralbegründung vom Humeschen Typus, noch eine rationalistische nach Kantischem Vorbild scheint eher dafür geeignet, theoretische Probleme zu lösen
und überzeugende praktische Ergebnisse zu liefern. Damit kann zum jetzigen Zeitpunkt der
Untersuchung weder Humes Empirismus, noch Kants Rationalismus (eindeutig) der Vorzug
gegeben werden. Humes Stärke liegt in der Erklärung individueller und sozialer Genese von
Moral. Seine deskriptiv-empiristische Vorgehensweise erklärt die wesentlichen psychologischen, soziologischen und kulturgeschichtlichen Hintergründe, warum Personen in Gesellschaften moralisch handeln, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, damit Moralvorschriften (stärker) Beachtung finden. Allerdings fehlt Humes empiristischer Moralbetrachtung
eine feste durchgehende Grundlage intersubjektive Geltung. Nahezu komplementär zu Humes
Vorzügen und Schwächen stellt sich Kants rationalistische Moralbegründung dar: Seine Stärke liegt in der systematisch klaren, übersichtlichen Begründung moralischer Geltung. Demgegenüber versagt der Ansatz weitgehend bei der Erklärung moralischer Genese. Sein von wenig überzeugenden metaphysischen Hintergrundannahmen durchzogener Ansatz wirkt über
weite Strecken sehr theoretisch, akademisch, weltfremd. Nachfolgend soll überprüft werden,
ob und inwieweit diese Vorläufige Einschätzung unvermeidlich methodische Ursachen hat,
weniger ein Problem des Abstraktionsweges, als vielmehr des Abstraktionsgrades betrifft?
Auf jeden Fall scheint es lohnenswert, in einer Globalmoral die Stärken beider Ansätze zu
bündeln und deren Schwächen zu vermeiden. Eine systematische Verbindung von empiristischem und rationalistischem Ansatz wird allerdings erst im nächsten Kapitel über die transzendentale Analyse unserer Moralvorstellungen möglich. Hier kann es bestenfalls erst einmal
darum gehen, methodisch bedingte Argumentationswege zu analysieren.
Problematisch an der moraltheoretischen Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Giganten der Philosophiegeschichte wirkt weniger Humes empiristische Position und Kants rationalistische Perspektive, als vielmehr Humes vehemente Ablehnung jeder rationalistischen
Vorgehensweise und Kants dezidierte Polemik gegen alle empiristischen Lösungsversuche.
Damit sind bereits vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzungen scharfe metatheoretische
Gräben ausgehoben, die durch ihre Nachfolger nur noch vertieft worden sind. Leider geht es
nicht allein um wissenschaftstheoretische Grundsatzfragen, sondern auch ein gutes Stück weit
um (meta-wissenschaftliche) Ideologie. Eine meiner Hauptaufgaben wird darin liegen, diese
Gräben einzuebnen und aufzuzeigen, dass die empiristische und die rationalistische Moralvorstellung einen plausiblen tragfähigen methodischen Kern enthalten, der jedoch durch seine
vorbehaltlose Verallgemeinerung zu unplausiblen Gesamtergebnissen führt.
Konsensfähig an Kants Darlegungen wirkt die Einschätzung, dass sich alle moralischen
Normen der höchsten menschlichen kognitiven Instanz - Vernunft - zur Prüfung stellen müssen. Anzweifelbar scheint allerdings, ob (reine) Vernunft (ohne vorhergehende empirische
103
Daten) überhaupt tragfähige allgemeingültige moralische Normen a priori - wie von Kant
immer wieder behauptet - generieren kann? Bedeuten der KI oder das ZP systematisch im
Grunde überhaupt mehr, als das Postulat der Allgemeingültigkeit moralischer Normen? Das
Erfordernis von Intersubjektivität moralischer Normen ergibt sich jedoch nicht erst auf dem
Boden rationalistischer, sondern bereits empiristischer Theorie, wenn man über Humes Nutzenprinzip hinaus etwa an sein Plädoyer für universelle Gerechtigkeitsregeln denkt, die er
allerdings selbst nur unzureichend einlösen kann. In welchem Zusammenhang stehen Genese
(Hume) und Geltung (Kant) von Moralvorstellungen? Lassen sich beide Perspektiven überhaupt isoliert voneinander aussichtsreich erörtern? Im Gegensatz zu Hume, der seiner Methode gemäß zunächst alle moralisch relevanten Begleitumstände erforscht (was ist), sucht Kant
nahezu ausschließlich nach strengen moralischen Geltungskriterien (was sein soll). Natürlich
gilt es zu bedenken, ob eine letztlich doch immer auf ihre praktische Realisierung gerichtete
Moraltheorie (hier eine Globalmoral) ohne Rückgriff auf Empirie erfolgversprechend begründet werden kann? Kennzeichnend für den Kantischen Moraltypus ist eine eher deduktivrationalistische Vorgehensweise vom moralischen Idealbild des Menschen hin zu seiner praktischen Konkretisierung, während der Utilitarismus auch in seinen aktuellen Ausprägungen
vom alltäglichen Menschen und bestehender sittlicher Praxis ausgehend eher induktivempiristisch versucht, ein moralkonformes gesellschaftliches Modell zu entwerfen.
Hume und Kant vertreten keinen moralischen Realismus in dem Sinne, dass sie Moral einen eigenen ontologischen Status unabhängig oder außerhalb von menschlichen kognitiven
Anstrengungen zubilligen.257 Bei Kant verbietet sich diese Einschätzung schon deshalb, weil
er in seiner Erkenntniskritik hinsichtlich unserer Naturvorstellungen mit den apriorischen Anschauungsformen (Raum, Zeit), den Kategorien und der daraus resultierenden Unterscheidung
von 'Ding an sich' und 'Erscheinung' nachgewiesen hat, dass wir unsere Vorstellungen von der
Natur konstruieren und konstituieren, aber keineswegs im Sinne eines schlichten (naiven)
Realismus einfach nur abbilden oder nachbilden, wie noch von den Vätern der Evolutionären
Erkenntnistheorie (Lorenz, Riedl, Vollmer) angenommen. Kants Überlegungen werden durch
die aktuelle neurologische Forschung mit Nachweisen über die Autarkie des Gehirns bei der
Projektion seines Weltbilds gestützt. Ebenso wie Naturgesetze Konstrukte unserer Vernunft
257
So sehr mir Schöneckers genaue Analysen Kantischer Moraltheorie imponieren, so sehr enttäuscht
mich seine eigene Positionsbeschreibung eines moralischen Realisten. Was ich (auch menschlich)
durchaus nachvollziehen und sogar unterstützen kann, ist (wie hier geschehen) die Stärkung der emotionalen Grundlagen von Moral gegen Kant (mit Hume). In dieser Hinsicht habe ich nichts wesentliches gegen Schöneckers Plädoyer für "moralische Intuitionen" als Voraussetzung wissenschaftlicher
Diskussion über Moral einzuwenden, denn ohne elementares Vorwissen, kann man schlecht über einen Sachverhalt urteilen. Unklar bei Schönecker bleibt jedoch (und dies scheint mir zu einem ersten
unüberwindbaren Problem seines Moralischen Realismus zu werden), wie wir diese Intuitionen erwerben? Sie können doch nur aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen entstehen, wenn sie nicht
angeboren sein sollen. Aber selbst wenn sie angeboren wären, ähnlich wie etwa für die Strukturen
unseres Sprachvermögens angenommen, könnten sie sich nur (wie Sprache) durch soziale Interaktion
entfalten. Insofern überrascht ein wenig, wenn Schönecker zunächst die Bedeutung moralischer Intuitionen hervorhebt und später einräumt, sie seien nicht überprüfbar, hätten keinen epistemischen Wert,
was aber gerade zu zeigen wäre. Schönecker (2006) S. 320f. Vor diesem Hintergrund wirkt seine Behauptung von der ontologischen Realität, von der Existenz moralischer Werte extrem befremdend:
"Der wesentliche Grundgedanke des Moralischen Realismus, so wie ich ihn verstehe, besteht darin,
dass Moral kein Menschenwerk ist (also menschenunabhängig)". Schönecker (2006) S. 307. Leider
enthält uns Schönecker wenigstens ein plausibles Argument dafür vor, dass das Gute unabhängig vom
Menschen existieren soll, "dass Gutheit auch insofern kein Menschenwerk ist, als Gutheit auch dann
existiert, wenn keine Menschen da sind, die sie erleben"? Schönecker (2006) S. 307f. Moral als "Menschenwerk" erleben wir tagtäglich tausendfach selbst, dass sie vom Menschen unabhängig "existieren"
soll, dafür fehlt jeder noch so geringe Anhaltspunkt. Führt dieser Weg nicht (zwangsläufig) zu mystischen religiösen moralischen Vorstellungen, im Grunde weit hinter Hume zurück?
104
sind, bilden auch Moralgesetze Schöpfungen der Vernunft mit dem Unterschied, dass letztere
nach Kant nicht auf Erfahrung beruhen sollen. Allerdings könnte Kants (reichlich überzogen
wirkende) Rede von der Geltung des Sittengesetzes auch für Vernunftwesen ohne Sinnlichkeit
(Gott, Engel) dazu verleiten, ihm eine dem moralischen Realismus zumindest nahestehende
Position zuzuschreiben. Dabei müsste jedoch übersehen werden, dass Kant in dem Zusammenhang lediglich den Universalitätsanspruch von Vernunft ausweisen möchte. Im Kantischen Sinne könnte man sagen, dass Naturgesetze, Mathematik, Moralgesetze auch für Gott
und Engel gelten, aber keineswegs in irgendeinem nur denkbaren Sinne existieren. Hume darf
ein moralischer Naturalismus unterstellt werden, weil er zumindest die Grundlagen der Moral
in der menschlichen Gefühlswelt und das Streben nach dem Guten in der menschlichen Natur
verortet, aber eben darum bleibt Moral nur im Menschen und durch den Menschen realisierbar und in keinster Weise unabhängig von ihm vorstellbar.
1.3.1 Induktion und Deduktion
Bekanntermaßen hat Humes empiristische Vorgehensweise Newtons bahnbrechende naturwissenschaftliche Methodik zum Vorbild und sein 'Treatise' stellt den Versuch dar, Newtons Verfahren der Beobachtung und Erfahrung auf die Geisteswissenschaften anzuwenden.258 Von entscheidender Bedeutung wird hierbei das damals noch revolutionäre induktive
Verfahren, von Beobachtung und Erfahrung auf dem Wege der Systematisierung und induktiven Abstraktion Einsicht in Naturgesetze zu erlangen.259 Hume sieht es als Ziel seiner Wissenschaft vom Menschen an, das menschliche Verhalten auf eine kleine Zahl einfachster Ursachen zurückzuführen.260 Auf Basis dieses Forschungsvorhabens analysiert Hume einzelne
Tugenden und fragt nach dem eigentlichen Grund ihrer Wertschätzung unter Menschen. Aus
den Einzelbeobachtungen leitet er eine allgemeine Theorie der Moral ab und verspricht sich
durch diese induktive Methode einen tiefgreifenden Durchbruch. Er kommt zum Ergebnis,
dass den Menschen das als moralisch gilt, was entweder einer Person selbst oder anderen angenehm oder nützlich scheint. Deshalb lobe etwa jedermann die innere Ausgeglichenheit oder
den Fleiß (als Eigenschaften, die dem Betreffenden selbst angenehm bzw. nützlich sind), genauso wie die Freundlichkeit oder die Freigiebigkeit (als Eigenschaften, die anderen angenehm bzw. nützlich sind). Ungeklärt bleibt allerdings, ob jedes für den Einzelnen (mitunter)
vorteilhafte Verhalten (Egoismus, Rücksichtslosigkeit), zugleich der Allgemeinheit nutzt?
Sogenannte Tugenden, die sich nicht auf diese Nutzenprinzipien zurückführen lassen, verwirft
Hume. Darin wird seine moderierende, deskriptive, induktive Arbeitsweise in der Moraltheorie deutlich: Hume akzeptiert den Nutzen als bestimmendes, der Bedürfnisbefriedigung des
Menschen dienendes Handlungsprinzip, lehnt aber religiöse Vorstellungen ab, weil sie im
Hinblick auf seine Bedürfnisbefriedigung keinen nachweisbaren Nutzen zeigen. Es geht Hume gar nicht so sehr darum, selbst Normen zu entwickeln, sondern er überprüft eher bestehende Normen anhand des Nutzengedankens auf ihre Zweck-Mittel-Relation.
Während sich Hume also in der Moral wie auch in den Naturwissenschaften üblich auf Beobachtung, auf Tatsachen stützt, betont Kant den kontrafaktischen (metaphysischen) Charakter der Moral. Besteht bei Hume die Gefahr, dass er über eine deskriptive (hedonistische)
Momentaufnahme moralischer Vorstellungen, über einen common sense jeweils gerade aktueller moralischer Vorstellungen (hier die Analyse der angelsächsischen Gesellschaft im 18.
Jahrhundert) nicht hinaus gelangt, muss sich Kant permanent dem Vorwurf erwehren, seine
Moraltheorie beruhe (ähnlich religiösen Vorstellungen) auf idealistischen Annahmen, die
nicht beweisbar sind, sondern nur entweder akzeptiert oder abgelehnt werden können. Besonders verlockend an Humes Ansatz wirkt sein Versprechen, eine Moraltheorie zu entwickeln,
258
Vgl. Hume (Treat) Einleitung, S. 13.
Vgl. Lüthe (1991) S. 15.
260
Vgl. Hume (Treat) Einleitung, S. 14.
259
105
die auf Tatsachen basiert, weil eine solche Moraltheorie ähnlich einer naturwissenschaftlichen
Theorie eine deutlich breitere intersubjektive Basis haben könnte, als eine Moraltheorie, die
auf Metaphysik basiert. Denn je mehr eine Moraltheorie weltanschauliche Neutralität beanspruchen darf, desto größer werden ihre Chancen auf globale Akzeptanz sein.
Allerdings schränkt Hume die Aussichten auf eine mit naturwissenschaftlichen Methoden
fundierbare Moraltheorie in der Einleitung des 'Treatise' ausdrücklich dahingehend ein, dass
keine Experimente (und keine arithmetische Operationalisierung) im Sinne der Naturwissenschaften in den Geisteswissenschaften, sondern nur Erfahrung und Beobachtung möglich
sind. Zwar hat Bentham in der Nachfolge Humes als erster selbst erklärter Utilitarist versucht,
eine solche Quantifizierung bezogen auf positive und negative Gefühle vorzunehmen, aber
dieser Versuch wirkt wenig überzeugend. Für eine hinreichende Differenzierung moralischer
Urteile reichen jedoch bereits Abstufungen von besser oder schlechter, also schlichte topologische Quantifizierungen. Überraschenderweise erklärt Hume ferner, Moral sei nicht mit Wahrheit und Irrtum, sondern nur mit Lob und Tadel befasst.261 Nach Hume sind die Grundlagen
unserer Moralvorstellungen, nämlich Gefühle, Affekte und Handlungen nicht daraufhin überprüfbar, ob sie wahr oder falsch sind.262 Diese Einschätzung schuldet sich seinem Anti-Rationalismus und verhindert, dass Vernunft (ganz anders als bei Kant) in der Humeschen moralischen Beurteilung die maßgebliche Rolle spielen kann.
Dabei übersieht Hume, dass ebenso wie unsere intersubjektiven Vorstellungen von Gegenständen, auch unsere intersubjektiven Vorstellungen von Gefühlen, Affekten und Handlungen
wahr oder falsch sein können. Wahr oder falsch können weiterhin unsere Vorstellungen über
den funktionalen Zusammenhang von Gefühlen, Affekten mit Bedürfnissen und Handlungen
sein. Richtig oder falsch können ferner unsere Handlungen und Normen gemessen am Nutzenprinzip sein: So kann untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen positive oder
negative Gefühle, Affekte, Handlungen entstehen, welche intersubjektiven (elementaren) Bedürfnisse ihnen zugrunde liegen und versucht werden, durch bestimmte Normen entsprechende Situationen zu vermeiden oder herbeizuführen. Humes eigenes Nutzenprinzip verlangt
eigentlich solche und ähnliche Tatsachenabwägungen. Im Grunde sind alle wesentlichen von
Humes empiristischer Moraltheorie erfassbaren Problembereiche entgegen seiner eigenen
Auffassung falsifizierbar oder verifizierbar:
- Was Menschen wollen ist anhand von Beobachtung überprüfbar.
- Warum Menschen etwas wollen ist anhand von Tatsachen überprüfbar.
- Was Menschen tun sollten, wenn sie ihre Wünsche und Interessen realisieren, ihre Bedürfnisse optimal befriedigen wollen, ist empirisch überprüfbar und darauf beruht überhaupt
das Nutzenprinzip.
261
"Handlungen können lobenswert oder tadelnswert, nicht aber vernünftig oder unvernünftig sein.
Lobenswert und tadelnswert ist also nicht gleichbedeutend mit vernünftig und unvernünftig". Hume
(Treat) B 3, S. 17.
262
"Vernunft ist die Erkenntnis von Wahrheit und Irrtum. Wahrheit und Irrtum aber besteht in der
Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung entweder mit den wirklichen Beziehungen der Vorstellungen oder mit dem wirklichen Dasein und den Tatsachen. Was also einer solchen Übereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung überhaupt nicht fähig ist, kann weder wahr noch falsch und demnach
niemals Gegenstand unserer Vernunft sein. Nun sind augenscheinlich unsere Affekte, unsere Willensentschließungen und unsere Handlungen einer solchen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung
nicht fähig; sie sind ursprüngliche Tatsachen und Wirklichkeiten, in sich selbst vollendet, ohne Hinweis auf andere Affekte, Willensentschließungen und Handlungen. Man kann also unmöglich von
ihnen sagen, dass sie richtig oder falsch sind, der Vernunft entsprechen oder ihr widerstreiten". Hume
(Treat) B 3, S. 16.
106
Diesen letzten Punkt räumt Hume im Rahmen seiner instrumentalistischen Vernunftkonzeption auch selbst ausdrücklich ein.263 Aus Humes Sicht dienen die verstandesbasierte und
die vernunftbasierte kognitive Ebene allerdings nur dazu, dem Menschen eine Prognose darüber zu verschaffen, wie er sich fühlen würde (Hunger: schlecht, Schmerzen: sehr schlecht,
Verletzung des Körpers: sehr, sehr schlecht, Tod: sehr, sehr, sehr schlecht), wenn er sich für
eine bestimmte Handlung entscheiden würde. Während Vernunft in der Naturerkenntnis und
Moralerkenntnis für Hume lediglich eine passive, analysierende und kombinatorische Funktion einnimmt, gesteht ihr Kant in beiden Bereichen eine weitaus kreativere Rolle zu. Dadurch
kann Vernunft bei Kant viel stärker in die Konstitutionsabläufe des Denkens und Handelns
eingreifen. Weder meine Aufgabe, noch meine Absicht liegt darin, hier den Streit zwischen
Hume und Kant über die kognitive Rolle der Vernunft ein für alle mal zu entscheiden, aber
man wird schon aufgrund des ausgeprägten Anti-Rationalismus und Anti-Empirismus beider
Kandidaten sagen können, dass Hume die Bedeutung von Vernunft deutlich herunterspielt,
während Kant sie überbewertet. Gegen Hume wäre grundlegend einzuwenden, dass aus dem
Unvermögen der Vernunft, Affekte zu erzeugen oder verhindern, mithin (selbst) eine Handlung hervorzurufen oder zu unterbinden,264 mitnichten folgt, dass auch die Begründung von
Moralvorschriften nicht auf Vernunft beruhen könnte. Gegen Kant ließe sich fundamental
argumentieren, dass die Vernunftbasiertheit moralischer Vorstellungen ohne jeden empirischen Bezug keineswegs deren Praxistauglichkeit nahelegt, wahrscheinlich nicht einmal deren
Allgemeingültigkeitsanspruch beweist. Wäre es nicht sinnvoller, sich mit Hume an optimale
Moralvorstellungen schrittweise heranzuarbeiten, als mit Kant gleich Maximalforderungen
aufzustellen, deren Realisierbarkeit zumindest fragwürdig erscheint? Denn dass eine moralische Vorschrift nicht uneingeschränkte Allgemeingültigkeit besitzt, bedeutet noch lange nicht,
dass sie schon per se unbrauchbar wäre.
Der Haupteinwand gegen Humes induktive empiristische Vorgehensweise richtet sich (von
Kant wohl zuerst erhoben und seitdem unzählige male ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn wiederholt) darauf, dass auf diesem Wege nur ermittelt werden könne, wie
Menschen regional und temporär beschränkt moralisch urteilen, aber keineswegs, ob diese
Urteile selbst wiederum einer (anspruchsvollen) moralwissenschaftlichen Prüfung standhalten.265 Das Ergebnis der Humeschen Methode seien zwangsläufig relativistische moralische
Zustandsbeschreibungen ohne dauerhafte intersubjektive Bedeutung. Die verschiedenen systematischen (logischen) Stufen von Humes induktivem Verfahren in der Moral lassen sich
anhand des überaus wichtigen Nutzenprinzips aufzeigen und belegen in meinen Augen eher
die gegenteilige Auffassung:
263
"Wie schon bemerkt, kann die Vernunft im eigentlichen und philosophischen Sinne unser Handeln
nur in zweierlei Weise beeinflussen. Entweder sie ruft einen Affekt ins Dasein, indem sie uns über die
Existenz eines seiner Natur entsprechenden Gegenstandes belehrt; oder sie zeigt uns die Mittel, irgendeinen Affekt zu erzeugen, indem sie den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen aufdeckt". Hume (Treat) B 3, S. 17f.
264
"Die Moral erregt Affekte und erzeugt oder verhindert Handlungen. Die Vernunft allein aber ist
hierzu ganz machtlos; die Regeln der Moral sind folglich keine Ergebnisse unserer Vernunft". Hume
(Treat) B 3, S. 15.
265
Streminger: "Humes Vorgehensweise birgt jedoch von allem Anfang an folgendes Problem in sich,
das sich bei der Lektüre des Textes immer wieder aufdrängt. Mit Hilfe seiner Methode kann er bestenfalls zum Ergebnis kommen, wie Menschen moralisch urteilen. Er kann zudem erkennen, welche Erkenntnisfähigkeiten dafür verantwortlich sind, dass wir eine bestimmte Handlungsweise billigen oder
missbilligen. Aber mit Hilfe einer Methode der empirischen Verallgemeinerung kann Hume nicht
ermitteln, ob die Art und Weise, wie Menschen urteilen, gut oder schlecht ist, ob also gebilligt oder
getadelt werden soll, was wir billigen oder tadeln". Streminger (1996) S. 32. Kritisch auch Lauener:
"Es ist keine Bestimmung des Guten an sich, sondern bloß eine empirisch zusammengestellte, materiale Güterlehre zu erwarten, und an Stelle eines streng sittlichen Begriffs wird von sinnlich erfahrbaren,
sogenannten Übeln die Rede sein". Lauener (1969) S. 178 f.
107
- Hume führt die vereinzelte Beobachtung moralischer Bewertungen zur Hypothese über den
generellen Nutzen moralischen Verhaltens.
- Die Bestätigung dieser Beobachtung durch zahlreiche weitere Beobachtungen ermöglicht
die auf Erfahrung beruhende Regel über den Nutzen in der Moral.
- Die vernunftbasierte Einsicht in den notwendigen zweckrationalen Charakter der Moral mit
Bezug auf unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung gestattet es Hume im Zusammenhang mit dem Nutzen von einem moralischen Prinzip zu sprechen.
Und erst vor dem Hintergrund der (vernunftbasierten) Einsicht in die notwendige zweckrationale Bedeutung dieses funktionalen Zusammenhangs kann Hume etwa mönchische Tugenden (als unmoralisch, weil unnütz) abqualifizieren. Die vernunftbasierte Einsicht vom zweckrationalen Charakter individuellen Nutzenstrebens und allgemeiner Nutzenorientierung durch
den Staat, der individuelles Nutzenstreben noch befördern soll, führt zur Rechtfertigung des
Nutzenprinzips als allgemein verbindlichem Moralprinzip. Die intersubjektive Basis von Humes Moralvorstellungen, der Nutzen für alle Menschen beruht als Nutzenprinzip nicht allein
auf einem empirischer Befund, denn Hume kann unmöglich die Handlungseinstellungen aller
Menschen zu allen Zeiten untersucht haben, sondern der Nutzen stellt eine normative Forderung vor dem Hintergrund der notwendigen Bedürfnisbefriedigung aller Menschen dar und
bildet damit eine (induktive) Schlussfolgerung der Vernunft. Durch ihre Natur haben alle
Menschen zwangsläufig Bedürfnisse, die in jedem Fall befriedigt werden müssen. Die eingeschränkte intersubjektive Geltung schlichter (unreflektierter) empirischer Beobachtung trifft
nicht auf das Nutzenprinzip zu; der Nutzen als intersubjektiv verbindliches normatives moralisches Prinzip beruht auf Vernunft und geht weit über bloße Erfahrung hinaus.
Anhand des Nutzenprinzips darf sich Hume berechtigt fühlen, normativ zu prüfen, ob und
inwieweit bei welchen konkreten (moralischen) Regeln der Nutzengedanke tatsächlich eingehalten wird, ohne die methodischen (empiristischen) Grundlagen seiner Moraltheorie zu verlassen. Unter Einbeziehung der (elementaren) Bedürfnisse, Wünsche, Interessen des Menschen kann Hume eruieren, wie eine Rechtsordnung beschaffen sein sollte, wie der Staat den
Nutzen aller Bürger am ehesten verwirklichen kann. Dies macht Hume auch durch seine nicht
relativistisch, sondern intersubjektiv gemeinten fundamentalen Forderungen nach Gerechtigkeitsregeln, Eigentumssicherung, Rechtssicherheit deutlich. In diesem Zusammenhang spielt
es keine Rolle, dass sich (einige wenige) Menschen entweder aus Unkenntnis oder Dummheit
tatsächlich schaden oder sich aus Veranlagung (psychischer Störung) selbst Schmerzen zufügen. Entscheidend ist der vernunftbasierte zweckrationale Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Nutzenoptimierung. Die Rechtfertigung für das Nutzenprinzip als moralischem
Prinzip erfolgt also (nicht nur bei Kant, sondern) auch bei Hume letztendlich durch Vernunft.
Die Humesche Argumentation bietet allerdings gegenüber der Kantischen den entscheidenden
Vorteil, dass sie in ihren Grundlagen und Schlussfolgerungen auf empirisch überprüfbaren
Tatsachen und nicht auf undurchsichtiger, wenig nachvollziehbarer Metaphysik beruht, aber
dennoch Prinzipiencharakter (und sogar nachweisbaren kategorischen) Charakter hat. Unerheblich bleibt, dass Hume der Vernunft keine (direkte) konstitutive Funktion mit Bezug auf
Handlungen (die haben Gefühle, Bedürfnisse, Interessen) einräumt, sondern lediglich eine
(indirekte) regulative Funktion mit Bezug auf eben diese Gefühle, Bedürfnisse, Interessen.
Als erklärter Rationalist lehnt Kant jeden Empirismus in der Moraltheorie als das Grundübel schlechthin ab.266 Kant glaubt im Gegensatz zu Hume Moral nicht nur unabhängig von
266
"Dem Gebrauche der moralischen Begriffe ist bloß der Rationalismus der Urteilskraft angemessen, der von der sinnlichen Natur nichts weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für sich denken
kann ... dahingegen der Empirismus die Sittlichkeit in Gesinnungen (worin doch und nicht bloß in
Handlungen der hohe Wert besteht, den sich die Menschheit durch sie verschaffen kann und soll) mit
108
Erfahrung entfalten zu können, sondern beharrt sogar darauf, dass Erfahrung als Basis für
Moralbegründung völlig ungeeignet sei267 und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Hume.268
Dabei übersieht Kant, dass Humes Nutzenprinzip eben nicht allein auf Erfahrung, sondern auf
Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von (elementaren) Bedürfnissen und (elementarer) Bedürfnisbefriedigung beruht.269 Außerdem kritisiert Kant die utilitaristische Gleichsetzung von dem Wohl und Wehe, dem Angenehmen und dem Unangenehmen mit dem Guten
und Schlechten, ohne aber selbst überzeugend darlegen zu können, worin genau die Unterscheidung des Guten und Schlechten über die (unzureichenden) formalen Anforderungen des
KI hinaus inhaltlich bestehen sollen.270 Gleichwohl räumt Kant ein, dass sich jedes Lebewesen notwendig um seine Bedürfnisbefriedigung sorgt, auch wenn er die Bedürfnisse und Interessen schon zwischen zwei Menschen als zu unterschiedlich einschätzt, als dass sie nach
seiner Meinung Grundlage allgemeingültiger Moraltheorie sein könnten. Freilich scheint mir
dieser Einwand eher eine Frage des Abstraktionsgrades zu sein, von dem aus diese Bedürfnisse beurteilt werden (notwendige allgemeine Grundbedürfnisse wie essen, schlafen oder eher
zufällige individuelle Vorlieben etwa für bestimmte Nahrung und Kleidung) und keine prinzipielle Hürde für eine utilitaristische Theorie.271
Worin sich Menschen hingegen nach Kant (erwartungsgemäß) völlig gleichen ist Vernunft.
Damit kann allerdings nicht eine alltägliche Vernunft im Sinne langfristiger Alltagsbewältigung und Lebensplanung gemeint sein, sondern nur eine wissenschaftliche, die in Kantischer
Terminologie wohl eher als 'reine' Vernunft bezeichenbar wäre. Notwendigkeit, Unbedingtheit, Kategorizität sind für Kant offensichtlich nur a priori durch Vernunft begründbar.272
der Wurzel ausrottet und ihr ganz etwas anderes, nämlich ein empirisches Interesse, womit die Neigungen überhaupt unter sich Verkehr treiben, statt der Pflicht unterschiebt, überdem auch ebendarum
mit allen Neigungen, die (sie mögen einen Zuschnitt bekommen, welchen sie wollen), wenn sie zur
Würde eines obersten praktischen Prinzips erhoben werden, die Menschheit degradieren, und da sie
gleichwohl der Sinnesart aller so günstig sind, aus der Ursache weit gefährlicher ist als alle Schwärmerei, die niemals einen dauernden Zustand vieler Menschen ausmachen kann". Kant (KpV) S. 125 f.
267
"Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn
die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftigen Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt sind". Kant (GMS) S. 442.
268
"Hume würde sich bei diesem Syste m des allge meinen Empiris mus in Grundsätzen auch
sehr wohl befinden ... " Kant (KpV) Vorrede, S. 26.
269
"Aus einem Erfahrungssatz Notwendigkeit ... auspressen wollen ... ist gerader Widerspruch". Kant
(KpV) Vorrede, S. 24.
270
"Oder es geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Objekt der Lust und Unlust voraussetzt, mithin etwas, das vergnügt oder schmerzt, und
die Maxime der Vernunft, jene zu befördern, diese zu vermeiden, bestimmt die Handlungen, wie sie
beziehungsweise auf unsere Neigung, mithin nur mittelbar (in Rücksicht auf einen anderweitigen
Zweck, als Mittel zu demselben) gut sind, und diese Maximen können alsdann niemals Gesetze, dennoch aber vernünftige praktische Vorschriften heißen. Der Zweck selbst, das Vergnügen, das wir suchen, ist im letzteren Falle nicht ein Gutes, sondern ein Wohl, nicht ein Begriff der Vernunft, sondern ein empirischer Begriff von einem Gegenstande der Empfindung ... ". Kant (KpV) S. 109f.
271
"Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl
der Lust und Unlust an, und selbst in einunddemselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls ...". Kant (KpV) S. 46.
272
"Da nun ... ein Prinzip, das sich nur auf die subjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust
oder Unlust (die jederzeit nur empirisch erkannt und nicht für alle vernünftige Wesen gleicher Art
gültig sein kann) gründet, zwar wohl für das Subjekt, das sie besitzt, zu ihrer Maxi me, aber auch für
diese selbst (weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priori erkannt werden muss, mangelt),
nicht zum Geset ze dienen kann, so kann ein solches Prinzip niemals ein praktisches Gesetz abgeben". Kant (KpV) S. 39f. "Da nun, was dem Gefühle der Lust gemäß sei, nur durch Erfahrung ausge-
109
Weder vermag Kant plausibel darzulegen, warum eine moralische Vorschrift auf empirischer
Basis nicht als moralisches Prinzip taugt, noch kann er überzeugend nachweisen, warum ein
moralisches Prinzip allein a priori möglich und zudem noch formal beschaffen sein sollte.273
Das Nutzenprinzip erfüllt das von Kant an moralische Gebote gestelltes Hauptkriterium der
Allgemeingültigkeit, obwohl es empirische Grundlagen hat und nicht nur formal, sondern
auch inhaltlich bestimmt ist. Durch die inhaltliche Unterbestimmung seiner Moralprinzipien
im KI, aber auch im ZP müsste Kant bei der Anwendung dieser beiden Moralprinzipien eben
jene inhaltlichen Moralkriterien in Gestalt einer Werteordnung eigentlich erst entwickeln, die
er bei der Begründung seiner Moralprinzipien ausdrücklich versäumt hat und bei Hume kritisiert. Allerdings entwickelt Kant selbst diese Werteordnung (leider) nicht und es darf stark
bezweifelt werden, ob Kants Versuche, inhaltliche Moralvorschriften aus den formalen Moralprinzipien des KI und des ZP abzuleiten, nachweisbar gelingen. Gerade seine eigenen Anwendungsbeispiele für den KI wirken weniger erhellend, als vielmehr dogmatisch, sind mit
ihren eigenen Voraussetzungen inkompatibel und lassen Bedenken daran aufkommen, ob sich
inhaltliche Moralbestimmungen über den von Kant vorgeschlagenen empiriefreien formalen
Weg überhaupt hinreichend rechtfertigen lassen. Insofern bietet Humes induktive Methodik
gegenüber der Kantischen deduktiven erhebliche Vorteile.
Die kontrafaktische apriorische Begründungsart Kants stößt durch den notwendigen Empiriebezug aller Moral bei ihrer Realisierung eindeutig an ihre Grenzen. Wegen der unzureichenden Darlegung der empirischen Genese von Moralvorstellungen steht Kant bei der Anwendung seiner Moralprinzipien vor entscheidenden Problemen, weil er die Bedingungen
eines abstrakten idealisierten theoretischen Sollens nicht überzeugend in die reale Welt eines
konkreten empirischen Wollens transformieren kann. Damit aber wird das ganze Unternehmen einer apriorischen Moralbegründung selbst in Frage gestellt. Entgegen Kants Auffassung
wäre nach meiner Meinung ein (kontraktualistischer) induktiver Argumentationsweg, angefangen von Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen, Interessen etwa über die verstandesbasierte
Goldene Regel bis hin zur vernunftorientierten Prinzipienebene des NP und sogar des KI oder
ZP wesentlich aussichtsreicher.
Die Begründung moralischer Normen und sogar moralischer Prinzipien auf der Basis von
Erfahrung setzt allerdings jede induktive Moraltheorie und mithin auch die Humesche selbst
dem schwerwiegenden Vorwurf aus, sie beginge einen sogenannten "naturalistischer Fehlschluss", einen von Hume für unzulässig erklärten (logischen) Begründungsfehler durch einen
fehlerhaften Schluss vom Sein auf das Sollen. Das nach seinem Urheber benannte Humesche
Prinzip besagt: Aus nur deskriptiven Aussagen kann man keine (reinen) normativen Aussagen
ableiten. Es gibt keinen gültigen Übergang (Schluss) vom Ist zum Soll. Oder: Keine wertende
oder deontische Aussage (Soll-Aussage) kann gültig aus Prämissen gefolgert werden, die
nicht wenigstens eine wertende oder deontische Aussage enthalten. Nicht ganz klar scheint,
ob Hume tatsächlich das nach ihm genannte Gesetz hat in der beschriebenen Weise formuliemacht werden kann, das praktische Gesetz aber der Angabe nach doch darauf als Bedingung gegründet
werden soll, so würde geradezu die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori ausgeschlossen ...". Kant
(KpV) S. 108.
273
"Nun mochten sie [die Philosophen] diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühl oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mussten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen: weil sie ihren Gegenstand als unmittelbaren
Bestimmungsgrund des Willens nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl, welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten. Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches
der Vernunft nichts weiter als die Form der allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der
Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein". Kant
(KpV) S. 113.
110
ren wollen:274 Dafür spricht, dass er sich selbst daran zu halten scheint, dass seine Moralphilosophie (weitgehend) deskriptiv ist. Hume geht es nach Klemme nicht darum, auf einen logischen Fehler im Argumentationsgang der Rationalisten hinzuweisen, seine Kritik richte sich
vielmehr gegen deren verfehlten Vernunftbegriff. Die Rationalisten scheiterten, weil sie der
Vernunft zumuten, uns zu motivieren. Dennoch behauptet Hume nach Klemme nicht, auf der
Grundlage der von ihm entdeckten Prinzipien der menschlichen Natur ein Sollen aus dem
Sein ableiten zu können. Humes Ansicht nach handele es sich um eine Kluft, die unter keinen
Umständen logisch, d. h. mit den Mitteln der Vernunft überbrückt werden könne. Der Boden
der Vernunft trage das Handeln nicht. Die Vernunft beschreibe Tatsachen, vermag aus diesen
aber keine praktischen Folgerungen zu ziehen. Vielmehr gebe Hume eine kausale Interpretation des Verhältnisses von Vernunft und Gefühlen. Bestimmte Tatsachenurteile riefen in der
Regel bestimmte moralische Empfindungen in uns hervor, aufgrund deren wir Tugend und
Laster unterscheiden könnten. Das Sollen stecke somit nicht in der Kausalrelation, sondern
allein in der Wirkung, die ein Vernunfturteil (über unsere Affekte) in uns hervorruft.275 Vernunft wirke nur mittelbar über unsere Gefühle und Affekte auf unser Handeln, nicht unmittelbar auf unser Handeln.
Im Alltag schließen wir wie selbstverständlich von Tatsachen auf ein Wollen oder Sollen,
weil wir immer schon (stillschweigend oder ausdrücklich) unsere Bedürfnisse, Wünsche, Interessen befriedigen wollen. Um aus Tatsachen (allgemeingültige) Sollensaussagen zu folgern,
muss also immer schon vorausgesetzt werden, dass (alle) Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen und überleben wollen, ansonsten findet ein unzulässiger Ebenenwechsel statt. Evolutionsbiologisch gesehen haben unsere höher entwickelten rationalen kognitiven Fähigkeiten
(Verstand und Vernunft) die entscheidende Funktion, Informationen unserer einfachen internen sinnlichen kognitiven Fähigkeiten (Gefühle wie Hunger, Durst, Müdigkeit) und unserer
externen sinnlichen kognitiven Fähigkeiten (sehen, hören, schmecken riechen, tasten) zu ordnen und vor allem zu hierarchisieren. Durch Verstand und insbesondere Vernunft gelingt diese lebensnotwendige Hierarchisierung (verglichen mit den Instinktleistungen und dem Lernvermögen der meisten Tiere) ganz überragend.276 Da der Selbsterhaltungswille zudem noch
angeboren ist, sind alle diesem Zweck dienenden (moralische) Handlungsweisen, Normen,
Prinzipien eigentlich Schlüsse vom Wollen auf ein Sollen und nicht von einem Sein auf ein
Sollen. Hume will seine Moraltheorie nicht auf eine deskriptive Ebene beschränken, sondern
auch einen normativen Impuls verfolgen, der allerdings mit vordergründigen Argumenten auf
der von Hume bevorzugten empiristisch-deskriptiven Ebene auf den ersten Blick nur schwer
vereinbar scheint - es sei denn, dieser normative Impuls würde wie beschrieben in die Natur
des Menschen selbst verlegt, so dass Normativität auch aus deskriptiver Sicht möglich wäre.
274
"Ich kann nicht umhin, diesen Betrachtungen eine Bemerkung hinzuzufügen, der man vielleicht
einige Wichtigkeit nicht absprechen wird. In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich
immer bemerkt, dass der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das
Dasein Gottes vorstellt oder Beobachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich
damit überrascht, dass mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ist und ist nicht kein
Satz mehr begegnet, in dem sich nicht ein sollte oder sollte nicht fände. Dieser Wechsel vollzieht sich
unmerklich, er ist aber von größter Wichtigkeit. Dies sollte oder sollte nicht drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muss also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig
muss ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie
diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind. Da
die Schriftsteller diese Vorsicht meistens nicht gebrauchen, so erlaube ich mir, sie meinen Lesern zu
empfehlen; ich bin überzeugt, dass dieser kleine Akt der Aufmerksamkeit alle gewöhnlichen Moralsysteme umwerfen und zeigen würde, dass die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht in der
bloßen Beziehung der Gegenstände begründet ist und nicht von der Vernunft erkannt wird". Hume
(Treat) B 3, S. 31.)
275
Vgl. Klemme (2007) S. 130.
276
Vgl. Nagler (2004) S. 137ff.
111
Aufgrund eines "ursprünglichen Instinkts"277 begehren wir das Gute (als das Nützliche - also
Bedürfnisbefriedigung, Lustvermehrung) und meiden das Übel (als das Schädliche - also Bedürfnisentsagung, Schmerzen). Unser Wollen und unser Sollen bewegt sich damit innerhalb
einer zweckrational geprägten empirischen Welt von Tatsachen, die weder religiöser, noch
metaphysischer Anleihen bedarf. In der Moraltheorie Humescher Prägung geht es im Wesentlichen nur darum, von individuellen Bedürfnissen, Wünschen, Interessen auf allgemeine Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und deren moralkonforme Realisierbarkeit zu schließen.
1.3.2 Subjektivität und Intersubjektivität
Gegenüber Kant muss gefragt werden, inwiefern sich moralische Ansprüche plausibel darlegen und hinreichend begründen lassen, ohne die bereits von Hume in den Mittelpunkt gerückte, nur empirisch zugängliche menschliche Natur besonders in Gestalt ihrer emotionalen
Seite zu berücksichtigen? Allerdings bestehen nach wie vor auch noch Bedenken, auf empirischer Grundlage universelle moralische Anforderungen als hinreichend rechtfertigbar zu erachten. Das wichtigste wissenschaftliche Merkmal rationaler Begründung ist das vor allem
von Peirce hervorgehobene Kriterium der Intersubjektivität: Einem rational gerechtfertigten
Urteil muss prinzipiell jeder Mensch zustimmen, von einem rationalen Rechtfertigungsverfahren darf verlangt werden, dass die verschiedenen (wissenschaftlichen) Auffassungen nach
entsprechender Prüfung in einen (strengen) Konsens einmünden.278 Dieses Piercesche Konsensprinzip sollte im Hinblick auf die hier angestrebte Globalmoral nicht nur für Moralwissenschaftler, sondern in abgemilderter Form für alle Menschen gelten, weil wir auf die (bereitwillige) Mitarbeit aller Menschen angewiesen sind, ohne deren Engagement eine Bewältigung der gewaltigen Herausforderungen unmöglich erscheint.
Intersubjektivität in diesem Sinne meint mehr als territorial und temporär beschränktes relativistisches common sense Denken, wie es gelegentlich bei Hume hervortritt. Im Interesse
eines globalen (moralischen) Konsenses halte ich es für erforderlich, eine Moral in ihren
Grundzügen so zu begründen, dass sie von jedem Menschen nicht nur verstanden, sondern vor
allem auch aus seinem konkreten Alltag heraus mit Überzeugung, mit einem gewissen Enthusiasmus befolgt werden kann. Solche Bedingungen sind sicher im Rahmen der empiristischen
Methodik Humes, die eben von der Beobachtung moralischen Handelns im Alltag ausgeht,
eher zu erwarten, als von Kants mit metaphysischen Vorannahmen überfrachteten Moraltheorie. Damit wird allerdings gar nicht einmal die wissenschaftliche Geltung etwa des Kantischen
Zustimmungsprinzips bestritten, sondern nur das Problem seiner unbefriedigenden Begründung und Entfaltung bei Kant. Möglicherweise wäre das Zustimmungsprinzip von einem
Humeschen Abstraktionsniveau ausgehend auch im Rahmen einer konsensorientierten kontraktualistischen Argumentationsfigur plausibler entfaltbar.
Wenn wir also die für eine Globalmoral unverzichtbare Forderung nach einfacher, übersichtlicher Begründungsstruktur ernst nehmen, müsste gezeigt werden, wie sich intersubjektive Moralvorstellungen aus gewöhnlichen subjektiven Handlungseinstellungen des Alltags
entwickeln lassen. Darüber hinaus verdient auch die Frage Beachtung, ob intersubjektive Moralvorstellungen (erkenntnistheoretisch) nicht überhaupt nur auf Basis subjektiver Moralvorstellungen möglich sind? In der Naturerkenntnis hatte Kant immerhin gezeigt, dass subjektive
Naturerfahrung unverzichtbare Bedingung intersubjektiver Naturerkenntnis bildet. Oder anders gesagt: Muss der Mensch nicht notwendig erst subjektiv gültige Moralvorstellungen
entwickelt haben (welche Regeln sollten aus meiner Sicht zur Gewinnung von Freude und zur
Vermeidung von Schmerz verbindlich sein), bevor er zu intersubjektiven Moralvorstellungen
gelangen kann, welche Normen aus Sicht aller Menschen (aus dem Interesse aller Menschen
an Gewinnung von Wohlbefinden und Vermeidung von Unbehagen) gelten sollten?
277
278
Hume (Treat) B 2, S. 438.
Vgl. Peirce (1878) § 388-410.
112
Muss das Subjekt also nicht notwendig zuerst wissen was es selbst befürwortet oder ablehnt, bevor es eine fundierte Aussage darüber machen kann, was für alle Menschen gut oder
schlecht ist? Wenn ich nicht einmal wüsste, was mich anzieht oder abstößt, wie sollte ich
dann wissen können, was für andere Menschen gut oder schlecht wäre? Denn in diese Regeln
darüber, was für alle Menschen gut oder schlecht sein mag, bezieht sich das einzelne urteilende Subjekt (als Mensch) doch zwangsläufig ein. Das heißt schon aus logischer Sicht, dass nur
das für alle Menschen gut oder schlecht sein kann, was auch auf mich gut oder schlecht wirkt.
Die Erfahrung zeigt nun, dass mein eigenes Urteil darüber, was mir erstrebenswert oder vermeidenswert scheint, von dem Urteil abweichen kann, welches jemand anderer darüber fällt,
was für ihn selbst wiederum gut oder schlecht sein mag. Vor diesem Hintergrund lässt sich
einfach erklären, wie Menschen zu unterschiedlichen Meinungen darüber gelangen können,
was für alle Menschen gut oder schlecht sein soll, weil sie einfach ihre eigenen Moralerfahrungen ungefiltert, unreflektiert auf andere Menschen, auf die Allgemeinheit interpolieren.
Für Kant und Hume steht wohl übereinstimmend außer Frage, dass der Mensch in der Regel ganz überwiegend aufgrund subjektiver Antriebe und Interessen wie Eigenliebe oder Egoismus handelt, mithin Eigenliebe oder Egoismus der stärkste Handlungsantrieb, die stärkste
Handlungsmotivation überhaupt darstellen. Deshalb fragt sich aus Humescher Sicht und eigentlich auch aus Kantischer Sicht, wie der Übergang von subjektiven egoistischen Handlungseinstellungen zu intersubjektiven moralischen Handlungseinstellungen gelingen kann?
Der KI scheint zunächst einmal weitgehend untauglich zur Begründung dieses Übergangs,
weil Moral in jedem Fall nicht nur Vorrang vor meinen Interessen haben soll,279 sondern weil
ich Moral sogar völlig unabhängig von meinen Interessen (kategorisch) beachten soll. Insofern wird der hier geforderte genetische Argumentationsweg bei Kant geradezu versperrt.
Kants Forderungen im KI tauchen vor meinen (egoistischen) Interessen im Alltag so unvermittelt auf wie die Eiger Nordwand vor dem Wanderer im Nebel. Das Ansinnen der Überprüfung meiner Handlungseinstellungen (Maximen) auf ihre Gesetzestauglichkeit wirkt intuitiv
jedenfalls nicht wie eine Vorgabe, die vor dem Hintergrund meiner egoistischen Handlungseinstellung in irgendeiner Hinsicht geboten, ratsam oder auch nur sinnvoll erscheint.
Die von Kant vorgeschlagene Maximenprüfung anhand des KI bildet kein genetisches Verfahren, das von meinen eigenen Maximen zur Begründung des KI oder ZP hinführt, sondern
lediglich ein relativ statisches Verfahren zur Geltungsüberprüfung. Mithin geht der Argumentationsweg bei Kant nicht von Maximen zum KI oder ZP, denn beide Moralprinzipien sind in
ihrer Begründung gerade völlig unabhängig von meinen (individuellen) Maximen, Interessen,
Wünschen, Bedürfnissen. Und Kant sagt gerade nicht, man solle seine Maximen am KI oder
ZP deshalb prüfen, um herauszufinden, ob das, was man für sich selbst als gut befindet, auch
für alle anderen Menschen gut sein kann, ob meine Maximen von allen anderen Menschen
übernommen werden oder ihnen alle anderen Menschen zustimmen könnten, weil sie eben
auch das für sich als gut befinden würden, was ich für mich selbst als gut befunden habe und
weil alle Menschen (letztlich) einen Vorteil davon hätten. Es geht Kant im Gegensatz zu Hume durch seine Moralprinzipien gar nicht um eine Fundierung, Optimierung oder Maximierung vieler subjektiver (moralischer) Handlungseinstellungen (Maximen) in wenigen intersubjektiven (moralischen) Handvorstellungen (Gesetzen) durch Verifikation oder Falsifizierung
279
"Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht
sofort Entge genset zung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht
Rüc ksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu
sorgen; teils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum gehört) Mittel zur Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (z. B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht
zu übertreten. Nur seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals Pflicht, noch weniger
ein Prinzip aller Pflicht sein". Kant (KpV) S. 166f.
113
ihrer intersubjektiven moralischen Qualität, sondern die intersubjektive moralische Qualität
von Handlungszielen steht bereits (im Rahmen der Kantischen Naturteleologie) vorher fest.
Kant vermag wenig zur moralischen Genese von der Gefühls- auf die Verstandesebene und
von der Verstandes- auf die Vernunftebene beizutragen, weil er einen Übergang von subjektiven egoistischen, empirischen Handlungseinstellungen zu intersubjektiven vernunftbasierten
Moralvorstellungen nach eigenem Bekunden ablehnt, wenn nicht sogar für unmöglich hält.
Sein Beitrag zur Genese intersubjektiv gültiger Moralvorschriften beschränkt sich im Kern
auf die Forderung nach deren Allgemeingültigkeit. Dabei übersieht er, dass es gar nicht darum
gehen kann (es macht aus normativer Sicht wenig Sinn zu prüfen), ob es gut oder schlecht sei,
wenn alle Menschen meine Maxime haben würden (das haben sie gar nicht und deshalb führt
der Gedanke der Universalisierbarkeit im KI gelegentlich in die Irre), sondern nur darum, ob
meine Maximen mit den unterschiedlichsten Maximen aller anderen Menschen kompatibel
sind. Dafür aber bräuchte es Erfahrung dergestalt, dass ich meine eigenen subjektiven Handlungseinstellungen vor dem Hintergrund der Interessen der Allgemeinheit prüfe, indem ich
also frage, ob das, was ich für mich gut halte, von allen anderen Menschen akzeptiert werden
kann? Die Anwendung des KI setzt mithin voraus, dass meine Interessen mit den Interessen
aller anderen Menschen in irgendeiner Hinsicht verbunden sind, denn ansonsten erschiene die
Prüfung eigener Handlungseinstellungen anhand der Handlungseinstellungen anderer Menschen weitgehend überflüssig. Gerade diesen Interessenzusammenhang aber will Kant mit
seiner sonderbar wirkenden Vorstellung (reiner vernunftbasierter) apriorischer Pflicht von der
Begründung des KI fernhalten.
Der eigentliche normative Sinn intersubjektiver moralischen Geltung wie im KI dargestellt
scheint mir besser im Konsensprinzip aufgehoben, denn wenn meine Maxime (durch ihre
Universalisierung) nicht als allgemeines Gesetz taugt, sich aber wohl mit den Maximen aller
anderen Menschen verträgt, ist meine Maxime durchaus moralisch rechtfertigbar. Kants kategorischer Imperativ lässt sich deshalb im Grunde genommen auf den schlichten rationalen
Kern reduzieren, nach solchen Maximen zu handeln, die von allen anderen Menschen akzeptiert werden können. Dieses Konsensverfahren wird wesentlich klarer in Kants ZP zum Ausdruck gebracht, als in seinem KI: "Was wir gut nennen sollen, muss in jedes vernünftigen
Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen
von jedermann ein Gegenstand des Abscheus; mithin bedarf es außer dem Sinne zu dieser
Beurteilung noch Vernunft."280 Aber warum sollte ich das Urteil anderer Menschen darüber,
was sie für gut oder schlecht befinden, in meinem Urteil, was mir zuträglich oder abträglich
scheint, berücksichtigen? Die einfache (Humesche) Antwort lautet: Weil sie sonst Anlass haben, meine Ansichten über gut oder schlecht nicht zu respektieren, weil sie sonst einen (moralischen) Grund haben, meine Handlungsabsichten zu behindern oder sogar zu verhindern und
weil überdies die Verfolgung gemeinsamer Handlungsziele im Konsens mit anderen Menschen größere Erfolgschancen für deren Realisierung bietet. Diese kontraktualistische Argumentationskette scheint mir entgegen Kants eigener Intention der eigentlich plausiblere Kern
des ZP und vor allem des KI.
Unter solchen (kontraktualistischen) Voraussetzungen ergibt sich die Frage, inwiefern
letztendlich überhaupt ein Widerspruch zwischen Humeschen gefühlsbasiertem (kurz-, mittelund langfristiges Handeln nach Lust und Schmerz) nutzenorientierten und Kantischem vernunftbasiertem Handeln (nach Intersubjektivitätsgründen) entstehen kann? Denn lassen sich
diese Intersubjektivitätsgründe letztendlich nicht auch wiederum auf die Erlangung von Freude und die Vermeidung von Schmerz zurückführen oder müssten die Kantischen Vernunftgebote vor dem Hintergrund der viel zu schmalen Intersubjektivitätsbasis seiner naturteleologischen Vorstellungen nicht (entgegen Kants eigener Absicht) in jedem Fall auf positive oder
280
Kant (KpV) S. 106f.
114
negative Gefühle rückbezogen werden, um allgemein Akzeptanz finden zu können? Kant kritisiert die sogenannte Moral-Sense-Schule heftig mit der Begründung, Allgemeinheit und
Notwendigkeit würden unter sinnlichen Vorbedingungen unmöglich, weil unter solchen Voraussetzungen das Sinnliche etwas Empirisches wäre, das sich verändert.281 Kant übersieht
dabei, dass sich die Grundbedürfnisse des Menschen eben nicht verändern, dass außerdem
über die Moralbegründung nicht entscheidet, wo sie ihren Ausgangspunkt nimmt, sondern
welche Kriterien sie (im Umgang mit Gefühlen als moralisch) bestimmt (beispielsweise könnte ein kategorischer Imperativ lauten: Handle so, dass die von deinen Handlungen bei anderen
Menschen hervorgerufenen Gefühle von allen Menschen akzeptiert werden können). Der
Ausgangspunkt sogar bei (veränderlichen) Gefühlen bedeutet daher nicht, dass auch Moralkriterien und daraus resultierende Moralvorschriften veränderbar wären (auch wenn die Natur
sich verändert, bedeutet das noch lange nicht, dass sich auch Naturgesetze verändern müssten). Es liegt doch nicht unmoralisches darin und bedeutet keineswegs Unfreiheit (Heteronomie), wenn Gefühle Ausgangspunkt von Handlungen sind - eine solche Bewertung erlaubt
sich nur dann, wenn sie auch deren alleinigen (ungefilterten, unreflektierten) Bestimmungsgrund bilden. Kein Mensch kann überleben, wenn er etwa die Gefühle von Hunger oder Müdigkeit (ständig) ignoriert. Insofern müssen wir Gefühle als Ausgangspunkt auch in der Normenbegründung zulassen. Denn Vernunft gibt mir keine Auskunft darüber, ob ich Hunger
habe oder sehr müde bin. Ebenso wie Empfindungen die Materie der Naturerfahrung und Naturerkenntnis sind, sind Gefühle die Materie der Moralerfahrung und Moralerkenntnis.
Hume trägt viel zur Genese von Moral auf Gefühlsebene, aber relativ wenig zum kognitiven Übergang von der Gefühls- auf die Verstandesebene und von der Verstandes- auf die
Vernunftebene bei, weil ihm seine Lehre vom moral sense im Weg steht und ihm ein überzeugendes Konzept praktischer Rationalität fehlt. Humes Überlegungen machen nur die Behauptung plausibel, dass Vernunft allein nicht zu Handlungen motivieren kann, nicht aber,
dass sie bei der (moralischen) Bewertung von Handlungseinstellungen keine Rolle spielen
dürfe.282 Humes eigene Rückführung moralischer Qualitäten auf Gefühle erschwert Kritik
schon auf einer sehr niedrigen kognitiven Ebene,283 denn über Gefühle lässt sich im Gegensatz zum Nutzen kaum streiten. Aber seine Argumente halten nach eigenem Bekunden auch
einer rationalen Argumentation stand,284 sind also auch in einem rationalistischen und nicht
281
"Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen
des Willens tauglich wären, selbst wen man sich die allge meine Glückseligkeit zum Objekte machte. Denn weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar
sehr von jedes seiner Meinung, die auch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl
generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche die im Durchschnitte am öftesten anzutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen, geben; mithin können keine
praktischen Gesetze darauf gegründet werden. Ebendarum, weil hier ein Objekt der Willkür der Regel
derselben zum Grunde gelegt und also vor dieser vorhergehen muss, so kann diese nicht worauf anderes als auf das, was man empfiehlt, und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründet werden, und
da muss die Verschiedenheit des Urteils endlos sein. Dieses Prinzip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen ebendieselben praktischen Regeln vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objektiv notwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat". Kant (KpV) S. 63.
282
Vgl. Hepfer (1997) S. 120.
283
Kants (berechtigte) Kritik an der moral sense Theorie fällt eindeutig aus: " ... das moralische Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn (so seicht auch die Berufung auf selbigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs
Fühlen auszuhelfen glauben, so wenig auch Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich voneinander unterschieden sind, einen gleichen Maßstab des Guten und Bösen abgeben, auch einer durch
sein Gefühl für andere gar nicht gültig urteilen kann) ... . Kant (GMS) S. 442.
284
"Wenn dies aus der vorhergehenden Theorie eindeutig bewiesen werden kann, dann werden wir die
Genugtuung haben, uns darüber klar zu werden, dass wir Prinzipien aufgestellt haben, die nicht nur,
115
nur in einem emotivistischen Zusammenhang tragfähig. Wenn sich der Nutzen auf die allgemeine Vermehrung angenehmer und die Vermeidung unangenehmer Gefühle bezieht, dann
kann ich trotz meiner eigenen Interessen (Gefühle) oder gerade erst aufgrund meiner eigenen
Interessen ein Urteil über den allgemeinen Nutzen fällen, weil ich ein Teil der Allgemeinheit
bin. Maßgebliche Begründung für den (nach Hume nur anhand des Sympathieprinzips möglichen) Übergang von subjektiven zu intersubjektiven Moralvorstelllungen bildet die bessere
Befriedigung eigener Interessen in einem System kollektiver Interessenoptimierung.285 Das
Individuum kann in einem Gefüge optimaler gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung seine Bedürfnisse eher befriedigen, als ohne die Kooperation mit anderen Menschen, die eine Beachtung deren Bedürfnisse voraussetzt, weil sie sonst die Kooperation verweigern. Mit dem NP
gelingt Hume die Begründung eines weitgehend plausiblen Übergangs der (möglichen) Motivation von subjektiven Moralvorstellungen zu intersubjektiven Moralanforderungen, nämlich
von den eigenen Bedürfnissen hin zum allgemeinen Nutzen als System optimaler gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung, kollektiver Lustvermehrung und Schmerzvermeidung.
Von Hume und Kant ausgehend scheint sich (aus kontraktualistischer Sicht) ungeachtet der
völlig unterschiedlichen Argumentationswege eine beeindruckende Kompatibilität hinsichtlich des rationalen Kerns dessen, was (mit guten Gründen) intersubjektiv moralisch genannt
werden kann, herauszukristallisieren: Denn einerseits darf das, was alle Menschen (rationalerweise) notwendig wollen, nämlich ihre optimale Bedürfnisbefriedigung und damit der allgemeine Nutzen, als gut gelten und andererseits das, wozu alle Menschen (notwendig) ihre
Zustimmung geben können. Was hingegen alle Menschen (rationalerweise) notwendig vermeiden wollen, nämlich die Verhinderung ihrer Bedürfnisbefriedigung oder was alle Menschen ablehnen müssen, ist schlecht. Wenn beide Prinzipien, das Humesche NP sowie Kants
ZP gleichermaßen wahr sind, sollten sie im besten Fall miteinander verschränkbar sein, dann
sollten alle Menschen das NP akzeptieren und alle Menschen das ZP als nützlich befürworten,
dann sollten alle Menschen fordern, dass der optimale allgemeine Nutzen nur über die Bedingungen des ZP realisiert werden darf. Diese hier nur kurz aufgezeigte Synthese aus empiristischem und rationalistischem Moralprinzip wird natürlich am ehesten im Rahmen eines kontraktualistischen Ansatzes begründbar sein. Das individuelle (natürliche) Grundprinzip der
Lustvermehrung und Schmerzvermeidung kann nur durch Vernunft zu einem intersubjektiven
(moralischen) Prinzip werden. Intersubjektivität lässt sich nur durch Begründung von Interessen herstellen, die jeder Mensch rationalerweise haben muss - jedoch nicht über zweifelhafte
naturteleologische Ideale (Kant) oder eine vermeintlich allgemeine Nutzenoptimierung, die
sich vornehmlich auf Gefühlsäußerungen (Hume) stützt.
1.3.3 Theorie und Praxis
In diesem Kapitel geht es (weiterhin) um die für eine Globalmoral zentrale Frage der Realisierbarkeit von Moral und damit zusammenhängend um die Untersuchung, ob sich diese
eher auf empiristischem oder rationalistischem Wege, induktiv oder deduktiv, deontologisch
oder teleologisch erzielen lässt? Die hier entwickelte Diskussion über Theorie und Praxis von
Moral streift die Kontroverse zwischen Internalismus und Externalismus, erschöpft sich aber
nicht darin, weil es die allgemein anerkannte Definition einer internalistischen oder externa-
wie zu hoffen ist, dem Test rationalen Denkens und Überlegens standhalten werden, sondern die auch
zur Verbesserung des Lebens der Menschen und zu ihrem Fortschritt in der Moral und in den sozialen
Tugenden beitragen werden". Hume (EnqM) S. 208.
285
"Nach diesen Ausführungen über die moralische Zustimmung, die Verdienst oder Tugend begleitet,
bleibt nur noch, die uns vom Eigeninteresse gebotene Verpflichtung zur Tugendhaftigkeit zu erörtern
und uns zu fragen, ob nicht jeder Mensch, der sein eigenes Glück und Wohl im Auge hat, durch Ausübung aller moralischen Pflichten sich am besten seine Erwartungen erfüllt". Hume (EnqM) S. 208.
116
listischen Position gar nicht gibt286 und dort wo sie vorgenommen wird für das hier verfolgte
Anliegen weitgehend fruchtlos bleibt, da Hume und Kant einer internalistischen Position zugerechnet werden und überhaupt ungeklärt bleibt, welche philosophiegeschichtlich relevante
Position sich eindeutig dem Externalismus zurechnen lässt?287 Das hier im Fokus stehende
Problem bezieht sich darauf, weshalb es zu Divergenzen zwischen Moraltheorie, unseren alltäglichen Moralvorstellungen und gelebter Moral kommen kann, ob die zu erwartenden Divergenzen bei Hume oder Kant größer sind und wie diese unterschiedlichen Auswirkungen zu
bewerten sind? Eine geringer beachtete Kantische Moraltheorie könnte für unser Anliegen
(global betrachtet) womöglich wichtiger sein, als eine stärker akzeptierte Humesche. Dass es
soviel Unmoral überall auf dieser Welt gibt und keinesfalls nur in unterentwickelten Ländern,
denen man eine mangelnde (moralische) Ausbildung unterstellen könnte, sondern gerade in
Industrieländern mit hochentwickelten Bildungssystemen, offenbart, dass sich Unmoralität
nicht etwa auf Unkultiviertheit, auf Unkenntnis von Moral zurückführen lässt.
Nachfolgend geht es vor allem um die Diskussion einer möglichen Divergenz zwischen
subjektiven Handlungsmotiven und intersubjektiven Handlungsgründen oder anders gesagt:
Unter welchen Bedingungen erscheint es rational, moralisch oder unmoralisch zu handeln?
Jeder (normativen) Moraltheorie zielt auf das rational handelnde Subjekt ab, die entscheidenden Ausgangsfragen sind demzufolge:
- Was kennzeichnet ein rational handelndes Subjekt?
- Welche moralischen Anforderungen stellen Hume und Kant an das rationale Subjekt?
- Inwieweit gilt es aus Humescher und Kantischer Sicht als rational, Moral in seinen Alltag
zu integrieren?
Eine Handlung hat hinreichenden rationalen Gehalt, wenn sie ein (dem Handelnden bewussten) rationalen Grund und ein dem Grund entsprechendes (dem Handelnden bewusstes)
rationales Ziel hat, mithin ein rationales Motiv für eine Handlung besteht.288 Ein rationaler
Grund allein reicht nicht aus, denn ich könnte im Winter, weil ich in der Wohnung friere, ein
Fenster öffnen. Ein rationales Ziel alleine genügt auch nicht, denn ich könnte im Sommer die
Heizung andrehen, obwohl ich in der Wohnung bereits schwitze. Zwischen dem rationalen
Grund einer Handlung und deren rationalen Ziel muss also zumindest ein zweckrationaler
motivationaler Zusammenhang bestehen. Rational handeln heißt demzufolge auch, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken und zu berücksichtigen. Ein Handlungsgrund ohne
Handlungsziel wirkt ebenso irrational, wie ein Handlungsziel ohne Handlungsgrund. Wenn
ich mich unwillkürlich kratze, weil es mich juckt, liegt auch keine Handlung vor, denn eine
bloße Reaktion auf Gefühlsebene beinhaltet eben keine Handlung.
286
Laut Christine Korsgaard geht die Unterscheidung auf W.D. Falk, William Fankena und Thomas
Nagel zurück. Vgl. Korsgaard (1999) S. 125. Vgl. weiter Williams (1999) S. 105 und Nagel (1998) S.
16.
287
Auch auf Forst wirkt eine Einteilung in externalistische und internalistische Theorien unscharf.
Forst, Rainer: Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe. Zur Begründung der Moral, in: Gosepath, Stefan (Hrsg.): Motive, Zwecke, Gründe. Theorien praktischer Rationalität, Frankfurt a.M.,
1999, S. 168-205. S. 182ff.
288
"Es existiert ein breiter Konsens zugunsten der Auffassung, dass als Handlung nur dasjenige Verhalten in Betracht kommt, welches aus einem Grund geschieht". Rationale Akteure handeln auf der
Basis von Handlungsründen, und zwar handeln sie aus diesen Gründen. Handlungen sind daher Vorkommnisse, die durch Gründe erklärt werden. Eine Einzelhandlung wird erklärt, indem man den
Grund findet, aus dem sie ausgeführt wurde. Dies geschieht gewöhnlich ... durch die Angabe der
Wünsche, Überzeugungen, Gefühle, Absichten, Zwecke, Ziele und Charaktereigenschaften des Akteurs". Horn (2010) S. 9.
117
Wenig Sinn liegt darin, Forderungen an das handelnde Subjekt zu stellen, die es rationalerweise im Alltag nicht realisieren kann. In dieser Hinsicht muss sorgsam zwischen prudentieller (subjektiver) Rationalität und vernunftbasierter (intersubjektiver) Moralität unterschieden werden. Jemand der seine eigenen Interessen egoistisch oder sogar rücksichtslos verfolgt
und nicht auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen achtet, handelt zwar unmoralisch aber mitnichten (zwangsläufig) irrational, wenn er durch dieses Verhalten (insgesamt gesehen - also
kurzfristig, mittelfristig und langfristig) Vorteile hat. Keineswegs trifft die vor allem von Kant
und vielen seiner Anhänger bis heute vorgenommene Gleichsetzung von rationalem Verhalten
und Moralität zu. Diese grundlegende Fehleinschätzung oder auch unzulässige Vereinfachung
hinsichtlich verstandesbasierter und vernunftbasierter Rationalität führt mitunter zu groben
Irritationen und falschen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Realisierbarkeit von Moral als
rationalem Handeln. Seine Bedürfnisse zu vernachlässigen schmerzt bisweilen (heftig), unvernünftig oder unmoralisch (im Humeschen oder Kantischen Sinne) zu handeln nicht unbedingt. Eine etwa der Bedürfnisbefriedigung dienende unmoralische Handlung spiegelt deshalb
mitnichten (notwendig) irrationales Verhalten.
Ein rationales Subjekt versucht seine Bedürfnisse optimal zu befriedigen, seine Wünsche
schnellstmöglichst zu erfüllen, seine Interessen bestmöglichst zu realisieren. Dieser evolutionsbiologisch sinnvolle, bei Kant und Hume abwertend als Egoismus oder Eigenliebe klassifizierte (natürliche) Antrieb bewirkt die stärkste Handlungsmotivation im Menschen überhaupt. Eine das rationale Subjekt in seinen wesentlichen Dimensionen in den Mittelpunkt rückende Moraltheorie müsste deshalb zeigen, wie eben dieses rationale Subjekt in ihrem Sinne
zum Handeln motiviert, wie und unter welchen Bedingungen aus prudentieller egoistischer
Handlungsmotivation vernunftbasierte allgemeinwohlorientierte Handlungsmotivation werden kann oder unter welchen Bedingungen es für das Subjekt rational ist, moralisch zu handeln? Unbestreitbar muss für das empirische Subjekt die Absicherung seiner Bedürfnisbefriedigung im Rahmen von Moral rationalerweise Vorrang haben vor allen anderen moralischen
Anstrengungen, weil die eigene Existenzerhaltung die notwendige Bedingung jeder überhaupt
faktisch möglichen (moralischen) Handlungsorientierung bildet.289 Das rational handelnde
Subjekt muss bei seiner notwendigen Bedürfnisbefriedigung durch die Beachtung von Moral
mithin besser gestellt sein, als durch deren Missachtung.
Kants Vorstellung vom rationalen Subjekt: Korsgaard betont zutreffend, dass Kant auf seiner maßgeblichen systematischen moraltheoretischen Ebene den Menschen als Vernunftwesen ausweist, als ein Wesen, dass von vernünftigen Überlegungen geleitet wird und nicht von
seinen (notwendigen) empirischen Bedürfnissen. Damit aber werden die Bedingungen des
empirischen rationalen Subjekts ganz entscheidend und in meinen Augen unzulässig verkürzt.
Was verleitet Kant nun zu dieser zweifelhaften Reduktion empirischer Komplexität? Die entscheidenden Ursachen dürften in seiner rationalistischen, anti-empiristischen Grundhaltung
und seinen fragwürdigen naturteleologischen Vorstellungen vom Menschen liegen, denn Autonomie, Freiheit und Allgemeingültigkeit moralischer Normen sind nach meiner Einschätzung auch durch einen empirisch fundierten Argumentationsweg hinreichend begründbar.
Vollkommene Moral mag zwar im Sinne Kants (auch und gerade) für den (empirischen)
Menschen das höchstmöglich erreichbare (immaterielle) Ziel sein, aber jedenfalls nicht das
wichtigste, weil der Mensch allein schon wegen seiner biologischen Natur auf Bedürfnisbefriedigung - im Gegensatz zur Moral - immer und überall notwendig angewiesen bleibt.
Warum also sollte ein Mensch den (intelligiblen) Standpunkt eines Vernunftwesens einnehmen - wenn er nun einmal nicht (ausschließlich oder auch nur überwiegend) in einer intelligiblen Welt lebt - und seine natürlichen Bedürfnisse (für sein Überleben) wichtiger sind als
289
Insofern unzutreffend Korsgaard: „Das Ausmaß zu bestimmen, in dem Menschen durch rationale
Überlegungen tatsächlich veranlasst werden, etwas zu tun oder zu glauben, überschreitet den Rahmen
des Geltungsbereichs der Philosophie. Philosophie kann uns höchstens sagen, wie es sein würde, rational zu sein.“ Korsgaard (1999) S. 145.
118
seine intellektuellen Ansprüche? Warum sollte jemand als egoistisches, überwiegend prudentiell orientiertes rationales Subjekt dem Standpunkt der Vernunft Priorität vor seiner Selbsterhaltung einräumen? Auf diese elementare, wenn nicht sogar überhaupt bedeutendste moraltheoretische Frage haben weder Kant, noch Korsgaard oder andere Interpreten eine (plausible)
Antwort. So schreibt Korsgaard über Kant, er habe nicht gezeigt, „dass die reine Vernunft ein
Motiv sein kann“, seine Argumentation gebe aber „dennoch detaillierte Auskünfte [...], wie
sie ein Motiv sein kann - wie sie als Triebfeder in Widerstreit mit anderen Anreizen funktioniert."290 Nähere Auskünfte über die (psychologischen) Einschränkungen menschlicher (reiner) Vernunftorientierung und deren inhaltliche Implikationen sind nach Korsgaard aber nicht
Thema der Philosophie. Mit dieser (leichtfertigen) Aussage zu den Grenzen moralphilosophischer Kompetenz kehrt Korsgaard schließlich wieder ganz zu Kant zurück.
Engagierte Kritiker der Kantischen Moraltheorie bemängeln, sie beruhe auf der irrtümlichen (von Hegel perfektionierten) Annahme, die empirische Welt sei als notwendiges Ergebnis der Realisierung des Vernünftigen zu verstehen. Allein aus der Perspektive der Vernunft
betrachtet, erscheine die empirische Welt wie ein System gesetzmäßiger notwendiger Zusammenhänge,291 wodurch sich deren Komplexität jedoch ganz erheblich reduziere. Diese
durch schlichte Abstraktionsleistung auf Begriffe und Gesetze kondensierte Vorstellung werde dann eben der empirischen Welt aufgedrängt und diene sogar als Basis der Moralbegründung.292 Schwemmer kommt zum Ergebnis, dass eine solche Moral (ohne hinreichende Konkretisierung) nur sehr bedingt geeignet sei, Handlungsnormen zu begründen, da sie - an (reine)
Vernunft gebunden - auch nur in einer ihren Gesetzen gemäßen Welt (uneingeschränkte) Bedeutung haben könne. Diese Welt wäre nur eine rein theoretische, konstruierte Welt oder, wie
es Schwemmer nennt, eine bloß gedachte und für sich abgeschlossene (intelligible) Innenwelt
der Handelnden.293 Seine grundlegenden Einwände treffen natürlich besonders das in meinen
Augen die gesamte Kantische Moraltheorie tragende Naturteleologie-Argument. Anders formuliert liegt der grundlegende Fehler bei Kant darin, dass er vernünftiges Handeln (ohne genügend politischen Sachverstand) in einer Welt fordert, die eben nicht von Vernunft beherrscht wird und durch (weitgehende) Ignoranz ihrer empirischen Handlungsbedingungen
(etwa Ressourcenknappheit) insgesamt weltfremd wirkende und deshalb auch nur wenig Anreiz zu ihrer Beachtung bietende Normen aufstellt.
Humes Vorstellung vom rationalen Subjekt: Von der empirischen und nicht der (vermeintlich) intelligiblen Natur des Menschen ausgehend (wie Kant), erkennt Hume durch das (motivationale) Grundprinzip aller Lebewesen (Lustsuche und Schmerzvermeidung) die überragende Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung für alle Menschen. Für Hume stellt der Mensch
ein affektgesteuertes Wesen dar, das durch Verstand und Vernunft diese Affekte zwar nicht
vollständig beherrschen, aber immerhin lenken kann. Allerdings reichen die von Hume dem
Menschen zugestandenen rationalen Fähigkeiten nicht besonders weit. Über weite Strecken
seiner Moraltheorie erhält man den Eindruck, der Mensch werde weniger durch eigene kognitive Leistungen, als vielmehr durch seine Natur (moralischer Sinn), schulische Erziehung und
nicht zuletzt staatliche Kontrolle (Recht, Gerichte, Strafe) zu moralischem Handeln befähigt.
Gleichwohl scheint mir die Humesche Moraltheorie dem Menschen in vielen Textpassagen
wenigstens die elementaren Mindestvoraussetzungen (nämlich Zweckrationalität) zuzugestehen, die an das rationale Subjekt aus moralwissenschaftlicher Sicht zu stellen sind.
Die Differenz zwischen Humes und Kants Anforderungen an das rationale Subjekt beginnt
schon in der höchst unterschiedlichen Einschätzung der Frage nach dem Sinn von Moral
schlechthin. Für Kant scheint Moral der Ort höchster und wahrer Bestimmung des Menschen
290
Korsgaard, (1999) S. 142.
Vgl. Schwemmer (1986) S. 189.
292
Vgl. Schwemmer (1986) S. 191.
293
Vgl. Schwemmer (1986) S. 171.
291
119
zu sein, während sie bei Hume ganz pragmatisch der Lustvermehrung und Schmerzvermeidung im Allgemeininteresse dient. Das für eine Realisierung von Moraltheorie entscheidende
Problem liegt darin (und am sinnvollsten scheint mir die Debatte über Internalismus und Externalismus unter dem Gesichtspunkt zu sein), ob und vor allem inwieweit intersubjektive
moralische Gründe (für die Rechtfertigung einer Handlung) zugleich auch für jeden einzelnen
Menschen ein hinreichendes subjektives Motiv sein können, moralische Handlungen auszuführen? Im Zusammenhang mit dem hier interessierenden Vergleich der Humeschen und
Kantischen Moraltheorie muss natürlich beachtet werden, dass Kant viel höhere Anforderungen an die moralische Qualität einer Handlung stellt, als Hume. Zwar hat nach Hume ebenso
wie bei Kant das (tugendhafte) Motiv einer Handlung den zentralen moralischen Wert, aber
bei Hume reicht bereits das verstandesbasierte Motiv der Beachtung eigenen und (vor allem)
fremden Nutzens (über das Mitgefühl) zur Erfüllung der moralischen Bedingung aus. Für
Kant entspricht eine Handlung demgegenüber nur dann den hohen moralischen Anforderungen, wenn sie gerade unabhängig von den prudentiellen Interessen des Handlungsakteurs aus
dem vernunftbasierten Gefühl der Achtung heraus in Übereinstimmung mit seinem KI oder
dem ZP vollzogen wird - und zwar (ausdrücklich) völlig unabhängig von ihren Konsequenzen
und damit natürlich auch von ihrem individuellen und kollektiven Nutzen.
Beide Rechtfertigungsszenarien werden zwar wegen der vom Subjekt selbst zu generierenden Handlungsmotivation mit Blick auf intersubjektive Handlungsgründe und damit wegen
ihrer übereinstimmenden Struktur gemeinhin als internalistisch bezeichnet, jedoch unterscheidet sie ganz wesentlich das Niveau der geforderten moralischen Motivation und der geforderten (intersubjektiven) Handlungsgründe. Während es bei Hume um den zu verwirklichenden
eigenen und allgemeinen Nutzen geht, fordert Kant die Gesetzestauglichkeit von Maximen
letztendlich aus Achtung vor der (von Kant angenommenen) höheren Bestimmung des Menschen. Der eigentliche Fokus in der Debatte über Internalismus und Externalismus bei Hume
und Kant liegt also weniger im strukturellen Zusammenhang von (moralischen) Handlungsgründen und (moralischer) Handlungsmotivation, sondern in der Frage, ob bereits prudentielle
Handlungsmotive im Humeschen Sinne oder erst (rein) vernunftbasierte Handlungsmotive im
Kantischen Sinne eine zureichende moralische Qualität beanspruchen können?
Intersubjektive Handlungsgründe sind bei Hume und Kant zwar nur vernunftbasiert (durch
Moraltheorie) rechtfertigbar, aber bei Hume bereits durch prudentielle (verstandesbasierte)
Handlungsmotive realisierbar, während bei Kant auch nur vernunftbasierte Handlungsmotive
(Achtung) moralisch zulässig sind. Mit prudentieller Motivation lässt sich bei Kant nur die
Ebene des (positiven) Rechts (Legalität), aber nicht die Ebene der Moral erreichen. Letztendlich spitzt sich die Diskussion um Internalismus und Externalismus bei Hume und Kant also
darauf zu, welcher Art die Motive sein müssen, die uns verpflichten, moralisch zu handeln?
Darf es bereits prudentielles Interesse sein, oder muss es in jedem Fall unbedingte, vernunftbasierte Achtung vor dem (offenbar nicht näher begründbaren) Kantischen KI sein? Kant
würde Humesche prudentielle Handlungsmotive nicht als moralisch anerkennen und Hume
würde Kantische Handlungsmotive als unmöglich realisierbar einschätzen, weil ihnen die (für
Hume) entscheidende emotivistische Basis fehlt.
Humes Position erlaubt nur solche Handlungsmotive, die auf die Bedürfnisse, Gefühle,
Wünsche des Individuums zurückgehen. Aus Humescher Sicht stellt sich Kants Moraltheorie
als unangemessen dar, denn sie fordert vom Menschen ein (moralisches) Verhalten, das außerhalb seiner (natürlichen) Bedürfnisstruktur liegt. Kants Theorie verlangt sogar ein den
eigenen (natürlichen) Bedürfnissen widersprechendes Verhalten (da hilft es auch nicht, wenn
Kant Glauben machen will, die Natur habe den Menschen mit Vernunft ausgestattet, um ihm
die Realisierung von Moral zu ermöglichen). Kant fordert (im Gegensatz zu Hume) gerade
moralisches Handeln nicht aus Neigung (Mitgefühl), sondern aus vernunftbasierter Pflicht
(aus Achtung vor seinem KI). Hume würde über die Kantische Moraltheorie zudem sagen
können, sie verlange nicht nur ein Verhalten, dass seiner Natur zutiefst zuwider sei, sondern
120
sogar außerhalb seiner Interessen liege (was Kant im Rahmen seiner apriorischen Moraltheorie auch kaum bestreiten würde).
Die lediglich auf allgemeine optimale Bedürfnisbefriedigung abzielende Moraltheorie des
Humeschen Typus würde von ihren Anforderungen an das rationale Subjekt her als Basismoral, Minimalmoral oder Low-Level-Moral durchgehen, die des Kantischen Typs hingegen wäre eher als Hochmoral, Maximalmoral oder High-Level-Moral zu charakterisieren. Das weitaus größte von einer normativen Moraltheorie zu lösende Problem im Zusammenhang mit den
Anforderungen an das rationale Subjekt liegt jedoch nach wie vor darin, weshalb man ihren
Vorschriften gehorchen soll? Wenn sich ein Mensch schon bei banalsten Vorhaben (etwa
welche Milch er kauft) fragt, warum er sich für dieses oder jenes Produkt entscheiden soll,
muss er sich doch erst Recht bei einem sein gesamtes Leben regelnden Normensystem fragen
dürfen, warum er es beachten soll? Denn wie sollte auch nur ein einziges besonderes moralisches Gebot oder Verbot überzeugen, wenn bereits die allgemeine Rechtfertigung von Moral
(im Ansatz) scheitert? Der großen Herausforderung elementarer Moralbegründung begegnen
Hume und Kant naturgemäß auf ganz unterschiedliche Art und Weise:
Im Fahrwasser wohlmeinender Interpretationen Kantischer Moraltheorie wird gerne behauptet, bereits die Frage nach dem Sinn moralischen Handelns sei entweder schlicht unangemessen294 oder sie wird zu den nachrangigen Fragen verschoben, warum ich vernünftig sein
oder das Gefühl der Achtung gegenüber dem KI entwickeln soll?295 Kant selbst hat alle diese
294
Nach Spaemann ist die Frage, warum ich moralisch sein soll, nicht zu beantworten und als Frage
selbst schon unmoralisch: „Das Eigentümliche der sittlichen Verpflichtung scheint gerade darin zu
liegen, dass sie eine bestimmte Reflexion trotz ihrer Möglichkeit nicht zulässt [...]. Der Verzicht auf
diese Reflexion scheint der eigentlich sittliche Akt zu sein.“ Spaemann (1999) S. 237.
Bayertz: "Entweder wird die Frage durch Angabe moralischer Gründe beantwortet; dann haben wir ein
zirkuläres Argument vor uns, denn man muss offenbar bereits auf dem Boden der Moral stehen, um
moralische Gründe zu akzeptieren. Oder es werden nicht-moralische Gründe angeführt (etwa Klugheitsüberlegungen); dann wird Moral auf ein außermoralisches Fundament gestellt, d.h. es wird eine
falsche Art von Gründen bemüht. Oder es wird die Begründung einfach abgebrochen. Handlungen, die
durch außermoralische Ziele oder Interessen motiviert sind, können nach Kant grundsätzlich nicht als
moralisch gelten. Für Kant ist ein Handeln nur dann moralisch, wenn es um der Moral willen (aus
Pflicht) erfolgt. Vgl. Bayertz (2006) S. 17.
Williams spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Kant von einer Nichtbegründbarkeit der Moral ausgegangen ist Das, was Williams meint und was damit unmittelbar in Zusammenhang steht, ist
die Unbedingtheit des Moralgesetzes bei Kant. Weil also eine Rechtfertigung moralischen Sollens
keine Begründung sein kann, musste sich Kant auf die Suche nach dem Unbedingten machen. Williams verdeutlicht das durch folgendes Argument: Der Ursprung, also die Axiome oder Prämissen
einer Begründung, sind selbst entweder normativ oder nicht. Sind die Prämissen selbst normativ, so
können sie keine Moral begründen, da die geforderte Begründung der Normativität dadurch nur verschoben wird. Sind die Ausgangssätze nicht normativ, also auch nicht moralisch, so können sie keine
Moral begründen. Anhand des letzten Argumentationsschrittes kann die von Kant geforderte Unbedingtheit seiner Gesinnungsethik deutlich gemacht werden. Der Bezug auf nicht normative Motive
und Beweggründe zerstört die „Reinheit“ der Moral. Der gute Wille ist nur so lange gut, als er für sich
alleine Motiv und Beweggrund ist. Die Argumentation muss aufhören zu fragen, sobald die Ebene der
Gesinnung erreicht ist. Nicht nur das Angeben eines weiteren Motivs würde den guten Willen unterminieren; schon das Stellen der Frage „Warum soll ich das Gute wollen?“ entlarvt mich als Amoralisten. Wenn eine unbedingte Begründung und ein kategorischer Charakter der Moral gefordert sind,
dann muss eine heteronome Begründung auf jeden Fall vermieden werden. Formen von Heteronomie,
wären etwa eine instrumentelle, d.h. zweckrationale oder ethische Begründung der Moral. Vgl. Williams (1999) S. 83.
295
Darauf scheint mir stellvertretend für zahlreiche andere Interpreten Klemmes Intention hinauszulaufen. (Klemme (2006) S. 122ff.). Im Grunde stimmt er aber meinem negativen Befund wohl zu,
wenn er seine Untersuchung zur Motivationsproblematik bei Kant mit der Einschätzung abschließt:
"Demnach kann die subjektive Anerkennung der Mitgliedschaft aller Menschen im Kantischen Reich
121
Fragen auf dem Boden seiner aprioristischen, rationalistischen Moralkonzeption nach meiner
Auffassung nicht überzeugend beantworten können und insofern deren theoretische und faktische Akzeptanz vor eine große Herausforderung gestellt.296 Die Argumente derjenigen Interpreten, die versuchen, Kants These von der Unbegründbarkeit der Moral stützen, gehen überwiegend in die bereits von Kant vorgegebene Richtung, die Reinheit und Unbedingtheit von
Moral werde andernfalls zerstört. Dieser Reinheit und Unbedingtheit liegt nach Analyse der
Überlegungen Kants zunächst nicht mehr und nicht weniger als eine entsprechende Forderung zugrunde. Weder begründet Kant plausibel, dass Reinheit und Unbedingtheit theoretisch
oder faktisch mögliche, noch überhaupt theoretisch oder faktisch wünschenswerte Attribute
moralischer Normen sind. Die Rechtfertigungsszenarien der Kantischen Unbegründbarkeitsthese durch ihre Befürworter ruht in meinen Augen eigentlich auf der (oberflächlichen) Attraktivität seines (überzogenen) moralischen Absolutheitsanspruchs, denn im Alltag operieren
wir (rationalerweise) ganz selbstverständlich überwiegend mit hypothetischen Imperativen.
Die Kantische Moraltheorie scheint jedoch in ihrer Forderung nach kategorischen Imperativen für manche Interpreten die sehr anziehend wirkende Verheißung (ansonsten völlig ungewohnter) unbedingter Orientierung zu bieten. Dieser Absolutheitsanspruch wird aber weder
von Kants KI selbst, noch durch irgendeine von Kant aus dem KI abgeleitete Norm wirklich
eingelöst. Mit einem solch überzogenen Anspruch sind wir in keiner anderen Wissenschaft
konfrontiert; wir kennen ihn eigentlich nur aus religiösen Kontexten. Wie aber soll der moralische Standpunkt überhaupt eingesehen, geschweige denn global beachtet werden können,
wenn er nicht einmal als hinreichend begründbar ausgewiesen wird?297 Bereits auf dem Boden der Vernunft stehend, braucht der moralische Standpunkt nicht mehr begründet werden;
weil aber (apriorische) Vernunft eben nicht die (empirische) Welt regiert, müsste gezeigt werden, unter welchen Bedingungen die Einnahme eines vernünftigen (moralischen) Standpunktes eben gerade in dieser empirischen Welt gerechtfertigt scheint. Es reicht bei weitem nicht
aus zu zeigen, dass moralisches und vernünftiges Handeln (weitgehend) einerlei sind.
Unbeachtet der erhobenen Einwände werden Kantianer versuchen, dem moralischen Skeptiker klar zu machen, dass die Frage, warum er moralisch sein soll, Moralität verfehle; es sei
eine Frage zuviel. Ganz im Gegensatz dazu scheint mir diese Frage nicht nur völlig opportun,
sondern sogar unvermeidlich. Denn man könnte ebenso gut fragen, warum man politisch sein,
dem islamischen Glaubensbekenntnis beitreten oder sich sozial engagieren sollte? Diese Fragen sind in meinen Augen völlig legitim und nicht nur beantwortenswert, sondern sogar zwingend rechtfertigungsbedürftig, wenn der Verbindlichkeitsanspruch moralischer, politischer,
sozialer oder islamischer Normen gegenüber dem rationalen Subjekt nicht nur behauptet,
sondern auch begründet werden soll. Mit hinreichender oder eben unzureichender Beantwortung der normativen Begründungsfrage steht und fällt das gesamte moraltheoretische Projekt.
Wenn wir den moralwissenschaftlichen Standpunkt nicht begründen könnten, wäre es schwer
der Zwecke in letzter Konsequenz gegenüber dem Amoralisten nicht begründet werden: Wer das Gefühl der Achtung nicht empfindet, wird sich durch kein Argument überzeugen lassen, moralisch zu
sein". Klemme (2006) S. 139, Fn108.
296
Das sieht wohl auch Kant selbst: „(D)enn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlung
sein müsse, und worauf wir den Wert gründen, [...] der so groß sein soll, dass es überall kein höheres
Interesse geben kann, und wie es zugehe, dass der Mensch dadurch allein seinen Wert zu fühlen
glaubt, gegen den der, eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes, für nichts zu halten sei, keine genugtuende Antwort geben.“ Kant (GMS) S. 449f.
297
Wer unabhängig von der Einsicht in das Prinzip des Moralgesetzes noch einmal nach einem Motiv
für die Einnahme des moralischen Standpunktes verlangt, dem bleibt der moralische Standpunkt
fremd. Deswegen kann Heteronomie nie moralisch sein: eine der zentralen Einsichten Kants. Die Gefahr besteht darin, die Moral durch Bezugnahme auf etwas Außermoralisches - wie etwas das größte
Glück aller - zu begründen. Das, was die Moral ausmachen sollte, nämlich ihr kategorischer Charakter, würde durch ein unmoralisches Motiv zunichte gemacht. Forst (1999) S. 180.
122
- wenn nicht sogar unmöglich - ihn plausibel überhaupt gegenüber beliebigen religiösen Vorstellungen abzugrenzen. Die Frage etwa nach dem Sinn politischen Engagements ließe sich
dahingehend beantworten, dass ohne eigenes politisches Engagement andere die Rahmenbedingungen meines Handelns vermutlich auch ohne meine Zustimmung abstecken, ich also
Gestaltungsfreiheit in meinem ganz persönlichen Lebensumfeld verliere. Eine plausible Antwort auf die Frage, warum es durchaus sinnvoll sein kann, moralisch zu handeln, mag strukturell ähnlich gelagert sein.
Die Humesche Lösung des Problems der Motivation zum moralischen Handeln liegt ganz
einfach im Argument des wohlverstandenen (kurzfristigen und) langfristigen Eigeninteresses
und leuchtet deshalb unmittelbar ein: Wenn moralische Gründe handlungsbestimmend sein
sollen, dann muss es mein Wunsch sein, moralisch zu handeln. Insofern muss es lediglich in
meinem Interesse liegen, moralisch zu handeln. Punkt. Unter rationalen Gesichtspunkten muss
die Befriedigung meiner Wünsche und Interessen durch Beachtung moralischer Normen einfacher, besser, nachhaltiger, vorteilhafter möglich sein, als unter deren Missachtung. Moral ist
unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr und nicht weniger als Bestandteil des durch Verstand
und Vernunft (instrumentell) zu leistenden Zweck-Mittel-Kalküls: Ich habe einen Wunsch,
fasse einen Plan zu dessen optimaler Realisierung und überlege, welche Vorteile und Nachteile durch die Einbeziehung oder den Ausschluss moralischer Motive entstehen?298 Und gerade
in diesem Nachweis des individuellen Nutzens allgemeiner Moralvorschriften sieht Hume
selbst eine seiner Hauptaufgaben: "Oder welche Moraltheorie kann jemals irgendeinem nützlichen Zweck dienen, außer wenn sie im einzelnen zeigen kann, dass alle Pflichten, die sie
empfiehlt, auch die wahren Interessen eines jeden Individuums sind."299 Hume vermag seine
Auffassung von moralischer Verpflichtung deshalb nicht allein unter emotivistischen, sondern
auch unter rationalen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Aber nicht nur in begründungstheoretischer, sondern auch in anwendungsorientierter Hinsicht scheint die Humesche Moraltheorie
der Kantischen überlegen, wie besonders das noch zu erörternde Problem moralischen Handelns unter unmoralischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich macht. Humes vor
allem kontinentaleuropäische Kritiker, die ihm im Wesentlichen vorwerfen, lediglich eine
relativistische Position zu vertreten300 oder die Moral auf eine (rationale) Verfolgung langfristiger eigener Interessen zu verkürzen, bleiben in meinen Augen einen (belastbaren) Nachweis
dafür schuldig, dass Moral (mit Kant) tatsächlich mehr als (kurz-, mittel- und langfristige)
Interessenabsicherung sein kann und soll.
Aus der Perspektive des rational handelnden Subjekts steht das Erfordernis der Selbsterhaltung vor jeder Beachtung einer moralischen Norm. Eine Norm, die von mir verlangen würde,
meine Selbsterhaltung nicht vor jede moralische Norm zu stellen, sondern forderte, mein
Selbsterhaltungsinteresse in der Beachtung dieser Norm (notfalls) sogar zu ignorieren, verlangte unsinniges und unmögliches vom rationalen Subjekt. Sich selbst zu schaden ist (bereits
prudentiell) irrational; kein moralisches Gebot kann deshalb (verstandesbasiert oder vernunftbasiert) vom rationalen Subjekt verlangen, gegen seine eigenen (kurzfristigen oder langfristigen) Interessen zu verstoßen. Die Sorge des rationalen Subjekts um seine Selbsterhaltung
wiegt berechtigterweise höher, als sein Interesse an Moralvorstellungen - trivialerweise einfach deshalb, weil das Bestehen seiner vernünftigen Natur notwendig vom Erhalt seiner sinn298
Insofern scheint mir Schöneckers Kritik zumindest Hume betreffend unberechtigt: "Wie hängen
sich denn Gründe an Wünsche an? Darauf haben sie genauso wenig eine Antwort wie AntiHumeanisten eine Antwort auf die Frage haben, wie reine Vernunft praktisch sein könne". Schönecker
(2006) S. 323.
299
Hume (EnqM) S. 210.
300
"Humes Identifizierung des Sittlichen mit den natürlichen Neigungen des Menschen führt letztlich
mehr oder weniger zur Gleichsetzung von Tugend und Laster mit den Vorlieben und Abneigungen
einer bestimmten zeitlich und kulturell bedingten Gesellschaft, deren Sitten und Gewohnheiten er zu
Moralvorschriften erhebt". Lauener (1969) S. 189.
123
lichen Natur abhängt. Jemand der abstrakte Werte (Ideale) über die Erfordernisse des Erhalts
seiner Körperlichkeit stellen würde, handelte im Grunde irrational. Jedes Subjekt fragt sich
mit Blick auf die Realisierung von Moral berechtigterweise, welche Anstrengungen es unternehmen muss, um einer entsprechenden Moral (oder auch beliebiger Überzeugung, Weltanschauung, Religion) zu genügen und welche Vorzüge es davon hat? Vom rationalen Subjekt
moralisches Handeln zu verlangen, ohne ihm dafür (sichere) Vorteile zu bieten, bedeutet im
Grunde genommen nicht mehr und nicht weniger, als irrationales Handeln zu propagieren.
Eine Pflicht zum moralischen Handeln sogar gegen Eigeninteressen einzufordern, bedarf
eines sehr sorgfältigen Begründungsaufwands, den Kant eindeutig nicht leistet, wodurch seine
gesamte Moraltheorie unter den Verdacht eines Plausibilitätsvorbehalts gerät. Zudem lässt
sich für den Außenstehenden ein pflichtgemäßes Verhalten von einem Verhalten aus Pflicht
kaum unterscheiden, deshalb mag diese (Kantische) Unterscheidung zwar von wissenschaftlicher Bedeutung sein, aber im Alltag kaum eine Rolle spielen. Weil Vorschriften ohne Sanktionierung (positiv-rechtlich oder sozial) in der Regel kaum wirksam sind, sollten im Alltag nur
solche moralischen Forderungen aufgestellt werden, die auch (wirksam) sanktioniert werden
können. Da Kant vom rationalen Subjekt ein Handeln aus Pflicht und nicht nur pflichtgemäßes Handeln verlangt, steht das rationale Subjekt vor dem Problem, dass es selbst aus Pflicht
handeln muss, aber nicht beurteilen kann, ob andere auch aus Pflicht oder nur pflichtgemäß
handeln, was die Realisierungschancen eines solchen Pflichtbegriffs unter empirischen Bedingungen rational handelnder Subjekte sehr zweifelhaft erscheinen lässt.
Für Hume und für Kant steht außer Zweifel, dass der Mensch ganz überwiegend aus egoistischen Motiven handelt. Während Kant dies als unmoralische Eigenliebe einfach nur konstatiert, kann Hume auch den triftigen empirischen Grund dafür angeben: Weil er nämlich Bedürfnisse hat, deren Befriedigung Lust und deren Versagung Frustration oder sogar Schmerzen verursacht, weil er in einer Situation von Güterknappheit mit vielen anderen Menschen
um seine Bedürfnisbefriedigung konkurriert. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit Lustund Frustrationserlebnissen fragt jeder Mensch rationalerweise zuerst, welche Handlungen
(kurz-, mittel-, langfristig) für ihn selbst vorteilhaft oder nachteilig sind, was zur Bedürfnisbefriedigung und was zur Bedürfnisversagung führt? Die Konsequenzen aus dieser einfachen
Überlegung sind überschaubar: Wenn moralisches Verhalten in der Gesellschaft belohnt wird,
ist moralisches Handeln für mich gut, wenn moralisches Handeln in der Gesellschaft zu Nachteilen führt, ist moralisches Handeln für mich schlecht. Aus dieser prudentiellen Sicht kann es
zur Realisierung des vernunftbasierten moralischen Standpunkts (welche Handlungen bewirken kurz-, mittel-, langfristig für alle Menschen Nutzen) nur dann eine tragfähige Verbindung
geben, wenn moralisches Handeln für alle Menschen vorteilhaft wird. Ein rationales Motiv,
vernünftig zu handeln, kann es unter solchen Voraussetzungen für mich aber auch nur dann
geben, wenn ich davon einen Vorteil habe (oder wenigstens Schaden für mich vermeiden
kann). Das rationale Subjekt geht im Alltag zunächst von seinen Bedürfnissen und Wünschen
aus, stellt (naheliegende) prudentielle Überlegungen zu deren Befriedigung an, bevor es (entferntere) vernunftbasierte Überlegungen in Betracht zieht.
Kants Moral stellt jedoch kategorische Gebote auf - man soll unter allen Umständen moralisch handeln, auch wenn man deshalb Nachteile erfährt und sogar dann, wenn man dadurch
unmoralisches Verhalten anderer Menschen fördert. Denn Kant verlangt moralisches Verhalten unabhängig von seinen möglichen (unmoralischen) Konsequenzen. Das Spannungsverhältnis zwischen moralischen und unmoralischen Handlungsakteuren wird bei Kant überhaupt
nicht thematisiert, geschweige denn das moralische Paradox, Unmoralität (direkt oder indirekt) durch moralisches Verhalten: Wenn ich etwa einem potenziellen Mörder das Versteck
seines unschuldigen Opfers nenne oder wenn ich freundlich, höflich und hilfsbereit in einer
Horde von Rabauken auftrete, die mich daraufhin ausplündern, befördere ich unmoralisches
Handeln, was mitnichten moralisch sein kann. Insofern wirkt Kants Forderung, seinem KI
124
völlig situationsunabhängig kategorisch Folge zu leisten, schlicht und ergreifend irrational.301
Hume und der Utilitarismus verlangen moralisches Verhalten demgegenüber nur innerhalb
des Nutzenkalküls. Der Humesche Utilitarismus wird mit der genannten Situation eines potenziellen Mörders und seines Opfers oder dem Problem angemessenen Verhaltens in feindlicher Umgebung wesentlich besser fertig, als Kants rigoristische, kategoriale Moraltheorie.
Man überfordert den Menschen in einer von Egoismus beherrschten Welt nicht nur, wenn
man von ihm (mit Kant sowie seinen Interpreten Nagel und Korsgaard) verlangt, moralisch
der Moral wegen zu sein, sondern stellt sogar die Grundvoraussetzung jeder (normativen)
Moraltheorie, nämlich die Bedingung des rational handelnden Subjekts in Frage, denn für
dieses rationale Subjekt scheint es nur sehr bedingt rational, in einer doch überwiegend unmoralischen Welt moralisch zu sein.
Hume bringt das Spannungsverhältnis zwischen prudentieller und vernunftbasierter Rationalität auf den Punkt, indem er einräumt, dass "ich mit meiner Ehrlichkeit der Gefoppte wäre,
wenn ich allein mir strenge Zurückhaltung auferlegte inmitten der Zügellosigkeit anderer“302
oder indem er darauf hinweist, dass jemand "durch seine Integrität häufig im Nachteil" sein
kann.303 Für solche extrem wichtigen Überlegungen zu den gesamtgesellschaftlichen Realisierungsbedingungen moralischen Handelns scheint es im (intelligiblen) rationalistischen Kantischen Moralkosmos überhaupt keinen Platz zu geben. Denn es ist irrational (unklug und unvernünftig) durch moralisches Handeln (vermeidbare) Nachteile in Kauf zu nehmen. Vor diesem Hintergrund kann es entgegen Kants Auffassung in einer empirischen Welt rationalerweise auch gar keine kategorischen moralischen Gebote geben. Die Pointe der Humeschen
Morallehre im Kontrast besonders zur Kantischen oder zu kirchlichen liegt darin, dass sie
nach eigenem Bekunden nur solche Pflichten begründet, die im "wahren Interesse eines jeden
Individuums" liegen. Weil sich Humes Theorie von der Genese unserer Moralvorstellungen
im Alltag ausgehend nur unwesentlich von unseren alltäglichen Moralvorstellungen entfernt,
bietet sie auch größere Chancen zu ihrer Realisierung. Kant dürfte mit seiner apriorischen
Vernunftlehre und ihren metaphysischen Hintergrundannahmen hier weitaus größere Schwierigkeiten haben; seine Moraltheorie wirkt über weite Strecken akademisch, dem Alltag entrückt, erinnert in ihrem Absolutheitsanspruch an weltfremde religiöse Vorstellungen.
Zusammenfassung
Humes Darlegung zur Moralgenese entfaltet eine weitreichende, über den relativ engen
sensualistischen Begründungszusammenhang seiner Moraltheorie hinausgehende Bedeutung,
deren transzendentalphilosophische Relevanz ich im nächsten Kapitel untersuche. Allerdings
werde ich von Hume in den Punkten abweichen, wie diese Gefühle verarbeitet werden, wie
sie handlungsbestimmend sein können und vor allem inwiefern sie im Rahmen einer Moraltheorie mit intersubjektivem Anspruch überhaupt handlungsbestimmend sein sollen. Humes
Moraltheorie erfordert nach meiner Einschätzung ein über die sensualistischen Grundlagen
herausführendes Konzept praktischer Rationalität, dessen Fehlen nicht zuletzt Rawls kritisiert
hat. Dessen ungeachtet wird die in meinen Augen richtige Einschätzung über die fundamentale Bedeutung von Gefühlen, das Grundprinzip der Lustsuche und Schmerzvermeidung für
unsere moralischen Urteile und Handlungen in der Entwicklung meiner Vorstellungen einer
kontraktualistisch angelegten Globalmoral eine überaus wichtige Rolle spielen.
Die Qualität eines guten philosophischen Ansatzes liegt (auch) darin, dass er seine eigenen
Grenzen aufzeigt. Humes größte Stärke liegt zweifellos in seinem Empirismus, mit dessen
301
Eine Maxime, nur dann moralisch zu handeln, wenn es einem selbst (und allen anderen Menschen)
Vorteile bringt, widerspräche wohl nicht unbedingt dem Wortlaut des KI, aber sicher dem Geist der
gesamten Kantischen Moraltheorie.
302
Hume (Treat) B 3, S. 111.
303
Hume (EnqM) S. 213.
125
methodischer Hilfe er die (empirische) Genese unserer Moralvorstellungen (abgesehen von
seiner irritierenden moral sense Lehre) insgesamt plausibel auszuleuchten vermag. Humes
größte Schwäche besteht ohne Frage in seinem Anti-Rationalismus, durch den ihm zahlreiche
Probleme moralischer Geltung entgehen. Gleichwohl beinhaltet seine Lehre etliche rationalistische Hintergrundannahmen, vor allem die Begründung und Realisierung des Nutzenprinzips
betreffend, das ohne starke Rationalitätsanmutungen bezüglich der handelnden Akteure undurchführbar erscheint. Die Schwäche des Humeschen induktiv-empiristischen Typs hinsichtlich der Geltungsproblematik liegt weniger an ihrer Methodik, als an mangelnder (abstrakter)
Begründung; es fehlt eine elaborierte Induktionstheorie, Hume erklärt Rationalität (im Zusammenspiel mit der sinnlichen Ebene) keineswegs überzeugend.
Komplementär dazu liegt Kants erheblich Stärke fraglos in seinem Rationalismus, der Geltungsfragen in den Mittelpunkt rückt und damit einiges zur Aufklärung der Intersubjektivität
im Normativen überhaupt beitragen kann. Kants größte Schwäche besteht klar in seinem AntiEmpirismus, der eine plausible Erklärung der Genese moralischer Vorstellungen verhindert.
Gleichwohl sind etliche Kantische Theorieteile entgegen Kants eigenen Beteuerungen ohne
starken Empiriebezug überhaupt nicht tragfähig, wenn man etwa an die Umsetzung seines KI
denkt, der letztendlich den Handlungsakteur sogar (konsequentialistisch) auffordert zu prüfen,
welche Folgen es hätte, wenn sich alle Menschen seine Maxime zu eigen machten. Zudem
unterschlägt Kant mit den emotionalen Grundlagen von Moral einen ihrer wesentlichen Bestandteile. Dessen ungeachtet erzielt Kant einen kaum überschätzbaren Fortschritt gegenüber
Hume durch den Nachweis, dass Moral nicht (ausschließlich oder überwiegend) auf Naturausstattung, sondern Selbstgesetzgebung des Menschen beruht und ganz wesentlich eigenständige (rationale) kognitive Leistungen erfordert, auch wenn Kant deren Genese selbst nicht
plausibel darlegen kann.
Weder Humes einseitiger Empirismus, noch Kants eindimensionaler Rationalismus sind
somit alleine zielführend. Hume und Kant versäumen eine nähere Analyse des Übergangs von
prudentieller zu vernunftbasierter Rationalität. Über die in unseren Moralvorstellungen wirkenden emotionalen, verstandesbasierten sowie vernunftbasierten funktionalen und inhaltlichen Anteile kann wohl nur die im nächsten Kapitel erfolgende transzendentale Analyse hinreichend Aufschluss geben. Kants Versuch, eine apriorische Morallehre aufzubauen, überzeugt nicht, denn sie unterstellt, dass wir ohne Erfahrung nur durch die Strukturen unseres
(apriorischen) Denkens empirisches hinreichend erklären und (moralisch) bewältigen können,
was letztendlich wie (naiver) Idealismus wirkt. Kants Ansinnen, eine Moraltheorie ohne jeden
Empiriebezug aufzustellen, scheint ebenso überstürzt, wie das Bestreben Humes, den moralischen Wert einer Handlung allein durch Empirie rechtfertigen zu wollen. Die Kennzeichnung
der Kantischen Morallehre als deontologisch erscheint bereits deshalb unzureichend, weil sie
in seine weitläufige Natur-, Geschichts- und Religionsteleologie eingebettet ist, die Charakterisierung der Humeschen Moraltheorie als teleologisch schon deshalb unzutreffend, weil das
Nutzenprinzip ohne Konkretisierung durch (überpositive und positive) staatliche Normen gar
nicht erfolgversprechend umsetzbar sein dürfte.
Obschon das Kantische ZP und das Humesche NP als tragfähig und rechtfertigbar erachtet
werden und infolgedessen untereinander kompatibel sein müssen, scheint eine Rechtfertigung
des ZP aus Humescher Sicht und eine Begründung des NP aus Kantischer Sicht bereits aus
methodischen Gründen ausgeschlossen. Gleichwohl konnte gezeigt werden, dass die Nutzenfunktion und Gerechtigkeitsfunktion in Gestalt des NP und des ZP unverzichtbare Bestandteile einer gehaltvollen Moraltheorie sein sollten. Ich werde später versuchen, beide in meinen
Augen unverzichtbaren, intuitiv komplementär wirkenden Moralprinzipien (inhaltliche und
formale Bestimmung des Moralischen) von einem kontraktualistischen Standpunkt aus zu
begründen. Bevor ich mich also im übernächsten Kapitel wieder den Problemen einer gehaltvollen Moraltheorie zuwende, scheint es jedoch ratsam, erst einmal die fundamentaleren Fragen der Genese und Geltung unserer Moralvorstellungen transzendental zu hinterfragen.
126
2. Transzendentale Moralrekonstruktion
In diesem Kapitel soll es wesentlich um Möglichkeiten und Grenzen einer Synthese der
Stärken von Humes (Genese) und Kants (Geltung) Moraltheorien im Rahmen einer transzendentalen Analyse unserer Moralvorstellungen insgesamt gehen. Im Mittelpunkt steht grob
gesagt die Untersuchung, inwieweit Moral auf der Basis von Gefühlen (subjektive Seite) beginnen muss und zu ihrer Vollendung Vernunft (intersubjektive Seite) bedarf? Ich will den
Hintergrund meines Vorhabens erst einmal kurz skizzieren, um Verständnis und Interesse für
dieses ungewöhnliche Projekt zu wecken. Lesern, die mit den recht abstrakten Hauptgedanken
der KrV nicht vertraut sind empfehle ich, dieses Kapitel zu überspringen, denn die Ergebnisse
der transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen werden natürlich in meinen eigenen konsensorientierten kontraktualistischen Ansatz im übernächsten Kapitel einfließen und
dort in einem einfacheren systematischen Rahmen Berücksichtigung finden.
Kant gehörte wohl zu den letzten Wissenschaftlern, die den Forschungsstand aller Wissenszweige seiner Zeit noch überblicken konnten. Sein transzendentales Erkenntnismodell
wurde vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes seiner Zeit entwickelt. Ebenso wie Hume war er von den bahnbrechenden Arbeiten Newtons beeindruckt,
weil sie das Naturgeschehen durch Naturgesetze erklärbar machten. Deshalb dürfte Kant als
bekennender Rationalist besonders durch Humes negative Beurteilung der wissenschaftlichen
Begründbarkeit von Kausalurteilen getroffen gewesen sein, weil sie die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Newtonschen Theorien zerstörte, deren hohen universellen Wahrheitsanspruch auf eine schlichte menschliche kognitive Gewohnheit reduzierte.304 Kants Transzendentalphilosophie kann als Gegenposition zu Humes Skeptizismus verstanden werden, der
Kant zur Aufstellung seiner erst Philosophie veranlasste, denn nach seinen eigenen Worten
hat der 'Humesche Zweifel' in ihm "den dogmatischen Schlummer" beendet305 und ihn überhaupt zur Abfassung der KrV geführt, die er selbst als eine "Ausführung des Humischen
Problems in seiner möglich größten Erweiterung"306 verstanden wissen will.
Nachdem Hume gezeigt hatte, dass sich Kausalität nicht allein durch Erfahrung (aposteriori) eben als Gewohnheit geltungstheoretisch rechtfertigen lässt, bestand Kants Lösungsweg
darin, Kausalität als (apriorisches) erfahrungskonstituierendes Prinzip auszuweisen, welches
jedem Erfahrungsaufbau vorausgehen muss, das Erfahrung mithin überhaupt erst ermöglicht.
Humes erkenntnistheoretischem Skeptizismus hält Kant in der KrV eine transzendentale Rekonstruktion der Geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis entgegen.307 Kants
Ausgangsfrage, "Wie sind s ynthetische Urteile a priori möglich?" 308 bietet im Kern
nur eine andere Formulierung für die Probleme einer Überwindung des Humeschen (empiristischen) Skeptizismus und einer Erneuerung der klassischen (rationalistischen) Metaphysik.
Aufbau und Argumentation der KrV sind ganz entscheidend auf diese beiden Perspektiven
304
Vgl. Popper, Karl Raimund. Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsche Fassung
der 4. verbesserten und ergänzten Auflage nach einer Übersetzung von Hermann Vetter, in Abstimmung mit dem Autor überarbeitet von Ingeborg, Gerd und Bernd Fleischmann. Hamburg 1984. S. 93.
305
Kant (Prol.) A, S. 260.
306
Kant (Prol.) A, S. 261.
307
„Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit
unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.
Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen“. Kant (KrV) Einleitung B, S.
25.
308
Kant (KrV) Einleitung B, S. 19.
127
hin ausgerichtet.309 Es geht eigentlich darum, wie objektiv gültige und damit wahre Urteile
(über die Natur) entstehen können? Im vorliegenden moraltheoretischen Zusammenhang interessanter und wichtiger wird natürlich die Analyse, wie subjektiv und intersubjektiv gültige
Urteile (a priori oder a posteriori) nicht nur über die Natur, sondern auch in der Moral, wie
mithin Moralerfahrung und Moralerkenntnis schlechthin möglich sind?
Der Sinn (intersubjektiv) gültiger Erkenntnis liegt nach Kant darin, dass sie "mich jederzeit
und auch jedermann"310 das gleiche lehren, dass sie deshalb grundsätzlich für jedermann von
Nutzen sein kann. Dahingegen würde sich der Nutzen von bloß subjektiv gültiger Erfahrung
nur "auf das Subjekt oder seinen dermaligen Zustand"311 beschränken. Erfahrung und Erkenntnis sind hinsichtlich unserer Naturvorstellungen (und auch unserer Moralvorstellungen)
in diesem Kantischen Sinne scharf voneinander zu unterscheiden, obwohl Kant selbst zwischen Erfahrung und Erkenntnis in seinen Schriften nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt312
differenziert und sich damit den Weg zu einer notwendigen abgestuften Beurteilung sowohl
menschlicher kognitiver Fähigkeiten, als auch zu einer genaueren Abgrenzung zwischen
menschlichen und animalischen kognitiven Leistungen verstellt. Außerdem entgeht Kant
durch die mangelnde konsequente Differenzierung zwischen (subjektiv gültiger) Erfahrung
und (intersubjektiv gültiger) Erkenntnis eine wesentliche Pointe seiner eigenen Erkenntniskritik und seiner Moralkritik.313
Ohne Erfahrungsbezug sind Gegenstandserkenntnis - und wie noch von mir zu zeigen sein
wird - auch Moralerkenntnis nicht plausibel erklärbar. Ganz im Sinne der hier für systematisch notwendig erachteten Abgrenzung von (subjektiv gültiger) Erfahrung und (intersubjektiv
gültiger) Erkenntnis sagt Kant selbst: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange,
daran ist gar kein Zweifel." "Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an."314 Durch Erfahrung allein (durch bloße Beobachtung), lässt sich aber - wie Kant mit Hume übereinstimmend angibt - niemals die (intersubjektive) Relevanz von Erkenntnis nachweisen, weshalb Kant eben die Bedingungen dieser Geltung untersucht. Erkenntnis entsteht nach Kants kritischem Modell wesentlich durch zwei
kognitive Verarbeitungsmuster, nämlich die Synthesis der Anschauung und die Synthesis des
Denkens: "Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, davon die erste
ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)."315
Ausdrücklich sagt Kant, "daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich
Sinnlichkeit und Verstand." 316 Beide Vermögen können ihre Funktion nicht vertauschen,
denn "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Der Verstand
vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen."317 In der Forderung ihrer Vereinigung und im Nachweis
ihrer Zusammenführbarkeit besteht die entscheidende Argumentationsperspektive der Kanti309
Kant selbst spricht in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV im Zusammenhang mit dem Skeptizismus von einem Skandal, dem die "Wurzel abgeschnitten" werden müsse. Vgl. Kant (KrV) B, S.
XXXIV.
310
Kant (Prol.) S. 299.
311
Kant (Prol.) S. 299.
312
„Empirische Erkenntnis aber ist Erfahrung“. (Kant (KrV) B, S. 166; vgl. B, S. 147, B, S. 218).
313
Die Pointe der Kantischen Erkenntnislehre besteht recht eigentlich in dem Nachweis, dass Raum,
Zeit und die Kategorien bereits für (subjektiv gültigen) Erfahrungsaufbau und damit erst recht für
(objektiv oder intersubjektiv gültige) Erkenntniskonstitution erforderlich sind.
314
Kant (KrV) Einleitung B, S. 1.
315
Kant (KrV) B, S. 74.
316
Kant (KrV) Einleitung A, S. 15.
317
Kant (KrV) B, S. 75 f.
128
schen erkenntniskritischen Überlegungen zur Begründung der Möglichkeit objektiv oder
intersubjektiv gültiger Erkenntnis (über die Natur).
In diesem Sinne wird es notwendig, das Mannigfaltige der Empfindung (oder der Gefühle)
durch die apriorischen raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen in Urteilen zur
Einheit im Bewusstsein zu bringen. Im Nachweis dieser Verbindung des Mannigfaltigen der
Bewusstseinsinhalte im Subjekt zu einer widerspruchsfreien kognitiven Einheit liegt die zentrale Intention des transzendentalphilosophischen Ansatzes. Damit steht die grundlegende Beziehung von kognitivem Subjekt und seinen Objekten fest: "Daß wir nämlich von den Dingen
nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen",318 oder dass nicht "alle unsere Erkenntnis sich müsse nach Gegenständen richten“, sondern "die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten."319 Die mit Humes Skeptizismus angestoßene und mit Kants Transzendentalphilosophie vollendete 'Kopernikanische Wende' in der Erkenntnistheorie bezieht
sich elementar darauf, dass Resultate kognitiver Anstrengungen (mit mehr oder weniger weit
reichendem Intersubjektivitätsanspruch) nunmehr eher von der Subjektsseite, als von der Gegenstandsseite her begründungsbedürftig erscheinen.320
Die von mir vorgenommene Erweiterung der Kantischen transzendentalen Analyse unseres
Naturhorizonts um die Perspektiven unseres Bedürfnishorizonts und unseres Handlungshorizonts ermöglicht die Begründung eines systematischen Gesamtzusammenhangs des menschlichen kognitiven Standpunktes zwischen Denken und Handeln, zwischen Bedürfnissen, Natur,
Moral und wirft damit auch ein neues Licht auf Kants Lehre von der transzendentalen Apperzeption, die auf mich in der KrV durch Beschränkung auf den Naturzusammenhang etwas
verloren, verkürzt, isoliert wirkt. Die transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen
werde ich am Leitfaden der Kantischen transzendentalen Deduktion unsere Naturvorstellungen entwickeln. Da es hier schwerpunktmäßig um Moral geht, werde ich meine Interpretation
des Kantischen Vorbildes nicht im Detail gegen andere Interpretationen der Kantischen Deduktion abgrenzen. Ich denke, meine Auslegung der KrV liegt sowohl ziemlich nahe am Vorbild, als auch an der vorherrschenden Meinung der Interpreten. Dies trifft auf meine transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen natürlich ganz und gar nicht zu - weder im
Hinblick auf deren äußerst wechselvolle Einschätzung durch Kant selbst, noch auf andere
Versuche in der Hinsicht. Bereits in der Einleitung zur ersten Auflage der KrV im Jahre 1781
grenzt Kant "die obersten Grundsätze der Moralität" von der Transzendentalphilosophie aus.
Im dritten Abschnitt der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' von 1785 hält er demgegenüber eine Deduktion des Sittengesetzes nicht nur für möglich, sondern beansprucht sie offenbar geleistet zu haben. In der 'Kritik der praktischen Vernunft' von 1788 schließlich verneint
er (wiederum) die Durchführbarkeit einer "Deduction des moralischen Princips".321 Wie sind
dieser von großer Unsicherheit zeugende doppelte Sinneswandel und die in der GMS offenbar
für möglich gehaltene Deduktion erklärbar?
Kants Einwände gegen die Einbeziehung der Moraltheorie in seine revolutionäre transzendentale Methodik aus der KrV beziehen sich bezeichnenderweise wesentlich darauf, dass dann
318
Kant, (KrV) Vorrede B, S. XVIII.
Kant, (KrV) Vorrede B,.S. XVI.
320
Sofern Erkenntnis ausschließlich als Leistung des Subjekts begriffen wird, ist die Transzendentalphilosophie eine Subjektivitätsphilosophie, womit sie sich als spezifisch neuzeitliche Philosophie auszeichnet. Den systematischen Aspekt dieser Subjektsphilosophie hebt Baumanns hervor: „Die Kritik
der reinen Vernunft ist eine einzige, aus dem apperzeptionslogischen Standpunkt unternommene Urteilstheorie. In der Vernunftkritik verschafft sich das endliche logische Selbstbewußtsein über seine
transzendentale, a priori erfahrungsgenerierende und erscheinungskonstitutive Subjektivität Klarheit“.
Baumanns, Peter. Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln
der "Kritik der reinen Vernunft". Würzburg 1997. S. 72.
321
Kant (KpV) S. 47.
319
129
seiner Auffassung nach empirische Begriffe ihren apriorischen Charakter zerstören würden,
"weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw., die
insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten."322 Kant räumt
in der KrV offenbar selbst noch ein, dass Moral - jedenfalls der Genese nach - auf emotionalen Grundlagen beruht: "Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft. Denn alles Praktische, sofern es Bewegungsgründe enthält,
bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören."323 Gegen den
Kantischen Ausschluss genetischer emotionaler Vorstellungen aus der Transzendentalphilosophie aber spricht, dass Empfindungen als Grundlage der Naturerfahrung und Naturerkenntnis auch (empirischen) sinnlichen Ursprungs sind. Mir scheint, diese ungleichgewichtige Einschätzung und die damit verbundenen Wendungen bei der Beurteilung einer transzendentalen
Deduktion von Moral sind in erster Linie Kants Anti-Empirismus und damit vor allem der
Konkurrenz zu Hume geschuldet, haben mithin keine plausiblen systematischen, sondern vor
allem im weitesten Sinne ideologische Hintergründe.
Kants in der GMS gegenüber den Bedenken aus der KrV dennoch für möglich gehaltene
transzendentale Deduktion hinsichtlich der Moral bezieht sich auf sein Sittengesetz, den KI324
und beruht auf folgender metatheoretischen Annahme: Das in seinen elementaren apriorischen kognitiven Leistungen um Erfahrung und Erkenntnis bemühte Subjekt stellt die maßgebliche Instanz dar, die alle Vorstellungen über die der Natur und die Moral überhaupt erst
konstituiert. Eine in der Weise generierte Erfahrung und Erkenntnis beinhaltet kein schlichtes
Abbild der Realität, sondern eine logische Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die im Denken des Subjekts entsteht. Wegen seiner rationalistischen Argumentationsstruktur muss der Realitätsbezug dieses Denkens jedoch nachgewiesen werden, im Kantischen
Sprachgebrauch dessen 'objektive Realität'. Nur mit Bezug auf Tatsachen können nach Kant
unsere Naturvorstellungen auf der Basis von Empfindungen 'objektive Realität' und nach hier
vertretener Auffassung auch unsere Moralvorstellungen auf der Basis von Gefühlen intersubjektive Geltung haben. Andernfalls stünden sie unter dem Generalverdacht, ein bloßes Gedankending zu sein, ein Produkt schöpferischer Phantasie oder eben nur schlichte (rationalistische) Weltanschauung.
In der Erkenntnistheorie wird das (apriorische) Subjekt bei Kant zum Initiator und Verwalter der Konstitution aller Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten von Erscheinungen, wodurch die Erscheinungen als Erfahrung und Erkenntnis erst möglich werden. In der praktischen Philosophie wird das (apriorische) Subjekt dann zu einem unmittelbaren Selbstgesetzgeber, das seine eigenen normativen Gesetze und seinen eigenen ontologischen Status begründet. Weil Vernunft den gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur ebenso wie der Moral
erst konstituiert und damit deren widerspruchsfreie Einheit sicherstellt, darf sich Kant erlauben, den KI auch in der Naturgesetz-Formel auszusprechen. Und aus diesem Grund sieht sich
Kant in der GMS befugt, von der ontologischen Superiorität des apriorischen Willens des
Subjekts in der Gedankenwelt gegenüber dem empirischen Willen des Subjekts in der Sinnenwelt reden.325 Allerdings greift diese Deduktion in meinen Augen zu kurz, denn es müsste
erst einmal gezeigt werden, wie das (empirische) Subjekt zum KI gelangt, wie es überhaupt
gelingt, die moralische Frage zu stellen, was Moral überhaupt bedeutet.
322
Kant (KrV) A 14 f.; B 28 f.
Kant (KrV) A 14 f.; B 28 f.
324
Die Ausgangsfrage dieses Abschnitts lautet: "Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?" Kant
(GMS) S. 453. "Und so sind kategorische Imperative möglich, dadurch dass die Idee der Freiheit mich
zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht ... " Kant (GMS) S. 454.
325
Vgl. Schönecker: "Die Verstandeswelt und damit auch der Wille als Glied dieser intelligiblen Welt
sind der Sinnenwelt ontologisch übergeordnet und damit gilt der KI auch für Wesen, die zugleich
Glieder beider Welten sind". Schönecker (1999) S. 406.
323
130
In der KpV vollzieht Kant gegenüber seiner Deduktion in der GMS wieder eine radikale
Kehrtwende, die wohl damit begründet wird, dass sich die Superiorität des apriorischen Willens gegenüber dem empirischen Willen ontologisch eben nicht beweisen lässt: "Auch ist das
moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung
kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte. Also kann die objektive Realität
des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen,
spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also, wenn man auch auf
die apodiktische Gewißheit Verzicht thun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori
bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest."326 Ein weiteres entscheidendes Argument Kants aus der KpV gegen eine transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen
liegt darin, dass es nach Kant die praktische Vernunft im Gegensatz zur theoretischen Vernunft "nicht mit Gegenständen, sie zu erkennen, sondern mit ihrem eigenen Vermögen, jene
(der Erkenntniß derselben gemäß) wirklich zu machen, d.i. es mit einem Willen zu thun ... "327
hat. Demzufolge "teilte denn die Analytik der praktischen reinen Vernunft ganz analogisch
mit der theoretischen den ganzen Umfang aller Bedingungen ihres Gebrauchs, aber in umgekehrter Ordnung."328 Jedoch übersieht Kant hier wiederum, dass zuerst gezeigt werden muss,
wie Vernunft überhaupt zu moralischer Einsicht gelangt, bevor dargelegt wird, wie sie diese
Einsicht verwirklicht. Insofern wäre in einem ersten Schritt zunächst zu eruieren, wie der
(nicht nur abstrakte vernunftbestimmte, sondern vor allem der konkrete empirische) Wille
überhaupt zu Moralvorstellungen allgemein und speziell zur Einsicht seines KI gelangt.
Denn nach meiner Auffassung liegt die eigentliche moraltheoretische Herausforderung anders als Moraltheorien des rationalistischen Typs (Kant, Rawls, Habermas) annehmen, weniger darin zu beschreiben, wie sich der Mensch als Vernunftsubjekt zu vernunftbestimmtem
moralischem Handeln verpflichtet denkt (denn als Vernunftsubjekt steht der Mensch bereits
auf dem Boden der Moralität, es geht wesentlich nur noch um die Modalitäten, die Ausgestaltung dieser Moralität, was vom Begründungsaufwand her relativ überschaubar wirkt), sondern
vielmehr darin, wie sich der Mensch in unserer eben nicht vernunftbestimmten, sondern von
Egoismus bestimmten empirischen Welt eben als empirisches sinnliches Subjekt zum moralischen Handeln bestimmen kann, wie der empirische uns vom Alltag her bekannte Mensch
moralische Erfahrung, womöglich sogar moralische Erkenntnis bilden und sich (unter welchen Voraussetzungen) zu ihrer Beachtung motivieren vermag. Selbst wenn man mit Kant
davon ausginge, dass moralische Normen nicht (hinreichend) empirisch begründbar sind,
müsste nach meiner Einschätzung zumindest gezeigt werden, wie der empirische Mensch zu
einfacheren und komplexeren Vorstellungen moralischer Normen überhaupt gelangen kann.
In der KrV ging es schließlich auch erst einmal darum, wie Menschen überhaupt imstande
sind, Vorstellungen über die Natur, Erfahrung über die Natur zu entwickeln, bevor gefragt
wurde, wie Erkenntnis über die Natur, wie Naturgesetze möglich sind? Die Frage der Genese
hat in seiner theoretischen Philosophie argumentationslogisch eindeutig Vorrang vor dem
Problem der Geltung, die Geltungsfrage wird überhaupt nur auf der Grundlage der Geneseproblematik entscheidbar. Weil Kant die Geneseproblematik in der praktischen Philosophie
wegen seiner rigorosen Abgrenzung zu Hume und seinem Beharren auf einem rationalistischen Standpunkt aber nicht bewältigen kann oder will, bleiben auch seine Ausführung zur
moralischen Geltungsproblematik unzureichend und Kant zieht sich auf die Behauptung vom
'Faktum der Vernunft' zurück. In der Moraltheorie scheint die Geltungsfrage für Kant auch
ohne nähere Begründung oder Beweis entschieden.
In der Gesamtschau auf Kants konträre Auffassungen zur transzendentalen moralischen
Thematik wird nach Schönecker deutlich, "dass es in Kants Ethik innerhalb kurzer Zeit einen
326
Kant (KpV) S. 47.
Kant (KpV) S. 89f.
328
KpV, S. 161.
327
131
radikalen Umschwung gegeben haben muss, weil ja gerade dieses Faktum-Theorem in der
drei Jahre nach der GMS veröffentlichten KpV in Erscheinung tritt. Es tritt wie Kant selbst
sagt "an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion."329 Nach Schönecker ist es "kaum
bezweifelbar, dass Kant hier starke Selbstkritik übt."330 Kant dürfte wohl sein zentrales Vorhaben einer Überwindung der empiristischen Humeschen Moraltheorie (in der GMS mit Hilfe
seiner Paradedisziplin, der Transzendentalphilosophie) anfangs etwas zu euphorisch eingeschätzt haben, weshalb er seine Bemühungen um eine transzendentale moralische Analyse in
der KpV zugunsten einer wenig überzeugenden, sehr dogmatisch wirkenden Faktumtheorie
wieder aufgibt:331 Etwas "anderes aber und ganz widersinnisches" tritt an die Stelle der Deduktion in der GMS, nämlich das Faktum-Theorem, weil es nach Kant der gesuchten Deduktion entgegengesetzt ist. Kant bringt die im Zusammenhang mit dem Faktum-Theorem erforderlichen Begründungsleistungen jedoch nicht überzeugend zuwege und deshalb verliert die
gesamte Konzeption der kantischen Transzendentalphilosophie an Plausibilität. Die FaktumTheorie stößt bei vielen Interpreten auf harsche Kritik, weil sie den hohen transzentdentalphilosophischen Anspruch aus der KrV nicht erfülle;332 die Berufung auf etwas unleugbar Faktisches, was keiner Rechtfertigung bedürfe, laufe allen Bemühungen um die intellektuelle Redlichkeit der Transzendentalphilosophie zuwider.333 Dass sich Kant in diesem Zusammenhang
besonders emphatisch ausdrückt, verdeckt den Makel keineswegs, sondern unterstreicht ihn
und offenbart einmal mehr das ganze Ausmaß seiner Unsicherheit auf moraltheoretischem
Gebiet. Denn dass ein Bewusstsein des Moralgesetzes als Faktum "sich für sich selbst uns
aufdringt",334 dass es unleugbar,335 nämlich "a priori bewußt" und "apodiktisch gewiß"336 sei,
kann durchaus bestritten werden und bedarf nicht etwa "keiner rechtfertigenden Gründe",337
sondern müsste gerade eigens begründet werden.
Abseits der befremdenden Behauptungen in der KpV sollte die entscheidende erste Frage
einer transzendentalen Moraltheorie sein, welche kognitiven Voraussetzungen es uns überhaupt erlauben, eine so elementare Differenzierung wie 'gut' und 'schlecht' einzuführen, uns
zu Moralerfahrung und schließlich zu Moralerkenntnis befähigen? Bezüglich der Natur gibt es
Erfahrung und Erkenntnis. Hinsichtlich der Moral spricht Kant nur von Erkenntnis, die offenbar keine kognitive Vorstufe in Moralerfahrung oder gar Sinnlichkeit erfordert. Wie das vorherige Kapitel über Kant und Hume gezeigt hat, können Kants ZP und Humes NP den gleichen Geltungsstatus als Moralkriterium beanspruchen wie Kants KI, nämlich Allgemeingül329
Kant (KpV) S. 47.
Schönecker (1999) S. 397.
331
Vgl. Krijnen, Christian. Begründung als Aufgabe. In: Moralbegründung und angewandte Ethik.
Marcus Düwell (Hrsg.) Center for Ethics Catholic University Nijmegen (CEKUN). Zentrum für Ethik
in den Wissenschaften in Tübingen. Die Beiträge des dritten Treffens der Ethikzentren in Nijmegen
und Tübingen. 11./12. Juni 1998 in Tübingen. Zentrum für Ethik in den Wissenschaften Tübingen,
1998. www.uni-tuebingen.de/zew/texte/nw9906.pdf.
332
Vgl. etwa Löhrer Guido. Kants Problem einer Normativität aus reiner Vernunft In: Gerhard Schönrich (Hrsg.), Normativität und Faktizität. Skeptische und transzendentalphilosophische Positionen im
Anschluss an Kant. Dresden: Thelem 2004. S. 187-207. http://www2. uni-er furt.de/ praktische _philosophie/UnterlagenLoehrer /Kants_Problem_einer_Normativitaet_aus_ reiner _Vernunft. pdf. Beim
zitierten Text handelt es sich nach Angaben des Verfassers um die vorletzte Fassung.
333
Vgl. Prauss, Gerold. Kant über Freiheit als Autonomie, Klostermann, Frankfurt am Main 1983. S.
68, Fn. 11. Böhme, Hartmut und Gernot. Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983. S. 345, Fn 21. Mit Prauss kann
man wohl zu Recht von einer "Verzweiflungstat" Kants sprechen. Prauss (1983) S. 67, Fn. 11.
334
Kant (KpV) S. 31 Anm.
335
Kant (KpV) S. 32.
336
Kant (KpV) S. 47.
337
Kant (KpV) S. 47.
330
132
tigkeit. Kants KI hat demnach kein Alleinstellungsmerkmal für die Moralerkenntnis, wie die
apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit, die Kategorien, Schemata und Grundsätze
für die Naturerkenntnis. Dieses Alleinstellungsmerkmal müsste der KI aber haben, wenn er
allein Gegenstand einer transzendentalen Deduktion von Moral sein können sollte. Allerdings
besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen KI, ZP einerseits und NP andererseits, denn
das NP beruht auf Erfahrung. Da unsere Naturerkenntnis ebenfalls auf Erfahrung beruht,
scheint zumindest ein Anfangsverdacht den hier vorgenommenen Versuch zu rechtfertigen,
Moralerkenntnis ebenso wie Naturerkenntnis mit Hilfe der apriorischen Anschauungsformen
Raum, Zeit und der Kategorien auf der Basis von Moralerfahrung zu suchen. Jedenfalls gibt
es aus meiner transzendentalphilosophischen Sicht keine Anhaltspunkte, dass unser naturkonstitutives Denken auf anderen Kategorien beruhen sollte, als unser moralkonstitutives.
Für die Berechtigung einer transzendentale Deduktion im Stile der KrV auch hinsichtlich
unserer Moralvorstellungen (als Moralerfahrung und Moralerkenntnis) spricht natürlich auch
Humes Grundprinzip über die Essentialität von Gefühlen für unser Denken und Handeln.
Nicht nur allein philosophische, sondern auch neuere psychologische Argumente stützen die
Berechtigung dieser Annahme. Dann dürften Gefühle aber wesentlich stärker als von Kant
eingeräumt, bei Entstehung, Entwicklung, Begründung und Anwendung moralischer Vorstellungen eine Rolle spielen. In diesem Fall wären Begründung und Anwendung etwa des KI nur
über das Humesche Sympathieprinzip möglich, das uns befähigt, mit anderen Menschen mitzufühlen, an deren Freude und Leid teilzuhaben. Denn wenn Gefühle grundlegend sind für
unser Denken und Handeln, dann können nur Gefühle uns zu moralischem Handeln führen ohne dass sich unsere moralischen Urteile zwangsläufig bereits in Gefühlen erschöpfen müssten. Wenn aber (subjektive und intersubjektive) moralische Vorstellungen auf Gefühlen beruhend mit Hilfe der apriorischen Anschauungsformen und der Kategorien durch Erfahrung
entwickelbar sein sollten, dann entfielen (soweit ersichtlich) alle wesentlichen von Kant gegen eine transzendentale Deduktion von Moralvorstellungen, Moralkriterien, namentlich des
KI vorgetragenen Argumente.
Denn von Kant bleibt unbewiesen, dass moralische Wertungen (auch intersubjektive moralische Wertungen) ihren Ursprung in praktischer Vernunft haben müssen. Sie sollen ihren
Ausgangspunkt in (reiner) Vernunft haben, weil darin nach Kants anzweifelbarer Auffassung
ein Garant für deren Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit liegt. Gesichert scheint aber lediglich, dass sich moralische Wertungen letztinstanzlich der Prüfung durch Vernunft stellen
und diese bestehen müssen, wenn sie mit einem intersubjektiven Geltungsanspruch auftreten
wollen. Die kognitiven Leistungen von Vernunft unterscheiden sich auch nach Kants Einschätzung nicht hinsichtlich ihres Gebrauchs für die Konstitution von Naturerkenntnis oder
Moralerkenntnis.338 Insofern spricht meines Erachtens einiges dafür, der Versuch einer Rekonstruktion der transzendentalphilosophischen Begründungsfigur in der Moral könnte lohnend sein. Nach meiner Einschätzung gibt es keine sinnvollere Alternative zu diesem Unternehmen. Daher müsste die methodische Struktur der transzendentalphilosophischen Legitimation von Moralerkenntnis derart angelegt sein, aus der Analyse der Moralgenese ihre Geltungsprinzipien herauszufiltern, um sie daraus zu erklären und zu begründen. Die transzendentale moralische Analyse würde mithin ebenso wie die Naturanalyse bei den relativ konkreten Tatsachen der Erfahrungs- und Erkenntnisgenerierung anfangen und daraufhin deren geltungstheoretische Bedingungen eruieren.339
Dass Kant mit seinem transzendentalen Erkenntnismodell lediglich unseren Naturhorizont
abgedeckt, als maßgebend für unsere Moralvorstellungen sich nach hier vertretener Auffas338
"Nun hat praktische Vernunft mit der spekulativen sofern einerlei Erkenntnisvermögen zum Grunde, als beide reine Vernunft sind". (KpV, S. 159)
339
Vgl. Krijnen (1998).
133
sung aber neben unserem Naturhorizont auch noch unserer Bedürfnishorizont und unserer
Handlungshorizont erweist, wurde bereits erwähnt. Alle drei Perspektiven zusammengenommen eröffnen erst den für Menschen spezifischen moralischen Standpunkt. Von naturwissenschaftlicher Seite aus befassen sich mit dem menschlichen Naturhorizont etwa die Physik,
Chemie, Geologie, Astronomie, Evolutionsbiologie, mit dem Bedürfnishorizont Biologie,
Psychologie, Medizin und mit dem Handlungshorizont die Psychologie, Soziologie. Ich werde
versuchen, naturwissenschaftliche Einsichten soweit als möglich vor allem in die genetische
Analyse unseres Natur-, Bedürfnis- und Handlungshorizonts einzubinden, auch wenn die
transzendentale Analyse moralischer Geltung zentrales philosophisches Terrain bleibt.
Raumzeitliche Anschauungsformen, Kategorien und Vernunftschlüsse dienen bei allen drei
Perspektiven dem Erfahrungsaufbau und der Erkenntniskonstitution. Bei der Perspektive unseres Bedürfnishorizonts geht es um die Erfassung und Bestimmung unserer Gefühle, Bedürfnisse, Interessen. In der Perspektive unseres Naturhorizonts werden vor allem solche Gegenstände erfasst und bestimmt, die unserer Bedürfnisbefriedigung und damit unseren Interessen
dienen können. Kant hat den Kategoriengebrauch wesentlich nur für diese Gegenstandserfahrung nachgewiesen. Für unser Interesse an besonderen Bereichen der Gegenstandserfahrung
aus der unendlich großen Menge möglicher Gegenstandserfahrung scheint jedoch die Erfahrung eigener Bedürfnisse und Gefühle maßgeblich (ursprünglich etwa bei der Bestimmung
der Jahreszeiten zur Bestimmung günstiger Zeitpunkte für Aussaat und Ernte). Der fokussierte Bereich der Gegenstandserfahrung richtet sich bei allen Lebewesen nach ihrem speziellen
Bedürfnishorizont (ein Maulwurf sucht Gegenstandserfahrung überwiegend unter der Erde
und nicht über der Erde - eine Fledermaus sucht Gegenstandserfahrung überwiegend bei
Nacht und nicht bei Tag), wobei sich der Mensch durch Arbeitsteilung den Luxus leisten
kann, weit über seinen unmittelbaren Bedürfnishorizont hinaus Gegenstandserfahrung zu
sammeln, auch wenn diese Gegenstandserfahrung letztendlich doch wieder an seinen Bedürfnishorizont gekoppelt bleibt. Bei der dritten Perspektive, der unseres Handlungshorizonts,
geht es um eine Bestimmung von Gefühlen, Bedürfnissen, Interessen im Zusammenhang mit
Gegenständen der Natur und mit anderen Menschen. Die intersubjektive moralische Perspektive kann als Teilmenge unseres Handlungshorizonts beschrieben werden, insofern sie den
(optimalen) Interessenausgleich zwischen allen Menschen begründet.340
Kant übersieht, dass uns unser Bedürfnishorizont überhaupt erst eine (sinnvolle) Perspektive auf die Natur, einen kognitiven Standpunkt gegenüber der Natur verschafft. Wenn wir uns
von Katmiumionen oder Tieefseealgen ernährten, hätten wir sicher einen ganz anderen kognitiven Standpunkt. Es geht hier um die Synthetisierung nicht nur von Empfindungsdaten für
die Naturerfahrung, sondern auch um die Synthetisierung von Gefühlsdaten für die Bedürfniserfahrung sowie die Synthetisierung von Empfindungsdaten und Gefühlsdaten für die
Handlungserfahrung. Alle drei Perspektiven ermöglichenden Synthesisleistungen erfordern
eine Orientierung in Raum und Zeit. Ohne raumzeitliche und kategoriale kognitive Strukturen
wäre die Inbezugsetzung von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigung weder gedanklich,
noch faktisch möglich. Wenn wir entweder nur unsere Gefühle, Wünsche und Interessen bestimmen und hierarchisieren oder nur unsere Naturvorstellungen hierarchisieren könnten,
340
Das Zusammenspiel aller Perspektiven möchte ich an einem kleinen Beispiel demonstrieren:
Ohne Gefühlsbestimmung (Hunger) gibt es keine bestimmten Wünsche (etwas essen) keine bestimmten Interessen (es sollte immer etwas zu essen im Kühlschrank sein). Ohne Gegenstandsbestimmung
wüsste ich nicht, dass ich mit Joghurt meinen Hunger stillen kann, dass ich Joghurt einkaufen kann,
dass meine Frau gestern Joghurt gekauft hat, also Joghurt im Kühlschrank sein müsste. Ohne den Abgleich von Gefühlsdaten und Gegenstandsinformationen könnte ich keine Handlungsplanung vornehmen, wüsste ich nicht, dass ich jetzt zum Kühlschrank gehen kann, um mit einem Joghurt (der mir als
Kirschjoghurt die letzten Wochen sehr gut geschmeckt hat) meinen Hunger zu stillen. Da meine Frau
keinen Kirschjoughurt mag, weiss ich, dass ich die Gefühle, Wünsche, Interessen meiner Frau nicht
beeinträchtige, wenn ich diesen jetzt verspeise.
134
ohne beides im Interesse unseres Handlungshorizonts miteinander zu verbinden, würden wir
trivialerweise vermutlich gar nicht überleben.
Ausschlaggebend scheint mir, dass wir auf einer relativ einfachen kognitiven Stufe zunächst Gefühle mit Bedürfnissen und deren Befriedigung wiederum mit Gegenständen und
Ereignissen verbinden und somit Erfahrung bilden können, die uns zu immer präziserer Handlungsplanung verhilft und damit einen enormen evolutionären Vorteil bietet. Die evolutionsbiologische Sicht auf unsere Bedürfnisse bietet einen geeigneten Ansatz, um zumindest die
Genese unserer Naturvorstellungen und Moralvorstellungen zu erklären, die in ihren Grundlagen auf unserem Bedürfnishorizont beruhen. Kant erklärt in der KrV mit den raumzeitlichen
und raumzeitlichen kognitiven Strukturen nur den Aspekt der Erfassung und Bestimmung
unserer Vorstellungen mit Bezug auf die Natur, aber nicht mit Bezug auf unsere Gefühle, Bedürfnisse, Interessen oder mit Bezug auf Handlungen und übersieht dabei auch den Aspekt
der Hierarchisierung unserer Erfahrung hinsichtlich der Natur, unserer Gefühle, Bedürfnisse
und unseres Handlungshorizonts im Interesse effizienter, optimaler Handlungsplanung. Denn
grob geschätzte 99 Prozent der uns jeden Tag zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen
sind nicht unbedingt zielführend (wenn ich Hunger habe, könnte ich statt zu essen ein Buch
lesen oder Nachrichten sehen oder telefonieren) oder ganz nebensächlich im Hinblick auf die
für unsere Bedürfnisbefriedigung möglichen optimalen Handlungen. Letztendlich dient unser
ganzer kognitiver Apparat der Hierarchisierung von Handlungsoptionen in einer von konkurrierenden Bedürfnissen und begrenzten Ressourcen geprägten Umwelt. Dieses (einfache)
Modell würde anschaulich erklären,
1. weshalb die kognitiven Leistungen aller Lebewesen auf ihren Bedürfnishorizont zugeschnitten sind und (umgekehrt geht es nicht, denn die Bedürfnisse eines Lebewesens können
sich nicht ohne weiteres seinen kognitiven Leistungen anpassen),
2. weshalb jede Erfahrung (auch Gegenstandserfahrung) mit einer emotionalen Bewertung
im Gehirn abgespeichert wird,
3. weshalb die anspruchsvollsten menschlichen kognitiven Leistungen nicht auf dem Gebiet der Bedürfnisbestimmung und auch nicht der Gegenstandsbestimmung, sondern der
Handlungsbestimmung (Handlungsplanung) liegen, weil sie Bedürfnisbestimmung und Gegenstandsbestimmung voraussetzen.
Eine brauchbare (zum Überleben völlig hinreichende) Bedürfnisbestimmung und Gegenstandsbestimmung erbringen bereits sehr primitive Lebewesen (wenn auch ohne Selbstbewusstsein). Der entscheidende evolutionäre Vorteil des Menschen liegt in seinem enormen
Wissen über die Natur verbunden mit weitreichender Handlungskompetenz, (selbstbewusster)
Handlungsplanung, der präzisen gedanklichen (gefahrlosen) Simulation verschiedener Handlungsoptionen, Handlungsvarianten. Dafür bildet Erfahrung die wichtigste Grundlage.
Kants KrV folgt vom Aufbau her den hierarchischen Strukturen unserer kognitiven Fähigkeiten insofern, als sie durch Analyse von Sinnlichkeit, über den Verstand, bis hin zur Vernunft von den niederen zu den höheren Erkenntnisfunktionen aufsteigt. In dieser Reihenfolge
dürften sich unsere kognitiven Leistungen auch evolutionsgeschichtlich ausgebildet haben. Im
Hinblick auf eine mögliche (erwünschte) Kongruenz von Evolutionsbiologie und transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie gibt es keinen plausiblen Einwand, von dieser Reihenfolge abzuweichen. Weiterhin besteht kein Grund in der transzendentalen Rekonstruktion
unseres Bedürfnis- oder Handlungshorizonts diese Reihenfolge aufzugeben, wenn man berücksichtigt, dass es in der Moral zunächst nicht um die Realisierung, sondern um die transzendentalen Voraussetzungen des Erfahrungsaufbaus und Erkenntniserwerbs moralischer
Vorstellungen geht. Die Kantische (transzendentale) Erkenntnistheorie hat durch enorme
Fortschritte der Naturwissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten erheblich Bestätigung
erfahren. Deshalb scheint es sinnvoll, die Kantische (rationalistische) transzendentalphilosophische Perspektive im Interesse einer möglichst breiten intersubjektiven Basis um die natur135
wissenschaftliche (empirische) Perspektive zu ergänzen. Womöglich stellt sich im Ergebnis
eine (weitgehende) Kongruenz von Kantischen und evolutionsbiologischen Vorstellungen zur
Genese menschlicher kognitiver Leistungen heraus.
Evolutionsbiologische Erkenntnistheorien fragen anders als der Kantische Ansatz in erster
Linie nach den (empirischen) Entstehungsgründen menschlichen Erkenntnisvermögens und
nicht nach dessen (rationalen) Geltungsgründen.341 Sie gehen davon aus, dass unsere kognitiven Strukturen wesentlich das Produkt einer Jahrmillionen Jahre andauernden Anpassungsleistung von Lebewesen schlechthin sind. Die Hauptvertreter dieser evolutionären Erkenntnistheorie - wie Lorenz, Riedl oder Vollmer - nehmen an, dass die von Kant herausgestellten
apriorischen Erkenntnisstrukturen zwar ontogenetisch (individualgeschichtlich) a priori, also
unabhängig von jeder individuellen Erfahrung bestünden, phylogenetisch (stammesgeschichtlich) jedoch a posteriori durch die Erfahrungen der hominiden Spezies und deren Vorfahren
entstanden seien. Die menschlichen (apriorischen) Erkenntnisstrukturen würden sich hiernach
als stammesgeschichtlich erworbene, biologische Anpassungsleistungen an eine bewusstseinsunabhängig existierende Außenwelt darstellen, deren elementare Gesetzmäßigkeiten sie
jedoch lediglich widerspiegeln.342
Demgegenüber versteht Piaget die menschlichen kognitiven Strukturen aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht als durch bloße Reifung entstandene Abbildungsleistungen von
der Natur343 - wie die inzwischen wohl als überholt geltende traditionelle evolutionäre Erkenntnistheorie - sondern als zwar phylogenetisch angelegte, aber erst ontogenetisch ausgebildete Konstruktion zum Erwerb von Wissen über die Umwelt.344 Durch Verhaltensstudien
an Kindern kommt er zum Ergebnis, dass Erkenntnis, angefangen von der Entwicklung kindlicher Intelligenz bis hin zur Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis, keine "prästabilierte" Harmonie zwischen Subjekt und Objekt zugrunde liegt, sondern eine "etablierte"345. Aus
Piagets Sicht ist der traditionellen evolutionären Erkenntnistheorie eine stark verkürzte Sicht
auf die menschlichen kognitiven Strukturen vorzuwerfen. Piaget charakterisiert seine eigene
341
Ebensowenig wie es die philosophische Erkenntnistheorie oder die Interpretation der Kantischen
Erkenntnislehre gibt, gibt es auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Einen Überblick über die verschiedenen Strömungen und Entwicklungen in der Evolutionären Erkenntnistheorie verschafft: Irrgang
(1993).
342
Der 'Passungscharakter’ menschlicher Erkenntnis artikuliert sich nach Vollmer darin, dass (1) der
menschliche Erkenntnisapparat auf die Welt passe wie ein Werkzeug auf ein Werkstück, (2) Erkenntnis nützlich sei, indem sie für das Überleben einen Vorteil biete und (3) passen einige subjektive
Strukturen sogar in dem Sinne auf die Welt, dass sie mit ihnen übereinstimmen. (Vollmer 1988. S.
35). Wir dürften durchaus von angeborenem ‘Wissen’ ausgehen. Denn angeboren seien Bewegungssehen, Farbwahrnehmung, Zeitempfinden, räumliches Sehen, Scheu vor der Tiefe, Konstanzleistungen, Kenntnis menschlicher Gesichter, Lächeln und Wutmimik, Sprachfähigkeit, teilweise angeboren zumindest Intelligenz, Musikalität, logische Strukturen, elementare mathematische Strukturen, möglicherweise auch das kausale Denken. Vollmer (1988) S. 39. Vgl. auch: Lorenz, Konrad. In:
Lorenz, Konrad u. Wuketits, Franz (Hg.) Die Evolution des Denkens. München 1983. S. 99. Riedl,
Rupert. Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft. (3. Aufl.)
Berlin/Hamburg 1981. S. 54 f. Vollmer, Gerhard. Was können wir wissen? (Bd. I) Die Natur der Erkenntnis. 2. Aufl. Stuttgart 1988. S. 181.
343
Unter ‘Reifung’ versteht man die von (ontogenetischen) Lernvorgängen unabhängige Entwicklung
angepassten Verhaltens, wie etwa die ‘Prägung’ von Graugänsen durch eine Holzattrappe.
344
„Die Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen und die Übereinstimmung des Denkens mit
sich selber drücken diese doppelte invariante Funktion der Anpassung und der Organisation aus. Diese
beiden Aspekte des Denkens sind aber untrennbar miteinander verbunden: Indem sich das Denken den
Dingen anpaßt, strukturiert es sich selbst, und indem es sich selbst strukturiert, strukturiert es auch die
Dinge“. Piaget, Jean. Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. (Gesammelte Werke. 1. Studienausgabe). Stuttgart 1975. S. 18.
345
Vgl. Piaget, Jean. Abriß der genetischen Epistemologie. Olten/Freiburg im Breisgau 1974. S. 97f.
136
Position folgerichtig als "dynamischen Kantianismus".346 Aktuelle neurologische Forschungen bestätigen eher Piagets (und damit auch Kants) konstruktivistische Vorstellungen, als die
der klassischen evolutionären Erkenntnistheorie mit ihrem (naiven) Realismus.
Unterscheiden sich Evolutionisten und Konstruktivisten auch hinsichtlich der Bewertung
phylogenetischer und ontogenetischer Anteile menschlicher kognitiver Fähigkeiten, so eint sie
doch die Überzeugung, dass diese kognitiven Fähigkeiten offensichtlich Adaptionen zur Bewältigung der realen Welt in ihrer mittleren Dimension sind, der Welt direkter (sinnlicher)
Erfahrung, dem sogenannten 'Mesokosmos'. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass
(klassische) menschliche kognitive Fähigkeiten versagen oder Modifikationen erforderlich
machen, wenn der Mesokosmos verlassen und die sehr kleinen und kurzen Welten der Atomund Elementarteilchenphysik (der Mikrokosmos) oder die sehr großen und langen Welten der
Kosmologie (der Makrokosmos) erforscht werden sollen.347 Demzufolge könnten auch andere
höher entwickelte Lebewesen auf dieser Erde, mit denen wir unsere Entwicklungsgeschichte
und den Mesokosmos als Wahrnehmungsdimension teilen, über jedenfalls ansatzweise vergleichbare Rezeptions-, Reflexions- und Handlungsmuster verfügen. Eine solche Parallele
zwischen Menschen und Tieren bestünde zum Beispiel in einer nach ähnlichen Gesichtspunkten strukturierten Rezeptivität, Reflexivität oder einer von ähnlichen Merkmalen her bestimmte variablen sozialen Hierarchiebildung.
Welchen grundlegenden evolutionsbiologischen Sinn mag nun eine (mehr oder weniger
bewusste) Rezeption der Umwelt und Reflexion über ihre Bedeutung haben? Bildlich gesprochen kann Rezeptions- und Reflexionsvermögen mit dem Schein einer Taschenlampe in der
Dunkelheit verglichen werden, mit dessen Hilfe Lebewesen nach geordneten Strukturen in
ihrer Umwelt suchen, um sich gegenüber anderen Lebewesen (zum Beispiel Beutetieren) besser durchsetzen oder vor Feinden effektiver schützen zu können. Rezeptivität und Reflexivität
dienen in der Hinsicht dem Zweck, fortwährend Wahrnehmung und Hypothesen über eben
diese Wahrnehmung zu vergleichen, sie zu verifizieren, falsifizieren oder modifizieren, um zu
einer durch Erfahrung abgesicherten Vorstellung des eigenen Naturhorizonts zu gelangen, in
deren Rahmen sich die Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen zur Befriedigung des eigenen Bedürfnishorizonts als nützlich erweist. Dabei mag die richtige Einschätzung eines bestimmten Ereignisses bereits überlebensnotwendig sein.348
Die (ontogenetische) Erfahrungsbildung und eine der Erfahrung vom kognitiven Niveau
her entsprechende Handlungskompetenz wären daher sowohl für die Existenz einzelner Lebewesen, als auch ganzer Populationen vor allem in dem Fall äußerst nützlich, wenn diese
Erfahrung weitergegeben werden kann. Anders ausgedrückt: Die evolutionsbiologische und
die transzendentalphilosophische Erkenntnisperspektive ließen sich dann sinnvoll miteinander
verbinden, wenn sich herausstellte, dass die Überlebenschancen eines Lebewesens durch
(mehr oder weniger bewusst vollzogene) kognitive Leistungen steigen, dass Anpassungsleistungen (im weitesten Sinne) eines Lebewesens an seine Umwelt einen um so größeren selekti346
Vgl. Piaget, Jean. Lebendige Entwicklung. In: Zeitschrift für Pädagogik. 20. Jahrgang. 1974. S. 3.
Der Begriff der Ordnung ist nach Piaget nicht aus der Erfahrung abzulesen, sondern wird vom erkennenden Subjekt vielmehr an die Realität herangetragen. Piaget (1983) S. 167. Obwohl Piaget daran
festhält, dass logisches und mathematisches Verständnisvermögen in gewissem Sinn vererbt sind,
formuliert er deutlich, dass sich durch die Rückführung auf die Struktur der Instinktvererbung die Natur der logisch-mathematischen Strukturen nicht erklären lässt. Piaget (1983) S. 325. Vielmehr müssten wir einsehen, dass es ohne ein übergreifendes Regelsystem keine Vererbung gebe. Bereits der Instinkt setze einen Strukturzusammenhang, voraus. Piaget, Jean. Biologie und Erkenntnis. Frankfurt am
Main 1983. S. 343-349.
347
Vgl. Delbrück, Max. Wahrheit und Wirklichkeit. Über die Evolution des Erkennens. Übersetzt von
Ernst Peter Fischer. Hamburg/Zürich 1986. S. 23.
348
Ein Affe, der einen Löwen mit einem Artgenossen verwechselt, wird kaum Gelegenheit haben,
diesen Fehler zu wiederholen und sich jemals wieder fortzupflanzen.
137
ven Vorteil bieten, je zuverlässiger sie es ihm ermöglichen, die für die Befriedigung seiner
Bedürfnisse notwendigen Informationen aus seiner Umwelt aufzunehmen, zu bewerten und
durch optimale Handlungsplanung angemessen darauf zu reagieren.349
Weil intelligente Lebewesen dazu neigen, ihren Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont
hierarchisch zu strukturieren, entsteht natürlich Klärungsbedarf hinsichtlich des Zwecks dieses Ordnungsmusters. Angesichts begrenzten Wahrnehmungsvermögens und begrenzter Informationsverarbeitungs- und Speicherkapazität des Gehirns wäre jedes Lebewesen mit der
Mannigfaltigkeit unendlich vieler möglicher Rezeptions-, Reflexions- und Handlungsperspektiven vermutlich verloren. Die hierarchische Organisation in aller Wahrnehmung, in allem
Denken und Wollen erscheint besonders unter der Voraussetzung sinnvoll, wenn sie den
enormen Vorteil effizienter Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung bietet. Bei
Entscheidungen unter großem Zeitdruck und bei extremer Gefahr gewährt hierarchisch abgespeicherte Erfahrung einen deutlichen evolutionäre Vorsprung gegenüber anderen Lebewesen,
die entweder gar nicht oder nur unzureichend über dieses beim Menschen weit überdurchschnittlich stark ausgeprägte kognitive Leistungsvermögen verfügen.
Denn welchen Vorteil sollten sich Menschen etwa bei der Jagd nach Springböcken von einer Nachahmung des Verhaltens von Hammerhaien bei der Paarung versprechen? Bereits
anhand dieses relativ belanglosen Beispiels wird auch deutlich, dass vollständige, lückenlose,
absolut gültige Erkenntnis für jedes uns bekannte Lebewesen vollkommen sinnlos wäre. Eine
Grundfunktion der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung von Lebewesen
überhaupt besteht in der Vereinfachung gegebenen Mannigfaltigen vor dem Hintergrund des
jeweils eigenen Bedürfnishorizonts, weil die Reduktion von Informationen angesichts der
Komplexität der Umwelt überhaupt die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit der Hierarchisierung des jeweiligen Naturhorizonts im Bewusstseins des jeweiligen Lebewesens bildet.
Beides scheint nur durch Abstraktion erreichbar. Alltagsdenken und wissenschaftliches Denken unterscheiden sich vor allem durch die Präzision der verschiedenen Abstraktionsleistungen. Die hierarchische Ordnung von kognitiven Leistungen und kognitiven Inhalten vollzieht
sich wegen der Mannigfaltigkeit möglicher Erfahrungs- und Erkenntnisperspektiven vor allem
nach Gesichtspunkten der Effizienz, des Nutzens. Ohne die raumzeitlich und kategorial gestaltete hierarchische Strukturierung von Informationen wäre Menschen jedenfalls weder
komplexe theoretische noch praktische Erkenntnis in nennenswertem Umfang möglich.
349
Engels sieht für transzendentale und evolutionäre Erkenntnistheorie dann eine gemeinsame Forschungsperspektive, wenn sich herausstellen sollte, dass Überleben (objektiv gültige) Erkenntnis voraussetzt. Dabei gibt sie jedoch zu bedenken, dass aus evolutionsbiologischer Sicht phylogenetisch
erworbene ‘Erkenntnis’ als der älteren und bewährteren vor wissenschaftlicher Erkenntnis eigentlich
der Vorrang gegeben werden müsste. Engels übersieht hier freilich, dass zwischen phylogenetisch
erworbener und wissenschaftlicher ‘Erkenntnis’ gar kein solcher Widerspruch bestehen muss: Das
(phylogenetisch erworbene) ‘Wissen’ vieler Lebewesen, dass sie bestimmte (giftige) Pilzsorten meiden sollten, wird nicht geschmälert durch die weitaus präzisere wissenschaftliche Erkenntnis, dass
bestimmte Wirkstoffe (giftiger) Pilzarten den Organismus vieler Lebewesen in bestimmter Weise
schädigen. Vgl. Engels, Eve-Marie. Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie. Frankfurt/Main 1989. Da es einerseits Lebewesen gegeben hat, die den zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erforderlichen Ausschnitt ihres Bedürfnishorizonts zumindest subjektiv gültig
interpretiert haben (z. B. Dinosaurier) und dennoch ausgestorben sind und es andererseits Lebewesen
gibt, die mit weitaus geringeren oder auch sehr viel höheren kognitiven Leistungen als Dinosaurier
überlebt haben, kann sich die mögliche gemeinsame Forschungsperspektive von transzendentaler und
evolutionärer Erkenntnistheorie nicht darauf beziehen, ob und inwieweit (objektiv gültige) ‘Erkenntnis’ überlebensnotwendig ist, sondern vor allem auf die Frage, unter welchen Bedingungen differenzierte ‘Erkenntnis’ für ein Lebewesen selektive Vorteile bieten kann?
138
2.1 Emotionalität
Wenn Kant nicht nur die Bedingungen einer Wissenschaft von der Natur, sondern auch unvoreingenommen die Bedingungen einer Wissenschaft (normativen) menschlichen Handelns
untersucht hätte, wenn Kant eine transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen
wirklich hätte durchführen wollen, hätte er mit Hume einsehen können, dass Gefühle für unsere Moralvorstellungen ebenso konstitutiv sind,350 wie Empfindungen für unsere Naturvorstellungen. Dass Gefühle handlungsrelevant sind räumt er selbst mit seinem wenig überzeugenden (apriorischen) moralischen Gefühl der 'Achtung' ein. Durch seinen ausgeprägten AntiEmpirismus versperrt sich Kant mit Blick auf die allgemeine Bedeutung von Gefühlen für
Moral jedoch dem naheliegenderen Humeschen Lösungsweg und beschreitet genau jenen
rationalistisch-metaphysischen Argumentationszusammenhang, den Hume mit aller Schärfe
kritisiert. Meine Absicht liegt nicht darin, Kants transzendentale Deduktion von Raum, Zeit
und Kategorien für unsere Naturvorstellungen auf das Modell unserer Moralvorstellungen
wortgenau zu übertragen, was nur zu einem albernen Ergebnis führen könnte, mein Vorhaben
richtet sich auch weniger darauf, zu zeigen, inwiefern rauzeitliche und kategoriale Ordnungsfunktionen, Ordnungsvorstellungen und Ordnungsprinzipien auch für die Bestimmung unserer
Gefühle und Bedürfnisse, unserer Handlungsoptionen und damit auch für unsere subjektiven
und intersubjektiven Moralvorstellungen maßgeblich sind, denn die Bedeutung der raumzeitlichen und kategorialen Ordnungskriterien für unsere Ordnungsvorstellungen insgesamt liegt
auf der Hand. Auch geht es nicht speziell um eine transzendentale Deduktion des Kantischen
KI (ebenso wie es in der KrV nicht um die transzendentale Deduktion eines speziellen Naturgesetzes geht), sondern ich beschäftige mich vor allem mit dem Problem, welche transzendentalen Bedingungen unseren Moralvorstellungen ganz allgemein (über raumzeitliche und kategoriale Ordnungskriterien hinaus) zugrunde liegen, wie also Moralerfahrung und Moralerkenntnis überhaupt möglich sind.
Der entscheidende evolutionsbiologische Grund für die handlungsrelevante Bedeutung von
Gefühlen mag darin liegen, dass selbst unsere verstandes- und vernunftorientierte Handlungskompetenz auf Gefühlen aufbaut, dass Gefühle viel ältere Mechanismen der Verhaltenssteuerung sind als Verstand und erst recht Vernunft und die allermeisten anderen Lebewesen, mit
denen wir unsere Evolutionsgeschichte teilen, in ihrem Verhalten weiterhin maßgeblich durch
Gefühle gesteuert werden. Eine wichtiges Prinzip der Evolutionsbiologie besagt, dass neue
kognitive Leistungen immer auf bereits bestehenden aufbauen müssen, weil sich biologische
Innovationen nur allmählich auf bereits bestehenden organischen Strukturen entwickeln können. Die Teile im menschlichen Gehirn, die unser Verhalten durch Gefühle steuern sind folglich deutlich älter und viel ähnlicher denen anderer Lebewesen, als die Regionen, denen wir
die kognitiven Fähigkeiten von Verstand und Vernunft zuschreiben.
Deshalb scheint ein kurzer Blick auf die lange evolutionsgeschichtliche Entwicklung unserer kognitiven Leistungen insgesamt durchaus sinnvoll: Nach Delbrück wurde die sich im
Verlauf der Evolution ergebende Entwicklung der Wirbeltiere von Variationen des einheitlichen Grundplans eines dreiteiligen Gehirns begleitet. Eine der bedeutendsten Modifikationen
besteht im Anwachsen des Gehirnvolumens, als größere Tiere mit einem komplizierteren
Verhaltensrepertoire auftraten. Diese Entwicklung kulminierte in den Säugetieren, jener Klasse von Wirbeltiere, deren Verhalten sich am differenziertesten zeigt.351 Die Augen der vor 200
Millionen Jahren lebenden frühen Säugetiere waren noch seitwärts angeordnet. Ihre Träger
350
Wegen der von Kant in seiner Erkenntniskritik und wahrscheinlich auch in seiner praktischen Philosophie angestrebten Opposition zu Hume scheint allerdings fraglich, ob ihm daran wirklich überhaupt gelegen gewesen sein kann.
351
Vgl. Delbrück (1986) S. 104.
139
waren vermutlich nicht nennenswert davon abhängig, was sie sehen konnten, es sei denn, sie
entdeckten Raubtiere. Ein entsprechend kleiner Teil ihrer Großhirnrinde hatte die Aufgabe,
visuelle Reize zu verarbeiten. Im Gegensatz dazu sind die Augen der ersten Primaten vor 55
Millionen Jahren bereits frontal angeordnet gewesen, und die Tiere konnten sich offenbar
immer mehr auf ihre visuellen Fähigkeiten verlassen. Ihre Großhirnrinde schwoll nach hinten
an und schuf auf diese Weise eine größere, zur schnelleren Verarbeitung der vielfältigen visuellen Reize notwendige kortikale Fläche, die mit der zunehmenden Abhängigkeit des Tieres
vom Sehen fertig wurde.352 Im Verlauf der Evolution hat der Selektionsdruck für Tiere auf der
Erdoberfläche derart zugenommen, dass es hier kaum noch Lebewesen gibt, die nicht über
mehrere Sinnesorgane und ein deren Informationsflut verarbeitendes leistungsfähiges Gehirn
verfügen, das (auch) gewährleistet, diese Sinnesdaten im lebenserhaltenden Interesse des jeweiligen Lebewesens zu interpretieren und mit entsprechenden (angeborenen oder erlernten)
Verhaltensmustern zu belegen.
Sinnliche Rezeption dient dazu, handlungsrelevante Informationen über die Umwelt zu generieren. Da sich die meisten Lebewesen relativ frei im Raum bewegen können, sind sie darauf angewiesen, Informationen etwa zur Wahl eines geeigneten Standortes zur Nahrungsbeschaffung oder Brutpflege zu erlangen. Intelligente Lebewesen können sogar Erfahrung über
ihre Umwelt bilden und sich auf diese Weise den wechselnden Lebensbedingungen besser
anpassen als primitivere Lebewesen, die ausschließlich von ihren Instinkten geleitet werden.
Alle der Interpretation von Sinnesdaten und Gefühlen dienenden kognitiven Leistungen werden jedoch nicht von den Sinnesorganen, sondern dem Gehirn erbracht. Aktuelle neurobiologische Untersuchungen bestätigen die Vermutung, dass Affen- und Menschengehirne - obwohl im Aufbau recht ähnlich - doch unterschiedlich starke Aktivitätsmuster aufweisen, mithin Menschen etwa für Handlungsentscheidungen wesentlich mehr Gehirnregionen parallel
einbinden können, wodurch es nicht nur zu einer intensiveren Erfassung und Bewertung vor
allem schwieriger Situationen kommt, sondern auch höhere Bewusstseinsgrade erreicht werden. Aus transzendentalphilosophischer Sicht interessiert natürlich vor allem die Frage, unter
welchen erkenntnistheoretischen Bedingungen Menschen intersubjektiv gültige handlungsrelevante Informationen generieren können? Zunächst geht die Untersuchung im moraltheoretischen und evolutionsbiologischen Zusammenhang jedoch dahin, welche biologische Funktion
und welchen kognitiven Status Emotionen überhaupt haben?
2.1.1 Gefühl
Empfindungen beziehen sich auf unseren Naturhorizont (laut, gelb, groß, klein), Gefühle
auf unseren Bedürfnishorizont (Lust, Schmerz, Trauer, Stolz). Gefühle indizieren uns, was
unserer Selbsterhaltung - unserem Körper und unserer Psyche gut tut. Ohne Gefühle wüssten
wir gar nicht, ob unser Organismus Nahrung braucht oder Ruhe. Ohne Bedürfnisse und daraufhin ausgerichtete Handlungskompetenz wären wir gar nicht lebensfähig und hätten vermutlich auch überhaupt keinen (erkenntnistheoretisch relevanten) Standpunkt, von dem aus
Perspektiven für unser Naturverständnis und über unsere Handlungsoptionen möglich wären.
352
Vgl. Delbrück (1986) S. 129 f. Die Evolution des Sehens kann nach Delbrück in der Linie der Primaten durch drei eng zusammenhängende Entwicklungen charakterisiert werden: 1. den Übergang von
einer sich hauptsächlich durch Riechen und Tasten orientierenden zur visuell ausgerichteten Art des
Lebens; 2. die Verschiebung der Augen im Kopf von einer seitlichen Position, die lediglich ein
panoramahaftes, zweidimensionales Sehen ermöglichte, nach vorne zu einer frontalen Position, welche
ein scharfes dreidimensionales Sehen erlaubt. Gerade die Fähigkeit, kleine Tiere zu erbeuten, gab der
frontalen Stellung fokussierbarer Augen einen selektiven Vorteil; 3. die Differenzierung der Photorezeptoren in den Zäpfchen in der Retina, wodurch Farben wahrgenommen werden können. Diese Entwicklungen gingen Hand in Hand mit dem Wachstum und der Verfeinerung derjenigen Gehirnregionen, in denen das auf der Netzhaut befindliche Bild verarbeitet wird. Vgl. Delbrück (1986) S. 18.
140
Bei Tieren dienen Gefühle ebenfalls der Verhaltenssteuerung mit dem Unterschied, dass wir
uns der Gefühle und ihrer Bedeutung weitaus stärker bewusst werden können. Aber was bedeuten die grundlegenden moralischen Prädikate 'gut' und 'schlecht' in ihrer einfachsten, elementarsten Form? Im ursprünglichsten Sinne beruhen die Bewertungen 'gut' und 'schlecht'
ausschließlich auf Gefühlen. Mit Humes GP der Lustsuche und Schmerzvermeidung übereinstimmend bezieht sich 'gut' auf Freude und 'schlecht' auf Schmerz. Für das Erlebnis dieses
elementaren Unterschieds bedarf es keiner weitreichende Erfahrung, denn Lust wird bereits
auf einer körperlichen Ebene eben durch unser Gehirn mit angenehmen Gefühlen belohnt und
Schmerzen erleben wir durchweg als unangenehm. Nach dem Humeschen GP der Lustsuche
und Schmerzvermeidung leben im Grunde genommen schon sehr simple Organismen, bei
denen man auch nicht entfernt von höher entwickelten (ontogenetisch erworbenen) kognitiven
Leistungen wie Verstand und Vernunft sprechen darf.
Den Dreh- und Angelpunkt meiner transzendentalen Untersuchung zur Überwindung der
andauernden Auseinandersetzungen zwischen Humeanern und Kantianern bildet die Klärung
des zentralen Streitpunkts, ob sich selbst unsere elaboriertesten Moralvorstellungen letztendlich nicht auf etwas anderes, als eben positive oder negative Gefühle intersubjektiv beziehen
lassen. Welche Alternativen gibt es, ein Urteil mit dem Prädikat 'gut' hinreichend zu begründen? Wenn es auf einer besonderen Weltanschauung (religiöser, politischer, philosophischer
Natur) basiert, dürfte es kaum intersubjektiv rechtfertigbar sein. Insofern stehen Gegenstände
unseres Bedürfnishorizonts, unser Wohlbefinden, Handlungen anderer Menschen und deren
Konsequenzen (von denen wir selbst betroffen sein könnten) im Fokus der Analyse, die bei
uns positive oder negative Gefühle auslösen oder umgekehrt unsere eigenen Handlungen, die
bei anderen Menschen positive oder negative Gefühle bewirken, was nichts anderes bedeutet,
als dass sich 'gutes' auf unsere Selbsterhaltung sowie darüber hinausgehende Bedürfnisse bezieht und 'schlechtes' auf deren Hindernisse. Wenn diese Einschätzung zutrifft, wäre es unstatthaft, eine Handlung als 'gut' zu bezeichnen, die sich letztendlich nicht allgemein mit einem positiven Gefühl verbinden lässt. Moralische Gebote oder Verbote sollten nach meiner
Auffassung (auch und gerade bei Kant) generell vor dem Hintergrund geprüft werden, welche
normativen Vorstellungen ihr Verfasser als positiv oder negativ empfindet.
Diese Einschätzung impliziert jedoch nicht, dass alle moralischen Urteile, Normen, Prinzipien im Sinne des Humeschen Emotivismus (moral sense) allein durch positive oder negative
Gefühle auch begründbar wären. Handlungen, die (direkt oder indirekt) der Selbsterhaltung
und damit der Bedürfnisbefriedigung dienen, sind per se (evolutionsbiologisch angelegt) mit
einem positiven Gefühl verbunden. Dieses angenehme Gefühl zieht sich wie ein roter Faden
durch alle kognitiven Ebenen, die eben darum bemüht sind, Bedürfnissen jederzeit und allerorten zu befriedigen helfen: Es betrifft natürlich zunächst die emotionale Ebene selbst, aber
auch die Verstandesebene (meine Interessen sind verstandesbasierte Vorstellungen zu meiner
kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung, denen der natürliche Antrieb zur Selbsterhaltung zugrunde liegt) und schließlich sogar die Vernunftebene langfristiger (Sicherung der) Befriedigung meiner Bedürfnisse und der Bedürfnisse aller anderen Menschen. Da beim Menschen
(wie bei allen Lebewesen) Selbsterhaltung von der Natur aus evolutionsbiologisch bereits
genetisch festgelegt ist und wir durch positive Gefühle im Falle der Bedürfnisbefriedigung
belohnt werden, sind alle Handlungen (und Vorstellungen von Handlungen) mit positiven
Gefühlen verbunden, die unserer Bedürfnisbefriedigung und damit unserer Selbsterhaltung
dienen. Alle Handlungen (und Vorstellungen von Handlungen), die unserer Bedürfnisbefriedigung im Wege stehen oder unsere Selbsterhaltung behindern (verhindern) werden ohne weiteres als negativ empfunden (Gefühl), beurteilt (Verstand), erkannt (Vernunft).
In der transzendentalphilosophischen Erkenntnis- und Moraltheorie werden menschliche
Empfindungen und Gefühle nicht nach ihrer biologischen Entstehungsgeschichte oder ihrem
selektiven Nutzen, sondern in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer Geltungsrelevanz
141
analysiert und beurteilt. Hier geht es vor allem darum, innerhalb der verschiedenen Moralerkenntnis insgesamt ermöglichenden Bedingungen den Funktionsbereich menschlicher Empfindungen und Gefühle und darauf aufbauender Erkenntnisstufen herauszuarbeiten. Insofern
wird das zentrale Anliegen von Kants „transzendentaler Ästhetik“ hinsichtlich der Naturerkenntnis in der KrV darin deutlich, dass er sie als "Wissenschaft von allen Prinzipien der
Sinnlichkeit a priori"353 bezeichnet und damit schon andeutet, dass ihn nur die Bedingungen
von Rezeptionsleistungen für gültigen Erfahrungs- und Erkenntnisaufbau interessieren. Ebenso wie Empfindung erkenntnistheoretisch betrachtet nichts anderes bedeuten als ungeordnete
Erkenntnismaterie (eine zwar notwendige Bedingung für Naturerkenntnis, aber nicht schon
selbst Erkenntnis), sind Gefühle erkenntnistheoretisch nichts anderes als Grundlage moralischer Erkenntnis, aber nicht schon selbst Moralerkenntnis. Die erkenntnistheoretische Relevanz von Gefühlen besteht darin, dass sie als sinnliche Rezeption eines bestimmten körperlichen Zustandes Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen zum die Moral betreffenden
Erfahrungs- und Erkenntnisaufbau werden müssen. In dieser Hinsicht kann ein Hunger oder
Müdigkeit verspürendes Wesen mit einigem Recht annehmen, dass dieses Gefühl tatsächlich
und nicht nur in seiner Einbildung existiert. Jedes erfahrungs- und erkenntnisrelevante Gefühl
muss infolgedessen grundsätzlich in Raum und Zeit (als zu mir gehörig) bestimmbar sein354 alle moralische Erfahrung und Erkenntnis setzt eine direkt oder indirekt sinnlich erfahrbare,
durch Gefühle ausweisbare emotionale Verfasstheit voraus, die sich raumzeitlich und kategorial eindeutig verorten lässt.355
Kant schließt Gefühle wie Schmerz, Hunger, Müdigkeit, Hass oder Liebe von der Naturerkenntnis ermöglichenden Gegenstandserfahrung deshalb berechtigt aus, weil sie ein ungenaueres Bild von Gegenständen liefern als Empfindungsdaten und deshalb weniger zur intersubjektiven Bestimmung von Gegenständen oder Ereignissen taugen,356 weil sie mehr über die
emotionale Reaktion eines Subjekts auf einen Gegenstand oder eine Situation aussagen, als
über deren (präzise) Beschaffenheit. Gefühle sind zwar zur (intersubjektiven) Gegenstandsbestimmung eher ungeeignet, wohl aber für die Bedürfnisbestimmung unverzichtbar: Wenn ich
etwas gutes gegessen und getrunkenen oder Hunger habe, wird mein Körper mir dies durch
Wohlbefinden oder Unbehagen signalisieren. Ebenso dürfte mein prall gefülltes oder fast leeres Portemonnaie Zufriedenheit oder Unzufriedenheit auslösen. Darüber hinaus wird mein
Körper auf Ruhephasen ebenso positiv reagieren, wie negativ auf anhaltenden Stress. Es kann
davon ausgegangen werden, dass diese Vorgänge bei allen Menschen wegen der gemeinsamen biologischen Grundlagen ähnlich ablaufen, auch wenn sich wegen unterschiedlich ausgeprägter individueller Eigenschaften Abweichungen vor allem hinsichtlich Intensität und
Dauer vorfinden lassen.357 Allerdings dürfte eine gewisse Bandbreite von Variationen auch im
Bereich der Empfindung und Wahrnehmung von Naturgegenständen nachweisbar sein.
Durch Gefühle und Empfindungen erhalten Lebewesen Informationen über ihren Bedürfnis- und Naturhorizont. Das Bewusstsein intelligenter Lebewesen versetzt sich hierdurch in
die Lage, zwischen Bedürfnis- und Naturhorizont handlungsrelevant zu vermitteln, Bedürfnis- und Naturhorizont zu strukturieren, zweckmäßig aufeinander zu beziehen und das heißt
letztendlich, den Naturhorizont zum eigenen Nutzen aus der Perspektive des jeweils eigenen
353
Kant (KrV) B, S. 35.
„Empfindung ist also dasjenige, was eine Wirklichkeit im Raume und der Zeit bezeichnet“ Kant
(KrV) A, S. 373 f.
355
Von Engeln oder Elfen etwa lässt sich im naturwissenschaftlichen Zusammenhang gar nicht sinnvoll sprechen, weil manche Menschen von solchen Wesen zwar eine diffuse Vorstellung entwickelt
haben mögen, aber keinen durch Empfindung belegbaren Gegenstandsbezug vorweisen können.
356
Vgl. Kant (KrV) B, S. 44 f.
357
Ein Nadelstich etwa bei einer Impfung dürfte von allen Menschen als Schmerz und damit als unangenehm empfunden werden, auch wenn Kinder diesen Schmerz deutlicher wahrnehmen werden, als
Erwachsene.
354
142
Bedürfnishorizonts zu interpretieren, um daraus Einsicht in mögliche Handlungsoptionen zu
gewinnen. Die Rezeptivität passt sich bei jedem Lebewesen seinem Bedürfnis- und Naturhorizont an: Nachtaktive Tiere müssen auch in Dunkelheit ihre Beute noch finden können und
für diesen Naturhorizont speziell ausgestattete Sinnesorgane haben, die dafür in der Regel bei
Tageslicht weniger Informationen liefern, als die eines tagaktiven Tieres. Menschliche Rezeptionsvermögen hat sich ganz wesentlich auf räumliches Sehen ausgerichtet, während Geruchsund Gehörsinn vergleichsweise unterentwickelt sind.
Zwischen Bedürfnissen und Gefühlen besteht ein enger empirisch nachweisbarer Zusammenhang. Gefühle informieren uns über unsere Bedürfnisse und orientieren unwillkürlich
unser Verhalten (angeboren). Kleine Kinder fangen an zu schreien, wenn sie Hunger, Durst,
Angst haben, rufen damit um Hilfe. Doch wie sind Gefühle evolutionsgeschichtlich entstanden? Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich vor allem solche genetischen Veränderungen, solche biologischen Eigenschaften bei Lebewesen mit der Zeit durchsetzen, die
seinem Träger Nutzen stiften, ihm gegenüber seiner Umwelt Vorteile verschaffen.358 Gefühle
drücken in diesem Sinne einen Nutzen aus, den das Lebewesen durch eben diese Gefühle erhält, indem sie ihm seine Bedürfnisse unmissverständlich anzeigen. Sobald man annimmt,
dass sie wesentlich dazu dienen, ein Lebewesen in der Weise zu führen, dass es schlicht und
einfach erst einmal nur überlebt, lassen sich bereits viele grundlegende Bedürfnisse und damit
verbundene Gefühle erklären. Nur solche Lebewesen, die (nicht zuletzt aufgrund ihrer kognitiven Leistungen) ihre Gene weitergeben können, überleben.
Betrachtet man den Selbsterhaltungstrieb als bereits phylogenetisch veranlagt, ergibt sich
nach Krenmayrs neurologischen Untersuchungen folgendes Bild: Bedeutung erlangt die Steuerung von Gefühlen im Gehirn vor allem durch eine Verknüpfung von Bedürfnisse mit unserem Schmerzzentrum(!) und Lustzentrum(!). Je enger die Anbindung eines Bedürfnisses an
das Bewertungs- und Emotionszentrum (limbisches System) ausfällt, desto stärker wird sein
Gewicht bei der Berücksichtigung in einer Entscheidungssituation. Naheliegend lässt sich
annehmen, dass die Intensität eines Gefühls von der Bedeutung des damit verbundenen Bedürfnisses für den Organismus abhängt. Dieser Umstand betrifft sowohl empfundene Lust
durch Bedürfnisbefriedigung, als auch Schmerz oder Frustration, wenn die Befriedigung eines
Bedürfnisses versagt bleibt. Daran anknüpfend scheint es folgerichtig, dass evolutionär ältere,
bereits phylogenetisch ausgeprägte Bedürfnisse, stärker an das Lust- und Schmerzzentrum
angebunden und die mit ihnen verbundenen Gefühle stärker ausgeprägt sind, als später erlernte (ontogenetische) Bedürfnisse, wobei wiederum die Bedeutung der Aktivität für den Organismus für die Intensität der Entstehung der Bindung ausschlaggebend scheint. Diese Vorgänge sind oft unbewusst ablaufende Regelungsmechanismen für die Entscheidungsfindung.
Wie stark nun ein Gefühl in einer konkreten Entscheidungssituation in den Vordergrund tritt,
hängt von der (in der Entscheidungssituation bewussten oder unbewussten) Erfahrung darüber ab, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad und Perfektionsgrad eine Entscheidung die Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses ermöglicht. Entscheidungsrelevant wird natürlich
auch das jeweils aktuelle Bedürfnisniveau, denn ein gerade gut befriedigtes Bedürfnis hat
selbstredend keine so aktive Verbindung zum Bewertungssystem, wie ein mehrfach in kurzen
Zeitabständen unbefriedigtes Bedürfnis.359
Das angeborene, natürlich vorgegebene 'Überlebensprogramm' des Menschen hat sich zumindest dahingehend bewährt, dass es ihn auf Lebensdienlichkeit seines Handelns hin ausrichtet und ihm Gefühle dafür gibt, was seinem Überleben nutzt oder eventuell schadet. Ganz
einfache Lebewesen (Einzeller) sind ausschließlich auf dem Niveau von Empfindungen und
358
Vgl. Krenmayr, Jörg. Freier Wille: Reale Empfindung? Eine funktionalistische, identitätstheoretische Konzeption eines Modells der mentalen Welt des Menschen unter besonderer Berücksichtigung
der Freiheitsproblematik und deren Auswirkungen auf die Motivationsthematik. Dissertation. Linz
2006.
359
Vgl. Krenmayr (2006).
143
Gefühlen (Reizen) in ihrem Verhalten gesteuert, von Handlungen - die Bewusstsein und
Zweckrationalität und damit ein (differenziertes) Gehirn voraussetzen - kann in diesem Zusammenhang noch gar nicht gesprochen werden. Aber auch bei Menschen sind einfache Verhaltensweisen bereits durch Empfindungen und Gefühle auslösbar (Reflexe, Körpersprache).
Eine ganz einfache Handlungskompetenz entsteht so bereits auf der Ebene von Gefühl und
Empfindung (Bedürfnishorizont, Naturhorizont - ohne Verstand oder gar Vernunft). Natürlich
kann auf dieser Ebene noch keine ontogenetisch erlernte Hierarchisierung von Handlungsoptionen nach rationalen Kriterien gelingen, etwa in dem Sinne, welche Handlung mit minimalem Einsatz zu optimaler Bedürfnisbefriedigung führt, sondern nur eine phylogenetisch erlernte, was letztere ganz wesentlich unflexibler macht.
2.1.2 Wahrnehmung
Wahrnehmungen sind die mittels Empfindung hervorgerufenen Eindrücke von einem Gegenstand oder mittels eines Gefühls von einem Bedürfnis im Bewusstsein.360 Die Unterscheidung von Empfindung, Gefühl einerseits und Wahrnehmung andererseits hat den erkenntnistheoretischen Sinn, nur solche Empfindungen und Gefühle geltungstheoretisch zu berücksichtigen, die bewusst mit einem bestimmten Gegenstand, Ereignis, Bedürfnis oder einer bestimmten Handlung verbunden werden können. Wahrnehmungen sind deshalb ein Garant für die
Wirklichkeit des gefühlten Bedürfnisses, des empfundenen Gegenstandes oder Ereignisses.361
Die kognitiven menschlichen Strukturen sind so ausgelegt, dass die Wahrnehmung eines Gegenstandes, Ereignisses, Bedürfnisses oder einer Handlung zur raumzeitlichen Integration
dieser Wahrnehmung in bislang schon gemachte Erfahrung von Gegenständen (rund, groß),
Ereignissen (Sonnenaufgang, Bankraub) Gefühlen (Hunger, Kopfschmerzen, Müdigkeit) oder
Handlungen (angenehm, unangenehm) führt. Die mit der Wahrnehmung eines Gegenstandes
oder Bedürfnisses entstehende raumzeitliche Anschauung des Gegenstandes, Ereignisses oder
Bedürfnisses gilt als originäre Leistung des Subjekts, die kognitive Anstrengungen erfordert.
Wie ein Gegenstand, Ereignis oder Bedürfnis räumlich oder zeitlich beschaffen sein mag,
kann nur Erfahrung zeigen, ebenso wie sich seine Dauer, Intensität, Temperatur, Härte oder
Farbe nur durch Erfahrung bestimmen lässt, aber dass ein Bedürfnis oder ein Gegenstand geltungstheoretisch räumlich und zeitlich bestimmbar sein müssen, steht bereits vor dessen
Wahrnehmung fest. Auch ein Ereignis oder eine Handlung müssen raumzeitlich bestimmbar
sein. Die raumzeitlichen Ordnungsfunktionen sind mithin notwendige Voraussetzung jeder
Gegenstands-, Ereignis- Bedürfnis- - und Handlungsbestimmung.
In unzweideutiger Klarheit hat sich Kant gegen die Annahme angeborener raumzeitlicher
Ordnungsvorstellungen ausgesprochen: "Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborene Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an." Aber es muss "ein Grund dazu im Subjekte sein, der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen."362 Dieser "Grund im Subjekte", nämlich die Fähigkeit zur Entwicklung der raumzeitlichen Ordnungsfunktionen, ist phylogenetisch erworben; die darauf sich beziehenden raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen und erst recht Ordnungsprinzipien müssen hingegen in jedem Fall ontogenetisch angeeignet werden. Phylogenetisches und ontogenetisches Lernen
können allerdings nicht ohne weiteres scharf voneinander abgegrenzt werden. Höherentwi360
„Wahrnehmung ist das empirische Bewußtsein, d. i. ein solches, in welchem zugleich Empfindung
ist“. Kant (KrV) B, S. 207.
361
Um Empfindung als Realitätsgarant bezeichnen zu können, muss man sie deshalb als mit Bewusstsein verbundene Empfindung definieren, denn auch im Traum oder unter Drogeneinfluss sind gegenstandsbezogene Empfindungen möglich, die natürlich nur einen mittelbaren Bezug zur Wirklichkeit
haben.
362
Kant (Entd.) S. 221 f.
144
ckelte Lebewesen betreten die Welt nicht mit abgeschlossenen adaptiven Konzepten, sondern
sie haben phylogenetisch nur gelernt, wie ihr Gehirn mit der Welt umgehen muss - vor, während und nach der Geburt - um sicher zu sein, dass sich solche Fähigkeiten herausbilden, die
Adaptionen und nicht deren Gegenteil ermöglichen.363 Das ontogenetische Lernen darf nicht
einfach als Beigabe zu einem komplizierten Nervensystem verstanden werden, sondern bildet
vielmehr seine notwendige Ergänzung. Denn hat dessen Organisation erst einmal einen gewissen Grad an Komplexität erreicht, kann die angeborene Entwicklung ohne ontogenetisches
Lernen nicht mehr zu seiner funktionellen Perfektion führen.364
Auf die lebenserhaltende Funktion von Lust und Unlust wurde mit Blick auf das Bewertungs- und Emotionszentrum (limbisches System) bereits hingewiesen. Jede Information
(über Gegenstände oder Bedürfnisse) muss bewertet werden, um effektiv verarbeitbar zu sein.
Gefühle sind elementarste Bewertungsmuster dieses Vorganges, der auch unbewusst stattfinden kann.365 Denn alle Sinnesdaten (auch die einfachsten Sinnesempfindungen) sind bereits
durch ein komplexes Neuronensystem gewandert, bevor man sie bewusst wahrzunehmen
vermag. Selbst einfachste Empfindungen sind dadurch bereits interpretiert worden und fügen
sich in den Gesamtrahmen ein, auch wenn sie als völlig eigenständige Information erscheinen
mögen. Darüber hinaus gibt es keine Erfahrung - nicht einmal die simpelste Wahrnehmung die eine Realität einfach nur kopiert oder registriert. Je nachdem, ob die uns dargebotene Information bekannt oder unbekannt, wichtig oder unwichtig scheint, dringt sie überhaupt nur
bis in unser Bewusstsein vor.366 Alle Sinnesorgane und auch die nachgeordnete Informationsverarbeitung in den entsprechenden Gehirnarealen reagiert vor allem auf Veränderung. Andernfalls würden wir ständig mit Informationen nahezu erschlagen, denn wir würden etwa
fortwährend unsere Kleidung an sämtlichen Stellen unseres Körpers fühlen.
Bereits bei der Wahrnehmung findet demnach eine der biologischen Evolution zu verdankende Filterung, Selektion eingehender Sinnesdaten statt, durch (vorbewusste) zweckmäßige
Interpretation des Naturhorizonts aus Sicht des jeweiligen Bedürfnishorizonts und damit eine
Vereinfachung, eine Reduktion komplexer Informationen.367 Dass menschliche Rezeptivität wie die anderer Lebewesen auch - sich daraufhin entwickelt hat, bestimmte, für das Überleben
notwendige Informationen herauszuheben und andere unwichtigere abzuschwächen, spricht
zudem ebenfalls gegen die evolutionsbiologische Annahme von Anpassungsleistungen als
bloßen (passiven) Abbildungsleistungen eines Lebewesens hinsichtlich der physikalischen
363
Vgl. Delbrück (1986) S. 148.
Damit die frontal liegenden Augen zusammen scharf sehen können, müssen diese Bereiche sehr
genau übereinstimmen. Bei der Geburt gibt es in dem für das Sehen zuständigen Nervensystem zu
viele Schaltungen. Jede einzelne binokulare kortikale Zelle erhält Informationen von Gebieten auf
beiden Netzhäuten, die große Ausschnitte des Blickfeldes abdecken, welche nur zum Teil überlappen.
Unter solchen Bedingungen sieht man ein Bild natürlich vollkommen verwischt. Doch während der
ersten visuellen Erfahrungen senden nur noch solche Bereiche der linken und rechten Retina synchrone Signalmuster an eine gegebene kortikale Zelle, in denen tatsächlich derselbe Punkt des Blickfeldes
scharf abgebildet wird. Andere Stellen auf der Retina, die zwar anfänglich noch mit denselben kortikalen Neuronen verbunden waren, die nun aber andere Stellen des Blickfeldes sehen, senden jetzt Signale, die nicht mehr synchronisiert sind: Ihre Verbindungen brechen allmählich ab. Dadurch verschwindet nach und nach das unscharfe Bild, und in der Eingabe einzelner kortikaler Neuronen gelingt die
genaue binokulare Kongruenz. Wird jedoch während dieser kritischen Periode ein Auge (bei Kätzchen) zugenäht, laufen von diesem überhaupt keine Signale in den visuellen Kortex. In diesem Fall
sterben alle Verbindungen zu den kortikalen Neuronen ab. Vgl. Delbrück (1986) S. 150 f.
365
Vgl. Krenmayr (2006)
366
Vgl. Roth, Gerhard. Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp,
Frankfurt am Main. 2 Aufl. 2003. S. 228ff.
367
Etwa neunzig Prozent der visuellen Informationen sind für ein Lebewesen mehr oder weniger uninteressant.
364
145
oder chemischen Gegebenheiten seiner Umwelt. Plausibler erscheinen wiederum Piagets und
Kants Annahmen von (aktiven) Konstruktionsleistungen des Lebewesens im Hinblick auf
seine Lebensbedingungen. Das Gehirn scheint evolutionsphysiologisch bei allen höher entwickelten Lebewesen das Organ, dass Empfindungen bereits vorbewusst interpretiert, bevor es
diese an das Bewusstsein weitergibt. Nahezu alle im Gehirn eintreffenden Sinnesdaten (elektrischen Signale) werden vom Gehirn vorbewusst offenbar dahingehend interpretiert, dem jeweiligen Lebewesen eine Orientierung in seinem Naturhorizont mit seiner spezifischen Körperlichkeit zu ermöglichen. Ohne die gleichsam automatische, vorbewusst ablaufende Verrechnung und Koordination von 'internen' und 'externen' Sinnesdaten würden sich Lebewesen
ständig stoßen, stolpern und damit verletzen - das Erbeuten anderer Tiere oder die Flucht vor
anderen Tieren wären nahezu aussichtslos.
Diese vorbewusst vollzogenen Verarbeitungsmuster für Rezeptionsinhalte mit dem Zweck
einer Reduktion komplexer Informationen lassen sich auch bei weitaus abstrakteren, komplexeren und bewusst vollzogenen Schritten menschlicher Rezeptionsverarbeitung wiederfinden.
Eine relativ differenzierte Wahrnehmung erscheint jedoch ohne (bewusste) differenzierte Bewertung dieser Wahrnehmung und daraufhin mögliche (bewusste) differenzierte Handlungsmuster weitgehend wertlos (so wäre ein Wesen mit menschlichem Gehirn und pflanzlichem
'Verhaltensrepertoire' jedenfalls auf der Erde nicht überlebensfähig). Wie Delbrücks Darlegungen zur Cephalisation zeigen, verfügen die am höchsten entwickelten Wirbeltiere - die
Säugetiere - sowohl über eine differenzierte Wahrnehmung, über ein relativ großes Gehirn
und über die differenziertesten Verhaltensmuster. Demgegenüber zeigt ein Krokodil weder
ein sonderlich weit entwickeltes Rezeptionsvermögen, noch ein für seine Körpergröße überdurchschnittlich großes Gehirn oder differenzierte Verhaltensweisen.
Das menschliche Bewusstsein kann als Aktivitätsmuster verstanden werden, bei dem das
Gehirn unsere Aufmerksamkeit besonders auf solche Ereignisse lenkt, in denen sich aktuelle
Wahrnehmung und bereits gemachte Erfahrung widersprechen. Unser Organismus hat ein
lebenserhaltendes Interesse, solche Handlungsroutinen zu erlernen, mit deren Hilfe unsere
Umwelt relativ leicht verstanden und bewältigt werden kann. Bei neuen Situationen braucht er
aber mehr Informationen, genauere Analysen, um entsprechende Handlungsroutinen aufzubauen.368 Einfach gesagt bewirkt ein auftretendes Problem erhöhte Aktivität des Gehirns und
damit Bewusstsein, wodurch wiederum entsprechende neuronale Netze verstärkt werden, die
eine Lösung des Problems ermöglichen. Die Funktion des Bewusstseins liegt vor allem in der
Integration neuer Informationen, die für eine Anpassung des Organismus an seine Umwelt
notwendig sind. Alle Wahrnehmungen speichern wir nicht isoliert voneinander als Erfahrung
ab, sondern sie sind immer in einem Kontext eingebunden, der sich für uns mit eine mehr oder
minder starken Ausprägung von 'Lust' oder 'Unlust' darstellt. Mit Hilfe dieser beiden bereits
von Hume beschriebenen grundlegenden emotionalen Zustände werden alle möglichen kognitiven Inhalte abhängig davon bewertet, ob sie unserem Ziel der Bedürfnisbefriedigung eher
oder weniger dienlich scheinen.
2.1.3 Anschauung
Durch Wahrnehmung von Gegenständen, Bedürfnissen, Handlungen lassen sich Vorstellungen von Gegenständen, Bedürfnissen und Handlungen entwickeln. Diese Vorstellungen
enthalten entweder eine sinnliche Abstraktion des wahrgenommenen (etwa hinsichtlich Form,
Farbe, Gewicht bei Gegenständen oder Dauer und Intensität bei Bedürfnissen, angenehm oder
unangenehm bei Handlungen) in Gestalt von Anschauung oder sie umfassen eine gedankliche
Abstraktion des wahrgenommenen in Form von Begriffen (rund, grün, schwer oder ich habe
Hunger, ich bin müde, die Wanderung war anstrengend). Die Entwicklung von Anschauungen
368
Vgl. Krenmayr (2006).
146
über Gegenstände, Bedürfnisse, Handlungen kommt nur durch die Ordnungsfunktionen Raum
und Zeit zustande, wohingegen die Begriffsbildung von Gegenständen, Gegenstandsmerkmalen, Bedürfnissen oder Handlungen Ordnungsvorstellungen von Raum und Zeit erfordert.
Anschauungen können durch den Verstand, durch Begriffe und Urteile vereinheitlicht und
verallgemeinert werden - in Begriffen lassen sich gleichartige Merkmale verschiedener Anschauungen;369 (rund, riesig, schwer entspricht Planet oder auch lang anhaltender, heftiger
Schmerz am Oberarm bedeutet Schnittwunde) zusammenfassen. Kant spricht in diesem Zusammenhang einerseits von der Synthesis der Anschauung und andererseits von der Synthesis
des Denkens. Sein außerordentlicher Verdienst besteht darin, diese beiden unterschiedlichen
Formen der Synthesis in ihren geltungstheoretischen Momenten präzise herauszuarbeiten und
daraufhin intersubjektiv gültige Ordnungsprinzipien für die raumzeitliche Bestimmbarkeit
von Gegenständen, Ereignissen (Bedürfnissen, Handlungen) begründen zu können.
Intersubjektiv gültige Ordnungsmuster für Wahrnehmungsinhalte sind zunächst nur die
grundlegenden, von Kant besonders herausgestellten raumzeitlichen (Ordnungsfunktionen
und) Ordnungsvorstellungen, denn jeder mögliche Erfahrungsgegenstand, jedes mögliche
Bedürfnis und jede mögliche Handlung müssen durch das erkennende Subjekt raumzeitlich,
aber nicht notwendig durch Farbe, Gewicht, Geruch, Lautstärke, Intensität oder Dauer bestimmbar sein. Andererseits sind Raum und Zeit die zwar notwendigen, aber nicht unbedingt
auch schon hinreichenden Bestimmungshinsichten eines Gegenstandes, Bedürfnisses oder
einer Handlung. Eine Sonnenfinsternis etwa lässt sich nicht bereits raumzeitlich ausreichend
bestimmen, sondern erfordert zusätzliche Angaben über ihre auf der Erde ausgelösten Temperatur- und Helligkeitsveränderungen und eine Blinddarmentzündung erfordert etwa Angaben
über Intensität, Dauer des Schmerzes sowie den Nachweis von Antikörpern im Blut. Das zentrale Geltungsanliegen von Kants Raum- und Zeittheorie wird darin deutlich, dass es ihm nur
um solche Ordnungsmuster für Rezeptionsinhalte geht, die für den Aufbau jeder (subjektiv
gültigen) Erfahrung und jeder (objektiv gültigen) Erkenntnis (a priori) unerlässlich sind.
Erst die Ordnungsfunktion und die Ordnungsvorstellung vom Raum ermöglichen es dem
Menschen, sich selbst als von den Dingen unterscheidbar anzuschauen und zu denken. Ein
Urteil darüber, ob Sinnesdaten zur Selbstwahrnehmung (als Gefühl: Hunger, Schmerz, Müdigkeit) oder Fremdwahrnehmung (als Empfindung: Haus, Baum, Auto) gehören, kann überhaupt nur mit Hilfe der Raumfunktion und der Raumvorstellung geleistet werden. Die endgültige Entscheidung darüber, ob eine Empfindung der Fremd- oder Selbstwahrnehmung zugehört, trifft im Zweifelsfalle der (bewusste) Verstand. Die subjektiv oder intersubjektiv gültige
räumliche Bestimmung von Gegenständen wird erst durch eine Ordnungsvorstellung des Verstandes vom Raum möglich, so dass die räumliche Bestimmung eines Gegenstandes es erfordert, die mit der (konkreten) Wahrnehmung verbundenen Empfindungen der Sinnesorgane
von den Gegenständen nicht nur mit der Raumfunktion in der Anschauung, sondern auch mit
der Raumvorstellung in Begriffen und Urteilen zu verbinden. Der Raum als Ordnungsfunktion und als Ordnungsvorstellung bildet deshalb die notwendige (apriorische) Bedingung dafür,
im Wahrnehmungsstrom des Mannigfaltigen einen Gegenstand, ein Bedürfnis oder eine
Handlung als solche(s) überhaupt lokalisieren und bestimmen zu können:370 Der Raum muss
durch die Ordnungsfunktion vom Raum in räumliche Segmente zerlegt werden, damit der
369
„Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von den Gegenständen affiziert
werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände ge geben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie ge dacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (direkte)
oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin,
bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann“.
Kant (KrV) B, S. 33.
370
Weiter weg liegende Gegenstände etwa werden meist unschärfer wahrgenommen, als näher befindliche, weit entfernt liegende Gegenstände erscheinen oft dunkler als näher liegende.
147
einzelne Gegenstand, das einzelne Bedürfnis oder die einzelne Handlung vom erkennenden
Subjekt lokalisiert und in Relation zu anderen Gegenständen, Bedürfnissen oder Handlungen
durch die Ordnungsvorstellung vom Raum bestimmt werden kann. Weder der Raum und erst
recht nicht die räumliche Bestimmung von Gegenständen, Bedürfnissen und Handlungen sind
somit bereits in den Sinnesdaten enthalten, sondern der Verstand muss erst mit Hilfe der Sinnesdaten, der Ordnungsfunktion und der Ordnungsvorstellung vom Raum die räumliche Bestimmtheit (konkreter) Gegenstände und Bedürfnisse ermitteln.371 Dergestalt sind nicht nur
Empfindungen von Gegenständen, sondern auch Gefühle von Bedürfnissen in der Weise zusammenzusetzen, dass sich aus verschiedenen Gefühlen, wie etwa Unkonzentriertheit, nachlassende Kraft, ein Ziehen in der Magengegend das Bedürfnis 'ich habe Hunger' ergibt.
Auch die Zeit stellt keine Eigenschaft von Gegenständen, Bedürfnissen, Handlungen selbst
dar, sondern bildet eine (vorbewusste) Ordnungsfunktion und eine (bewusste) Ordnungsvorstellung, mit deren Hilfe Wahrnehmung subjektiv oder intersubjektiv gültig strukturierbar und
überhaupt auch erst räumliche Veränderungen an Gegenständen oder Bedürfnissen registrierbar sind. Insofern stellt sich die Zeitvorstellung auch als Bedingung für die räumliche Lokalisation von Gegenständen und Bedürfnissen dar, denn die Zeitvorstellung ist Voraussetzung
dafür, im Wahrnehmungsstrom des Mannigfaltigen die verschiedenen, nicht zugleich, sondern
nur nacheinander wahrnehmbaren Merkmale eines Gegenstandes, Bedürfnisses, einer Handlung zu einer anschaulichen oder begrifflichen Vorstellung vom Gegenstand, Bedürfnis oder
einer Handlung zusammenfügen zu können. Der Wahrnehmungsstrom muss daher durch die
Zeitvorstellung in (zeitliche) Segmente zerlegt werden, innerhalb derer sich überhaupt erst
auch räumliche Segmente bilden und verfolgen lassen, in denen sich die substantiellen und
akzidentiellen Merkmale eines Gegenstandes oder Bedürfnisses mit Hilfe des Gedächtnisses
in einer Vorstellung vom Gegenstand oder Bedürfnis rekonstruieren lassen. Ohne Zeitvorstellung würde das um Erfahrung bemühte Subjekt immer nur im jeweiligen Augenblick leben, es
könnte Veränderungen überhaupt nicht bemerken, geschweige denn bestimmen. Damit es
aber Veränderungen von Gegenständen oder aber Bedürfnissen bestimmen kann, sind neben
der Zeit- und Raumvorstellung auch Gedächtnisleistungen erforderlich, die einen Vergleich
verschiedener Vorstellungen gestatten.372 Der Wahrnehmungsstrom muss daher - ähnlich wie
ein Kinofilm - durch die Zeitvorstellung in einzelne Bilder, in verschiedene Segmente zerlegt
werden, die vorwärts oder rückwärts betrachtet mit Hilfe des Gedächtnisses Veränderungen
des Bedürfnis-, Natur- oder Handlungshorizonts überhaupt erfassbar werden lassen. Und anhand dieser registrierten Veränderungen sind erst Erfahrungs- und Erkenntnisbildung über Art
und Umfang dieser Veränderung möglich.
Bereits subjektiv gültiger Erfahrungsaufbau setzt demnach Ordnungsvorstellungen von
Raum und Zeit voraus. Empfindung, Gefühl, Handlung kann überhaupt nur sinnvoll auf räumliche und zeitliche Ordnungskriterien bezogen werden, sofern diese Ordnungskriterien der
Wahrnehmung vorausgehen und sie begleiten. Raum und Zeit können demzufolge keine
durch Erfahrung gewonnenen, empirischen Ordnungsvorstellungen sein, weil sie Erfahrung
allererst ermöglichen. Wenn aber die Vorstellungen von Raum und Zeit apriorische Ord-
371
Ebenso Baum: „Denn die als an verschiedenen Orten des Raumes existierend vorgestellten Dinge
haben nicht selbst das Vermögen, sich auf etwas außer ihnen Befindliches zu beziehen, wohl aber
enthält das Sichbeziehen auf ein räumlich vom Empfindenden verschiedenes Objekt die Relation des
Nebeneinanderseins, die sich auch an den empfundenen Objekten im Raum aufzeigen läßt“. Baum,
Manfred. Kants Raumargumente und die Begründung des transzendentalen Idealismus. In: Oberer,
Hariolf. Kant. Analysen - Probleme - Kritik. Band II. Würzburg 1996. S. 43.
372
„Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt
werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede:
denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein“. Kant (KrV) A, S. 99.
148
nungsvorstellungen sind,373 dann sind sie für eine subjektiv und erst recht für eine intersubjektiv gültige Bestimmung von Gefühlen, Empfindung, Wahrnehmung und Anschauung immer
schon geltungstheoretisch vorausgesetzt.374 Auf der einfachsten Stufe, nämlich der topologischen raumzeitlichen Gegenstands-, Bedürfnis- und Handlungsbestimmung können üblicherweise nur relativ ungenaue, subjektiv gültige Vorstellungen von Relationen ermittelt werden,
wie beispielsweise ‘vorher’ oder ‘nachher’, stärker oder schwächer ‘nie’ oder ‘immer’, 'angenehmer' oder 'unangenehmer' und dergleichen mehr. Diese relativ einfachen Ordnungsvorstellungen von Raum- und Zeitverhältnissen beruhen auf Verstandestätigkeit und sind mit Bezug
auf die Einheit der Vorstellungen von Raum und Zeit nur subjektiv gültig.375
Intersubjektiv gültige Raum- und Zeitbestimmungen müssen hingegen auf intersubjektiv
gültigen und allgemein verbindlichen arithmetischen Raum- und Zeitvorstellungen beruhen
(Angabe des räumlichen Abstandes von zwei Gegenständen etwa in Metern, Kilometern oder
in Lichtjahren, Angabe des zeitlichen Abstandes von zwei Ereignissen in Sekunden, Stunden
oder Jahren). Weil Raum und Zeit auf unterschiedlichen Ebenen kognitiver Leistungen eine
wichtige Rolle spielen, muss die kognitive Funktion von Raum und Zeit auch auf diesen verschiedenen Ebenen erklärt werden, wodurch sich Kants Raum- und Zeittheorie über mehrere
Kapitel der KrV erstreckt, was zwangsläufig Verwirrung stiftet. Mit beachtlicher Präzision
stellt Kant jedoch heraus, dass Raum und Zeit auf der einfachsten Abstraktionsebene menschlicher Kognition (vorbewusste) Ordnungsfunktionen für sinnlich Gegebenes sind. Auf der
nächsthöheren Abstraktionsstufe lassen sich Raum und Zeit als (bewusste) Ordnungsvorstellungen für die Bildung subjektiv gültiger topologischer raumzeitlicher Erfahrungsurteile ausmachen und auf der dritten Abstraktionsstufe schließlich können durch metrische, mathematische oder geometrische Angaben Ordnungsprinzipien für intersubjektiv gültige, wissenschaftliche Erkenntnisse von Raum- und Zeitverhältnissen aufgebaut werden.
Kant vermag nicht anzugeben, warum Menschen oder überhaupt Lebewesen eine Vorstellung von Raum und Zeit haben, aber die Evolutionsbiologie kann zeigen, dass jede der raumzeitlichen Abstraktionsstufen gegenüber der jeweils niedrigeren einen selektiven Nutzen verschafft. Während aktuelle neurophysiologische Forschungsergebnisse Kants Überlegungen
zur Ordnungsfunktion der Zeit belegen, erhärten Piagets ontogenetische Untersuchungen eindrucksvoll Kants Analysen zur Entwicklung raumzeitlicher Ordnungsvorstellungen, insbesondere die Tatsache, dass die raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen bei Menschen nicht
(vollständig entwickelt) angeboren sein können, sondern zumindest in Teilen erworben werden müssen. Piaget zeigt, dass sich Vorstellungen von Raum und Zeit erst postnatal herausbilden, und zwar als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen dem sich entwickelnden Nervensystem und der Umwelt. Nach Piaget scheint es beachtenswert, dass diese fundamentalen
Entwicklungsstufen in ihrer anfänglichen Form noch nicht den Charakter 'erwachsener' Vorstellungen von Raum und Zeit haben. Was Raum und Zeit angeht, so fehlten ihnen zunächst
die Bestimmungen der gegenseitigen Unabhängigkeit, die sie später erlangten. Zuerst würden
Raum und Zeit als aufeinander bezogen und miteinander verflochten betrachtet. Die Vorstellungen von Raum und Zeit entstünden keinesfalls 'automatisch' im Kopf des Kindes durch
bloße Reifung. Die Konzeption von der Welt als in einem allumfassenden Fluss der Zeit eingebettet liegend, bildeten sich erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt der Entwicklung heraus. Dies träfe ebenso für das Konzept eines alldurchdringenden Raumes zu, der den
373
Vgl. Kant (KrV) B, S. 39 u. B, S. 46.
Vgl. Bauch, Bruno. Immanuel Kant. Berlin und Leipzig 1917. S. 168.
375
Beispiel: Die Aussage, dass ein (ausgewachsener) Elefant größer als ein Pferd sei, ist objektiv gültig; aber der Satz, dass das Siebengebirge hinter dem Rhein liege, ist nur relativ, auf einen bestimmten
Standort bezogen, richtig (nämlich aus Sicht Frankreichs oder Spaniens; von Norwegen, Polen oder
Italien aus betrachtet ist sie hingegen falsch).
374
149
Gegenständen der Welt eindeutige Plätze bereitstellt.376 Nach Piaget entwickeln sich menschliche räumliche Konzepte in der Kindheit als Adaption an ihre Umwelt,377 indem Kinder lernen, ihre Wahrnehmungen durch kognitive Anstrengungen zu ordnen.
Die entscheidende evolutionsbiologische Frage geht nun dahin, von welchen Gegenständen, Bedürfnissen, Handlungen Lebewesen eine Vorstellung bilden können müssen, um davon einen selektiven Nutzen zu haben? Weil alle Lebewesen Bedürfnisse haben, die sie nur in
ihrer Umwelt befriedigen können, haben solche Lebewesen (selektive) Vorteile, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erforderliche Gegenstände in ihrer Umwelt besonders sicher,
effizient und differenziert bestimmen können. Dies mag je nach Lebewesen am besten durch
den Geruchssinn, durch Gehör oder visuell möglich sein. Allein schon aufgrund ihres unterschiedlichen Lebensumfeldes werden ein Delphin, eine Ratte, ein Tiger, ein Adler unterschiedliche Gefühlsrepertoires mit Bezug auf verschiedene Gegenstände und Ereignisse haben,378 denn alle genannten Lebewesen besitzen einen unterschiedlichen Bedürfnis-, Naturund Handlungshorizont. Natürlich löst der Anblick oder Geruch eines Fuchses beim Hasen
ganz andere Gefühle aus, als der Anblick oder der Geruch eines Hasen beim Fuchs. Im Interesse ihres Überlebens wird es für diese Tiere zweckmäßig sein, ihren Naturhorizont entsprechend ihres Bedürfnishorizonts (auch gegenüber Feinden und Nahrungskonkurrenten) zu
strukturieren. Wichtige Gegenstände, die eine Befriedigung des Bedürfnishorizonts ermöglichen oder dieser Befriedigung im Wege stehen, verdienen besondere Aufmerksamkeit.
Raumzeitlich strukturierte Anschauungen bieten insofern den entscheidenden selektiven
Vorteil, die für eine Bedürfnisbefriedigung notwendigen Gegenstände im jeweiligen Naturhorizont in der Mannigfaltigkeit der Sinnesdaten rasch und zuverlässig identifizieren zu können.
Die evolutionsbiologische Funktion von Gefühlen, Empfindung, Wahrnehmung und Anschauung liegt darin, einem Organismus bessere Überlebenschancen zu ermöglichen. Ein Organismus kann überleben, wenn er seine Bedürfnisse in seinem Naturhorizont befriedigen und
sich gegen Feinde (etwa durch Flucht) verteidigen kann. Eine Zeitvorstellung kann für ein
Lebewesen zunächst einmal als Maßstab für Veränderungen seiner Bedürfnisse und für Veränderungen in seinem Naturhorizont nützlich sein. Ebenso erscheint eine Raumvorstellung für
alle Lebewesen indirekt als Maßstab für die Distanz zweckmäßig, die überwunden werden
muss, um die zur Befriedigung des eigenen Bedürfnishorizonts erforderlichen Gegenstände zu
erlangen. Um ihren Bedürfnishorizont in Konkurrenz mit anderen Lebewesen befriedigen zu
können, müssen daher Lebewesen über eine mehr oder weniger bewusste 'Vorstellung' von
Raum und Zeit verfügen. Man wird wohl ganz im Sinne Piagets und Kants annehmen dürfen,
dass sich Raum- und Zeitanschauung (zumindest bei höher entwickelten Lebewesen, die einen relativ komplexen Naturhorizont haben und infolgedessen über eine relativ differenzierte
Raum- und Zeitanschauung verfügen) mit Hilfe von Erfahrung, an Erfahrung, durch Interpretation, durch Konstruktion, durch Strukturierung des Naturhorizonts vor dem Hintergrund des
jeweils eigenen Bedürfnishorizonts perfektionieren und nicht einfach nur ein simples Abbild
von Empfindungsdaten, von Erlebnissen sind, denn dafür erscheint die (im Grunde schon in
jedem Augenblick anfallende) Menge und Mannigfaltigkeit möglicher raumzeitlicher Gegenstandsbestimmungen einfach bei weitem zu groß.
Die Zeitvorstellung des Menschen bewährt sich nicht nur in seinem Naturhorizont, sondern
auch in seinem Bedürfnishorizont, nämlich durch die Bestimmung regelmäßig wiederkehrender Bedürfnisse, wie Hunger oder Müdigkeit, die auf Befriedigung drängen. Mit der (bewussten) Entwicklung einer (zweckmäßigen) Bedürfnishierarchie und daraus folgender Hierarchie
von Handlungsalternativen geht deshalb bei vielen (höher entwickelten) Lebewesen auch die
(bewusste) Entwicklung einer zumindest subjektiv gültigen Zeitvorstellung einher. Die Ent376
Vgl. Delbrück (1986) S. 169.
Vgl. Delbrück (1986) S. 184.
378
Da alle diese Tiere relativ intelligent und damit lernfähig sind, dürften sie grundsätzlich imstande
sein, gleichartige Wahrnehmungen in Anschauungen zusammenfassen.
377
150
wicklung einer hierarchischen Ordnung von Gegenständen, in der natürlich besonders diejenigen Gegenstände, die zur jeweiligen Bedürfnisbefriedigung dienen, an erster Stelle stehen,
setzt darüber hinaus die Entwicklung eines mehr oder weniger bewussten Raumkonzepts voraus. Eine effiziente, vorausschauende, planende Abgleichung von Bedürfnis- und Naturhorizont kann deshalb nur durch eine Koordination von Raum- und Zeitvorstellung realisiert werden. Insofern dürfte eine differenzierte Raum- und Zeitvorstellung Lebewesen einen selektiven Vorteil gegenüber anderen mit vergleichbarem Lebensraum verschaffen.
Die zu unserer Bedürfnisbefriedigung geeigneten Gegenstände befinden sich sämtlich im
Mesokosmos. Deshalb scheint es sinnvoll, dass unsere kognitiven Leistungen auch an ein
Überleben im Mesokosmos angepasst sind. Ein Haifisch mit dem Rezeptionsvermögen und
Verhaltensrepertoire eines Elefanten wäre ebenso wenig lebensfähig, wie umgekehrt. Das
jeweilige Rezeptionsvermögen und Verhaltensrepertoire steht im engen Zusammenhang mit
dem jeweiligen Bedürfnis- und Naturhorizont eines Lebewesens, damit es seine Bedürfnisse
befriedigen kann. Raumzeitliche Ordnungsmuster bieten den entscheidenden Vorteil, dass
sich ein Lebewesen in seiner Umwelt orientieren und infolgedessen seine Bedürfnisse wesentlich besser befriedigen kann, als ein Lebewesen, dass mit diesen Ordnungsmustern weniger perfekt umzugehen vermag. Orientierung zu haben bedeutet in einer lebensfeindlichen
Umwelt im Grunde genommen nichts anderes, als die Gegenstände und Ereignisse dieser
Umwelt vor dem Hintergrund des jeweils eigenen Bedürfnis- und Naturhorizonts mehr oder
weniger bewusst und mehr oder weniger präzise wahrnehmen, bestimmen, hierarchisieren,
womöglich in gewissem Umfang sogar Veränderungen voraussehen und sein Verhalten dementsprechend zielgerichtet planen zu können.
2.2 Moralerfahrung
Empfindungen werden in unserem Naturhorizont ebenso wie Gefühle in unserem Bedürfnishorizont durch Verstand und Vernunft bestimmt, gefiltert, ergänzt, geordnet und vor allem
hierarchisiert. Menschen ordnen durch Hierarchiebildung auf der Basis ihres Bedürfnis- und
Naturhorizonts auch die ihnen begrenzt zur Auswahl stehenden sinnvollen (und unendlich
vielen sinnlosen) Handlungsoptionen gewöhnlich nach dem ihnen daraus erwachsenden Nutzen, dem Perfektionsgrad erzielbarer Bedürfnisbefriedigung. Unsere Urteile über die Natur in
Naturerfahrung und Naturerkenntnis sind in der Regel ebenso wie unsere moralischen Urteile
in Moralerfahrung und Moralerkenntnis letztendlich im Grunde genommen nichts anders als
(anspruchsvolle, abstrakte, höherstufige) Urteile über Empfindungen oder Gefühle - basierend
auf (nicht determiniert durch, wie Hume hinsichtlich der Gefühle durch seine verkorkste moral sense Lehre gelegentlich zu meinen scheint) eben Empfindungen oder Gefühlen. Ohne die
Erfahrung von Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisversagung, ohne die Einsicht, dass es
'gutes' wie 'schlechtes' für uns selbst gibt, könnten wir niemals zu einer (wie auch immer gearteten) vernunftbasierten (moralischen) Projektion darüber gelangen, was 'gut' oder 'schlecht'
für alle Menschen und deshalb allgemein moralisch verbindlich sein sollte (wir könnten nur
wie Blinde versuchen, über Farben zu reden). Alle moralischen Gebote oder Verbote - auch
die Kantischen - lassen sich (soweit hinreichend begründbar) letztendlich in ihrem Kern auf
die positiven oder negativen Konsequenzen von Handlungsweisen auf unsere Gefühle, auf die
(allgemeine) vernunftbasierte Herbeiführung positiver und die Vermeidung negativer Gefühlszustände zurückführen (wo das bei Kant nicht möglich scheint, wirken diese Gebote oder
Verbote unplausibel). Woran sonst auch sollte gutes oder schlechtes, allgemein erstrebenswertes oder allgemein vermeidenswertes, kurzum die vielstrapazierte Vernünftigkeit des
Handelns letztendlich intersubjektiv bemessen werden?
Erfahrung bilden heißt stark vereinfacht gesagt Bestimmung und Hierarchisierung von
Empfindungen, Gefühlen, Handlungsoptionen. Eine Hierarchisierung erfordert zwingend eine
vorherige Bestimmung verschiedener Alternativen. Nach welchen Gesichtspunkten wird hie151
rarchisiert? Im Alltag hierarchisieren wir in der Regel nach subjektiven Kriterien (eigener
Nutzen), in der Wissenschaft nach intersubjektiven Kriterien (allgemeiner Nutzen). Bestimmung und vor allem Hierarchisierung sind überhaupt nur von einem festgelegten (kognitiven)
Standpunkt aus (möglich und) sinnvoll, der sich wohl überwiegend aus dem Bedürfnishorizont des Menschen ergibt. Naturerfahrung und Naturerkenntnis sind ohne einen von unserem
Bedürfnishorizont geprägten Standpunkt für sich genommen ebenso unmöglich und wertlos
wie Moralerfahrung und Moralerkenntnis. Kant isoliert Moral jedoch (zunächst) von unserem
Naturhorizont und unserem Bedürfnishorizont und stellt sie damit (erst einmal) außerhalb
jedes sinnvollen (empirischen) Zusammenhangs, denn Moral verbindet sich in unserem Alltag
untrennbar mit unserem Naturhorizont und unserem Bedürfnishorizont. Gemäß dem hier vorgestellten Modell bestimmen und hierarchisieren wir erstens Gefühle und Bedürfnisse, zweitens Empfindungen und Gegenstände, drittens Ereignisse und Handlungsoptionen.
Unsere kognitiven Leistungen dienen vor allem dem Zweck der Abgleichung unserer Bedürfnisse mit unserem Naturhorizont, um daraus sinnvolle vor allem aber nützliche Handlungsoptionen zu gewinnen. Das funktioniert auf sinnlicher Ebene, auf Verstandesebene und
auf Vernunftebene. Im Alltag werden wir überwiegend auf einer sinnlichen und einer Verstandesebene Bestimmungen vornehmen und hierarchisieren, in der Wissenschaft sind Bestimmung und Hierarchisierung hingegen überwiegend auf einer Vernunftebene erforderlich.
Verstand und Vernunft sind in diesem (Humeschen) Sinne verlängerter Arm unserer Sinnlichkeit, indem sie es ermöglichen, Bedürfnishorizont, Naturhorizont und Handlungshorizont
weitaus präziser und weitreichender miteinander abzugleichen und zu hierarchisieren, als das
allein mit Sinnlichkeit möglich wäre, wobei schon auf sinnlicher Ebene eine vorbewusste
Hierarchisierung durch unseren kognitiven Apparat stattfindet.
Die Erfahrung von Empfindungen und Gegenständen ermöglicht zusammen mit der Erfahrung von Bedürfnissen und Gefühlen überhaupt erst die im moraltheoretischen Zusammenhang erforderliche (zweckrationale) Handlungsplanung. Naturbegriffe (Begriffe über die Natur, vom Naturgeschehen) werden durch Abstraktion (von unseren Empfindungen) gewonnen.
Kein Pferd gleicht etwa exakt dem anderen, aber dennoch bezeichnen wir Lebewesen mit
bestimmten Merkmalen (vier Hufe, gewisse Körperproportionen, Fellfarbe) als 'Pferde'. Auch
Moralbegriffe werden durch Abstraktion (von unseren Gefühlen) gewonnen. Zwar mag jeder
Mensch eine Beleidigung oder einen Schlag anders empfinden, aber dennoch rufen sie bei
allen Menschen negative Gefühle hervor und werden deshalb allgemein als vermeidenswert
und sanktionsbedürftig angesehen.
Menschen finden ihre Umwelt, in der sie leben, nicht als bereits bestimmt vor, sondern sie
muss mit Hilfe kognitiver Anstrengungen erst erschlossen werden. Auch Bedürfnisse sind
nicht notwendig durch den Menschen, der sie fühlt bereits bestimmt, denn sie erfordern ebenfalls kognitive Anstrengungen. Daher setzt erst recht die Bewältigung der Herausforderung,
wie ein Mensch seine Bedürfnisse in seiner Umwelt am besten befriedigen kann, kognitive
Anstrengungen voraus. Fehlhandlungen oder suboptimale Handlungen ergeben sich vor allem
daraus, dass mindestens eines der (drei an sich unbestimmten) Relationen nicht hinreichend
präzisiert wird. Menschen können sogar dann handeln, wenn alle drei Relationen unzureichend bestimmt sind, was wir als irrationales Handeln bezeichnen würden. In ihrer einfachsten Form beziehen sich moralische Vorstellungen auf den eigenen Gefühlszustand, auf den
Zustand der eigenen Bedürfnisbefriedigung, insofern unangenehme Gefühle wie Hunger oder
Müdigkeit als vermeidbar, als 'schlecht', angenehme Gefühle wie Sättigung oder Ausgeruhtheit hingegen als erstrebenswert, als 'gut' empfunden werden. Gegenstände oder Situationen,
die der Bedürfnisbefriedigung dienen oder ihr entgegenstehen werden ebenfalls als 'gut' oder
'schlecht' klassifiziert. Der Orientierung bietende Sinn moralischer Erfahrungsbildung liegt
zunächst einmal darin, eigenes Verhalten insoweit zu optimieren, als es der Beförderung angenehmer und der Verhinderung unangenehmer Gefühle dient.
152
Höher entwickelte Formen moralischer Urteilsfähigkeit berücksichtigen darüber hinaus
auch die Auswirkungen des Verhaltens anderer Lebewesen auf eigene Bedürfnisse, insofern
es die eigene Bedürfnisbefriedigung unterstützend als 'gut', sie behindernd als 'schlecht' bezeichnet. Die unterschiedlichen Entwicklungsstufen moralischer Erfahrungsbildung sind deshalb relativ leicht an Anzahl der Variablen und dem Grad ihrer differenzierten Beurteilung im
moralischen Kalkül bewertbar. Sie beruhen in ihren höher entwickelten Formen oft auf Konvention (wie Hume es ausdrücken würde) und erfordern auch soziales Lernvermögen, das
entsprechend hohe sowohl kognitive, als auch konstruktive Anforderungen an Einsicht und
Steuerung des eigenen Verhaltens mit Blick auf dessen Auswirkungen auf das Verhalten einer
Gruppe, als auch umgekehrt des Verhaltens einer Gruppe auf eigenes Verhalten vor dem Hintergrund der eigenen optimalen Bedürfnisbefriedigung stellt und insofern als Motor verfeinerter Moralbildung angesehen werden kann.
Moralische Erfahrung führt bei entsprechend intelligenten Lebewesen, die in einem sozialen Kontext aufwachsen, regelmäßig zur Ausbildung von (ontogenetisch erlernten) Verhaltensregeln. Kinder, Jugendliche und sogar hoch entwickelte Tiere, bei denen sich Vernunft
funktional im Sinne erwachsener Menschen entweder noch gar nicht ausgebildet hat oder sich
niemals ausbilden wird, merken im Umgang vor allem mit Gleichaltrigen relativ schnell, dass
sie etwa ihresgleichen gegenüber kein schlechtes Verhalten an den Tag legen sollten, wenn
sie nicht möchten, dass eben solches Verhalten ihnen gegenüber an den Tag gelegt wird. Als
höchste Form moralischen Urteilsvermögens bedarf Moralerkenntnis der expliziten (empirischen) kognitiven Ausbildung und Entwicklung moralischen Urteilsvermögens - sie ist keinesfalls als (diffuses) moralisches Bewusstsein (wie Kant offenbar glaubte) in gewisser Hinsicht angeboren oder in unserer Natur angelegt. Ohne Moralerfahrung scheint mithin keine
(hinreichend fundierte) Moralerkenntnis möglich.
2.2.1 Urteile
Erfahrung bildet sich durch die Beurteilung von Wahrnehmung. Moralische Erfahrungen
sammeln heißt im Grunde genommen nichts anderes als von einem Standpunkt aus Urteile zu
fällen - und zwar mit Bezug auf bestimmte Gefühle, Gegenstände, Handlungsweisen. Subjektiv oder intersubjektiv gültiges Urteilen erfordert einen Vergleich von Anschauungen. Für den
gültigen Vergleich von Anschauungen sind aber Ordnungskriterien notwendig, anhand derer
Vergleiche durchgeführt werden können. Mit Raum und Zeit sind in den vorangehenden Abschnitten bereits zwei grundlegende, für jede Gegenstandsbestimmung, Bedürfnisbestimmung
und Handlungsbestimmung notwendige Ordnungsmuster erörtert worden. Nachfolgend soll
untersucht werden, ob sich noch weitere, für jede subjektiv oder intersubjektiv gültige Gegenstandsbestimmung, Bedürfnisbestimmung oder Handlungsbestimmung notwendige Ordnungsmuster (Ordnungsfunktionen, Ordnungsvorstellungen und Ordnungsprinzipien) finden lassen.
Die Logik als Lehre von den Urteilsformen hat in der Philosophiegeschichte eine lange
Tradition. Den "sicheren Gang" der Logik als Wissenschaft, den sie ihrem Verfahren verdankt, von allem möglichen Inhalt eines Urteils zu abstrahieren und nur dessen Form zu analysieren, hebt Kant bereits in der Vorrede zur KrV lobend hervor.379 Deren Einsichten werden
zu einer wichtigen Grundlage der Kantischen Analyse menschlicher Verstandestätigkeit, weil
Erfahrung überhaupt nur durch Urteile gewonnen werden kann und deshalb die Urteilsformen
zwangsläufig Voraussetzung für (subjektiv gültige) Erfahrung und (intersubjektiv gültige)
Erkenntnis sind. Hinsichtlich der Raum- und Zeitvorstellung liegt die besondere Aufgabe des
Verstandes darin, neue Anschauungen mit bereits bestehenden Anschauungen zu vergleichen
und sie (gegebenenfalls) durch subjektiv oder intersubjektiv gültiges Urteilen in eine subjektiv
oder intersubjektiv gültige Raum- und Zeitordnung einzufügen: "Wir können alle Handlungen
379
Kant (KrV) Vorrede B, S. VIII.
153
des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen
zu urteilen vorgestellt werden kann."380 Denn eine durch Empfindung oder Gefühl gegebene Wahrnehmung oder Anschauung ist nicht schon dadurch bestimmt, geschweige denn hierarchisiert, dass sie lediglich angeschaut wird. Dafür bedarf es über die relativ schlichte sinnliche Rezeption hinaus auch der anspruchsvolleren gedanklichen Kognition, der Bestimmung
im Denken durch Urteile: "Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne
Verstand keiner gedacht sein. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe
sind blind."381 Also "nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen", wenn
sie auch in dieser Vereinigung ihre "Funktionen nicht vertauschen" können.382
Da allein auf Gewohnheit gründende Urteile für Kant (wie auch für Hume) niemals die
Allgemeinheit und Notwendigkeit haben können, die für intersubjektiv gültige (wissenschaftliche) Urteile erfordert wird, da durch Erfahrung allein keine Prinzipien für die Geltung subjektiv und intersubjektiv gültiger Urteile gewonnen werden können, engt sich für Kant die
Frage nach der Begründbarkeit subjektiv und intersubjektiv gültiger Urteile auf die Frage
nach den transzendentalen Bedingungen von subjektiv und intersubjektiv gültigen Urteilen
(über die Natur) ein. Die entscheidende erfahrungs- und erkenntniskonstituierende Bedeutung
des Urteils liegt nun darin, "verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu
ordnen."383 Mit dem Urteil etwa 'dies ist ein Baum', können verschiedene Anschauungen wie
Stamm, Blätter, Wurzeln und Äste einem Begriff zugeordnet werden. Die verschiedenen Anschauungen von den Merkmalen eines Baumes erhalten mithin durch das Urteil 'dies ist ein
Baum' Einheit. Ebenso wird mit dem Urteil 'ich habe Hunger' einem flauen Gefühl in der Magengegend, das oft verminderte Konzentrationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit begleitet,
Einheit gegeben. In einem moralischen Urteil wird Einheit zwischen Anschauungen über die
Natur, unseren Bedürfnissen und unserem Handlungshorizont hergestellt, wenn etwa das Urteil fällt, 'es ist schlecht, Wälder zu zerstören, um Ackerland für die Viehzucht zu gewinnen'.
Ein moralisches Urteil setzt demnach Anschauung über unseren Naturhorizont, Bedürfnishorizont und Handlungshorizont voraus.
Wie bereits angesprochen existieren Lebewesen, die besser sehen, riechen oder hören können als Menschen - der Siegeszug der hominiden Spezies seit ihrem Erscheinen auf der Erde
dürfte deshalb weniger auf ihr im Vergleich zu anderen Lebewesen nicht einmal sonderlich
ausgeprägtes Rezeptionsvermögen oder Gefühlsleben zurückzuführen sein. Gründe für ihre
bereits Jahrtausende andauernde Dominanz müssen vielmehr auf einer anderen Ebene gesucht
werden, nämlich dem Vermögen, kognitive Inhalte (Gefühle, Empfindungen) möglichst sinnvoll, effizient zu analysieren, strukturieren, hierarchisieren, um daraus zweckmäßige Handlungsalternativen zu generieren. Diese Funktionen können in erster Linie dem Verstand zugeschrieben werden. Eine Besonderheit, die Menschen von anderen Lebewesen abhebt, muss
daher in ihrem ausgeprägten Urteilsvermögen zu suchen sein.
Aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie fragt sich deshalb, inwieweit die Fähigkeit,
mit den von Kant aufgeführten zwölf Urteilsfunktionen - mehr oder weniger bewusst - umgehen zu können, Lebewesen einen (selektiven) Nutzen bringt? Der Überlebenskampf verlangt
von jedem höher entwickelten Lebewesen ständig, Nutzen und Risiko seines Verhaltens abschätzen zu können, jedes Lebewesen sieht sich gezwungen, seinen Naturhorizont im Interesse optimaler Handlungsoptionen fortwährend mit seinem jeweiligen Bedürfnishorizont abzugleichen. Das Kalkül von Nutzen und Risiko bildet - natürlich auf ganz unterschiedlichen
Abstraktionsstufen, die sich nach dem Intelligenzgrad des Lebewesens richten - wichtige
380
Kant (KrV) B, S. 94.
Vgl. Kant (KrV) B, S. 75.
382
Vgl. Kant (KrV) B, S. 75 f.
383
Kant (KrV) B, S. 93.
381
154
Grundlage alles höher entwickelten Lebens.384 Deshalb stellt sich nun die weitere Frage, inwieweit die in den von Kant beschriebenen zwölf Urteilsfunktionen zum Ausdruck kommenden Subsumptionsmuster für Anschauungen einem (effizienten) Nutzen- und Risikomanagement, der Strukturierung des Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizonts dienen oder es sogar
erst ermöglichen? Auch (höher entwickelte) Tiere müssen grundsätzlich imstande sein, das
Mannigfaltige ihrer Umwelt nicht nur bloß wahrzunehmen, sondern es auch im Lichte ihres
jeweiligen Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizonts (mehr oder weniger bewusst) zu interpretieren, weil der (angeborene) Instinkt niemals alle, zum Teil gar nicht vorhersehbaren, für
das Überleben erforderlichen komplexen Handlungsalternativen erfolgversprechend präformieren kann. Sofern sich ein Tier gegenüber anderen Tieren als Nahrungskonkurrenten behauptet, spricht einiges dafür, dass es seinen Bedürfnis- und Naturhorizont durch einen entsprechenden Handlungshorizont zweckmäßig miteinander verbinden kann.
Wenn angenommen wird, dass Urteilsvermögen eine evolutionsbiologische Grundlage hat,
liegt es nahe, verschieden hoch entwickelten Tieren auch verschiedene Abstufungen von Urteilskraft zu unterstellen. Ganz primitive Lebewesen, wie etwa Pantoffeltiere, die sich immer
nur in eine Richtung bewegen können, werden nur ganz primitive 'Urteile' - und dies auch
noch unbewusst - fällen können, indem irgendwelche Sinneszellen den Muskelzellen signalisieren, anzuhalten, wenn Nahrung vorhanden ist oder weiter zu schwimmen, weil keine Nahrung zur Verfügung steht. Eine demgegenüber deutlich höher entwickelte Stufe von Urteilsvermögen und darauf aufbauende Verhaltensmuster kann sicher Raubtieren zugesprochen
werden. Ein Löwe dürfte neben den Urteilsformen der Quantität und Qualität zumindest Kausalurteile und hypothetische Urteile in seinem kognitiven Repertoire haben. Insofern der Löwe darauf bauen muss, sich möglichst unbemerkt anzuschleichen, ein Beutetier einzuholen
und zu erlegen, benötigt er eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich seine potentiellen Beutetiere bei seinem Angriff verhalten. Der Löwe wird gelernt haben, dass die Aussichten auf
einen Jagderfolg dann am größten sind, wenn er die Beute überraschen und am besten sogar
ein krankes Tier jagen kann, weshalb er im Verlaufe seiner Jagderfahrungen Hypothesen darüber gebildet haben dürfte, welche besonderen Merkmale kranke oder schwache Tiere gegenüber gesunden aufweisen.
Neuere Forschungen zeigen ein vergleichbares Niveau an Urteilsvermögen von Kindern
und hochentwickelten Tieren. Schimpansen etwa und Kinder werden Urteile und Handlungsentscheidungen nach Gesichtspunkten des für sie nützlichen treffen, wobei geringer entwickelten Tieren generell das für sie nützliche nicht unbedingt nur durch Überlegung, sondern
auch bereits durch Instinkt (phylogenetisch) durch ihren (angeborenen) Bedürfnishorizont
vorgegeben scheint (hinsichtlich seiner Grundbedürfnisse auch dem Menschen). In der Regel
befindet ein Lebewesen solche Ereignisse und Gegenstände als nützlich, die sein Wohlbefinden steigern - etwa Nahrung oder Zuwendung. Demgegenüber dürften Lebewesen solche Gegenstände und Ereignisse als schädlich bewerten, die ihr Wohlbefinden mindern, die ihrem
Drang nach Bedürfnisbefriedigung unmittelbar oder mittelbar im Weg stehen. Wenn man zu
den beiden Prädikaten 'nützlich' und 'schädlich' noch das Prädikat 'gleichgültig' hinzufügt,
erhält man alle Prädikatsbestimmungen in möglichen Urteilen, die für den Fortbestand eines
jeden Lebewesens überlebensnotwendig sind, deren Gebrauch ein jedes Lebewesen im Interesse seines Fortbestehens (phylogenetisch oder ontogenetisch) erlernt haben und (mehr oder
weniger bewusst) einsetzten können sollte.
Nach Damasios Einschätzung werden Wahrnehmungen ohnehin mit dem dazugehörigen
Gefühl zu einem gemeinsamen Eindruck verknüpft und in einer bestimmten Gehirnregion als
Erinnerung (als Erfahrung) abgelegt. Wann immer das jeweilige Lebewesen eine wichtige
Entscheidung trifft, greift es unwillkürlich auf solche gespeicherten emotionalen Urteile zu384
Ein Löwe, der großen Hunger und schlechte Aussichten auf Beute hat, wird unter diesen Umständen bei der Jagd ein höheres Risiko eingehen und vielleicht versuchen, ein größeres, gefährlicheres
Tier anzugreifen, als wenn das Nahrungsangebot mehr als ausreichend ist.
155
rück, die freilich durch den Verstand - der jeweiligen Situation angepasst - (bewusst) aktualisiert und modifiziert werden können. Kann die Verknüpfung von Emotion und Wahrnehmung
nicht mehr stattfinden, etwa weil das dafür zuständige Steuerzentrum im Gehirn zerstört wurde, so vermag das jeweilige Lebewesen aus Fehlern nicht mehr zu lernen.385 Dass Urteilsvermögen (entgegen Kants Auffassung) nicht notwendig an Sprache oder sogar Begriffe gebunden sein kann erhellt daraus, dass ein Affe sehr wohl Anschauungen von Elefanten und Löwen unterscheiden kann, selbst wenn ihm dafür kein hinreichendes sprachliches Ausdrucksmittel zur Verfügung steht.
Lebewesen mit erlernten Verhaltensweisen können sich viel schneller und besser an wechselnde Lebensbedingungen anpassen, als Lebewesen mit angeborenen Verhaltensmustern. In
der Natur finden sich vielfach Verhaltensweisen, die auf erlerntem Verhalten beruhen. Dazu
gehört vor allem soziales Verhalten bei höher entwickelten Säugetieren. Diesen Lebewesen
bringt es sicherlich Vorteile, bestimmte Verhaltensregeln (ontogenetisch) zu erlernen, als starre (phylogenetisch) erworbene Verhaltensmuster anzuwenden, die sich womöglich als unpassend, wenig flexibel und daher ineffizient erweisen. Davon abgesehen scheint es aber in jedem Fall zweckmäßiger, bestimmte Verhaltensmuster oder Verhaltensregeln zu beherrschen,
als wiederholt die gleiche schlechte Erfahrung zu machen. Für ein Affenjunges bietet es etwa
Vorteile, die allgemeinen Regeln zu lernen, dass es sich stärkeren Artgenossen seiner Population unterordnen oder vor Raubtieren auf Bäume flüchten muss, als in jedem Einzelfall erneut
die (schmerzhafte) Erfahrung zu machen, dass es sich diesem Artgenossen unterzuordnen hat
oder dass es vor diesem Raubtier flüchten muss. Freilich fällt es deutlich schwerer, die Anwendung bestimmter Verhaltensweisen (ontogenetisch) zu erlernen, als bestimmten angeborenen, relativ starren (phylogenetisch erworbenen) Verhaltensmustern instinktiv zu folgen;
dafür ermöglichen erstere dem jeweiligen Lebewesen aber viel größere Verhaltensvariationen
und damit unter Umständen einen beachtlichen selektiven Vorteil. Nicht umsonst durchläuft
der Nachwuchs von höher entwickelten Wirbeltieren (Säugetieren), also auch von Menschen,
eine relativ lange Phase des Lernens und Spielens, in der er Erfahrungen sammeln und eben
die Anwendung bestimmter Verhaltensweisen erlernen und erproben muss.
Urteilsvermögen kann aus evolutionsbiologischer Sicht als die Fähigkeit eines Lebewesens
beschrieben werden, seinen Naturhorizont zweckmäßig im Interesse seines jeweiligen Bedürfnis- und Handlungshorizonts zu interpretieren. Auch wenn Menschen und andere höher
entwickelte Lebewesen gleichermaßen ihre Umwelt ganz wesentlich nach dem Risiko- und
Nutzenschema vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Bedürfnis- und Handlungshorizonts beurteilen, haben Menschen gegenüber anderen Lebewesen freilich den entscheidenden Vorteil,
aufgrund ihres ausgeprägten Reflexionsvermögens Risiken und Nutzen beliebiger Sachverhalte, Situationen, Ereignisse, Vorgänge weitaus tiefer, präziser abschätzen und damit treffsicherer prognostizieren, ihren Bedürfnishorizont viel differenzierter zu ihrem Naturhorizont und
möglichen (realistischen) Handlungsoptionen in Bezug setzen zu können. Alle Urteilsfunktionen stehen im direkten oder indirekten Zusammenhang mit diesem Risiko- und Nutzenschema, sie können gewissermaßen als 'Werkzeuge', dieser elementaren Risiko- und Nutzenfunktion bezeichnet werden. Sie gehören im vorgehend beschriebenen Sinne zu den Mitteln unseres kognitiven Vermögens, die jede sorgfältig bedachte menschliche Nutzen- und Risikoanalyse animalischen, vorwiegend instinktgesteuerten Nutzen- und Risikobewertungen derart
überlegen macht. Davon abgesehen aber bilden die Urteilsformen (durch ihre Subsumptionsfunktionen) für alle mit Bewusstsein handelnde Lebewesen überhaupt erst die Grundlage dafür, den jeweils eigenen Bedürfnis- und Naturhorizont durch hierarchisch strukturierte Denkund Handlungsstrukturen auf wesentliche Merkmale des jeweiligen Bedürfnis- und Naturhorizonts reduzieren, konzentrieren und effizient aufeinander beziehen zu können.
385
Vgl. Schnabel, Ulrich. Die Neuronen der Moral. Wie Hirnschäden zum Ausfall von Nächstenliebe
und Verantwortungsbewußtsein führen. In: Die Zeit. Nr. 43 vom 21.10.1999. S. 41 f.
156
Setzt Lernfähigkeit eigentlich grundsätzlich (bei Menschen und Tieren) Urteilsvermögen
voraus? Oder anders gefragt: Kann bewusstes zweckgerichtetes und nicht bloß instinktives
Handeln ohne Urteilsvermögen überhaupt gelingen? Erfordert somit soziales Verhalten bei
Affen ein bestimmtes Verarbeitungsschema von Informationen im Affengehirn oder bildet es
eine bloß zufällige Reaktion auf bestimmte äußere Reize? Nur mit den Urteilsformen lassen
sich selbst subjektiv gültige Nutzenbewertungen überhaupt erst vornehmen; die Urteilsformen
sind im Grunde genommen nichts anderes als formale Ordnungsmuster für die (logische)
Struktur aller überhaupt möglichen Urteile, wohingegen Freude und Schmerz materielle Ordnungskriterien möglicher Urteile sind. Für eine Gazelle mag der Anblick eines Löwen unangenehme Gefühle signalisieren, weil sie vom Löwen getötet werden kann, umgekehrt wird der
Anblick einer Gazelle bei einem Löwen angenehme Gefühle auslösen, weil sie Nahrung verspricht. Ein und dieselbe Urteilsform führt demnach abhängig vom jeweiligen Standpunkt zu
ganz anderen Reaktionen: Die Gazelle wird beim Anblick des Löwen flüchten, während der
Löwe die Gazelle jagt. Die Urteilsformen führen erst von einem (materiellen) Standpunkt aus,
der sich vor allem durch einen Bedürfnishorizont, aber auch einen Naturhorizont auszeichnet,
zu einem sinnvollen Verhalten. Noch einmal: Erst der Standpunkt (hier: Gazelle oder Löwe)
ermöglicht im Zusammenhang mit den Urteilsformen sinnvolle Handlungsoptionen. Ohne
Bedürfnisse, ohne die Erfahrung von Lust und Leid hätten wir womöglich gar kein kognitives
Interesse (weder bezüglich der Natur, noch unserer Bedürfnisse oder unserer Handlungsoptionen). Im Verlauf der Evolution haben Lebewesen verschiedene Entwicklungsstufen von Urteilsvermögen erreicht, die sich daran erkennen lassen, inwieweit sie in der Lage sind, ihren
Naturhorizont im Interesse ihrer Bedürfnisse differenziert zu strukturieren und flexibel darin
zu agieren. Daraus lässt sich schließen, dass ein höher entwickeltes Urteilsvermögen, das eine
differenziertere Erfahrung und damit eine differenziertere Vorstellung des jeweiligen Natur-,
Bedürfnis- und Handlungshorizonts ermöglicht, einen selektiven Vorteil bietet.386 Komplexität von kognitiven Leistungen und Komplexität von Handlungsoptionen stehen in Korrelation;
kein uns bekanntes Lebewesen existiert lediglich mit dem Verhaltensrepertoire eines Regenwurms, das höher entwickelte kognitive Leistungen als etwa ein Säugetier zeigt.
Von besonderem kognitiven Nutzen im evolutionsbiologischen Zusammenhang sind neben
Raum- und Zeitorientierung vor allem Kausalurteile und hypothetische Urteile. Kausalurteile
sind nach Meinung von Evolutionsbiologen im Grunde genommen durch Erfahrung bestätigte
(verkürzte) hypothetische Urteile. Standardbeispiel für die evolutionsbiologische Erklärung
zweckrationalen Verhaltens sind seit Lorenz Kausalurteile, deren evolutionäre Ursprünge er
im bedingten Reflex sah: "An den halbwilden Ziegen des armenischen Berglandes konnte ich
einst beobachten, wie sie schon bei fernem Donnern bestimmte Felsenhöhlen aufsuchten, in
sinnvoller Vorsorge für den zu erwartenden Regenguss. Bei krachenden Sprengungen in der
näheren Umgebung taten die Tiere dasselbe."387 Der bedingte Reflex stellt aus evolutionsbiologischer Sicht ein Lernverhalten dar, das es möglich macht, regelmäßig wiederkehrende Ereignisse sinnvoll zu verarbeiten (und erinnert stark an Humes Erklärung von Kausalität als
schlichter Gewohnheit). In der Psychologie gibt es experimentell erarbeitete Hinweise darauf,
dass kausales Denken Einsicht voraussetzt und dadurch erworben wird, dass sich das Individuum selbst wiederholt als Verursacher erlebt.388 Man wird davon ausgehen können, dass es
ohne bedingten Reflex kein kausales Denken geben kann, auch wenn letzteres nicht (vollstän386
Vermutlich wäre es auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht von Interesse, eine biologische Einteilung von Lebewesen einmal nicht nach bestimmten physiologischen Merkmalen, sondern nach Intelligenzleistungen vorzunehmen, um daraus Rückschlüsse auf den selektiven Nutzen dieser Intelligenzleistungen zu schließen.
387
Lorenz, Konrad. Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München 1977. S. 129.
388
Vgl. Piaget, Jean und Inhelder, Bärbel. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt/Main 1977. S. 20 f.
157
dig) durch ersteres zu erklären ist.389 Wuketits nimmt an, es gebe in der Natur Zusammenhänge, die Menschen (und in gewissem Umfang auch andere höher entwickelte Lebewesen) aus
Gründen der Denkökonomie als Kausalität erfassen.390
Für diese Einschätzung spricht der Umstand, dass ein Ursache und Wirkung verwechselndes Tier nicht lange überleben wird. Tiere müssen in ihrem Naturhorizont in gewissem Umfang mit Kausalurteilen umgehen können. Ein Affe etwa sollte imstande sein einzusehen, dass
hungrige Raubtiere Gefahr für ihn bedeuten, denn andernfalls dürfte er den nächsten Tag
nicht mehr erleben. Von einem solchen Urteil wie 'hungrige Löwen sind gefährlich', kann mit
Fug und Recht gesagt werden, dass es zumindest aus Sicht von Affen subjektive Geltung
hat.391 Viele Tiere müssen also schon wegen ihrer Selbsterhaltung grundsätzlich in der Lage
sein, zumindest partiell subjektiv gültige Urteile zu fällen, die dem Tier freilich nicht - wie
auch dem Menschen nicht notwendig - auf einer (exakten) begrifflichen Ebene selbst bewusst
werden. Tiere sind deshalb auch grundsätzlich nicht imstande, etwa den (modalen) Geltungsstatus eines Urteils (wissenschaftlich) zu begründen, denn erst das mit dem Gebrauch von
Begriffen einhergehende Abstraktionsvermögen erlaubt eine präzise Bestimmung (der Relation) von Gegenständen in einer Theorie. Das Menschen von Tieren in erkenntnistheoretischer
Hinsicht mithin ganz wesentlich unterscheidende Merkmal liegt in der Fähigkeit, Wissenschaft zu betreiben. Gleichwohl dürfen auch nicht näher begründete subjektiv gültige Urteile
als kognitive Vorstufe zu wissenschaftlichen Urteilen angesehen werden.
Mit hypothetischen Urteilen spielen Lebewesen ihre Erwartungen vom Verlauf eines bestimmten Ereignisses oder einer Handlung gedanklich durch, mag dieses Ereignis oder diese
Handlung nun in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft liegen. Die gedankliche Konstruktion sowie Rekonstruktion des Ablaufs eines bestimmten Ereignisses oder einer bestimmten Handlung bietet natürlich entscheidende Vorteile: Erstens Zeitersparnis durch Vermeidung von Fehlversuchen, zweitens Sicherheit, denn das entsprechende Lebewesen muss
verschiedene Handlungsalternativen nicht 'am eigenen Leib' durchspielen (sein Leben riskieren) und drittens die Rekonstruktion von Gründen für Ereignisse und Handlungen, die zeitlich
schon zurückliegen, die sich also nicht mehr wiederholen lassen, um daraus Folgerungen für
ähnlich gelagerte, künftige Ereignisse oder Handlungen zu ziehen, mithin Erfahrung zu bilden. Es scheint im lebenserhaltenden Interesse äußerst zweckmäßig und im Hinblick auf die
Kongruenz von Urteilen über den eigenen Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont sogar
unverzichtbar, Gegenstände, Ereignisse und Handlungen (sowohl was ihre Realisierbarkeit,
als auch was ihre Konsequenzen anbelangt) hypothetisch durchzuspielen. Ein Lebewesen etwa, das nicht die Ursache eines Geräusches hypothetisch bewerten, sondern bei jedem (auch
von ihm selbst verursachten) Geräusch flüchten würde, könnte nicht lange überleben, weil es
vermutlich weder zur Nahrungsaufnahme, noch zur Fortpflanzung oder Regeneration käme.
Mit der generellen Annahme, dass ein gewisses Geschehen eine bestimmte Ursache hat,
dass sich die Wirkung eines Ereignisses durch Herbeiführung seiner Ursachen im Wege eines
bestimmten Verhaltens mitunter sogar beliebig wiederholen lässt, erschließt sich natürlich
dann äußerst nützliche Erfahrung, wenn es etwa um die Befriedigung immer wiederkehrender
Bedürfnisse geht. Falls ein Lebewesen weiß, dass es einen bestimmten Ort aufsuchen muss,
an dem vielleicht sehr nahrhafte Früchte wachsen, um seinen Hunger zu stillen, bietet dieses
Wissen gegenüber einer ungezielten Suche nach Nahrung ganz entscheidende (selektive) Vor389
Vgl. Naumann (1993) S. 29. Eben in dieser Hinsicht unterscheiden sich Humes’ bloß durch Beobachtung begründbares und Kants durch wissenschaftliche Theorie begründetes Kausalitätsurteil. Die
geltungstheoretische Rechtfertigbarkeit von Kausalurteilen durch bloße Beobachtung hat Hume vollkommen zu Recht bestritten.
390
Vgl. Wuketits, Franz M. Biologie und Kausalität. Biologische Ansätze zur Kausalität, Determination und Freiheit. Berlin 1981. S. 31, S. 121 ff.
391
Für Eisbären, Delphine oder Maulwürfe, die vermutlich niemals die Bekanntschaft von hungrigen
Löwen machen werden, ist diese Aussage weder wahr noch falsch, sondern einfach nur irrelevant.
158
teile. Von seiner logischen Struktur her unterscheidet sich das alltägliche subjektive hypothetische Urteil nicht vom wissenschaftlichen hypothetischen Urteil. Entscheidend sind hier
vielmehr die Präzision des Urteils und die Begründung des Urteils, das auf wissenschaftlicher
Ebene (exakte) Begriffe voraussetzt und damit dem Menschen vorbehalten bleiben.
Jedes (höher entwickelte) Lebewesen hat aufgrund bereits gesammelter Erfahrungen eine
ungefähre Vorstellung davon, welche wichtigen Ereignisse in seinem Naturhorizont - vor allem Beute oder Feinde betreffend - möglich sind. In Erwartung dieser Ereignisse kann es bestimmte Verhaltensstrategien entwickeln und sich auf diese Weise in seiner Umwelt erfolgreicher behaupten - es kann seine Fähigkeit zu subjektiv gültigem Erfahrungsaufbau zu seinem
Nutzen, zur besseren Befriedigung seiner Bedürfnisse, einsetzen. Dass (intelligente) Lebewesen aufgrund ihrer Erfahrungen Hypothesen über vergangene, gegenwärtige und mögliche
zukünftige Ereignisse aufstellen und ihr Verhalten auf diese möglichen Ereignisse einstellen
können, dürfte unbestreitbar sein. Wenn Murmeltiere etwa 'Wachen' aufstellen, spricht einiges
dafür, dass sie es nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich halten, von Feinden
angegriffen werden zu können. Mit Hypothesen leisten intelligente Lebewesen permanent
eine Nutzen- und Risikoanalyse über mögliche Handlungsalternativen. Auch die menschlichen Denkstrukturen sind evolutionsgeschichtlich darauf ausgerichtet, Nutzen und Risiko
verschiedener Handlungsalternativen bestmöglichst und schnellstmöglich zu bewerten. Sinnlichkeit und Verstand haben wahrscheinlich deshalb (wie auch Kant vermutet) gleiche Wurzeln, weil die Evolution der Sinnlichkeit der Evolution des Verstandes vorausging und sich
der Verstand unter den Bedingungen der Sinnlichkeit entwickelt und dementsprechend darauf
eingerichtet hat, das sinnlich Wahrgenommene so gut als irgend möglich im Interesse einer
permanenten Risiko- und Nutzenanalyse schnellstmöglich zu interpretieren. Emotionale Entscheidungen sind phylogenetisch und ontogenetisch Vorstufen zu begrifflichen Urteilen.
Der entscheidende Vorteil ontogenetisch erworbenen Urteilsvermögens gegenüber phylogenetisch ausgebildetem, maßgeblich instinktgesteuerten Verhaltensweisen liegt ganz eindeutig darin, die Nutzen- und Risikorelevanz einer bestimmten Situation oder eines bestimmten
Gegenstandes differenzierter bewerten zu können. Während instinktgesteuertes Verhalten
bestimmten Reizen verhaftet bleibt, die eben bestimmte Verhaltensweisen auslösen, eröffnet
variables, intelligentes, urteilsbezogenes Verhalten eine viel größere Bandbreite an Handlungsalternativen. Bei primitiven Lebewesen erfolgt die Auswahl der besten Hypothesen nicht
bewusst durch das einzelne Tier, sondern stammesgeschichtlich durch natürliche Selektion
der gesamten Art. Die aus dieser Selektion erfolgreich hervorgegangenen 'Hypothesen' werden phylogenetisch im Erbgut der Art verankert oder besser und richtiger ausgedrückt: Diejenigen Lebewesen einer Art, deren (unbewusste) Hypothesen über ihre Umwelt am besten mit
ihrem Bedürfnishorizont übereinstimmen, überleben am ehesten und vermehren sich am meisten. Wenn Affen einen leckeren Apfel nicht in Gegenwart von stärkeren, ranghöheren Artgenossen aus seinem Versteck holen oder Artgenossen über den Fundort leckerer Nüsse belügen, so darf daraus ohne weiteres geschlossen werden, dass sie imstande sind, bewusst Hypothesen sogar über die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens auf andere bilden zu können
und somit hypothetische Urteile zu fällen imstande sind.
Die mit hypothetischen Urteilen verbundenen kognitiven Leistungen erlauben es Menschen und anderen höher entwickelten Lebewesen, bislang unbekanntes mit bereits bekanntem zu vergleichen und in eine lose, noch relativ unbestimmte Verbindung zu bringen. Der
Verstand vergleicht ständig neue Sinneseindrücke mit bereits bekannten, eingeordneten, abgespeicherten Erfahrungen, um Risiken durch bekannte oder bislang (noch) unbekannte Lebewesen, Gegenstände oder Ereignisse zu minimieren. Dem Menschen erwachsen durch sein
ausgeprägtes ontogenetisches Lern- und Anpassungsvermögen enorme evolutionäre Vorteile,
denn er kann seine Urteile mit jeder neuen Erfahrung modifizieren, durch neue Handlungsalternativen ersetzen und vor allem sein einmal erworbenes Wissen über Generationen hinweg
weitergeben. Die durch Begriffsbildung erreichte Abstraktion ermöglicht es ihm beispielswei159
se, in allen Wäldern und in allen Großstädten dieser Welt bestimmte sinnliche Wahrnehmungen mit dem wahrscheinlichen Eintritt bestimmter Ereignissen zu verknüpfen und sein Verhalten entsprechend einzurichten. Mit hypothetischen Urteilen überprüfen wir die Plausibilität
unserer (auf Erfahrung beruhenden) Vor-Urteile, denn es ist sicher (in allen Bereichen des
Lebens) zweckmäßiger ein unzureichendes, lückenhaftes, in manchen Teilen womöglich sogar fehlerhaftes Vor-Urteil zu haben, als gar kein Urteil. Wir bilden ständig Vor-Urteile, um
mit ungewohnten Lebenssituationen fertig zu werden, überprüfen und korrigieren diese, wir
bauen mithin ständig neue Erfahrung auf.
2.2.2 Kategorien
Nachdem zuvor mit den Urteilsformen die verschiedenen (logisch) überhaupt möglichen
Subsumptionsformen subjektiv gültiger Bedürfnisbestimmung, Gegenstandsbestimmung und
Handlungsbestimmung vorgestellt worden sind, kommt es nunmehr darauf an, welche Synthesisleistungen mit Hilfe der Urteilsformen möglich sind, wie also Gegenstandserfahrung, Bedürfniserfahrung und Moralerfahrung mit Hilfe der Urteilsformen zustande kommen können?
In den Urteilsformen sind (mittelbar) alle Synthesisleistungen enthalten, die den Verstand
zum Aufbau gültiger Erfahrung befähigen. Allerdings zeigt sich ihr Anschauungsbezug nicht
ohne weiteres, der aber unbedingt erfordert wird, da alle Erfahrung und Erkenntnis ihres Realitätsbezugs wegen bei sinnlicher Wahrnehmung, bei Anschauung ihren Ausgangspunkt nehmen muss. Insofern bedarf es eines Nachweises, dass sich Anschauungen einerseits und Urteilsformen andererseits zu gültiger Erfahrung verbinden lassen, denn gültige Gegenstands-,
Bedürfnis- und Handlungsbestimmungen sind nur dann möglich, wenn auch anschauungsbezogene Ordnungskriterien für eben diese Bestimmung bereitstehen.
Menschen können Bedürfnisse oder Gegenstände bloß wahrnehmen, ohne sie subjektiv
oder intersubjektiv gültig in Raum und Zeit zu bestimmen. Ebenso können Gegenstände und
Bedürfnisse auch bloß angeschaut werden, ohne die entsprechenden Vorstellungen in subjektiv oder intersubjektiv gültigen Urteilen kategorial zu ordnen. Ähnlich wie sich die raumzeitlichen Ordnungskriterien als Bedingung für Anschauungsbildung überhaupt erwiesen haben,
kann die Geltung der Kategorien dann nachgewiesen werden, wenn sich herausstellen sollte,
dass sie als anschauungsbezogene Subsumptionskriterien bereits notwendige Bedingung für
eine subjektiv gültige Bestimmung von Gegenständen, Bedürfnissen, Handlungen und damit
erst recht notwendige Bedingung einer intersubjektiv gültigen Gegenstands-, Bedürfnis- und
Handlungsordnung sind, denn intersubjektiv gültige Gegenstands-, und Bedürfnis- und Handlungserkenntnis bleibt dem Menschen wegen des notwendigen Anschauungsbezugs ohne vorangehende subjektiv gültige Gegenstands-, Bedürfnis- und Moralerfahrung empirisch und
geltungstheoretisch verwehrt.
Erkenntnis vermag nach Kant nur dann entstehen, wenn das in der Anschauung gegebene
"Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen."392 Dieses kognitive Verarbeitungsmuster nennt
Kant "Synthesis". Die Synthesis bildet somit den eigentlichen Kern menschlicher kognitiver
Anstrengung in Erfahrung und Erkenntnis. Als 'Kategorien' bezeichnet Kant eben die verschiedenen überhaupt möglichen Formen von Synthesisleistungen, die unser erfahrungs- und
erkenntnisbildende Denken erst konstituieren. Kategorien sind Ordnungsvorstellungen, durch
die ein Bedürfnis ein Gegenstand oder eine Handlung in jedem Fall bestimmt werden muss,
wenn Erfahrung oder Erkenntnis gelingen soll.393 Die Kategorien sind daher Schlüsselbegriffe, unverzichtbare Grundlage für den Aufbau einer hierarchisch strukturierten subjektiv und
392
Kant (KrV) B, S. 102. „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die
Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“. Kant (KrV) B, S. 103.
393
Strohmeyer, Ingeborg. Quantentheorie und Transzendentalphilosophie. Heidelberg 1995. S. 102.
160
intersubjektiv gültigen Bedürfnisbestimmung, Gegenstandsbestimmung oder Handlungsbestimmung in einer Gegenstandsordnung, Bedürfnisordnung oder Moralordnung.
Die Kategorien sind (wie auch Raum und Zeit) vom kognitiven Niveau her zunächst nur
Ordnungsfunktionen, die subjektiv und intersubjektiv gültigem Denken immer schon (a priori)
zugrunde liegen müssen, derer man sich bewusst werden und von denen man (wie von Raum
und Zeit) auch Ordnungsvorstellungen entwickeln kann. Dass sich Kant besonders dem geltungstheoretischen Aspekt der Kategorien in gültigen Erfahrungs- und Erkenntnisurteilen
widmet und insofern Ordnungsprinzipien für den gültigen Kategoriengebrauch entwickelt,
versteht sich (fast) von selbst. Diese Ordnungsprinzipien sind allerdings nur auf der Grundlage einer Analyse der Ordnungsfunktionen und Ordnungsvorstellungen möglich. Durch die
raumzeitlichen und kategorialen apriorischen Denkoperationen des Verstandes in Urteilen
werden Gegenstände der Anschauung nach bestimmten Ordnungskriterien einheitlich bestimmbar. Das Urteil bildet die sprachliche Ausdrucksform dieser Synthesis.394 "Denkt man
sich die Tafel der Urteilsformen um den Anschauungsbezug auf gegebene Mannigfaltigkeit
erweitert, so gelangt man zur Tafel der kategorialen Verstandesbegriffe als Darstellung des
Systems gültiger Prädikationshinsichten. Beispielsweise entspricht der Urteilsgruppe der Relation die Kategoriengruppe Substanz-Kausalität-Wechselwirkung."395 Die Kategorien entwerfen also nicht die (ohnehin) anschauungsbedingte Materie eines Gegenstandes schlechthin, sondern sie konstituieren lediglich die logische Struktur seiner Merkmale, unter denen er
a priori im Denken subsumiert werden kann.396 Auf solche Weise "entspringen gerade soviel
reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen,
als es ... logische Funktionen in allen möglichen Urteilen" gibt.397
Mit der Herleitung der Kategorien aus den Urteilsformen erklärt sich jedoch erst ihr Besitz,
das Problem ihrer Geltung bleibt offen. Die Kategorien können ebenso wenig wie der Raum
oder die Zeit wahrgenommen werden, weil sie originäre kognitive Leistungen des um Erfahrung und Erkenntnis bemühten Subjekts sind. Ihre Geltung ist deshalb nur durch Rekonstruktion der durch sie ermöglichten Synthesis nachweisbar. Die intersubjektive Geltung von
Raum und Zeit als a priori gültige kognitive Ordnungsmuster lag darin, dass allein mit ihrer
Hilfe ein Gegenstand, ein Bedürfnis oder eine Handlung als von anderen Gegenständen, Bedürfnissen oder Handlungen unterschieden vorgestellt werden kann. Der Nachweis der intersubjektiven Geltung der Kategorien muss nun darin bestehen, dass allein durch sie ein Bedürfnis ein Gegenstand oder eine Handlung im Denken mit anderen Bedürfnissen, Gegenständen oder Handlungen bestimmt, verglichen und hierarchisiert werden kann. Deshalb ist es
"schon eine hinreichende Deduktion derselben und Rechtfertigung ihrer objektiven Gültigkeit",398 wenn dargelegt wird, dass allein mit ihrer Hilfe ein bestimmtes Bedürfnis, ein bestimmter Gegenstand, eine bestimmte Handlung gedacht werden kann. Die Geltung der Kategorien lässt sich also dadurch erweisen, dass sie den Gegenstand, das Bedürfnis oder eine
Handlung zwar nicht seinem Dasein nach, aber hinsichtlich seiner subjektiv oder intersubjektiv gültigen Subsumierbarkeit im Denken überhaupt erst bestimmbar machen.
Erfahrung und Erkenntnis können auch ohne das Bewusstsein der Kategorialbegriffe - aber
nicht ohne kategorial strukturierte Ordnungsvorstellungen - gewonnen werden. Um nun zu
zeigen, dass die kategorial gestaltete Synthesis transzendentale Bedingung jeder empirischen
Synthesis, mithin die Kategorien transzendentale Bedingung jeder empirischen, subjektiv und
intersubjektiv gültigen Urteilsfindung und Begriffsbildung sind, muss zunächst die Genese
des empirischen Erkenntnisvorgangs untersucht werden. Um also die Geltung der Kategorien
für den Erfahrungs- und den Erkenntnisaufbau hinreichend begründen zu können, müssen
394
Vgl. Bauch (1917) S. 197.
Baumanns (1997) S. 390.
396
Vgl. Baumanns (1997) S. 390.
397
Kant (KrV) B, S. 105.
398
Kant (KrV) A, S. 96 f.
395
161
zunächst die geltungstheoretisch relevanten Momente des empirischen Erfahrungs- und Erkenntnisprozesses eruiert werden. Kant erläutert deshalb in der 'subjektiven' Deduktion der
Kategorien auch zunächst nur die geltungstheoretisch erheblichen Momente jedes (empirischen) Erfahrungs- und Erkenntnisbildungsprozesses. Die subjektiven Bedingungen von Erfahrung, die drei Formen der Synthesis sind: 1. die "Synthesis der Apprehension in der Anschauung", 2. die "Synthesis der Reproduktion in der Einbildung" und 3. die "Synthesis der
Rekognition im Begriff".399 Diese drei kognitiven Verarbeitungsmuster (des Verstandes) im
Zusammenhang mit Erfahrungs- und Erkenntnisbildung sollen hier kurz erläutert werden:
1. Damit gegebenes Mannigfaltiges der Wahrnehmung in einer Vorstellung vereinigt werden kann (wie dies bereits subjektiv gültiger Erfahrungsaufbau erfordert), muss der Verstand
eben dieses Mannigfaltige in Raum und Zeit verorten. Diese Ordnung zielt auf die raumzeitliche Lokalisierung der Gegenstände, Bedürfnisse oder Handlungen, auf die Bestimmung der
Gegenstände, Bedürfnisse oder Handlungen in Raum und Zeit, auf die Einheit der Anschauung ab. Ohne diese erste grundlegende Ordnung bliebe das Mannigfaltige menschlicher Rezeptivität nur ein chaotisches, unüberschaubares und damit unbestimmbares Gewirr von Sinneseindrücken. Um Erfahrung überhaupt aufbauen zu können, muss der Wahrnehmungsstrom
in raumzeitliche Segmente zerlegt, der einzelnen Gegenstand, das einzelne Gefühl oder die
einzelne Handlung im Verlauf dieser Segmente lokalisiert, verfolgt und subjektiv gültig bestimmt werden. Der Verstand und nicht etwa die Rezeptivität selbst strukturiert die vielfältigen Sinneseindrücke durch raumzeitliche Ordnungsmuster.
2. Mit Hilfe des Gedächtnisses muss der Verstand sich nun die in Vorstellungen gespeicherte Reihenfolge der Wahrnehmungsinhalte in Erinnerung rufen, damit die verschiedenen
Vorstellungen in einer zusammenhängenden Reihe von Vorstellungen aufeinander beziehbar
sind und in Urteilen vereint werden können. Ohne Gedächtnisleistungen wären die sich verändernden Gefühle (Bedürfnisse), der sich verändernde Gegenstand oder die sich verändernde
Handlungssituation gar nicht über die verschiedenen raumzeitlichen Segmente hinweg
verfolgbar und als ein Bedürfnis, als ein Gegenstand oder eine Handlung vorstellbar.
Wenn aber unsere Bedürfnisse, die Natur und Handlungen (letztere durch ihren zweckrationalen Charakter unter naturgesetzlichen Handlungsbedingungen) nicht selbst bereits gewissen kontinuierlichen Abfolgen unterlägen, könnte diese Reproduktion nach Kants Auffassung
gar nicht gelingen: "Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein,
ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage
bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten
Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort
bald diesen, bald jenem Dinge beigelegt oder auch ebendasselbe Ding bald so, bald anders
benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden."400 Kant bestätigt damit die evolutionsbiologische Grundannahme schlechthin, dass alle
menschlichen Ordnungsmuster zur Bestimmung von Wahrnehmung selbst wiederum Wahrnehmungsinhalte voraussetzen, die nach eben diesen Ordnungsmustern zweckmäßig bestimmbar sind, weil sonst alle unsere kognitiven Anstrengungen vergeblich wären, wenn sie lediglich darin mündeten, chaotische Wahrnehmungen in eine konfuse Vorstellung eben dieser
Wahrnehmung zu transformieren. Ebenso wie die raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen geltungstheoretisch daran gebunden sind, dass es Gegenstände, Ereignisse, Bedürfnisse, Handlungsabläufe gibt, die sich zweckmäßig subjektiv oder intersubjektiv gültig raumzeitlich bestimmen lassen, sind auch die kategorialen Ordnungsvorstellungen nur dann sinnvoll, wenn
399
400
Vgl. Kant (KrV) A, S. 97 ff.
Kant (KrV) A 100 f.
162
sich Bedürfnisse, Gegenstände, Handlungen anhand dieser Ordnungsmuster subjektiv oder
intersubjektiv gültig bestimmen lassen.
3. Damit die Reproduktion verschiedener Vorstellungen in einer Vorstellung überhaupt als
Reproduktion gelingt, muss zur Reproduktion auch das Bewusstsein der Einheit dieser Vorstellungen in der Reproduktion hinzutreten. Das Bewusstsein der Einheit der Vorstellungen
ermöglicht überhaupt erst Erfahrung. Allerdings kann die Reproduktion von Vorstellungen in
einer Vorstellung - entgegen Kants Auffassung - auch ohne Begriffsbildung gelingen und infolgedessen bedarf subjektiv gültiger Erfahrungsaufbau nicht notwendigerweise der Begriffsbildung. Beispielsweise kann ein Affe oder ein Kind die (subjektive) Erfahrung machen, dass
jene gelben, gebogenen 'Dinger' äußerst lecker sind, wenn man die Schale abmacht, ohne den
Begriff 'Banane' überhaupt bilden zu können. Verschiedene Anschauungsmerkmale (Vorstellungen) etwa von der Größe, der Farbe, dem Geschmack, dem Gewicht oder dem Geruch eines Gegenstandes lassen sich also auch ohne (exakte) Begriffsbildung in einer Vorstellung,
wie 'angenehm', 'gleichgültig' oder 'unangenehm' (durch ein bestimmtes, standpunktbezogenes
Gefühl) subsumieren - das (subjektiv gültige) Erfahrungsurteil über den sehr wohlschmeckenden Geschmack von Bananen wird hierdurch auch ohne den (intersubjektiv gültigen) Begriff
von einer Banane durchaus möglich.
Das Erfahrungsurteil bildet nun im Rahmen der 'subjektiven' Deduktion den geeigneten
Ausgangspunkt für die Frage nach den entscheidenden Merkmalen von Erkenntnisurteilen.
Ohne das Vermögen, (subjektiv gültige) Gegenstandserfahrung, (subjektiv gültige) Bedürfniserfahrung oder (subjektiv gültige) Moralerfahrung zu sammeln, bliebe dem Menschen auch
(intersubjektiv gültige) Naturerkenntnis, Bedürfniserkenntnis oder Moralerkenntnis verschlossen. Im Gegensatz zu subjektiv gültiger Erfahrung erfordert (intersubjektiv gültige) Erkenntnis die begriffliche Bestimmung des einen Gegenstandes, des einen Bedürfnisses, der einen
(moralischen) Handlung hinsichtlich aller Merkmale in Relation zu den Merkmalen aller anderen Gegenstände, Bedürfnisse und Handlungen, denn nur die begriffliche Bestimmung verhindert eine relativ vage subjektive Bestimmung des einen Gegenstandes, des einen Bedürfnisses, der einen Handlung. Letztendlich kann also nur die (möglichst) vollständige Bestimmung aller Gegenstandsmerkmale, Bedürfnismerkmale und Handlungsmerkmale Garant dafür
sein, dass "unsere Erkenntnisse ... a priori auf gewisse Weise bestimmt seien, weil, indem sie
sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendigerweise in Beziehung auf diesen untereinander übereinstimmen, d. i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff
von einem Gegenstand ausmacht."401 Die Einheit von Ordnungsvorstellungen über Gegenstände, Gegenstandsmerkmale und Gefühle, Bedürfnisse, Handlungen und Handlungsfolgen
als ganzes steht demzufolge erst dem bloß subjektiven Belieben der Synthesis hinreichend
entgegen, die im Begriff enthaltene Ordnungsvorstellung muss mit den Ordnungsvorstellungen aller anderen Begriffe kompatibel sein.
Nachdem die genetischen Funktionen des empirischen Erfahrungs- und Erkenntnisaufbaus
lediglich als Fakten in ihren wesentlichen Momenten dargelegt worden sind, kann nunmehr
untersucht werden, welche Geltungsbedingungen ihnen zugrunde liegen. Die 'transzendentale‘
Deduktion der Kategorien hat den Nachweis zu führen, dass Erfahrungs- und Erkenntnisaufbau ohne kategoriale Gestaltung der Synthesis unmöglich sind. Deshalb fragt sich, wie eine
Kongruenz von Gegenstand und Gegenstandserfahrung bis hin zu Gegenstandserkenntnis oder
Gefühl und Bedürfnisbestimmung oder Handlung, Moralerfahrung und Moralerkenntnis
überhaupt entstehen können? Hier meint Kant: "Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen
synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich aufeinander notwendigerweise beziehen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den
401
Kant (KrV) A, S. 104 f.
163
Gegenstand allein möglich macht."402 In Beziehung auf den Gegenstand wird infolgedessen
die "objektive Gültigkeit der Kategorien, als Begriffe a priori, darauf beruhen, daß durch sie
allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei",403 "daß sie als Bedingungen a
priori der Erfahrung erkannt werden müssen".404 Auch wenn sich die kategorialen Ordnungsmuster gewöhnlich in der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung bewähren, so kann doch die
geltungstheoretische Begründung der Kategorien kaum durch Erfahrung selbst erfolgen, weil
sie Erfahrung überhaupt erst ermöglichen - empirisch könnte höchstens gezeigt werden, dass
ich mir keine (sinnvolle) Erfahrung vorstellen kann, die nicht auf Kategorien beruht.
Was soll und kann eine transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen leisten?
Dass die Kategorien nicht nur (notwendige) Bedingung unserer Naturerfahrung und Naturerkenntnis sind, sondern auch unserer Bedürfniserfahrung und Bedürfniserkenntnis und schließlich auch unserer Handlungserfahrung (welche Handlungen kann und soll ich tun oder unterlassen?) und Handlungserkenntnis (welche Handlungen können und sollen alle Menschen tun
oder unterlassen?), bedarf eigentlich über die von Kant mit Blick auf Naturerfahrung und Naturerkenntnis getroffenen Ausführungen hinaus keiner besonderen Begründung: Denn es liegt
auf der Hand, dass Bedürfnisbestimmung und Handlungsbestimmung ebenso wie Naturbestimmung ohne Kategorien nicht gelingen kann. Wie und weshalb sollten auch andere Ordnungsmuster als Kategorien in der Moralerfahrung und Moralerkenntnis eine Rolle spielen,
wo sie doch bereits für Naturerfahrung und Naturerkenntnis überragende Bedeutung haben?
Was hierarchisieren Kategorien in der Moralerfahrung, wenn nicht (Gefühle, Bedürfnisse)
subjektive Interessen, aus wissenschaftlicher Sicht letztendlich im Dienste allgemeiner Interessen (Moralerkenntnis). Wesentlich wichtiger scheint der Aspekt des Nachweises, wie Moralerfahrung und Moralerkenntnis abgesehen vom Kategoriengebrauch möglich sind und inwiefern sie sich dadurch von Naturerfahrung und Naturerkenntnis unterscheiden. Ein entscheidender Ansatzpunkt für die Untersuchung dieses Gesichtspunkts liegt in der Einsicht,
dass Moralerfahrung sowohl Bedürfniserfahrung, als auch Naturerfahrung und Handlungserfahrung voraussetzt, weil sie uns überhaupt erst einen Standpunkt verschaffen, von dem ausgehend nicht nur subjektive, sondern auch intersubjektive moralische Urteile möglich sind.
Dies nachzuweisen bildet den eigentlich interessanten Teil einer transzendentalen Deduktion
unserer Moralvorstellungen.
Die transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen sollte jene große Lücke überbrücken, die Kant mit seinem 'Faktum-Theorem' einfach glaubte überspringen zu können, die
transzendentale Deduktion unserer Moralvorstellungen sollte analog zur transzendentalen
Deduktion von Naturvorstellungen plausibel darlegen, wie wir überhaupt zu ersten Vorstellungen nicht von Gegenständen, sondern von 'gut' und 'schlecht' gelangen, wie wir Moralerfahrung bilden und schließlich, wie Moralerkenntnis intersubjektiv begründbar wird. Sie muss
wie die transzendentale Deduktion unserer Naturvorstellungen den genetischen und geltungstheoretischen Aspekt unserer Moralvorstellungen darlegen und nicht nur deren geltungstheoretischen (Kant). Bei unseren Naturvorstellungen war Naturerfahrung und Naturerkenntnis
nur durch den durch Empfindungsbezug belegbaren Gegenstandsbezug möglich. Nach meiner
Auffassung lässt sich die Unterscheidung von 'gut' und 'schlecht' mit Blick auf Moralerfahrung und Moralerkenntnis im Sinne des Humeschen Grundprinzips der Lustsuche und
Schmerzvermeidung wesentlich nur auf der Grundlage von Gefühlen (hinreichend) rechtfertigen. Zwar können moralische Gebote (vor allem bloße Gerechtigkeitsregeln, bei denen empirische Variablen - die genetischen Voraussetzungen von Moral - weitgehend ausgeblendet
oder stillschweigend vorausgesetzt werden) in einem gewissen Umfang mit Kant und seinen
402
Kant (KrV) B, S. 124 f.
Kant (KrV) B, S. 126.
404
Kant (KrV) B, S. 126. „Begriffe, die den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben,
sind eben darum notwendig“. Kant (KrV) B, S. 126.
403
164
Epigonen auch auf einer (überwiegend) rationalistischen Oberfläche (Ebene) diskutiert, meiner Auffassung nach aber nicht hinreichend plausibel (intersubjektiv) gerechtfertigt werden,
denn das dort zugrundegelegte Vernunftsubjekt steht bereits auf dem Boden der Moral, entscheidend wäre aber zu zeigen, wie es dorthin gelangt.
Auch Gerechtigkeitsregeln sind letztendlich nur auf der Basis unseres Bedürfnis-, Naturund Handlungshorizonts einsehbar, begründbar und nur auf dieser Basis überhaupt erfolgversprechend realisierbar - die Anwendung selbst der abstraktesten Gerechtigkeitsregel erfordert
in jedem Fall Empirie. Empirisch fundierte (inhaltliche) Moralprinzipien wie das Humesche
Nutzenprinzip bieten gegenüber bloßen Gerechtigkeitsregeln den Vorteil, dass bereits durch
ihren Begründungsweg gleichzeitig auch ein Interpretationsweg für ihre sachgerechte Anwendung vorgegeben wird, während man sich bei (formalen) Gerechtigkeitsprinzipien (namentlich den Kantischen) durch ihre Begründungsbedürftigkeit vor allem in ihrer Anwendung
in einem konkreten sozialen Kontext (unserem jeweils konkreten Bedürfnis-, Natur- und
Handlungshorizont) eben jene Probleme aufbürdet, die eigentlich bereits bei der Begründung
der Gerechtigkeitsregel grundlegend gelöst hätten werden müssen. Als signifikantes Beispiel
dieser Schwierigkeit bietet sich wiederum das Kantische (absolute) Lügenverbot an, denn eine
Lüge aus Höflichkeit (generell um Schaden zu vermeiden) wäre nach meiner Auffassung und
der anderer Interpreten durchaus mit Kants KI vereinbar.
Ohne Empfindungen können wir zu keiner (subjektiv oder intersubjektiv begründbaren)
Vorstellung von der Natur gelangen. Empfindungen sind genetisch und geltungstheoretisch
Voraussetzung für jede Naturerfahrung und Naturerkenntnis, wie Kant unzweideutig hervorhebt: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn
wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es
nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der
Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntniß in
uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an."405 Ebenso aber können wir nach
meiner Einschätzung ohne Gefühle zu keiner erfahrungsbildenden und erkenntnisgenerierenden Vorstellung von 'gut' und 'schlecht' gelangen. Unsere Moralvorstellungen haben emotivistische Grundlagen, weil sich alle subjektiv und intersubjektiv begründbaren Moralvorschriften
letztendlich auf die Herbeiführung positiver und die Vermeidung negativer Gefühle beziehen.
Deshalb darf die Bestimmung und Begründung von Moral die emotivistischen Grundlagen
menschlichen Handelns nicht übergehen. Die Berücksichtigung emotivistischer Aspekte kann
in der Moral jedoch nur soweit reichen, als sie auf intersubjektiv geteilten (notwendigen) Bedürfnissen beruhen.
Ohne Gefühle, ohne die Erfahrung von freudvollen und schmerzhaften Handlungsalternativen wären wir gar nicht imstande, mit dem elementaren Unterschied zwischen 'gut' und
'schlecht' überhaupt irgendeine spezifische (sinnvolle) Vorstellung zu verbinden, wir würden
lediglich wie Blinde von Farben sprechen, bestenfalls noch wie Kant idealistische Moralvorstellungen propagieren, die letztendlich jedoch auch wiederum auf positiven oder negativen
Gefühlen beruhen und mit positiven oder negativen Gefühlen belegt wären. Alle subjektiv
oder intersubjektiv (durch Verstand oder Vernunft) begründbaren Regeln und Normen gehen
letztendlich auf die mit Gefühlen verbundenen Erfahrungen von angenehmen oder unangenehmen Ereignissen zurück. Die entscheidende Relevanz von Gefühlen für die Entwicklung
moralischer Handlungskompetenz wird von neueren psychologischen Studien belegt. Danach
kommt es zu Problemen in der moralischen Entwicklung bei Kindern, wenn Prozesse moralischer Sensibilisierung in der Familie unterbleiben oder die moralischen Grunderfahrung fehlt,
405
Kant (KrV) B 1.
165
als Person akzeptiert und respektiert zu werden.406 Nach Hoffman bestimmen entwicklungspsychologisch Empathie und Fürsorge als zentrale Komponenten die Moralentwicklung.407 Er
unterscheidet zwischen der kognitiven Komponente der Empathie, die auf der Fähigkeit zur
Perspektivenübernahme beruht, und der affektiven Komponente, die für ihn die zentrale moralische Komponente darstellt. Denn handlungsmotivierende Funktion gewinnen empathische
Gefühle nach dieser Auffassung erst durch die Fähigkeit zur Mitempfindung,408 die eine Disposition zur Hilfeleistung beziehungsweise zur aktiven Berücksichtigung der Lage eines anderen beinhaltet. Insofern können wir nur durch Gefühle und darauf aufbauende Erfahrung
zu subjektiver Moralerfahrung und darauf aufbauender intersubjektiv begründbarer moralischer Einsicht gelangen.
Der eigene Standpunkt, von dem aus ein moralisches Urteil (über mich oder alle Menschen) überhaupt erst möglich und sinnvoll wird, lässt sich nur im Zusammenhang von Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont konstituieren. Dabei bildet der Bedürfnishorizont den
Ausgang, der Naturhorizont die darauf aufbauende Perspektive und der Handlungshorizont
das Ende eines möglichen Standpunkts. Keine Perspektive gibt für sich allein isoliert von den
anderen eine (sichere) Grundlage für einen (moralischen) Standpunkt ab. Der durch den eigenen Bedürfnishorizont, Naturhorizont, Handlungshorizont generierte Standpunkt bildet mithin
die transzendentale Bedingung einer subjektiven moralischen Regel. Die vom allgemeinen
Bedürfnishorizont, Naturhorizont, Handlungshorizont aller Menschen ausgehende Perspektive
fungiert hingegen als transzendentale Bedingung intersubjektiver moralischer Normen. Somit
sind die einen Standpunkt überhaupt erst ermöglichenden Empfindungen, Gefühle, Wünsche,
Interessen transzendentale Bedingung moralischer Urteile. Der von Kant (bei Begründung
seines KI) eingeschlagene Weg apriorischer Willensbestimmung und Normenbestimmung
völlig unabhängig von Gefühl, Empathie, Sympathie und jeder moralischen Erfahrung
scheint demgegenüber wenig aussichtsreich, weil das empirische Subjekt doch (als letztendlich entscheidender Handlungsakteur) ohne Berücksichtigung seines Bedürfnishorizonts, Naturhorizonts, Handlungshorizonts mangels Orientierung gar keine (weder subjektiv noch
intersubjektiv tragfähige) moralischen Urteile fällen kann. Denn der apriorische Wille kann
gar nicht wissen, ob etwa die Regel vom 'Recht des Stärkeren' für einen, viele oder alle Menschen gutes oder schlechtes bewirkt, sondern nur der empirische Wille, sofern er bereits die
Erfahrung gemacht hat, einem anderen Mensch körperlich unterlegen und in der Auswahl
seiner Handlungsoptionen entsprechend eingeschränkt zu sein.
Ohne Kenntnis meiner eigenen Bedürfnisse wäre jede Moralerfahrung und Moralerkenntnis für mich demnach unerreichbar, da ich über 'gut' und 'schlecht' ursprünglich nur aufgrund
meiner mit entsprechenden Gefühlen verbundenen Bedürfnislage entscheiden kann. Erst die
Verbindung von Naturhorizont und Bedürfnishorizont verschafft mir einen sinnvollen Handlungshorizont. Ohne Verbindung mit einem Bedürfnis- und einen Handlungshorizont wären
die den Naturhorizont eröffnenden raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen für
alle Lebewesen weitgehend nutzlos, denn sie sind als Instrumente zur effizienten Bedürfnisbefriedigung im jeweiligen Naturhorizont aus evolutionsbiologischer Sicht im Grunde genommen nichts anderes als Werkzeuge (Hume) der Lebensbewältigung. Moralerfahrung kann
406
Vgl. Keller, Monika und Edelstein, Wolfgang: Die Entwicklung eines moralischen Selbst von der
Kindheit zur Adoleszenz. In: Wolfgang Edelstein, Gudrun Nunner-Winkler, Gil G. Noam: Moral und
Person. Frankfurt am Main 1993, S. 307–334. Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, Hrsg.: Wolfgang Althof unter Mitarbeit von Gil G. Noam/Fritz Oser. Frankfurt am Main
1996. Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt am Main 1973.
407
Vgl. Hoffman, Martin L. Empathy, its limitations, and its role in a comprehensive moral theory. In:
W. M. Kurtines und J. L. Gewirtz (Hrsg.), Morality, moral behavior, and moral development (S. 283–
302). New York: Wiley 1984.
408
Vgl. Hoffman (1984).
166
nur durch Verknüpfung unseres Bedürfnis-, Natur und Handlungshorizonts gelingen. Allein
durch Bestimmung, Ordnung und Hierarchisierung meiner Bedürfnisse, der zu meiner Bedürfnisbefriedigung geeigneten Gegenstände und meiner Handlungsoptionen kann ich zu
(sinnvollen) Vorstellungen darüber gelangen, was für mich selbst gut oder schlecht, erstrebenswert oder vermeidenswert sein sollte. Und ohne diese Moralerfahrung des für mich Guten
oder Schlechten könnte ich zu gar keiner (begründeten) Einsicht darüber gelangen, was für
andere Menschen gut oder schlecht sein sollte.
Wenn etwa meine eigene finanzielle Situation sehr angespannt ist, dann habe ich gar keine
Handlungsoption, einem moralischen Gebot folgend Bedürftigen zu helfen. Moralisch oder
unmoralisch zu handeln liegt mithin nur innerhalb des Bereiches der für mich überhaupt erreichbaren Handlungsoptionen. Wenn ich einen Unfall hatte und im Krankenhaus liege, dann
kann ich keinen Banküberfall begehen. Auch Wunder zu vollbringen und Kranke zu heilen
liegt außerhalb des Spektrums an Handlungsoptionen, die einem normalen Menschen üblicherweise zur Verfügung stehen. Andernfalls könnte die Wunderheilung zur moralischen
Pflicht erhoben werden. Moralische Gebote müssen sich mithin innerhalb des Rahmens der
jedem Menschen üblicherweise zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen halten. Moralische Urteile verbinden unseren Bedürfnishorizont mit unserem Naturhorizont und unserem
Handlungshorizont (moralische Handlungen sind eine Untermenge aller möglichen Handlungen, unserer Handlungsoptionen), indem sie die Vielfalt aller möglichen Gefühle und die
Vielfalt aller möglichen Gegenstände und Ereignisse (auch die Handlungen anderer Menschen) durch wertende Urteile etwa von sehr gut bis sehr schlecht in Beziehung setzen und
Grundlage unserer Handlungsbestimmung werden. Subjektiv gültige moralische Urteile (Moralerfahrung) unterscheiden sich von intersubjektiv gültigen moralischen Urteilen (Moralerkenntnis) insbesondere dadurch, dass letztere nicht nur für einen oder mehrere Menschen,
sondern für alle Menschen gültig sein sollen. Subjektiv gültige Moralerfahrung bildende Urteile beruhen auf dem Verstand, während intersubjektiv gültige Moralerkenntnis ermöglichende Urteile auf Vernunft basieren. Alle Menschen müssen ihres Überlebens willen ständig ihren Bedürfnishorizont mit ihrem jeweils aktuellen Naturhorizont abgleichen, um daraus
Handlungsoptionen zu entwickeln. Alle Menschen sind fortwährend darauf angewiesen, Erfahrungen zu sammeln, wie sie ihre Bedürfnisse in ihrem jeweils aktuellen Lebensumfeld am
besten befriedigen können.
Nun gibt es Gegenstände und Ereignisse (dazu gehören auch Handlungen) die der eigenen
Bedürfnisbefriedigung zuträglich und andere, die ihr neutral gegenüberstehen oder ihr sogar
abträglich sind. Gegenstände und Ereignisse, die zur eigenen Bedürfnisbefriedigung taugen,
werden gemeinhin als 'gut', die sie verhindern oder erschweren gewöhnlich als 'schlecht' bezeichnet. Alle Menschen sind natürlich (notwendig) darum bemüht, solche Gegenstände zu
erlangen, solche Ereignisse (durch eigene und fremde Handlungen) herbeizuführen, die ihrer
Bedürfnisbefriedigung zuträglich sind und ihnen insofern nutzen. Diese Bemühungen können
nun (gedanklich oder faktisch) entweder prudentiell, egoistisch, verstandesbasiert aus der
(eher empirischen) Akteursperspektive oder aber vernunftbasiert, gerechtigkeitsorientiert aus
der (eher rationalistischen) Beobachterperspektive angestellt werden. Dementsprechend sind
entweder subjektiv gültige Moralerfahrung bildende oder aber intersubjektiv gültige Moralerkenntnis stiftende Urteile erzielbar.
Prudentiell orientiert bemüht sich das Handlungssubjekt darum, solche Handlungsregeln
für sich (und andere) aufzustellen, die in erster Linie ihm selbst (kurzfristig) nutzen, die seine
eigene Bedürfnisbefriedigung am ehesten ermöglichen. Vernunftbasiert stellt das Handlungssubjekt hingegen solche Handlungsnormen auf, die für alle Menschen vorteilhafte Konsequenzen haben, die also allen Menschen gleichermaßen Bedürfnisbefriedigung ermöglichen.
Nun gibt es Grund- oder Allgemeinbedürfnisse (etwa Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Schlaf)
die jeder Mensch befriedigen muss, wenn er überleben will und Individual- oder Luxusbedürfnisse (Hobbies, italienische Küche, Barockmalerei, Quizsendungen), die von Mensch zu
167
Mensch abweichen. Intersubjektiv gültige moralische Vorschriften und sogar Prinzipien sind
natürlich (ebenso wie Naturerkenntnis) nur durch Abstraktion und Reduktion von konkreten,
singulär vollzogenen Gegenstands-, Ereignis-, Gefühlsbestimmungen und deren Inbezugsetzungen möglich. Aber auch wenn ich selbst Apfelsaft bevorzuge, kann ich doch sagen, dass
alle Menschen etwas zu trinken brauchen, mithin alle Handlungen gut sind, die es möglich
machen, dass alle Menschen jederzeit ausreichend ihren Durst stillen können und alle Handlungen schlecht, die gegenteiliges bewirken, etwa zu Wasserknappheit führen.
Alle moralischen Normen, auch Kants nach eigenen Angaben empiriefreier KI sind nur
einsehbar, plausibel begründbar und anwendbar durch die erklärte oder stillschweigend vorausgesetzte Intention einer Herbeiführung positiver und der Vermeidung negativer Gefühle.
Denn woher sollten wir wissen, warum allgemeine Gesetze individuellen Gesetzen vorzuziehen sind, was als allgemeines Gesetz tauglich, wünschenswert, erstrebenswert scheint, wenn
nicht durch die Erfahrung mit angenehmen wie unangenehmen Gefühlen und deren verstandes- und vernunftbasierte Bewertung? Nur durch die eigene subjektiv Erfahrung mit angenehmen oder unangenehmen Gefühlen können wir ermessen, was für alle Menschen mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen verbunden sein kann und deshalb durch allgemeine
Gesetze geboten oder verboten werden sollte. Eine vordergründig allein vernunftbasierte rationalistische Moraltheorie scheint deshalb nur insoweit sinnvoll, als sie vermeintlich empiriefreie moralische Wertungen letzten Endes doch hintergründig emotional auflädt. Denn wie und
warum überhaupt sollte Vernunft etwa durch den KI die (intersubjektiv begründbare) Forderung formulieren, dass alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten haben sollen, wenn wir
nicht alle Erfahrungen mit negativen Gefühlen im Zusammenhang von Benachteiligung gemacht hätten? Und wie sollten wir die moralische Forderung nach Gleichberechtigung überhaupt auch nur verstehen können, wenn wir nicht aus Erfahrung wüssten, dass Menschen
ständig benachteiligt werden und diese Benachteiligung mit negativen Gefühlen verbinden?
Allein schon die Kantische Vorstellung, dass mit der Gesetzestauglichkeit von Maximen
ein zuverlässiges Moralkriterium geschaffen sei, setzt ein bestimmtes empirisches gefühlsund verstandesbasiertes Moralverständnis voraus, nämlich dass jeder Mensch für sich selbst
jeweils nur gutes will, dass sich jeder Mensch nicht selbst schaden will, denn sonst wäre die
Maxime sich selbst und anderen zu schaden durchaus gesetzestauglich. Nur wenn angenommen wird, dass jeder Mensch für sich selbst gutes will, darf (berechtigt) angenommen werden,
dass mit Hilfe des Prüfungsverfahrens im Kantischen KI auch eine Schnittmenge des für alle
Menschen Guten auffindbar wird. Nach Humescher Lesart wäre eine Maxime dann als allgemeines Gesetz tauglich, wenn es jedermann Nutzen bietet, wenn seine Beachtung bei allen
Menschen angenehme Gefühle hervorruft und umgekehrt wäre eine Maxime als Gesetz untauglich, wenn sie nicht allen Menschen nutzt, wenn deren Beachtung nicht bei allen Menschen positive Gefühle bewirkt. Der in meinen Augen wichtigste Aspekt des KI als Moralkriterium liegt aus dieser Humeschen Perspektive deshalb gerade darin, dass ich meine eigenen
Gefühle, meine eigene (moralische) Erfahrung, auf die Allgemeinheit interpoliere. Wenn dieses mein eigenes empirisches moralisches Vorverständnis als allgemein möglicher moralischer Motivations- und Konstitutionsgrund jedoch eliminiert wird, wie dies Kant im Rahmen
seiner aprioristischen Moralkonzeption offenbar vorschwebt, verbleibt kein sinnvoller (tragfähiger) Standpunkt (weder subjektiv noch intersubjektiv) mehr, von dem aus plausibel darlegbar wäre, welche Maxime, welches Verhalten (aus welchen Gründen) gesetzestauglich sein
sollte oder nicht. Denn Gefühle und darauf bauende Erfahrung sind in gewisser Hinsicht die
Währung, die elementarsten Einheiten, mit denen über Moralvorschriften (subjektiv und intersubjektiv) verhandelt, diskutiert werden kann.
Neben der (genetischen und geltungstheoretischen) Gefühlsbasiertheit unserer Moralvorstellungen ignoriert Kant jedoch auch den empirischen Gesamtzusammenhang, aus dem heraus Moralerfahrung und Moralerkenntnis überhaupt (transzendental) begründbar werden. Bezeichnenderweise spricht Kant zwar von der unverzichtbaren Voraussetzung der Naturerfah168
rung für Naturerkenntnis, dementiert aber den Zusammenhang von Moralerfahrung für Moralerkenntnis. Moralerfahrung scheint für Kant kein ernsthaftes Thema zu sein, da Moral nach
seiner Auffassung erst durch Moralerkenntnis konstituiert wird, Moralerfahrung kann es nach
Kant gar nicht geben. Mit dieser Einschätzung macht es sich Kant allerdings viel zu einfach durch diese relativ schlichte rationalistische Vorgehensweise glaubt sich Kant berechtigt, alle
anderen Moralvorstellungen (insbesondere empiristische Moralvorstellungen) pauschal disqualifizieren zu dürfen, ohne die Vielfalt von Moralvorstellungen in der Welt insgesamt und
die (vermeintlich) herausragende Qualität seiner eigenen Moralvorstellungen (ausführlich)
begründen zu müssen. Die (überheblich) vorgenommene Gleichsetzung von (rationalistischer)
Moralbegründung und Moralerkenntnis erspart Kant eine mühsame inhaltliche Diskussion
über abweichende Moralvorstellungen.
Was Kant über die Konstanz und die Kontingenz des Erfahrungsgegenstandes sagt, die bei
aller Veränderung bestehen muss, damit er überhaupt Erfahrungsgegenstand für unser (beschränktes) kognitives Vermögen sein kann, gilt natürlich erst Recht für die kognitiven Leistungen des um Erfahrung bemühten Subjekts selbst: Wenn wir die Gegenstände unserer Erfahrung abhängig von unserer Stimmungslage oder sogar bedingt durch die Struktur unserer
kognitiven Leistungen manchmal langsamer oder schwerer, größer oder kleiner wahrnehmen
würden, wenn wir manchmal nur grüne oder rote, gerade oder krumme Gegenstände wahrnehmen könnten, wären wir außerstande (sinnvolle nutzbringende) Erfahrung zu bilden, geschweige denn, Erkenntnis aufzubauen. Wenn wir Hunger bisweilen als angenehm und gelegentlich als unangenehm empfänden, könnten wir keine Bedürfniserfahrung und wenn wir
den Kauf von Schuhen manchmal als erfreulich und manchmal als unerfreulich erlebten, keine Handlungserfahrung machen. Die Kategorien sind konstante und kontingente Ordnungskriterien unseres kognitiven Apparats, die es uns ermöglichen, Gegenstände unabhängig von
unseren Stimmungslagen zu erfassen und zu beurteilen. Der Begriff von einem Baum ermöglicht uns einen Baum als Baum oder Hunger als Hunger unabhängig von unserer Laune zu
erfassen. Die Kategorien bilden mithin die Voraussetzungen für einheitliche, erfahrungskonstituierende Ordnungsvorstellungen.
Die einheitsstiftende Funktion der raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen
vollzieht sich mit Hilfe der von Kant als 'transzendentaler Apperzeption' bezeichneten Synthesisleistung. In allen Synthesisleistungen transformiert der Verstand Wahrnehmungsinhalte
zu Anschauungen oder Begriffen. Das Verbinden, Vergleichen und Bestimmen von Wahrnehmungsinhalten gelingt jedoch nur, wenn das um Erfahrung oder Erkenntnis bemühte Subjekt als standpunktgenerierender Urheber dieser kognitiven Leistungen auftritt, denn die
Wahrnehmungsdaten selbst enthalten die Verbindung, den Vergleich, die Bestimmung, die
Ordnung, die Hierarchisierung eben dieser Wahrnehmung keinesfalls bereits. Das um Erfahrung oder Erkenntnis bemühte Subjekt muss mit anderen Worten die verschiedenen Wahrnehmungsinhalte und die verschiedenen möglichen Synthesisleistungen zum Zweck der Ordnung eben dieser Wahrnehmungsinhalte in seinem Bewusstsein als kognitiven Standpunkt
vereinen. Gegenüber dem bloßen Vorstellen eines Gegenstandes (Perzeption), bildet diese
Apperzeption ein selbstbewusstes Vorstellen, bei dem sich das kognitive Subjekt als Urheber
der Gegenstandsvorstellung bewusst wird. In diesem Sinne geht es Kant um das 'ich denke',
das als (fester) kognitiver Standpunkt meine vielfältigen Vorstellungen muss begleiten können
und insofern deren Einheit begründet. Die Vorstellung des ‘ich denke’ dient dazu, alles Denken als zum Bewusstsein, nicht zur Gegenstandsseite gehörig auszuzeichnen409 und die Kategorien sind Ordnungsmuster dieser transzendentalen Apperzeption.
409
Vgl. Kant (KrV) B, 400 f. „Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung
und Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis
der Anschauung vorhergeht, und, worauf in Beziehung, alle Vorstellung von Gegenständen allein
möglich ist. Dieses reine ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transzende ntale
169
Als Ordnungsmuster sind die Kategorien zugleich Ordnungskriterien für Anschauungen
von Gegenständen, Bedürfnissen, Handlungen, sie ermöglichen die Bestimmung und den
Vergleich, die Hierarchisierung von Anschauungen. Nur durch die Kategorien wird Erfahrung
erst aufbaubar. Und nur durch die Kategorien kann die Konstitution eines Erfahrungs- und
erkenntniskonstituierender Bezugs von Bedürfnishorizont, Naturhorizont und Handlungshorizont gelingen. Die transzendentale Apperzeption, die Einheit aller Vorstellungen in unserem
Bewusstsein bleibt ohne unseren Bedürfnis- und unseren Handlungshorizont unvollständig.
Denn bereits in unserem Bemühen um Naturerfahrung geht es uns doch nicht darum, beliebige Naturerfahrung zu machen. Wir könnten unendlich viel Erfahrung machen - etwa wie es
sich anfühlt, drei Tage unter einer feuchten Decke in Niederbayern in Schräglage zu verbringen. Und niemand möchte doch recht eigentlich die Erfahrung machen, etwa von einem farbenblinden Löwen oder Nashorn mit Zahnschmerzen angegriffen zu werden. Es geht uns ganz
im Humeschen Sinne in erster Linie darum, angenehme Erfahrung zu machen und unangenehme Erfahrung zu vermeiden. Dies scheint nur möglich, wenn wir unseren Naturhorizont
mit unserem Bedürfnishorizont und unserem Handlungshorizont verbinden. Das von Kant im
Zusammenhang mit der Analyse der Natur postulierte 'ich denke' muss deshalb um unseren
Bedürfnis- und Handlungshorizont erweitert werden.
Denn ein empirisches Selbstbewusstsein ohne Bedürfnishorizont und Handlungshorizont,
nur auf einem Naturhorizont beruhend wäre zwar theoretisch, aber kaum faktisch darstellbar,
denn welchen Gehalt, welche biologische Funktion, welchen philosophischen Sinn sollte ein
allein auf Naturerfahrung und Naturerkenntnis gerichtetes Selbstbewusstsein haben? Das empirische Selbstbewusstsein befasst sich wesentlich mit seinen Erfahrungen über Bedürfnisse,
Naturgegenständen zu ihrer Befriedigung und möglichen Handlungsoptionen. Kant übersieht,
dass ohne Bedürfnishorizont, Naturhorizont und Handlungshorizont keine (intersubjektiven)
Moralvorstellungen möglich sind, denn ohne Bedürfnisse (wenn ich keine Bedürfnisse habe
brauche ich nicht zu handeln), Naturhorizont (wenn ich nicht mit anderen Menschen um eine
begrenzte Anzahl von Gütern in Konflikt geraten kann braucht es ebenfalls keine Normen)
und Handlungshorizont (wenn ich nicht handeln kann, braucht es auch keine handlungsgebietenden, handlungserlaubenden oder handlungsverbietenden Normen) kann es auch keine
sinnvolle Moralerfahrung, geschweige denn gehaltvolle Moralerkenntnis geben. Kategorien
erlauben an erster (evolutionsbiologisch wichtigster) Stelle Nutzenbeurteilungen und zwar
durch Bestimmung und Vergleich von Gefühlen, Bestimmung und Vergleich von Naturgegenständen, Bestimmung und Vergleich von Handlungsoptionen. Kategorien gestatten mithin
eine Inbezugsetzung von Bedürfnis-, Natur-, und Handlungshorizont im Dienste lebenserhaltender Nutzenbeurteilung (Nutzenerfahrung oder Nutzenerkenntnis). Nutzenerfahrung und
daraus resultierende Moralerfahrung dürfte mithin viel älter als Nutzenerkenntnis und Moralerkenntnis sein. Während das (empirisch fundierte) Humesche Nutzenprinzip alle drei maßgeblichen menschlichen Horizonte vereint, umfassen der (rationalistisch fundierte) Kantische
KI und das ZP als Gerechtigkeitskriterien nach seiner eigenen Angabe nur den Handlungshorizont. Die beiden Kantischen Moralprinzipien setzten darüber hinaus eigentlich auch den
Bedürfnis- und Naturhorizont des Menschen für ihre Begründung und in ihrer Anwendung
voraus, ohne ihn jedoch eigens zu thematisieren.
Alle drei Urteilsperspektiven - die gegenstandsbestimmende, die bedürfnisbestimmende
und die beide voraussetzende handlungsbestimmende - können auf drei unterschiedlichen
kognitiven Ebenen eingenommen werden, nämlich auf einer emotionalen, einer verstandesbaApper zeption nennen.“ Kant (KrV) A, S. 107. „Eben diese transzendentale Einheit der Apperzeption macht aber aus allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können, einen Zusammenhang aller dieser Vorstellungen nach Gesetzen.“ Kant (KrV) A, S. 108. „Alles
empirische Bewußtsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner selbst als die ursprüngliche Apperzeption.“ Kant (KrV) A, S. 117, Anmerkung.
170
sierten und einer vernunftbasierten Ebene. Diese drei kognitiven Ebenen haben sich evolutionsgeschichtlich nacheinander und aufeinander entwickelt. Auch deshalb scheint es faktisch
und theoretisch ausgeschlossen, die vernunftbasierte Urteilsebene ohne die emotionale und
verstandesbasierte Urteilsebene (empirisch und geltungstheoretisch) zu erreichen. Über einen
Gegenstand, ein Bedürfnis oder ein beide verbindendes handlungsrelevantes Urteil kann ich
eigentlich kein sinnvolles rationales (verstandes- oder vernunftbasiertes) Urteil fällen, wenn
ich nicht zuvor ein emotionales Urteil gefällt habe (etwa dieses oder jenes ist mir 'angenehm',
'unangenehm' oder 'gleichgültig'). Unsere Urteile werden in der Regel verlässlicher, je mehr
kognitive Ebenen sie (erfolgreich) durchlaufen haben. Die Entwicklung dieser drei kognitiven
Ebenen hat durchaus (auch) einen evolutionären, lebenserhaltenden Sinn.
Über den Ursprung der kategorialen Ordnungsmuster sagt Kant ganz analog zu den raumzeitlichen Anschauungsformen, dass sie nicht als angeboren, sondern als "bei Gelegenheit der
Erfahrung entwickelt" angenommen werden können.410 Nur die Anlagen zu ihrer Entfaltung
liegen in der menschlichen Natur. Mit dieser Einschätzung befindet sich Kant auch heute
noch auf dem aktuellen Stand naturwissenschaftlicher Forschung zur (ontogenetischen und
phylogenetischen) Entwicklung unserer raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen
und Ordnungsvorstellungen. Ebenso wie der Raum- und Zeitanschauung kann daher auch den
Kategorien zwar intersubjektive Geltung, aber lediglich subjektive Realität, nämlich eben als
spezifisch menschliche Ordnungsfunktionen, Ordnungsvorstellungen und Ordnungsprinzipien
für (subjektiv gültige) Naturerfahrung und Moralerfahrung sowie (intersubjektiv gültige) Naturerkenntnis und Moralerkenntnis zugesprochen werden. Die elementare Frage allerdings,
weshalb wir Menschen gerade mit raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern Erfahrung und Erkenntnis aufbauen, scheint aus transzendentalphilosophischer Sicht wiederum
nicht eindeutig beantwortbar.411
Alle kognitiven Leistungen eines Lebewesens stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit
seinen Bedürfnissen. In der Evolutionsgeschichte haben sich diejenigen Lebewesen besonders
erfolgreich fortgepflanzt, die ihre Bedürfnisse besonders gut befriedigen konnten. Die besten
(differenziertesten) kognitiven Leistungen sind wertlos ohne eine entsprechende Handlungskompetenz und umgekehrt nutzt die größte Handlungskompetenz nichts ohne entsprechende
komplexe kognitive Leistungen. Aus evolutionsbiologischer Perspektive könnte man sagen,
dass die mit den raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen verbundenen Apperzeptionsleistungen der lebenserhaltenden Orientierung und Verhaltenssteuerung eines Lebewesens in seiner Umwelt dienen. Das Bewusstsein bildet den Bezugspunkt aller den eigenen
Bedürfnishorizont und den eigenen Naturhorizont verbindenden Urteile. Im Bewusstsein eines Lebewesens vereinigen sich sein (mehr oder weniger bewusster) Bedürfnis-, sein (bewusster) Naturhorizont und sein (bewusster) Handlungshorizont.412 Die Einheitsfindung aller
410
Vgl. Kant (Vorl.M) S. 145.
„Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade
durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, läßt sich
ebensowenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu
urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung
sind“. Kant (KrV) B 145 f.
412
Was bereits in Kants Transzendentalphilosophie angelegt ist, kommt in der modernen Physik wieder zum Vorschein, indem sie keine Theorie der Natur, sondern eine Theorie der Erfahrung der Natur
(etwa in der Relativitätstheorie oder Quantentheorie liefert). Die Experimentalbedingungen für die
Quantenmechanik definieren etwa einen Kontext von Eigenschaftsbündeln, die klassische Trennung
von Subjekt und Objekt im Erkenntnisvorgang ist aufzugeben. Eine standpunktunabhängige Betrachtung der Realität hat sich in der modernen Physik als undurchführbar erwiesen, weil die Objekte erst
dank Vor-Urteilen beobachtbar werden. Die Gesetze der Naturwissenschaften werden hier nicht Gesetze der Natur, sondern Handlungsanweisungen an den Naturwissenschaftler. Vgl. Primas, H. Ver411
171
Urteilsbildung im Bewusstsein dient einem Lebewesen auf zweckmäßige und effiziente Weise dazu, wesentliches von unwesentlichem, nützliches von nutzlosen aus der Perspektive des
jeweiligen Bedürfnis- und Naturhorizonts im Dienste einer Auswahl optimaler Handlungsoptionen zu unterscheiden. Aus der jeweiligen Bedürfnishierarchie eines jeden Lebewesens
ergibt sich hierdurch eine Bedeutungshierarchie von Gegenständen und Ereignissen seiner
Umwelt, die in einer Hierarchie von Handlungsoptionen im Bewusstsein mündet.413
Menschen (und Tiere) können jedoch nicht alles, was sie tagtäglich wahrnehmen, auch
durchgängig kategorial ordnen,414 denn dafür wäre der kognitive Aufwand viel zu groß. Aus
diesem Grunde bilden sie Hierarchien von Bedürfnissen, Naturgegenständen Handlungsoptionen, die sie in die Lage versetzen, bestimmten Ausschnitten ihres Erlebens besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Jedes Lebewesen hat eine bestimmte Bedürfnisstruktur. Wenn diese
Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, spürt es Unbehagen, unter Umständen sogar Schmerzen.
Raum- und Zeitanschauung, Kategorien sind Mittel, die für die Bedürfnisbefriedigung des
Subjekts relevanten Vorgänge seines Naturhorizonts deuten und ordnen zu können, um die
Bedürfnisse selbst besser, effizienter befriedigen zu können. Es erstaunt eigentlich schon, dass
alle Lebewesen - sowohl Menschen, als auch Zwergmäuse - eigentlich die gleichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Ruhe, Bewegung und Fortpflanzung haben. Sie unterscheiden sich in
biologischer Hinsicht wesentlich nur in der Variabilität der Mittel und Wege, ihre Bedürfnisse
zu befriedigen. Diejenigen Lebewesen, die es schaffen, ihre Bedürfnisse am besten zu befriedigen, werden die meisten Nachkommen haben können. Hier sind nun zweierlei erfolgversprechende Strategien der Bedürfnisbefriedigung denkbar: Dass nämlich das Lebewesen seine
Bedürfnisse in bestimmtem Umfang - beispielsweise hinsichtlich der Nahrungsauswahl - seiner Umwelt anpasst oder sich ein Umfeld aussucht, in dem es seine Bedürfnisse optimal befriedigen kann. In beiderlei Hinsicht weisen Menschen unter allen Lebewesen die weitaus
größte Variabilität aus. Über die Fähigkeit, die Umwelt in gewissem Umfang den eigenen
Bedürfnissen anzupassen verfügen zwar auch einige Tiere, etwa durch das Anfertigen eines
Nestes, eines Baus oder sogar Staudamms, aber keine dieser Fähigkeiten reicht auch nur annähernd an die diesbezüglichen Fertigkeiten von Menschen heran.
schränkte Systeme und Komplementarität. In: Kanitscheider, B. Moderne Naturphilosophie. Würzburg
1983. S. 243-260. S. 254 ff.
413
„Die Selbst- oder Ich-Identität des Menschen hänge ohne Zweifel eng mit der Ich-Identität des
Körpers zusammen“. (Popper, Karl und Eccles, J. Das Ich und sein Gehirn. 6. Aufl. München 1982. S.
135). Das Ich ist nach dieser Auffassung in allen ‘drei Welten’ verankert, letztendlich aber nichts vorgegebenes, denn wir müssten erst lernen, ein Ich zu sein. Das Ich sei teilweise als das Produkt einer
aktiven Erkundung der Umwelt zu verstehen. Dabei lasse sich schon aufgrund der Tatsache, dass ein
Kind mit einer angeborenen Vorstellung und Haltung gegenüber Gesichtern (Personen) zur Welt
komme, schließen, dass die Identität und Integrität des Ichs eine physische Basis hat. (Popper/Eccles
(1982) S. 144-151). Zeitlich und logisch ist der lebende Organismus das erste. Das Ich und das Selbstbewusstsein kommen erst später. Lernen ist Interpretation und Bildung neuer Theorien, neuer Erwartungen und neuer Fertigkeiten. Bereits auf der Ebene der Nervenzellen werden Sinnesdaten passend
gemacht. Im strengen Sinn gibt es keine Sinnesdaten, sondern eine aus der Sinneswelt einlaufende
Fragestellung. So ist alle Erfahrung durch das Nervensystem bereits tausendfach interpretiert, bevor
sie bewusste Erfahrung wird. (Popper/Eccles (1982) S. 507-513). „Man hat herausgefunden, daß die
linke und die rechte Gehirnhälfte beide ihre ganz spezielle Form von Intellekt besitzen. ... Bei Patienten mit chirurgisch getrennten Hirnhälften ist es sehr eindrucksvoll und überwältigend zu beobachten,
wie dieselbe Person (manche behaupten, es seien zwei Personen in einer) dasselbe Problem angeht,
durcharbeitet und auf ausnahmslos verschiedenen Wegen mit völlig verschiedenen Strategien zu einer
Lösung kommt, je nachdem welche Hirnhälfte der Patient benutzt“. Sperry, R. Naturwissenschaft und
Wertentscheidung. München 1985. S. 78-82.
414
Beide müssen jedoch bestimmte Ereignisse - wie übrigens auch viele Tiere - unbewusst im Schlaf
verarbeiten.
172
Ein entscheidendes Merkmal von Erfahrung liegt in der Abstraktion und damit in der Reduktion von gegebenem Mannigfaltigen. Das aber erfordert einen Standpunkt, von dem ausgehend Wahrnehmung abstrahiert und hierarchisiert werden kann. Dieser Standpunkt wird in
der Regel vom eigenen Bedürfnishorizont geprägt. Natürlich hat ein Springbock einen anderen Standpunkt, als ein Delphin. Allein auf dieser standpunktbezogenen Grundlage scheint
effektives handlungsrelevantes urteilen möglich. Wenn ein Springbock bei jedem Löwen oder
Leopard erneut entscheiden müsste, ob genau dieses Tier eine Gefahr darstellen mag, würde
er nicht lange überleben. Allerdings erlaubt erst die begriffliche Abstraktion von Gegenständen und Gegenstandsmerkmalen eine differenzierte Kommunikation und ein differenziertes
Lernen. Denn nur so kann über die für den menschlichen Bedürfnishorizont wichtigen Merkmale des Naturhorizonts abstrakt und dennoch nicht nur subjektiv, sondern auch intersubjektiv gültig kommuniziert werden, selbst wenn sich der Gegenstand der Anschauung gar nicht
aktuell darbieten sollte.
Die Strukturierung des Bedürfnis- und Naturhorizonts mittels Sprache, mittels Begriffen,
stellt eine höher entwickelte (gedankliche) Abstraktionsleistung dar, die Tieren weitgehend
verwehrt bleibt. Welchen Nutzen, welchen (selektiven) Vorzug bieten nun Abstraktionsleistungen mittels Begriffen? Erst durch diese Abstraktionsleistungen sind Menschen imstande,
eine relativ klare und differenzierte Hierarchie von der für sie wichtigen oder unwichtigen,
schönen oder unangenehmen, lebensbedrohlichen oder lebensnotwendigen Situationen aufzustellen und Handlungsstrategien zu entwerfen, die eine Vermeidung von lebensbedrohlichen
und unangenehmen sowie die Herbeiführung von schönen und lebenserhaltenden Situationen
ermöglicht. Menschen sind anders als Tiere imstande, ihre Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft auch über ihren eigenen aktuellen Bedürfnishorizont hinaus zu strukturieren - mithin
ihr Leben (bewusst und über den Moment hinaus) zu planen. Und sie sind durch Sprache weit
mehr als alle anderen Lebewesen imstande, ihre Erfahrungen sehr präzise (an ihre Nachkommen) weiterzugeben.
Die Art der Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt steht evolutionsbiologisch
unter dem Gesichtspunkt des Überlebens des Subjekts in eben dieser Umwelt. Insofern sind
die raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmuster Mittel, durch die das Subjekt seinen
Bedürfnis- und Naturhorizont strukturiert; sie sind Konstruktionen für den Aufbau einer Vorstellungswelt, mit denen das Subjekt seine Überlebenschancen steigern kann. Höher entwickelte Lebewesen - an erster Stelle Menschen - konstruieren ein raumzeitlich und kategorial
strukturiertes (vereinfachtes) Modell der Wirklichkeit, in dem sie (zunächst gedanklich) agieren können (etwa bei der Planung einer Jagd mit mehreren Artgenossen) das ihnen gestattet,
mögliche (wahrscheinliche) Ereignisse vorauszusehen und Chancen zu deren Beeinflussung
im Interesse ihres eigenen Bedürfnishorizonts zu entwickeln. (Soziale) Verhaltensregeln machen innerhalb einer Gruppe höher entwickelter Lebewesen die Zusammenarbeit effektiver,
steigern deren Überlebenschancen, da jedes Individuum dieser Gruppe weiß, welches eigene
Verhalten, zu welchem Verhalten der Artgenossen führt. Die bewusste Anwendung aller Synthesisleistungen erweist sich als unverzichtbare Bedingung dafür, dass höher entwickelte Lebewesen ihre Umwelt möglichst effizient subjektiv und sogar intersubjektiv gültig vor dem
Hintergrund ihres eigenen Bedürfnishorizonts deuten und darin interagieren können.
Beispiele für die Konstitution und Weitergabe von Erfahrung sind sogenannte 'Bauernregeln', Lebensregeln oder Verhaltensregeln. Der Verstand als Vermögen der Regeln (Vernunft
als Vermögen der Gesetze und Prinzipien) schafft Ordnung in der Gegenstands-, Bedürfnisund Handlungsbestimmung durch Aufstellung erfahrungsbasierter (subjektiver) Regeln. Naturerfahrung, Bedürfniserfahrung und Handlungserfahrung sind selbstredend sehr viel älter als
entsprechende, um Erkenntnis bemühte Wissenschaften. Regeln hinsichtlich unserer Naturerfahrung, Bedürfniserfahrung und Handlungserfahrung gibt es schon seit vielen Jahrtausenden,
173
diesbezügliche (gesicherte) Erkenntnis erst seit wenigen Jahrhunderten. Nachfolgend sollen
einige signifikante Beispiele solcher Regeln erläutert werden:
1. Naturhorizont: Verstandesbasierte Regeln hinsichtlich unseres Naturhorizonts bilden
sogenannte 'Bauernregeln', die durch Naturbeobachtung entstanden und oft über Jahrhunderte
tradiert worden sind. Die Bauernregeln basieren auf zahlreichen Beobachtungen von Bauern
insbesondere über das Wetter. Weil sie erheblich von den Wetterbedingungen abhängig waren, haben sie ihre Beobachtungen in Form von Reimen, eben den 'Bauernregeln' festgehalten
und weitergegeben. Allerdings spiegeln die meisten Regeln regionale Erfahrungen wieder:
Ohne das Wissen, aus welcher Gegend eine Regel kommt, verliert sie meist ihren Wert.415 Die
Regeln beziehen sich meist auf Gegenstände oder Ereignisse, die im Zusammenhang mit der
bäuerlichen Arbeit stehen, wie eine gute Ernte oder eine gute Jagd. Sie setzen oftmals genauere astronomische Beobachtungen zur Bestimmung des Jahresablaufs und geeigneter Zeitpunkte für Aussaat und Ernte voraus.
2. Bedürfnishorizont: Verstandesbasierte Regeln über Freude und Schmerz sind besonders
in Sprichworten niedergelegt. Das Sprichwort beinhaltet eine kurze, leicht verständliche und
volkstümliche Aussage, die eine allgemeingültige Lebenserfahrung formuliert. Das Sprichwort als sprachlicher Träger bestimmter Wertvorstellungen und kollektiver Erfahrungen, die
in einem Volk lebendig (gewesen) sind, wird von Generation zu Generation tradiert. Sprichwörter sind nicht an bestimmte Epochen, Schichten oder Landschaften gebunden.416 So
kommt es häufig zur Übernahme von Sprichwörtern aus der einen Sprache in eine andere.
3. Handlungshorizont: Durch langjährige Beobachtung der Auswirkungen eigenen Verhaltens auf andere und umgekehrt haben Menschen immer schon leicht verständliche, einprägsame Regeln darüber entworfen, welches Verhalten in stammesähnlichen Gesellschaftsverbänden angemessen erscheint. Auf dieser (prudentiellen) Erfahrungsebene sind auch kulturelle Einflüsse in der Moralbildung (noch) bemerkbar (Tiere schächten, Polygamie). Sprichworte
zur Moralerfahrung münden meist in Regeln über gut und böse.417 Die bekannteste Lebensweisheit bildet vermutlich die Goldene Regel: "Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg'
auch keinem andern zu." Diese Goldene Regel des moralisch richtigen Handelns steht schon
im Mittelpunkt der konfuzianischen, aber auch der christlichen und islamischen Tradition und
wird häufig als eine Parallele zum Kantischen Kategorischen Imperativ ausgelegt, weshalb sie
nachfolgend besondere Beachtung verdient.418
Die Goldene Regel - vom Abstraktionsgrad her in etwa Rawls' Grundsatz entsprechend,
dass sich niemand über die Verletzung moralischer Regeln beschweren darf, die er nicht
selbst anerkennt und befolgt - lässt sich als verstandesbasierte, prudentielle Vorstufe eines
vernunftbasierten, etwa den Kantischen kategorischen Imperativ tragenden Verallgemeinerungsprinzips deuten, die aus der Akteursperspektive typische kontraktualistisch strukturierte
Moralvorstellungen erlaubt und zwischen den Handlungsakteuren symmetrische Handlungsverpflichtungen erzeugt. Erfahrung und nicht etwa (apriorische) Vernunft bildet die Grundlage der Goldenen Regel: Wenn man mit anderen Menschen nett, fair, kooperativ umgeht, behandeln diese einen selbst oft auch nett, fair, kooperativ, was wiederum der eigenen Bedürfnisbefriedigung nutzt. Insofern entsteht eine Situation zum allgemeinen Vorteil und die Goldene Regel taugt nicht nur als Maxime (subjektive Geltung - verstandesbasiert), sondern sogar
415
Beispiele: "Im Februar Schnee und Eis, macht den Sommer heiß". "Ein feuchter März ist des Bauern Schmerz". "April, April, der macht, was er will". "Wenn der April Spektakel macht, gibt's Heu und
Korn in voller Pracht". "Mairegen bringt Segen".
416
Beispiele: "Liebe geht durch den Magen". "Voller Bauch studiert nicht gern". "Angst verleiht Flügel". "Früher Vogel fängt den Tag".
417
Beispiele: "Ehrlich währt am längsten". "Lügen haben kurze Beine". "Wie du mir, so ich dir".
418
Vgl. Feger, Hans. Wie kommt der kategorische Imperativ zur Anwendung? Über die praktische
Notwendigkeit des kategorischen Imperativs als einem Gesetz der Selbsterhaltung der Freiheit.
http://hans-feger.de/pdf/publikationen/Die-Anwendung-des-kategorischen-Imperativs_deu_v.24.9.pdf
174
als allgemeines Gesetz (intersubjektive Geltung - vernunftbasiert). Mir scheint die Goldene
Regel Kants KI in manchen Fällen sogar überlegen. Nehmen wir das Beispiel eines 'Selbstmordattentäters': Als muslimischer Terrorist kann ich mit dem KI widerspruchsfrei ein Gesetz
wollen, dass es Muslimen gestattet, andersgläubige zu töten, aber ich würde entsprechend der
Goldenen Regel als muslimischer Selbstmordattentäter nicht wollen, selbst von andersgläubigen getötet zu werden. Schauen wir schließlich noch auf ein letztes Beispiel vom 'Recht des
Stärkeren': Wenn ich mich selbst für relativ kräftig halte und mir davon Vorteile verspreche,
kann ich nach dem KI widerspruchsfrei wollen, dass das Recht des Stärkeren gilt und ich
schwächere Menschen verletzen darf, aber ich möchte niemals der Goldenen Regel gemäß
von anderen Menschen verletzt werden - egal ob sie stärker oder schwächer sind.419
2.2.3 Grundsätze
Mit dem Nachweis, dass moralische Erfahrung eigens Bedürfnis-, Natur- und Handlungserfahrung voraussetzt, weil sie uns erst einen Standpunkt verschaffen, der tragfähige intersubjektive moralische Urteile ermöglicht, darf ein wesentlicher Teil der gestellten Aufgabe einer
transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen bereits als erfüllt angesehen werden.
Durch Verbindung von kategorialen und raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen erweitert
Kant nun mit den Schemata und Grundsätzen die Genese unserer Naturerfahrung um den Aspekt ihrer prinzipienfundierten Geltung. Inwieweit die raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen, die darauf aufbauenden Schemata und insbesondere Grundsätze über das
klassische mechanistische physikalische Modell hinaus im Lichte moderner naturwissenschaftlicher Forschung noch Bestand haben, soll hier nicht diskutiert werden. Dessen ungeachtet befindet sich unser Bedürfnis- und Handlungshorizont weiterhin ganz wesentlich im
Rahmen des von Kant beschriebenen klassischen Mesokosmos und nicht im Mikro- oder
Makrokosmos. Insofern gelten die Schemata und Grundsätze vielleicht mehr als für unseren
heutigen Naturhorizont für unseren Bedürfnis- und Handlungshorizont.
Mit Raum und Zeit einerseits und den Kategorien andererseits sind die grundlegenden
Ordnungskriterien erläutert, denen Lebewesen eine effiziente, subjektiv (oder intersubjektiv)
gültige Organisation ihres Bedürfnis-, Natur und Handlungshorizonts verdanken, indem sie
ihre Umwelt wahrnehmen, Erfahrungen sammeln und bestenfalls erkenntnisgültig ordnen.
Von besonderem transzendentalphilosophischen Interesse wird nunmehr die Frage nach der
erkenntnisgültigen Verbindung kategorialer und raumzeitlicher Ordnungsvorstellungen. Da
jede Erfahrungsbildung und jeder Erkenntnisaufbau Anschauungsbezug haben muss und die
zur Befriedigung des Bedürfnishorizonts eines jeden Lebewesens erforderlichen Gegenstände
allesamt räumlich und zeitlich bestimmbaren Bedingungsverhältnissen unterliegen, wäre es
aus transzendentalphilosophischer und evolutionsbiologischer Sicht irritierend, wenn sich die
Kategorien nicht erkenntnisgültig und zweckmäßig mit den raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen verbinden ließen.
Indem Kant gezeigt hat, dass gegebenes mannigfaltiges überhaupt nur durch die raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen in einen erfahrungs- oder erkenntnisrelevanten Zusammenhang gebracht werden kann und nachdem er bewiesen hat, dass bereits subjektiv gültiger Erfahrungsaufbau und erst recht intersubjektiv gültige Erkenntniskonstitution nur
mit Hilfe raumzeitlicher und kategorialer Ordnungsvorstellungen in der Apperzeption (durch
Apprehension, Reproduktion und Rekognition von Wahrnehmungsinhalten) gelingen kann,
geht es nunmehr im 'Schematismuskapitel' darum, wie diese Verbindung zwischen raumzeitli419
Nach Schönecker ist es "kein Zufall, dass Kant das zweite Beispiel, in dem von der 'Einstimmung'
die Rede ist, mit einer Anmerkung über die sogenannte Goldene Regel versieht ('was Du nicht willst,
das man Dir tut, usw.'). Darin werden die Schwächen der Goldenen Regel beschrieben, ohne dass
deutlich würde, warum diese Schwächen nicht auch ZF betreffen, wenn man ZF im Sinne der 'Einstimmung' liest". Schönecker (2004) S. 152 f. Fn. 79.
175
chen und kategorialen Ordnungsvorstellungen geltungstheoretisch im Einzelnen beschaffen
sein muss, damit Erfahrung und Erkenntnis entstehen. Im Anschluss an die transzendentale
Erörterung von Raum, Zeit und den Kategorien beschäftigt Kant deshalb das Problem, wie mit
Hilfe der gültigen Verbindung apriorischer Ordnungsmuster subjektiv und intersubjektiv gültige Urteile über Wahrnehmungsinhalte gewonnen, wie die raumzeitlichen und kategorialen
Ordnungsvorstellungen erfahrungs- und erkenntnisgültig miteinander zu verknüpfen sind.
Weil die zeitliche (auf deren Grundlage auch die räumliche) und kategoriale Ordnungsfunktion in der Anschauung notwendige Voraussetzung schlechterdings jeder gültigen Gegenstandsbestimmung ist und die erkenntnistheoretischen Bedingungen für die subjektiv oder
intersubjektiv gültige Verknüpfung von Zeitvorstellung und kategorialen Ordnungsvorstellungen nicht durch Erfahrung eruiert werden können, sondern sie allererst ermöglichen, müssen alle kategorialen Subsumptionsverhältnisse aufgrund des für ihre Geltung notwendigen
Anschauungsbezugs a priori zeitlich differenzierbar sein. Kants oft missverstandene Schematismuslehre hat den Sinn, die erfahrungs- und erkenntniskonstitutive Funktion der Kategorien
zu beweisen. Sofern die Kategorien nicht gültig mit zeitlichen Ordnungsmustern verbindbar
wären, könnten sie ihre erfahrungs- und erkenntniskonstitutive Leistung eben nicht erbringen,
da sie ohne geltungstheoretisch begründbaren Bezug zu den Anschauungsdaten bleiben müssten und von jeglichen Empfindungsdaten gewissermaßen abgeschnitten wären. Ohne eine
erfahrungs- und erkenntnisgültige Verbindung von zeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern wäre mithin keinerlei Erfahrung oder Erkenntnis (theoretisch) rechtfertigbar.
Die Zeitfunktion und die Zeitvorstellung erweist sich für die erfahrungs- und erkenntniskonstitutive Funktion der Quantitätskategorien deshalb als unverzichtbar, weil erst durch sie
eine "Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung"420 möglich wird. Dass
ein Wahrnehmungsinhalt (Gegenstand, Ereignis, Bedürfnis, Handlung) einem anderen Wahrnehmungsinhalt insofern gleicht, als er vergleichbare Anschauungsmerkmale hat, setzt voraus, dass ein Wahrnehmungsinhalt über gewisse Zeitabschnitte hinweg verfolgt, bestimmt
und dann mit anderen Wahrnehmungsinhalten verglichen werden kann, die ebenfalls erst
einmal über gewisse Zeitabschnitte verfolgt und bestimmt werden müssen. Das Urteil, dass
verschiedene Wahrnehmungsinhalte eine "gleichartige Anschauung" bieten, wird erst mit Hilfe der Zeitfunktion und der Zeitvorstellung möglich: Das Quantifizieren von "gleichartigen
Anschauungen" setzt voraus, dass mit Hilfe der Zeit "gleichartige Anschauungen" überhaupt
identifizierbar sind.
Den Qualitätskategorien liegt die Zeit insofern zugrunde, als erst durch sie der abnehmende oder zunehmende Grad an Intensität in der Wahrnehmung eines Gegenstandsmerkmales
oder Bedürfnisses ermittelt werden kann. Das Urteil beispielsweise, dass die Sonne mittags
stärker scheint als morgens oder abends ist nur dadurch möglich, dass ein und derselbe Gegenstand (die Sonne) mit Hilfe der (vorbewussten) Zeitfunktion und der (bewussten) Zeitvorstellung über verschiedene Zeitabschnitte hinweg verfolgt und mit seinen sich verändernden
Merkmalen bestimmt wird. Auch Bedürfnisbestimmung und Handlungsplanung sind ohne
Zeitvorstellung unmöglich.
Besonders interessant gestaltet sich die erfahrungs- und erkenntniskonstitutive Verbindung
von zeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern natürlich bei den Relationskategorien, weil
sie nicht allein die Bestimmung einzelner Gegenstände, sondern von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gegenständen und damit von Ereignissen ermöglichen. Aus diesem
Grund mag Kant das transzendentale Schema hier differenzierter - nämlich für jede Relationskategorie einzeln - ausgearbeitet haben. Das Schema der Substanzkategorie besteht im
Beharren von Wahrnehmungsinhalten über gewisse Zeitabschnitte hinweg. Welche Wahrnehmungsmerkmale substanzieller und welche akzidentieller Natur sind, lässt sich nur dann
420
Kant (KrV) B, S. 182.
176
beurteilen, wenn die sich verändernde Wahrnehmungsgegenstand über verschiedene Zeitabschnitte hinweg beobachtet und seine akzidentielle Veränderung oder sein substantielles
Gleichbleiben bestimmt wird. Die Zeit fundiert auch die erfahrungs- und erkenntniskonstituierende Funktion der Kausalitätskategorie in der Hinsicht, als nur mit ihrer Hilfe Ursache und
Wirkung voneinander unterschieden und als ein Nacheinanderfolgen bestimmt werden können. Das Schema der Kategorie der Gemeinschaft ermöglicht schließlich insofern eine Kombination des Schemas der Substanzkategorie und der Kausalitätskategorie mit der Zeitfunktion und der Zeitvorstellung, als es die akzidentielle Wechselwirkung verschiedener Substanzen
durch die Vorstellung der Gleichzeitigkeit bestimmbar macht.
Auch das Schema der Modalitätskategorien behandelt Kant im Unterschied zu den Schemata der Quantitätskategorien und Qualitätskategorien differenzierter. Das Schema der Möglichkeitskategorie erlaubt es, eine Vorstellung von einem Gegenstand, Bedürfnis oder einer
Handlung zu einem unbestimmten Zeitpunkt als wirklich anzusehen. Das Schema der Wirklichkeitskategorie liegt in der Beurteilbarkeit eines Gegenstandes, Bedürfnisses oder einer
Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Mit dem Schema der Notwendigkeitskategorie lässt
sich schließlich die zwangsläufige Bestimmung eines Gegenstandes Bedürfnisses oder einer
Handlung zu aller Zeit beschreiben.
Spätestens hier im 'Schematismuskapitel' sollte die elementare Bedeutung von Kants Zeittheorie für seine Erkenntniskritik insgesamt eingesehen werden können. Raumzeitliche und
kategoriale Ordnungsmuster führen nicht unabhängig voneinander zu gültigem Erfahrungsund Erkenntnisaufbau - und ohne gültige Kriterien für die Verbindung von raumzeitlichen und
kategorialen Ordnungsmustern in der Apperzeption kann es keine Erfahrungsbildung und erst
recht keinen Erkenntnisaufbau geben. Besonders wichtig wird diese Einsicht noch dort, wo es
nicht nur um die gültige Bestimmbarkeit einzelner Naturgegenstände und Naturereignisse
geht, wie im 'Schematismuskapitel', sondern dort, wo es auf die daraus zu treffenden Konsequenzen für die Erkenntnis einer Naturordnung schlechthin ankommt. Während Kant mit den
Schemata die Geltungsvoraussetzungen für die Erfahrung und Erkenntnis von Naturgegenständen und Naturereignissen nachweist, ermittelt er mit den 'Grundsätzen' auf der Basis der
Schemata die Bedingungen für die Erkenntnis einer Naturordnung.
Die Grundlagen der Koordination von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern
sind nach meiner Kenntnis bislang weder evolutionsbiologisch, noch neurophysiologisch eingehend untersucht worden. Aus evolutionsbiologischer Sicht lässt sich aber auch unbeschadet
bereits vorliegender Forschungsergebnisse der selektive Vorteil einer subjektiv und erst recht
einer intersubjektiv gültigen Verbindung von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern herausstellen, denn damit ein Lebewesen seinen Natur-, Bedürfnis- und Handlungshorizont erfolgreich strukturieren kann, muss es diese Horizonte räumlich und zeitlich (mehr oder
weniger bewusst) mit Hilfe von Subsumptionskriterien ordnen können. Erst im Zusammenspiel mit kategorialen Operationen erhalten die raumzeitlichen Ordnungsvorstellungen ihren
ganzen Erfahrung und Erkenntnis konstituierenden Sinn, denn in deren Ermangelung könnte
lediglich festgestellt werden, dass irgend etwas - irgend ein Gegenstand, Bedürfnis oder Ereignis - irgendwelche räumlichen und zeitlichen Bestimmungshinsichten gestattet. Und eine
ausschließlich kategoriale Bestimmung von Gegenständen wäre ohne einen definierbaren Bezug zu Raum und Zeit ebenfalls unbrauchbar. Erst die Koordination von Raum- und Zeitvorstellung mit den kategorialen Subsumptionsvorstellungen kann überhaupt einen lebenserhaltenden Zweck haben, der gleichzeitig auch einen selektiven Vorteil bietet.
Die Verbindung von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen, die kategoriale Bestimmung von Raum- und Zeitverhältnissen muss allerdings zumindest subjektiv gültig sein, wenn sie einen lebensdienlichen Wert haben soll. So muss etwa die Entfernung zu
einem Beutetier und die eigenen Fähigkeiten zur Überwindung dieser Distanz von einem
Raubtier richtig eingeschätzt werden, wenn die Jagd erfolgreich sein soll. Weil die Überwin177
dung von räumlicher Entfernung Zeit kostet, setzt eine erfolgreiche Jagd immer eine gültige
Koordination von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmustern voraus, über die zumindest Raubtiere (vermutlich in unterschiedlichen Bewusstheitsgraden) verfügen. Weil Raubtiere nur über begrenzte Kraftreserven verfügen und nicht beliebig oft erfolglos jagen können,
müssen sie für eine erfolgversprechende Jagd davon ausgehen können, dass ihre Angriffsgeschwindigkeit höher liegt als die Fluchtgeschwindigkeit des jeweiligen Beutetieres.
Kants Schematismuslehre gehört sicher zu den schwierigsten und umstrittensten Theorieteilen seiner Erkenntniskritik. Insofern über alle ihre Voraussetzungen und Implikationen
nicht einmal unter den ausgemachten Kant-Interpreten Einigkeit herrscht, darf es nicht überraschen, wenn die naturwissenschaftliche Forschung in dem Versuch, die evolutionsbiologischen oder neurophysiologischen Grundlagen dieses besonders komplizierten Bereichs von
Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zu untersuchen, noch keine bemerkenswerten Fortschritte
aufweist. Kants erkenntnistheoretische Leistung besteht im Schematismuskapitel in dem
Nachweis, dass (subjektiv gültige) Erfahrung und erst recht (objektiv gültige) Erkenntnis weder allein mit raumzeitlichen Ordnungsfunktionen und Ordnungsvorstellungen, noch allein
mit kategorialen Ordnungsfunktionen und Ordnungsvorstellungen, sondern nur deren (gültige) Verbindung möglich wird. In dem Zusammenhang kann die elementare Bedeutung der
Zeitfunktion und der Zeitvorstellung für den Erfahrungs- und Erkenntnisaufbau - mithin von
Kants Zeittheorie insgesamt - nicht oft genug erwähnt werden. Bleibt sie unverstanden, wird
eine sachgerechte Interpretation seiner gesamten Erkenntniskritik nahezu unmöglich.
Die Schemata von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen erlauben Kant
nunmehr die Formulierung allgemeingültiger Grundsätze für die Natur-, Bedürfnis- und Moralerkenntnis. Wenn es apriorische, erfahrungs- und erkenntniskonstituierende Schemata für
die Koordination von Raum- und Zeitvorstellungen einerseits und kategorialen Ordnungsvorstellungen andererseits gibt, dann muss es auch Prinzipien für die Struktur der allein durch
diese Schemata mögliche Naturerkenntnis Bedürfniserkenntnis, Moralerkenntnis geben.421
Mit den 'Grundsätzen' sind mithin solche Erkenntnisprinzipien beschrieben, denen alle wissenschaftlichen Urteile genügen müssen, wenn sie den hierarchischen Aufbau einer intersubjektiv gültigen Naturordnung, Bedürfnisordnung, Moralordnung - etwa als Autonomieordnung (Kant/Ethik), als Freiheitsordnung (Kant/Recht) oder als Nutzenordnung (Hume) - ermöglichen sollen. Da eine Moralordnung nach hier entwickelter Auffassung in jedem Fall auf
einer überhaupt erst standpunktgenerierenden Natur-, Bedürfnis- und Handlungsordnung aufbauen muss, dürften die inhaltlichen normativen Differenzen zwischen einer auf dieser Basis
begründeten Autonomieordnung, Freiheitsordnung oder Nutzenordnung nicht allzu groß ausfallen. Inwieweit diese dann noch als Kantisch oder Humekonform angesehen werden mag,
bleibt in meinem Kontext relativ unerheblich. In diesem Kapitel geht es noch nicht um die
Konstitution einer solchen Natur-, Bedürfnis- oder Moralordnung, sondern nur um deren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Erst in meinem eigenen konsensorientierten kontraktualistischen Ansatz werde ich solche Überlegungen eingehender berücksichtigen.
Thema der Grundsätze sind Prinzipien hinsichtlich (a priori) notwendiger raumzeitlich und
kategorial bestimmter Subsumptionsverhältnisse in einer (hierarchisch angelegten) Ordnung
von Wahrnehmungsbestimmungen. Mit den Grundsätzen beschreibt Kant diejenigen (apriorischen) Ordnungsvorstellungen über die Natur, durch die Natur überhaupt erst durchgängig
intersubjektiv gültig bestimmbar wird, denn eine Ordnung von Gegenstandsbestimmungen
kann nur dann entstehen, wenn die Vorstellungen über Gegenstände anhand gewisser, zuvor
421
Wenn man demgegenüber Erfahrungsgegenstände nach willkürlichen Ordnungskriterien zusammenfügen wollte, wären hierarchisch geordnete, intersubjektiv gültige raumzeitlich und kategorial
bestimmte Subsumptionsverhältnisse zwischen diesen Gegenständen unmöglich. Man kann daher eine
Gegenstandsordnung mit intersubjektivem Anspruch nicht beliebig etwa nach Formen, Farbe, Gewicht
und Größe aufbauen.
178
festgelegter Kriterien hierarchisch geordnet, wenn die Relationen zwischen Gegenständen aus
der Verbindung von raumzeitlichen und kategorialen Ordnungskriterien hervorgehen und in
ein intersubjektiv gültiges Verhältnis gebracht werden können. Kant ermittelt mit den Erkenntnisgrundsätzen nicht etwa "ursprüngliche Naturgesetze",422 die ohne Erfahrungsbezug
überhaupt nicht gewinnbar, geschweige denn beweisbar sind, sondern Prinzipien a priori notwendiger, kategorial geordneter raumzeitlicher Subsumptionsverhältnisse in objektiv gültigen
Urteilen über die Natur überhaupt, die ihren gesetzmäßigen Zusammenhang konstituieren,
apriorische Ordnungsvorschriften für den Aufbau von Naturgesetzen schlechthin. Die transzendentale Analytik der Grundsätze soll zeigen, inwiefern alle Gegenstände und Ereignisse
unserer Erfahrung erst dadurch intersubjektiv gültig bestimmbar werden, dass sie allgemein
verbindlichen raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsprinzipien genügen.423 Gegenstand
der Grundsätze sind kognitive Anleitungen zur Konstruktion einer Naturordnung; die Grundsätze sind nach Kant insofern eine Prinzipientheorie der Erkenntnis von Naturgesetzen und
nach hier entwickeltem Verständnis auch von Bedürfnisgesetzen, Moralgesetzen. Ich möchte
nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass meine Erweiterung der Schemata und vor allem der
Grundsätze über den Naturhorizont hinaus auf den Bedürfnis- und Handlungshorizont kaum
mehr als Entwurfscharakter hat.
I. Quantität
Urteile: Einzelne, Besondere, Allgemeine
Kategorien: Einheit, Vielheit, Allheit
Schema: Gegenstands- oder Ereignisbestimmung durch Zählen einer gleichartigen Anschauung
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Alle Anschauungen sind extensive Größen."424
Grundsatz (Bedürfnisbestimmung): Alle Gefühle und Bedürfnisse sind extensiv beschreibbar.
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Alle moralischen Normen beziehen sich auf (extensive) Gefühle, Bedürfnisse, auf die (extensive) Verfügbarkeit von Gegenständen und die (extensive) Verfügbarkeit von Handlungsoptionen.
Beim Quantitätsgrundsatz geht es um die arithmetische Bestimmbarkeit von Gegenständen, um deren Verortung im Raum, ihre Ausdehnung, ihre Größe.425 Diese Identifizierbarkeit
von Naturgegenständen anhand ihrer relativen Größe zueinander setzt ein Raumkonzept voraus, das die räumliche Beschreibung eines Naturgegenstandes (Ausdehnung, Lage) eben als
exakte, mathematisch bezifferbare Größe ermöglicht.426 Gefühle und Bedürfnisse sind weniger in einem strengen Sinne als metrische Größen beschreibbar, als vielmehr in Dimensionen
von Dauer und Stärke. Da die Stärke von Anschauung im Qualitätsgrundsatz thematisiert
wird, dürfte die temporale Extension von Gefühlen und Bedürfnissen mehr in den Vordergrund zu rücken sein. Über die Quantifizierbarkeit von Gefühlen hat sich bekanntlich bereits
Bentham im Rahmen seiner nationalökonomischen Überlegungen Gedanken gemacht. Nach
meiner Einschätzung sind exakte metrische Angaben über Gefühle und Bedürfnisse für moraltheoretische Erwägungen nicht zwingend erforderlich; es dürfte bereits eine topologische Hierarchie im Sinne von mehr oder weniger, stärker oder schwächer in den meisten Fällen ausreichen. Auch in der Biologie geht man oft vom durchschnittlichen Alter oder Gewicht von Lebewesen einer bestimmten Art aus. Immerhin gibt es meiner Kenntnis nach von der UN mitt422
Baumanns (1997) S. 561.
Vgl. Baumanns (1997) S. 529.
424
Vgl. Kant (KrV) B, S. 202.
425
„Eine Extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung
des Ganzen möglich macht, (und also notwendig vor dieser vorhergeht).“ Kant (KrV) B, S. 203.
426
„Die empirische Anschauung ist nur durch die reine (des Raumes und der Zeit) möglich; was also
[die Mathematik und] die Geometrie von dieser sagt, gilt auch ohne Widerrede von jener ... .“ Kant
(KrV) B, S. 206.
423
179
lerweile relativ genaue Angaben etwa über den Flüssigkeits- und Kalorienmindestbedarf von
Menschen abhängig von schwacher oder starker körperlicher Belastung.
Die räumliche Komponente von Gefühlen und Bedürfnissen tritt eher dann zutage, wenn
man über die (lokale, regionale, globale) Verbreitung bestimmter Gefühle und Bedürfnisse
sprechen möchte. In diesem Sinne könnte man etwa sagen, dass ein Grundbedürfnis nach
Nahrung, Kleidung oder Schlaf global gesehen eine (nahezu) einhundertprozentige Deckung
aufweist, während, das Bedürfnis nach einer speziellen Biersorte regional betrachtet vielleicht
nur zwei Prozent. Um normative moralische Handlungsbestimungen zu generieren, die eine
möglichst große Akzeptanz bei der Weltbevölkerung finden, wird man sich bei der Begründung intersubjektiver moralischer Normen auf solche Bedürfnisse beziehen müssen, die global gesehen einen möglichst hohen Deckungsgrad haben, mithin viel eher auf Grundbedürfnisse, als auf Luxusbedürfnisse. In diesem Zusammenhang sind natürlich auch Anzahl (und
Qualität) von Gegenständen des Naturhorizonts als extensive Größen zur Befriedigung von
Grundbedürfnissen oder Luxusbedürfnissen abbildbar. Insofern können und müssen Moralvorschriften sogar auf extensive Größen hinsichtlich unseres Bedürfnis- und unseres Naturhorizonts zurückgreifen.
II. Qualität
Urteile: Bejahende, Verneinende, Unendliche
Kategorien: Realität, Negation, Limitation
Schema: Gegenstands- oder Ereignisbestimmung durch Bestimmung seiner Intensität, bzw. seines
Grades
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand
der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad."427
Grundsatz (Gefühlsbestimmung): Alle Gefühle haben einen bestimmten Intensitätsgrad (etwa von
sehr schwach bis sehr stark).
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Alle Handlungen sind mit einer mehr oder weniger intensiven
Empfindung und einem mehr oder weniger intensiven Gefühl verbunden.
Im Qualitätsgrundsatz wird festgelegt, dass alle Wahrnehmung von Gegenständen anhand
des Intensitätsgrades ihrer Empfindung bestimmt werden soll.428 Eigentlich überrascht dieses
Kriterium einer Gegenstandsordnung ein wenig, denn die Stärke einer Empfindung kann nur
relativ unzuverlässiger Gradmesser für die intersubjektive Bestimmbarkeit von Gegenständen
sein, ebenso wie die von Kant abgelehnten Gefühle zur Gegenstandsbestimmung, denn die
Empfindung von Gegenständen mag von Person zu Person unterschiedlich ausfallen. Was
vom Klassikliebhaber als sehr laut empfunden wird, mag dem Rockfan als normale Lautstärke
erscheinen und direktes Sonnenlicht wird womöglich von einem Nordeuropäer viel intensiver
wahrgenommen, als von einem Südeuropäer. Naturwissenschaftlich brauchbar wird Kants
Qualitätsgrundsatz erst in Verbindung mit relativ modernen Messverfahren, die eine exakte
427
Kant (KrV) B, S. 207.
„Was nun in der empirischen Anschauung der Empfindung korrespondiert, ist Realität (realitas
phaenomenon); was dem Mangel derselben entspricht, Negation = 0. Nun ist aber jede Empfindung
einer Verringerung fähig, so daß sie abnehmen, und so allmählich verschwinden kann. Daher ist zwischen Realität in der Erscheinung und Negation ein kontinuierlicher Zusammenhang vieler möglicher
Zwischenempfindungen, deren Unterschied voneinander immer kleiner ist, als der Unterschied zwischen der gegebenen und dem Zero, oder der gänzlichen Negation.“ Kant (KrV) B, S. 209 f. „Eine
jede Farbe, z. E. die rote, hat einen Grad, der, so klein er auch sein mag, niemals der kleinste ist, und
so ist es mit der Wärme, dem Momente der Schwere usw. überall bewandt.“ Kant (KrV) B, S. 211.
„Alle Erscheinungen überhaupt sind demnach kontinuierliche Größen, sowohl ihrer Anschauung nach,
als extensive, oder der bloßen Wahrnehmung (Empfindung und mithin Realität) nach, als intensive
Größen.“ Kant (KrV) B, S. 212.
428
180
Bestimmung etwa der Laustärke (Dezibel oder Sone), der Temperatur (Celsius oder Fahrenheit) oder der Helligkeit (Lumen) erlauben.
Für die Bedürfnisbestimmung hingegen spielt die Intensität von Gefühlen eine herausragende Rolle. Nahrungsmangel, Wassermangel, Schlafmangel, Verletzungen können in der
Regel anders als der Verlust eines Hosenknopfs starke körperliche Schmerzen hervorrufen.
Auf Basis des Quantitätsgrundsatzes als Maßstab für die Anzahl der von positiven oder negativen Gefühlen betroffenen Personen hat die Intensität positiver oder negativer Gefühle insofern eine ganz besondere Bedeutung, als sich die Intensität von Empfindungen und Gefühlen
nicht nur auf unseren Bedürfnishorizont auswirkt, sondern auch auf unseren Handlungshorizont und die Normenbegründung: Je mehr Menschen durch bestimmte Handlungen um so
stärker in ihren Gefühlen verletzt werden, desto mehr steigt das Erfordernis, entsprechende
Normen aufzustellen, um solche Handlungsweisen zu unterbinden. Natürlich wäre es generell
unsinnig, Erdbeben, Walbrände oder Vulkanausbrüche zu verbieten, aber etwa der durch
Menschen verursachte Klimawandel wirft schon die Frage auf, ob Hunger, Dürre, Naturkatastrophen in Entwicklungsländern etwa durch den Wohlstand verbunden mit der relativ geringen Hilfsbereitschaft entwickelter Länder gerechtfertigt werden kann?
Bei den nun folgenden Relationsgrundsätzen geht es für Kant darum, die Ordnung der Natur als eine auf vernünftigen Prinzipien beruhende Ordnung auszuweisen. Die grundlegenden
wissenschaftlichen Ordnungsmuster für Naturgegenstände legt der Mensch mithin vor der
(konkreten) Empfindung, Wahrnehmung, Anschauung, Erfahrung und Erkenntnis von Naturgegenständen fest. Die so geschaffene Naturordnung besteht hinsichtlich ihrer Ordnungskriterien (über die apriorischen raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsmuster hinaus) nicht auf
empirisch ermittelten Gesetzten oder Prinzipien, sondern auf Rationalitätsanmutungen der
Vernunft. Der Mensch schafft diese intersubjektiven Ordnungskriterien für Naturgegenstände
und nicht die Natur selbst bringt diese Ordnungsmuster hervor, die von den Naturwissenschaften einfach nur (in der Natur) entdeckt, erkannt werden müssen. Wegen dieser erkenntnistheoretischen Annahmen glaubt sich Kant noch berechtigt, für die Ordnung das Naturgeschehens deutlich strengere Grundsätze aufstellen zu dürfen, als dies Naturwissenschaftler
heutzutage vermutlich guten Gewissens selbst noch befürworten würden.
Für Kant liegt den Relationsgundsätzen die maßgebliche Einsicht zugrunde, dass objektiv
gültige Erfahrung "nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmung möglich" ist.429 Subjektiv gültige Erfahrung kann hingegen auch durch eine nicht unbedingt im wissenschaftlichen Sinne notwendige Verknüpfung der Wahrnehmung entstehen.
Wenn alle Wahrnehmung (von Naturgegenständen, Bedürfnissen, Handlungen) in Erfahrung
und Erkenntnis transformiert werden können soll, dann müssen grundsätzlich auch alle
Wahrnehmungen (jeweils von Naturgegenständen, jeweils von Bedürfnissen, jeweils von
Handlungen) notwendig verknüpfbar sein. Oder andersherum gesagt sind uns nur (intersubjektive) Einsichten von solchen Naturgegenständen, Bedürfnissen, Handlungen möglich, die
wir auch in einen notwendigen (kausalen) Zusammenhang stellen können.
III. Relation (Substanz)
Urteil: Kategorisch
Kategorie: Inhärenz und Subsistenz
Schema: Gegenstands- oder Ereignisbestimmung durch Bestimmung des Beharrlichen in der Zeit
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert."430
429
430
Kant (KrV) B, S. 218.
Kant (KrV) B, S. 224.
181
Grundsatz (Gefühlsbestimmung) Bei allem Wechsel der Bedürfnisse bleibt das mit einem bestimmten Bedürfnis verbundene Gefühl unverändert (Hunger ist immer ein unangenehmes Gefühl).
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Bei allem Wechsel von Handlungen bleibt das Gefühl mit Bezug auf bestimmte Handlungen (Freude oder Leid) erhalten (wenn mich jemand verletzt, spüre ich
Schmerzen und es spielt keine Rolle, welches Alter, Geschlecht, Horoskop der Täter hat).
Mit der Wahrnehmung werden uns nur Sinnesdaten (rot, laut, hart), aber nie Gegenstände
selbst gegeben. Dass sich die Sinnesdaten auf Gegenstände beziehen, deren Eigenschaften sie
formen, wird von uns in einer Abstraktionsleistung hinzugedacht, wenn wir etwa von grünen
oder roten Äpfeln, von verschiedenen Apfelsorten sprechen. Die Vorstellung von Substanz
und Eigenschaften entstammt somit nicht der Wahrnehmung, sondern dem Denken.431 Nun
bildet die Substanz gemäß der Kantischen Definition das Beharrliche in Raum und Zeit. Sie
lässt sich erkennen, wenn das Beharrliche, das im Wechsel der Sinnesdaten erhalten bleibt,
bestimmt wird.432 Von der modernen Physik wird Kants Substanz- und Akzidenzdenken wohl
nicht mehr vorbehaltlos getragen, speziell nicht in der Atomphysik. Gleichwohl dürfte es in
der Vorstellungswelt unseres Alltags noch eine wichtige Rolle spielen. Denn die Veränderung
von Gegenständen im Bereich unserer (natürlichen) sinnlichen Wahrnehmung lässt sich am
ehesten zuverlässig bestimmen, wenn eben von substanziellen und akzidentiellen Merkmalen
eines Gegenstandes ausgegangen wird. Dass etwa ein Apfel verschiedene Stadien seines Reifegrades durchläuft, verdanken wir (wie erwähnt) eben dieser Ordnungsvorstellung.
Mir scheint, dass der Substanzgrundsatz auch bei der Gefühls- und Bedürfnisbestimmung
eine tragendere Rolle spielen kann, als in der modernen Naturwissenschaft. Denn dass Hunger, Durst mit unangenehmen Gefühlen bis hin zu Schmerzen in Erscheinung tritt, wissen wir
zwar aus Erfahrung, aber wir müssen diese Erfahrung nicht ständig erneuern, um zu wissen,
dass wir einen allgemeinen prognostizierbaren Gefühls- und Bedürfnishorizont haben, der
unabhängig von unserer aktuellen Gefühls- und Bedürfnislage nach einem bestimmten Lebensmittel, nach einem bestimmten Getränk besteht. Selbst wenn ich etwas gegessen und getrunken habe, so weiß ich doch sicher, dass ich spätestens am nächsten Tag wieder Hunger
und Durst haben werde. Übertragen auf unseren Handlungshorizont und unsere normativen
Vorstellungen könnte der Substanzgrundsatz analog zu unserem Bedürfnishorizont dahingehend interpretiert werden, dass wir bestimmte Handlungsweisen verbieten, etwa die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln oder die Privatisierung der Wasserversorgung, auch wenn es
etwa in Deutschland gegenwärtig weder eine Lebensmittelunterversorgung oder Wasserknappheit gibt, weil die Konsequenzen möglicher Engpässe bei Lebensmitteln oder Wasser in
jedem Fall sehr unangenehm, verheerend sein könnten.
III. Relation (Kausalität)
Urteil: Hypothetisch
Kategorie: Kausalität und Dependenz
Schema: Gegenstands- oder Ereignisbestimmung durch Bestimmung einer (geregelten) Abfolge
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung."433
Grundsatz (Gefühlsbestimmung)Alle Veränderungen von Gefühlen (Bedürfnissen) geschehen nach
dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung.
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Alle Handlungen stehen unter dem Gesetz von Ursache und
Wirkung (nicht in einem naturkausalen, sondern in einem zweckrationalen Sinne - jede Handlung
muss einen Grund und einen Zweck haben).
431
Vgl. Strohmeyer. (1995) S. 147.
Vgl. Strohmeyer. (1995) S. 148.
433
Kant (KrV) B, S. 232.
432
182
Der Kausalitätsgrundsatz spielt auch noch in Teilen moderner Naturwissenschaften eine
erhebliche Rolle, weil unser Wissen dort besonders sicher und nützlich wirkt, wo wir Veränderung in der Natur kausal erklären und nicht einfach nur beobachten und schlicht beschreiben, weil dann (relativ präzise) Prognosen über die Entwicklung von Naturereignissen möglich sind. Insofern bildet die kausale Erklärung von Naturereignissen oder die kausale Erklärung von Veränderungen an Naturgegenständen auch in der modernen Naturwissenschaft
immer noch ein erstrebenswertes Ziel, selbst wenn es in einigen Bereichen vor allem im Mikro- und Makrokosmos (bislang) nicht immer gelingt oder sogar gelingen kann.434 Welche Alternativen gibt es überhaupt, sich die Welt anders als kausal strukturiert vorzustellen? Dass es
akausale Vorgänge in der Natur geben mag und vor allem der Zufall eine viel größere Rolle
spielt, als noch von Hume und Kant angenommen, gilt durchaus als wahrscheinlich.435 Aber
um akausale Naturereignisse überhaupt erkennen zu können, muss doch zunächst einmal
Kausalität ausgeschlossen werden und vor allem ergibt das Wissen um die Akausalität eines
Ereignisses relativ wenig subjektiven oder intersubjektiven Nutzen. Nur durch die Vorstellung
der kausalen Verknüpfung von Naturereignissen und deren Analyse schaffen wir (subjektiv)
zweckmäßiges und erst recht nützliches (intersubjektiv gültiges) Wissen über die Natur.
Humes Zweifel hinsichtlich Kausalität scheinen berechtigt, solange ihr tatsächlich nur Beobachtung, also letztendlich nur schlichte Wahrnehmung zugrunde liegt. Sobald aber Kausalität im Rahmen einer (wissenschaftlichen) Theorie begründet und die Irreversibilität eines Ereignisses nachgewiesen werden kann, sind diese Zweifel zu überdenken. Wenn jemand beispielsweise behauptete, das Krähen eines Hahnes in seiner Nachbarschaft sei der Grund für
den täglichen Sonnenaufgang, kann diese Aussage leicht widerlegt werden, indem man dem
Hahn einmal der Schnabel zubindet. Wenn hingegen behauptet wird, dass die Drehung der
Erde den täglichen Sonnenauf- und Sonnenuntergang verursache, so beruht diese Aussage
sicher nicht auf Gewohnheit, sondern auf einer (intersubjektiv gültigen) Analyse der Gravitationsverhältnisse zwischen Sonne, Erde und Mond.
Der Beweisgrund für den Sonnenauf- und Sonnenuntergang auf der Basis von Gravitationsgesetzen basiert dementsprechend nicht im Humeschen Sinne auf bloßer Naturbeobachtung, sondern auf (begründeter) wissenschaftlicher Theorie, auf Naturgesetzen, auch wenn
diese anhand von Beobachtung ermittelt worden sein mögen und durch Beobachtung (mittelbar oder unmittelbar) überprüfbar sein müssen. Insofern ist der Sonnenauf- und Sonnenuntergang auf der Erde physikalisch notwendig und deshalb hat der grundsätzliche Zweifel an der
intersubjektiven Geltung von Kausalurteilen nur dann seine Berechtigung, wenn er sich auf
unbewiesene Theorie stützt. Andernfalls tritt er lediglich methodischer Skeptizismus und somit im Grunde genommen als Dogmatismus auf. Man muss daher mit Kant fordern, dass sich
434
"Die beobachtete Folge der Erscheinungen kann nur unter einer Bedingung als objektive Folge
gedacht und bestimmt werden: daß die Erscheinungen ihre Stellen in der Zeit selbst bestimmen, und
zwar dadurch, daß die frühere Erscheinung die spätere verursacht und somit das Zeitverhältnis der
Aufeinanderfolge (Sukzession) notwendig macht. Das heißt, daß die kausale Verknüpfung der Erscheinung eine notwendige Bedingung sowohl der objektiven Erfahrung ihrer Aufeinanderfolge als
auch der Objektivität dieser Aufeinanderfolge selbst ist und daher für alles Geschehen in der äußeren
Natur a priori gilt. Nur durch das kausale Verknüpftsein der Erscheinungen ist ihre Zeitfolge notwendig und objektiv. Für die Erkenntnis der Kausalität im Naturgeschehen genügt es nicht, eine Erscheinung als Ursache (z.B. Sonnenwärme) und eine andere als deren Wirkung (z.B. Schmelzen des Eises)
zu benennen - die Erscheinungen könnten auch nur zufällig nacheinander auftreten - sondern es ist
eine Regel oder ein Gesetz zu bestimmen, daß eine funktionale Abhängigkeit zwischen den verschiedenen empirischen Größen ausdrückt und ihre Aufeinanderfolge notwendig macht." Strohmeyer.
(1995) S. 120.
435
Man denke an das ‘Tunneln’ von Wellen mit Überlichtgeschwindigkeit. Ein solcher Vorgang widerspricht Einsteins Relativitätstheorie. Oder man denke etwa an die Unsicherheit bei Wettervorhersagen.
183
(intersubjektiv gültige) Erkenntnis auch in Kausalurteilen widerspiegeln kann, wenn man eine
Bewertung des kognitiven Niveaus von Wissen - angefangen bei Beobachtung über Erfahrung
bis hin zu Erkenntnis - nicht schlechterdings aufgeben will. Gewinnen lässt sich allein mit
dieser Forderung freilich nichts, sofern sie nicht im Einzelfall hinreichend bewiesen, sondern
ebenfalls nur zum Dogma erhoben wird - weder an Einsicht über unser Erkenntnisvermögen,
noch über Gegenstände unseres Erkenntnisvermögens. Dies schließt natürlich nicht aus, die
Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens anzuerkennen - die nicht erst bei der Begründung von Kausalzusammenhängen beginnen.
Nicht nur Naturgegenstände, sondern auch unsere Gefühle und Bedürfnisse verändern sich
in der Regel nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Wenn ich Hunger habe oder beleidigt werde, wenn ich Verluste an der Börse erleide, erlebe ich dies als unangenehm, als Frustration. Nahrungsaufnahme, eine Entschuldigung oder Kursgewinne steigern wiederum mein
Wohlbefinden. Auch und gerade eine Handlungsordnung und eine Moralordnung stehen unter
dem Vorbehalt, dass ich im Handeln anderer Menschen Ursache und Wirkung erkenne und
dass andere Menschen ihrerseits in meinem Handeln Ursache und Wirkung ausmachen können. Durch die wesentlich höheren Freiheitsgrade, die menschliches Handeln gegenüber gewöhnlichen Naturereignissen hat, wird es allerdings oft schwer, Kausalität im Handeln anderer Menschen eindeutig nachzuweisen oder sogar zu prognostizieren, weil sich jeder Mensch
mit jeder neuen Erfahrung (selbst) verändern kann. Gleichwohl spielt das Ursache- und Wirkungsprinzip natürlich auch in der Moral insofern eine bedeutsame Rolle, als die Auswirkung
meines Handelns auf andere und die Auswirkungen des Handelns anderer auf mein Verhalten
(in gewissen Grenzen) kalkulierbar sein müssen. Und dies gilt natürlich besonders für die
Rechtfertigung von Normen. Moraltheorie setzt zwangsläufig das rational handelnde Subjekt
voraus, das Subjekt, das sich aufgrund bestimmter Verhältnisse, Umstände, Zielvorstellungen
in bestimmter Art und Weise verhält. Wenn Lottospieler ihren Gewinn dazu nutzen würden,
möglichst große und tiefe Löcher zu graben, müssten Lotterien vermutlich verboten werden.
Als rational beurteilen wir gemeinhin solche Handlungsweisen, die dem Handelnden nutzen,
die dazu dienen, seine Freude zu vergrößern und seine Frustration zu mindern, weil jeder
Mensch Bedürfnisse hat und die zur Bedürfnisbefriedigung erforderlichen Gegenstände nur
begrenzt zur Verfügung stehen (Hume). Als rational würden wir (im Alltag) eigentlich nicht
eine Person bezeichnen, die ihr Verhalten an der (vermeintlich) höheren Bestimmung der gesamten Menschheit (Kant) oder einem (möglichen) Leben nach dem Tode in einem Paradies
(Religion) ausrichtet.
III. Relation (Wechselwirkung)
Urteil: Disjunktiv
Kategorie: Gemeinschaft (zwischen dem Handelnden und dem Leidenden)
Schema: Gegenstands- oder Ereignisbestimmung durch Bestimmung von Gleichzeitigkeit (nach
einer Regel)
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Alle Substanzen, sofern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung."436
Grundsatz (Gefühlsbestimmung) Alle meine Gefühle und Bedürfnisse, die zugleich wahrnehmbar
sind, stehen in Wechselwirkung.
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Alle Handlungsalternativen, die eine Person gleichzeitig hat,
stehen in Wechselwirkung
Der Kantische Grundsatz der Wechselwirkung scheint jedenfalls mit Bezug auf Naturgegenstände nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Wenn ich einen Baum, eine Wiese und einen
Vogel vor mir habe, dann ist klar, dass alle drei in einer gewissen Wechselwirkung stehen,
436
Kant (KrV) B, S. 256.
184
weil etwa dort, wo der Baum steht, kein Gras wachsen und der Vogel nicht durch den Baumstamm fliegen kann. Kant scheint aber mehr behaupten zu wollen, wenn er von "durchgängiger Wechselwirkung" spricht. Was genau damit gemeint sein könnte, bleibt unklar.437 Wenn
damit ausgedrückt werden sollte, dass die Wahrnehmung des Einen Gegenstandes die Wahrnehmung des anderen Gegenstandes beeinflusst, was vermutlich zutrifft, dann wäre aber nicht
sinnvoll von "Substanzen" zu sprechen.
Sehr viel plausibler lässt sich darlegen, dass sich die von einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt empfundenen Gefühle gegenseitig beeinflussen. Wenn jemand Liebeskummer
hat und Nüsse isst, um sich davon abzulenken, dabei aber auf eine Nussschale beißt und sich
das Zahnfleisch verletzt, dann überlagert zunächst der Genuss der Nuss den Liebeskummer
und der wird wiederum durch den Schmerz am Zahnfleisch überdeckt. Oder um ein im moraltheoretischen Zusammenhang einer Gefühls- und Bedürfnisordnung relevanteres Beispiel anzubringen: Wenn jemand aufgrund von Hunger, Durst, Schmerzen, Krankheit (medizinischer
Unterversorgung) nicht beschwerdefrei leben kann, geht ihm sicher ein wesentlicher Teil seiner Lebensqualität verloren.
Auch hinsichtlich einer Handlungs- und Moralordnung macht Kants Grundsatz der Wechselwirkung eigentlich mehr Sinn, als in einer Gegenstandsordnung. Denn wenn ich etwa fünf
Handlungsalternativen habe, in einem bestimmten Zeitfenster aber nur eine Handlung ausführen kann, dann muss ich mich zwangsläufig für eine Handlungsalternative entscheiden. Übertragen auf moralische Vorstellungen bedeutet dies, dass von einem Menschen nicht verlangt
werden kann, seinen eigenen Lebensunterhalt durch geregelte Arbeit zu verdienen und sich
pausenlos um das Wohlergehen anderer Menschen zu kümmern. Oder es bedeutet etwa auch,
dass von einem Landwirt nicht verlangt werden darf, seinen Hof innerhalb von zwei Wochen
von konventionellem auf nachhaltigen Ackerbau umzustellen, weil dies in der kurzen Zeit
vom zeitlichen, finanziellen Aufwand her gar nicht gelingen kann. Eine Moralordnung sollte
daher nicht nur im Auge haben, welche allgemeinen moralischen Ziele sie durch ihre Normsetzung verwirklichen will, sondern auch welche anderen individuellen Handlungsoptionen,
welche Handlungsalternativen das (konkrete) rationale Subjekt hat.
Nach der Quantitäts-, Qualitäts- und Relationsbestimmung eines Gegenstandes lässt sich
mit Hilfe der Modalgrundsätze auch noch der Erkenntnisstatus dieser Urteile ermitteln, indem
man fragt, ob sie den Gegenstand als bloß möglich, wirklich oder sogar notwendig beschreiben? Die von Kant aus den Modalitätsurteilen, Modalitätskategorien und Modalitätsschemata
schrittweise entwickelten Modalgrundsätze, die "Postulate des empirischen Denkens" sind
Regeln für intersubjektiv gültiges gegenstandsbezogenes empirisches Denken, die sich aus der
apriorischen Struktur menschlichen Erkenntnisvermögens erschließen lassen. Anhand dieser
besonderen 'Postulate' werden die Erkenntnisfortschritte von bloß subjektiv gültigen Wahrnehmungsurteilen hin zu Erkenntnisurteilen bewertet. In Modalgrundsätzen reflektieren wir
die verschiedenen möglichen geltungstheoretischen Entwicklungsstufen, den Vollkommenheitsgrad von Natur- und nach hier vertretener Auffassung auch von Gefühls- oder Bedürfnissowie von Moralerkenntnis.438
Die Modalgrundsätze stehen wesentlich einer transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen aus Kantischer Sicht im Weg, denn sie sind Kriterien für die kognitive Qualität
unserer Erfahrung. Wenn Moralvorstellungen auf Erfahrung beruhen, dann können sie nicht
den ihr von Kant zugedachten apriorischen Charakter haben, aber wenn Moralvorstellungen
apriorischen Ursprungs sind, dann macht es keinen Sinn, sie an den Modalgrundsätzen zu
437
"Substantielle Erscheinungen sollen nach der Dritten Analogie aufeinander mit einer wechselseitigen Bestimmung ihrer zeitlichen Zustandsfolge Einfluß nehmen. Die Einflußstruktur wird aber nur als
raumzeitliche thematisiert. Die inhaltliche Natur der substantiellen Kraftäußerung bleibt offen." Baumanns (1997) S. 648.
438
Vgl. Baumanns (1997) S. 656.
185
messen, weil sie ohnehin gewiss sind. Mit den Modalgrundsätzen stößt Kant mithin an die
Grenzen seiner eigenen Transzendentalphilosophie, die in meinen Augen entscheidenden Anteil am weit überdurchschnittlichen Niveau seiner Philosophie hat. Wenn man jedoch mit
Hume die empirischen Grundlagen von Moral akzeptiert, dann lässt sich auch ihr Erkenntnisstatus an den Modalgrundsätzen messen. Sofern man darüber hinaus mit Hume den Nutzen als
maßgebliches Moralkriterium anerkennt, kann dieser Nutzen sogar vortrefflich anhand Kants
Modalgrundsätzen beurteilt werden.
Die drei Modalkategorien selbst haben allein im Bereich des Wissens Bedeutung, sie setzten das sowohl subjektiv als auch intersubjektiv zureichend begründete Behaupten voraus. Sie
beziehen sich auf das jeweils einem Erfahrungsstand gemäß mit Gewissheit Behauptbare,
nicht auf das persönliche Führwahrhalten; es sind transzendentalgenetische Einstufungsbegriffe im Hinblick auf das erkenntnisgültig behauptbare, nicht auf das erkenntnisrelevante
Behaupten.439 Grundsätzlich lässt sich nichts erfahrungsgültig und erkenntnisgültig denken
und fühlen, was nicht zu anderem bereits gedachten und gefühlten in eine modale Beziehung
gebracht werden könnte. Menschen bringen neue Urteile zu ihren früheren Urteilen in einen
hierarchischen Bezug und korrigieren oder modifizieren sie, indem sie fortwährend den Erkenntnisstatus ihrer Urteile bewerten. Den Bezugspunkt und gleichzeitig die Referenz für das
erkennende Subjekt bildet immer das Bewusstsein des eigenen Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizonts. Wenn es einen unbekannten Gegenstand oder eine unbekannte Situation vorfindet, fängt es (unwillkürlich) an, darüber nachzudenken, welche Bedeutung der betreffende
Gegenstand haben könnte. Das um Erkenntnis bemühte Subjekt wird also versuchen, sich an
ähnliche, bereits bekannte Gegenstände oder an ähnliche, bereits beobachtete Situationen zu
erinnern und durch Urteile oder Schlüsse versuchen, das Neue auf bereits bekanntes zu beziehen, alte Erfahrungen für die neue Erfahrung fruchtbar zu machen. Dabei muss der Erkenntnisstatus von neuen Urteilen immer wieder mit dem Erkenntnisstatus von bereits getroffenen
Urteilen, von bereits gemachter Erfahrung, abgeglichen werden.
IV. Modalität (Möglichkeit)
Urteil: Es ist möglich, dass S P ist
Kategorie: Möglichkeit - Unmöglichkeit
Schema: "Das Schema der Möglichkeit ist die Zusammenstimmung der Synthesis verschiedener
Vorstellungen mit den Bedingungen der Zeit überhaupt. (z. B. da das Entgegengesetzte in einem
Dinge nicht zugleich, sondern nur nacheinander sein kann,) also die Bestimmung der Vorstellung
eines Dinges zu irgendeiner Zeit."440
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der
Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich." 441
Grundsatz (Gefühlsbestimmung) Gefühle (Bedürfnisse), die mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommen, sind möglic h
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Handlungen, die mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommen, sind möglich.
Mit der Bedingung von Erfahrung als Voraussetzung von Natur- und Ereignisbestimmung
schließt Kant erst einmal alle religiösen Vorstellungen (wie etwa Himmel und Hölle) von der
Naturbestimmung aus. Denn es gibt nach Kants im Kontext des ersten Postulats gegebener
Erklärung Begriffe, "deren Möglichkeit ganz grundlos ist, weil sie nicht auf Erfahrung und
deren bekannte Gesetze gegründet werden kann, und ohne sie eine willkürliche Gedankenverbindung ist, die, ob sie zwar keinen Widerspruch enthält, doch keinen Anspruch auf objektive
439
Vgl. Baumanns (1997) S. 658.
Kant (KrV) B, S. 184.
441
Kant (KrV) B, S. 265.
440
186
Realität, mithin auf die Möglichkeit eines solchen Gegenstandes ... machen kann."442 Eine
Möglichkeitsbehauptung bleibt nur dann nicht grundlos, wenn sie mit den raumzeitlichen und
kategorialen Ordnungsvorstellungen kongruiert. Einem entweder raumzeitlich oder kategorial
unbestimmbaren Erfahrungsgegenstand muss daher in jedem Fall die intersubjektive 'Möglichkeit' abgesprochen werden.
Auch Gefühle und Bedürfnisse erfordern eine raumzeitliche und kategoriale Lokalisierung,
damit sie gemäß dem ersten Postulat als mögliche (reale) Gefühle und Bedürfnisse hinreichend begründbar sind. Im Rahmen der hier durchgeführten transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen spielen bestimmte Naturgegenstände als Erfahrungsgegenstände
insofern eine besonders wichtige Rolle, als sie potentielle Gegenstände der Bedürfnisbefriedigung für keinen, für einige, viele oder alle Menschen sein können.
Natürlich können nicht nur Naturgegenstände, Gefühle oder Bedürfnisse, sondern auch
Handlungen möglich oder unmöglich sein. Aus transzendentaler moralischer Sicht erscheint
der Möglichkeitsgrundsatz insofern eminent wichtig, als er die Einschätzung erlaubt, ob sich
eine Norm zumindest möglicherweise eignet, ein moralisches Ziel lokal, regional oder global
durchzusetzen. Die transzendentale modale Argumentationskette beim ersten Postulat bezogen auf Moral könnte demnach (abstrakt) etwa lauten, dass es erstens möglicherweise bestimmte Naturgegenstände gibt (Naturhorizont), die zweitens möglicherweise alle Menschen
brauchen (Bedürfnishorizont), um deren Erwerb drittens möglicherweise Konflikte entstehen
(Handlungshorizont) und deren Akkumulation deshalb viertens möglicherweise durch entsprechende Normen (und damit verbundene Sanktionen) eingeschränkt werden sollte. Noch
konkreter und zugleich bedeutsamer wird der Möglichkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit
Humes Nutzenprinzip, denn Prognosen über die Entwicklung von Ressourcen, die Bedürfnisse von Menschen, ihr Verhalten und womöglich dieses Verhalten korrigierende Normen im
Dienste eines Nutzenoptimums für alle Menschen sollten sich natürlich auch auf Erfahrung
stützen, damit sie nicht blind, grundlos getroffen werden.
IV. Modalität (Wirklichkeit)
Urteil: Es ist in der Tat so, dass S P ist.
Kategorie: Dasein - Nichtsein.
Schema: Dasein in einer bestimmten Zeit.443
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der
Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich." 444
Grundsatz (Gefühlsbestimmung) Bedürfnisse, die mit den materialen Bedingungen der Erfahrung
(Gefühlen) zusammenhängen, sind wirklich.
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Handlungen, die mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (Empfindung und Gefühlen) zusammenhängen, sind wirklich.
Mit dem 'Wirklichkeitsgrundsatz' beschreibt Kant die (a priori benennbaren) geltungstheoretischen Bedingungen, die einer Tatsachenbehauptung erkenntnisgültigen Status verleihen.
Damit ein Gegenstand, ein Bedürfnis oder eine Handlung nicht nur als 'möglich, sondern auch
als 'wirklich' bezeichnet werden darf, muss er, es oder sie nicht nur mit den raumzeitlichen
und kategorialen Ordnungsvorstellungen widerspruchsfrei vereinbar sein, sondern auch noch
wahrgenommen, also deren Existenz durch Empfindung oder Gefühl nachgewiesen werden
können. Auch die Wirklichkeitsforderung lässt sich nicht von religiösen Vorstellungen einlösen, weil wir keine (nachweisbare) Erfahrung mit übersinnlichen Wesen haben. Mit 'Wirklichkeit' meint Kant hier die Menschen mit Hilfe von Wahrnehmung erkennbare und keine 'an
442
Kant (KrV) B, S. 270.
Vgl. Kant (KrV) B, S. 184.
444
Kant (KrV) B, S. 266.
443
187
sich' existierende Wirklichkeit. Kants fundamentale Unterscheidung zwischen dem 'Ding an
sich' und der sich dem Menschen allein darbietenden 'Erscheinung' hat auch hier wiederum
grundlegende Bedeutung.
Ein Gefühl oder ein Bedürfnis verdient nur dann das Prädikat 'wirklich', wenn es von einem Menschen tatsächlich empfunden wird. Eine Handlung darf dann als 'wirklich' gelten,
wenn mit ihr eine Empfindung und ein Gefühl korrespondiert, was voraussetzt, dass sie sich
mit den raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen nicht nur abstrakt vereinbaren lässt, sondern konkret raumzeitlich und kategorial bestimmt vorliegt. Damit werden religiöse oder spirituelle Handlungen insofern ausgeschlossen, als mit ihrer Vorstellung zwar ein
unbestimmtes Gefühl, aber keine konkrete Empfindung der Wahrnehmung verbunden werden
kann. Der Wirklichkeitsgrundsatz stellt sich im Zusammenhang mit unserem Handlungshorizont auch deshalb als unverzichtbar dar, um Wünsche, Hoffnungen gegenüber der Realität
abzugrenzen. Von der biblischen Schöpfungsgeschichte etwa können wir weder mittelbar,
noch unmittelbar eine durch Empfindung belegbare Erfahrung ausweisen. Letztendlich maßgebender Prüfstein für den Nutzen einer Handlung oder einer Norm sind die durch sie tatsächlich eingetretenen und nicht etwa nur die erwarteten Folgen. Insofern spielt der Wirklichkeitsgrundsatz auch im Nutzenkalkühl eine wichtige Rolle.
IV. Modalität (Notwendigkeit)
Urteil: Es ist notwendigerweise so, dass S P ist.
Kategorie: Notwendigkeit - Zufälligkeit
Schema: Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit.445
Grundsatz (Gegenstandsbestimmung): "Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig."446
Grundsatz (Gefühlsbestimmung) Gefühle, deren Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, sind (existieren) notwendig.
Grundsatz (Handlungsbestimmung): Handlungen, deren Zusammenhang mit dem Wirklichen nach
allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, sind (existieren) notwendig.
Entscheidende Relevanz für Kants Notwendigkeitsgrundsatz entwickelt sein Naturbegriff,
nach dem die Natur als ein durchgängiges System von Kausalverhältnissen vorgestellt werden
muss, wenn alle Naturgegenstände mit ihren substanziellen und akzidentiellen Merkmalen als
zu einer Naturordnung gehörig und damit als (weitgehend) vollständig bestimmbar vorgestellt
werden können sollen. Erstaunlicherweise spricht Kant hier ausgerechnet im Zusammenhang
von Erfahrung - also von Empirie - über Notwendigkeit, obwohl er gerade diesen Kontext
andernorts und zwar sowohl für die Natur-, als auch die Moralerkenntnis immer wieder ganz
energisch bestreitet.
Ein Gegenstand darf mit seinen substantiellen und akzidentiellen Merkmalen nur dann als
'notwendig' bezeichnet werden, wenn er sich raumzeitlich und kategorial bestimmt als Glied
in die Kette des (raumzeitlich und kategorial bestimmbaren) Naturgeschehens nach Naturgesetzen einordnen lässt. Um also über einen jeden Gegenstand der Wahrnehmung notwendige
Urteile fällen zu können, muss angenommen werden, dass sich alle Gegenstände in den Verlauf des Naturgeschehens einfügen lassen und das heißt nichts anderes, als dass alle Gegenstände als kausal mit dem Naturgeschehen verknüpft gedacht werden müssen. Aus diesem
Grund sind für Kant das "blinde Ohngefähr" (casus), ebenso wie "die blinde Notwendigkeit"
(fatum), oder die sprunghafte (saltus) und lückenhafte (hiatus) Veränderung von der Erkenntnis des Naturgeschehens auszuschließen.447
445
Kant (KrV) B, S. 184.
Kant (KrV) B, S. 266.
447
Vgl. Kant (KrV) B, S. 280 ff.
446
188
Dass sich Naturgegenstände verändern, kann überhaupt nur durch Erfahrung aufgewiesen
werden.448 Aber dass alle Veränderung eine Ursache haben soll, stellt ein Erkenntnisprinzip
dar, das in dieser strengen, keinerlei Ausnahmen gestattenden Form freilich weder der Erfahrung entnommen, noch jemals durch Erfahrung hinreichend (vollständig) beweisbar sein dürfte. Anhand dieses Erkenntnisprinzips soll ein jeder Naturgegenstand als vollständig objektiv
gültig bestimmbar gedacht werden. Dass für alle Veränderung eine Ursache gesucht werden
soll, ist als Aufgabe zu verstehen, die erfüllt werden muss, um alle Erfahrungsgegenstände in
einer Naturordnung bestimmen zu können und somit Bedingung für die Erkenntnis einer Naturordnung, aber nicht schon selbst Naturerkenntnis. Ebenso sind Mathematik und Geometrie
Bedingung intersubjektiv gültiger Bestimmung von Naturgegenständen, aber nicht schon
selbst Erkenntnis von irgendwelchen Bedingungen oder Bestimmungen der Natur.
Ein Bedürfnis erscheint notwendig, wenn es kausal mit der lebenserhaltenden Integrität der
biologischen, psychischen oder geistigen Natur des Menschen verknüpft ist. Ein Mensch stirbt
zwangsläufig, wenn er eine Zeitlang kein Wasser oder feste Nahrung aufnimmt. Jeder Mensch
erleidet in der Regel auch psychische Schäden, wenn man ihn etwa in Isolationshaft vom
Kontakt mit anderen Menschen ausschließt. Die kognitiven geistigen Fähigkeiten eines Menschen lassen zwangsläufig nach, wenn sie nicht regelmäßig genutzt werden.
Vor diesem Hintergrund können solche Handlungen als notwendig gelten, die der lebenserhaltenden Integrität einer Person und damit der Befriedigung unverzichtbarer Bedürfnisse
dienen. In diesem Sinne zielt auch die Verteidigung des eigenen Lebens notwendigerweise
auf das unverzichtbare Bedürfnis nach Selbsterhaltung ab. Über diesen Kernbestand an Handlungen zur unmittelbaren Selbsterhaltung hinaus sprechen wir von moralischen Aufgaben und
Pflichten auch im mittelbaren Zusammenhang mit unserer Selbsterhaltung: Wir sagen etwa,
es sei wünschenswert, einen Hilfebedürftigen zu unterstützen oder ein Darlehen zurückzuzahlen. Wie können wir das behaupten? Wir wollen durch (gute oder schlechte) Erfahrung belehrt rationalerweise natürlich, dass uns selbst geholfen wird, wenn wir hilfebedürftig sind
und wir möchten, dass ein von uns gewährter Kredit zurückbezahlt wird. Aber wir haben es
selbst oft erlebt, dass Hilfebedürftige nicht unterstützt werden oder dass Darlehen nicht zurückgezahlt werden. Die Parallele zwischen Naturgesetzen und Moralgesetzen besteht in ihrer
intersubjektiv begründbaren Forderung nach Allgemeingültigkeit, nach kausaler Struktur,
Erklärbarkeit, Prognostizierbarkeit von Naturereignissen und Handlungsabläufen. Akausale
Naturvorgänge oder Handlungsweisen können wir nicht erfahrungs- oder gar erkenntnisgewinnend verarbeiten, sie verschaffen uns keine Orientierung.
Natururteile, Bedürfnisurteile und Moralurteile dürfen den Grundsätzen nicht widersprechen, wenn sie Naturerkenntnis, Bedürfniserkenntnis, Handlungserkenntnis und damit letzthin
auch Moralerkenntnis ermöglichen sollen. Mit den durch die Grundsätze ausgesprochenen
Annahmen über die Bedingungen von Naturerkenntnis befindet sich der Mensch - unabhängig
davon ob er sie in jedem Einzelfall überhaupt anwenden kann - innerhalb der Grenzen des in
seinem Naturhorizont für sein Überleben überhaupt erkennbaren Nutzens. Ganz sicher lässt
sich die Natur auch anders als kategorial und nicht den Grundsätzen entsprechend auffassen
und beschreiben, aber eine solche (womöglich eher assoziative) Naturbeschreibung hätte keinen, den Naturhorizont vor dem Bedürfnishorizont des jeweiligen Lebewesens strukturierenden und damit lebenserhaltenden Zweck. Die Probleme der Relativitäts-, Quanten- und Chaostheorie in der intersubjektiv gültigen Bestimmung ihres Gegenstandes sind ein deutliches
Indiz für die evolutionsbiologische Hypothese, dass sich menschliches Rezeptionsvermögen
und menschliche Urteilskraft stammesgeschichtlich im 'Mesokosmos' ausgebildet haben, denn
die Natur scheint im Mikro- und Makrokosmos anders strukturiert zu sein, als in unserem
mesokosmischen Anschauungsbereich. Die verschiedenen möglichen Abstufungen von einfa448
Vgl. Kant (KrV) B 213.
189
chen (unbewussten) raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen bis hin zu (bewussten) komplexen raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen und sogar Ordnungsprinzipien belegen die lang andauernden stammesgeschichtlichen Grundlagen raumzeitlicher und kategorialer Ordnungsmuster schlechthin und deren Fortentwicklung im Zuge der
geistigen Evolution des Menschen.
Ganz in diesem Sinne sagt auch Kant nicht eigentlich, dass die Welt tatsächlich auf diese
oder jene Weise beschaffen sei - denn er hat in seiner Erkenntniskritik gar kein spezifisches
naturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse - sondern er betont lediglich, dass Menschen sich
die Welt auf bestimmte Art und Weise vorstellen müssen, um intersubjektiv nützliche Einsicht
erzielen zu können. Die Kategorien, Schemata und Grundsätze bestimmen mithin nicht die
Beschaffenheit der Welt, sondern ihren einzig erfolgversprechenden erkenntnisgewährenden
Zugang. Was also Kant mit den Erkenntnisgrundsätzen allein nachweisen kann, ist deren
notwendige Geltung für den Aufbau einer intersubjektiv gültigen Naturordnung (Bedürfnisordnung, Moralordnung). Nur insofern kann davon gesprochen werden, dass diese apriorischen Ordnungskriterien notwendigen erkenntniskonstituierenden Charakter, allerdings auch
nur in Verbindung mit Erfahrung, haben.449
Alle Naturgesetze, Bedürfnisgesetzte, Moralgesetze erweisen sich hierdurch als durch
Theorie begründete Anwendungsfälle, als Spezifikationen raumzeitlicher und kategorialer
Ordnungsvorstellungen, sowie der erkenntnisgültigen Koordination von raumzeitlichen und
kategorialen Ordnungsvorstellungen im Dienste einer hierarchisch abgestuften Naturordnung,
Bedürfnisordnung, Moralordnung. "Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir
den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i.
nach Gesetzen. Es sind also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur
möglich machen; die empirischen können nur vermittelst der Erfahrung, und zwar zufolge
jener ursprünglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden und gefunden werden."450 Die sachgerechte, allgemeingültige Anwendung der Erkenntnisprinzipien auf Erfahrungsgegenstände kann jedoch selbst nicht auch a priori, sondern nur
in Verbindung mit Erfahrung in einer Theorie sichergestellt und erwiesen werden.451 Menschen haben also kein apriorisches Wissen von der Natur, sondern nur von den notwendigen
Bedingungen ihrer erkenntnisgültigen Interpretation.452
449
Und so kann Kant mit vollem Recht sagen: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch darin nicht finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt. Denn diese Natureinheit soll eine notwendige, d. i. a priori gewisse Einheit der Verknüpfung der Erscheinungen sein.
Wie sollten wir aber wohl a priori eine synthetische Einheit auf die Bahn bringen können, wären nicht
in den ursprünglichen Erkenntnisquellen unseres Gemüts subjektive Gründe solcher Einheit a priori
enthalten, und wären diese subjektiven Bedingungen nicht zugleich objektiv gültig, indem sie die
Gründe der Möglichkeit sind, überhaupt ein Objekt in der Erfahrung zu erkennen“. Kant (KrV) A, S.
125 f.
450
Kant (KrV) B, S. 263.
451
„Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundgesetze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet
werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer
Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich. Aber ohne Unterschied stehen alle Gesetze der Natur unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur
auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden. Diese allein geben also den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält, Erfahrung aber gibt den Fall,
der unter der Regel steht“. Kant (KrV) B, S. 198.
452
„Auf der anderen Seite ist es ebenso notwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, ebendarum
weil er den Begriff der Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori bei sich führt. Aber dieser
Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt
190
Die Einheit der Naturerkenntnis und Moralerkenntnis erfordert es, ein hierarchisch abgestuftes System von Kriterien zur Gegenstands-, Bedürfnis- und Handlungsbestimmung aufzubauen, das eben diese Einheit ermöglicht. Insofern die raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsfunktionen Bedingungen dafür sind, überhaupt Erfahrungen über Naturgegenstände,
angenehme oder unangenehme Gefühle und Handlungsabläufe sammeln zu können, müssen
diese Ordnungsfunktionen als Ordnungsvorstellungen und Ordnungsprinzipien auch Grundlage und Maßstab aller daraus entwickelten, aller hierdurch empirisch möglichen, hierarchisch
abgestuften, intersubjektiv gültigen Urteile zur Gegenstandsbestimmung, Ereignisbestimmung, Gefühlsbestimmung, Handlungsbestimmung sowie Gegenstandsordnung, Ereignisordnung und Handlungsordnung sein. Unerlässliche Bedingung für den Aufbau einer hierarchisch abgestuften Natur-, Bedürfnis- und Handlungsordnung ist die Annahme einer (möglichst vollständigen) kausalen Verknüpfung des Natur-, Bedürfnis- und Handlungsgeschehens. Die Kausalitätskategorie oder der Kausalitätsgrundsatz selbst sind keine durch Beobachtung oder durch Erfahrung geltungstheoretisch jemals begründbaren Ordnungsvorstellungen,
sondern jede Beobachtung oder Erfahrung muss sich demgegenüber gerade an diesen Ordnungsvorstellungen messen lassen. Alle empirischen Naturgesetze erweisen sich hierdurch als
Spezifikationen kausalgesetzlicher Zusammenhänge. Art und Umfang kausalgesetzlicher Interdependenzen zwischen Naturgegenständen können nur durch Erfahrung ausfindig gemacht
und letztendlich auch bewiesen werden, aber Kausalität als Ordnungsvorstellung muss allen
diesen Forschungsbemühungen vorangehen und sie begleiten. Die hierarchisch abgestufte
(wissenschaftliche) Ordnungsvorstellung, die Menschen von der Natur, ihren Bedürfnissen,
Handlungsabläufen, Handlungsnormen haben, sollte mithin kausal strukturiert sein.
2.3 Moralerkenntnis
Durch inhaltliche Reduktion, durch Abstraktion von Moralerfahrung versuchen wir in Moralerkenntnis die Einheit von Moralerfahrung herzustellen. In der Moralerkenntnis wird eine
Hierarchisierung und Verallgemeinerung von Moralerfahrung durch relativ wenige Prinzipien
angestrebt, um eine möglichst große Reichweite und Effizienz moralischer Urteile und Normen zu erzielen. Moralerkenntnis zielt auf intersubjektiv gültige Urteile und Normen ab, kann
(wie bereits die Moralerfahrung) verschiedene Aspekte von Moralität berücksichtigen und
nebeneinander stehen lassen (Nutzenmodell, Gerechtigkeitsmodell, Konsensmodell), sofern
sie einander nicht widersprechen, sondern nur unterschiedliche Aspekte der Moralerfahrung
ausdrücken (ebenso wie in den Naturwissenschaften: biologisches Modell, physikalisches
Modell, chemisches Modell von Naturvorgängen). Die nach meiner Einschätzung für Moralerkenntnis entscheidende Untersuchung geht dahin, ob es Handlungen gibt, die alle Menschen
herbeiführen oder vermeiden wollen und deshalb geboten oder verboten sein sollten? Grundsätzlich steht Moralerkenntnis allen kognitivistischen Moraltheorien offen - ebenso Hume
(empiristisch), wie Kant (rationalistisch). Zum Aufbau von Moralerkenntnis verfügen wir
über drei kognitive Instanzen, nämlich erstens Sinnlichkeit (Empfindungen über unseren Naturhorizont, Gefühle über unseren Bedürfnishorizont, Empfindungen und Gefühle in unserem
Handlungshorizont), zweitens Verstand (Regeln über unseren Naturhorizont, Bedürfnishorizont, Handlungshorizont) und drittens Vernunft (Gesetze und Prinzipien über unseren Naturhorizont, Bedürfnishorizont, Handlungshorizont).
Während sich der Verstand nach Kants Erkenntnislehre direkt auf das sinnlich gegebene
Mannigfaltige (Anschauung) richtet und dieses durch Urteile (und Begriffe) raumzeitlich und
kategorial ordnet, bezieht sich die Vernunft (ausschließlich) auf die vom Verstand ermittelten
Urteile (und Begriffe) und nicht unmittelbar auf sinnlich gegebenes. Damit bewegt sich die
werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne möglich sein soll“. Kant (GMS) S. 455.
191
Vernunfttätigkeit auf einer höheren Abstraktionsebene als die Verstandestätigkeit. Während
der Verstand die Mannigfaltigkeit sinnlicher Informationen durch Urteile (und Begriffe) ordnet, reduziert und versucht, das Mannigfaltige durch Regeln zu strukturieren, obliegt es der
Vernunft, die hierdurch entstandene Urteilsvielfalt auf abstrakterer Ebene durch Gesetze und
Prinzipien zu ordnen, zu reduzieren und damit noch einmal zu vereinheitlichen. Theoriebildung und mithin wissenschaftliche Erkenntnis gründen auf diesen systematisierenden Ordnungsleistungen der Vernunft. In dieser Hinsicht stellt die Vernunft etwa mit den 'Grundsätzen' eben diejenigen Bedingungen auf, denen alle Regeln des Verstandes über das Naturgeschehen genügen müssen, damit eine durchgängige Ordnung der Natur entstehen kann.
Die Vernunft stiftet Ordnung unter den vom Verstand ermittelten Regeln, indem sie diese
unter systematischen Gesichtspunkten auf einer höheren Abstraktionsebene beleuchtet und in
einen erweiterten Geltungszusammenhang bringt. Dieser Zusammenhang wird dadurch erreicht, dass die einzelnen vom Verstand bereitgestellten Erfahrungen, allgemeineren Urteilen
untergeordnet werden, in denen sie sich als Folgerungen aus abstrakteren Urteilen darstellen.
Mit diesem Vermögen, vom Verstand bereitgestellte Regeln auf wenige Gesetze und Prinzipien zurückzuführen erweist die Vernunft ihr Vermögen der Ordnungsstiftung durch die logische Form des Schließens. Während sich der Verstand in der geltungstheoretischen Form des
(raumzeitlich und kategorial strukturierten) Urteils bemerkbar macht, liegt die Artikulationsform der Vernunft im Schluss.453 Die Lehre von den verschiedenen Schlüssen ist Bestandteil
der klassischen Logik, auf deren Vorarbeit Kant - wie bei den Urteilsformen - erneut zurückgreifen kann.
Die raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen konnten ihre erfahrunskonstitutive Funktion nur insofern erweisen, als sie eben auf Erfahrung bezogen und nicht etwa
dort, wo sie auf reine Fantasieprodukte angewandt wurden. Folgerichtig kann die Vernunft in
ihrer Funktion des Schließens nur dann intersubjektiv gültige Urteile ermitteln, wenn sie sich
auf dem Feld möglicher Erfahrung bewegt. Deshalb ist ein gültiger erfahrungsimmanenter
Gebrauch der Vernunft von ihrem (religiös, politisch oder weltanschaulich motivierten) ungültigen erfahrungstranszendenten Gebrauch mit allem gebotenen Nachdruck zu unterscheiden.454 Um diesem eigenen Anspruch gegenüber dem klassischen Rationalismus gerecht zu
werden liegt Kant so viel daran, die objektive Realität seines KI nachzuweisen, was ihm jedoch nicht gelingt und ihn dazu veranlasst, in der KpV von der transzendentalen Deduktion
des KI in der GMS Abstand zu nehmen. Empfindungen waren in der KrV ein Garant für die
Realität eines Gegenstandes. Nach hier vertretener Auffassung sind Gefühle als Grundlage
moralischer Bewertung Garant für die Realität von Bedürfnissen und daraus resultierender
moralischer Ansprüche. Die logische Form des Schlusses erweist sich als äußerst zweckmäßige Ergänzung der logischen Form des (kategorial strukturierten) Urteilens. Mit Ober- und
Untersatz enthält der klassische Schluss bereits drei Urteile. Richtig angewandt, auf der
Grundlage intersubjektiv gültiger Prämissen und richtiger Schlusssätze ermöglichen es Vernunftschlüsse, besonderes, gegebenenfalls sogar unbekanntes unter bereits bekanntes zu subsumieren und damit die Effizienz und den selektiven Nutzen des (ontogenetischen) Lernens
beträchtlich zu steigern.
453
„Man macht einen Unterschied zwischen dem, was unmittelbar erkannt, und dem, was nur geschlossen wird. Daß in einer Figur, die durch drei gerade Linien begrenzt ist, drei Winkel sind, wird
unmittelbar erkannt; daß diese Winkel aber zusammen zwei rechten gleich sind, ist nur geschlossen.
Weil wir des Schließens beständig bedürfen und es dadurch endlich ganz gewohnt werden, so bemerken wir zuletzt diesen Unterschied nicht mehr, und halten oft, wie bei dem sogenannten Betruge der
Sinne, etwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur geschlossen haben“. Kant (KrV) B, S.
359.
454
Vgl. Kant (KrV) B, S. 352.
192
Während der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung durch Urteile (und Begriffe) in
eine (aus der Perspektive des jeweiligen Bedürfnis- und Naturhorizonts) subjektiv nützliche
Ordnung bringt, schafft es Vernunft, verschiedene Urteile durch Schlüsse miteinander zu verbinden und eine intersubjektiv nützliche Ordnung zu stiften. In der Genese moralischer Erkenntnis geht es mithin darum, durch Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft (1) den eigenen
und allgemeinen Bedürfnishorizont zu bestimmen, (2) den eigenen und allgemeinen Naturhorizont zu erfassen und (3) darauf aufbauend eigene und allgemeine (moralische) Handlungsperspektiven zu entwickeln. Das zweckmäßige Zusammenwirken aller drei kognitiven Perspektiven wird durch Apperzeptionsleistungen (mehr oder weniger bewusst) gesteuert und
überwacht, die als Ausgangspunkt und Bezugspunkt für die Verbindung von Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont gelten dürfen. Nachfolgend sollen einige Beispiele für Vernunftschlüsse in der Moral aufgezeigt werden, die den genannten Anforderungen entsprechen:
1a. Ich vermeide negative Gefühle und suche positive Gefühle. 2a. Alle anderen Menschen
wollen auch positive Gefühle herbeiführen und vermeiden negative Gefühle. 3a. Moralische
Vorschriften sollten dazu beitragen, positive Gefühle zu fördern und negative zu vermeiden.
1b. Ich suche positive Gefühle durch optimale Bedürfnisbefriedigung. 2b. Andere Menschen wollen auch optimale Bedürfnisbefriedigung. 3b. Moralvorschriften sollten optimale
Bedürfnisbefriedigung ermöglichen und Bedürfnisversagung vermeiden helfen.
1c. Ich möchte, dass mir in einer Notlage geholfen wird. 2c. Andere Menschen möchten
auch, dass ihnen in Notlagen geholfen wird. 3c. Es sollte Moralvorschriften geben, dass allen
Menschen in Notlagen geholfen wird.
1d. Ich akzeptiere keine Vorschriften anderer Menschen, die sie selbst nicht beachten. 2d.
Andere akzeptieren keine Moralvorschriften von mir, die ich selbst nicht beachte. 3d. Moralvorschriften sollten von allen Menschen akzeptiert werden.
Bislang konnte im Kapitel über die transzendentalen Bedingungen von Moralerfahrung
herausgearbeitet werden, dass die Bestimmung unseres Bedürfnis- und Handlungshorizonts
ebenso wie die Bestimmung unseres von Kant analysierten Naturhorizonts nur mit raumzeitlichen und kategorialen Ordnungsvorstellungen gelingt. Klar gestellt werden konnte auch, dass
sich Moralvorschriften nur durch Koordination von Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont begründen lassen, weil erst diese drei Horizonte zusammengenommen dem Menschen
überhaupt einen (erkenntnistheoretischen und praktischen) Standpunkt verleihen, von dem aus
intersubjektiv gültige moralische Urteile möglich sind. Nachfolgend bleibt nun zu prüfen, wie
diese Koordination der drei maßgeblichen Horizonte unserer Vorstellungswelt auszusehen
hat, worin der Schlüssel, das Kriterium für eine intersubjektive Verbindung von Bedürfnis-,
Natur- und Handlungshorizont aus Sicht von Moralerkenntnis besteht?
Zusätzlich interessiert auch, mit Hilfe welcher Methodik sich dieser Schlüssel oder dieses
Kriterium auffinden lässt? Sollte man hier eher auf Humes empiristische oder Kants rationalistische Vorgehensweise zurückgreifen? Problematisch an der Kantischen Vorgehensweise
scheint der durchgehend hohe Abstraktionsgrad seiner Moraltheorie, dem der Bedürfnis-, und
Naturhorizont (zumindest vordergründig) zum Opfer fällt. Kant vermeidet ausdrücklich die
Berücksichtigung empirischer Daten bei der Begründung seines KI (oder ZP). Demgegenüber
legt Hume großen Wert darauf, sein Nutzenprinzip gerade auf empirischer Basis zu begründen. Mit seinem Nutzenprinzip verbindet Hume den Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizont des Menschen explizit, indem er darlegt, dass sich das Erfordernis von Moralvorschriften
überhaupt erst aus dem Bedürfnishorizont und der begrenzten Anzahl von Gütern ergibt, um
die alle Menschen konkurrieren. Das Nutzenprinzip schreibt im Grunde genommen vor, wie
alle Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse um die begrenzte Anzahl von Gütern konkurrieren
sollen, nämlich zum Nutzen (möglichst) aller Menschen. Hier drängt sich natürlich eine Parallele zu Kants KI auf, allerdings schließt er solche empirischen Erwägungen des Nutzens bei
193
der Begründung moralischer Prinzipien gerade aus, obwohl seinem KI entgegen eigener Beteuerungen doch empirische Vorannahmen zugrunde liegen, denn sein KI spricht ein Handlungsgebot aus, was wahrscheinlich sinnlos wäre, wenn wir gar keine Bedürfnisse und erst
Recht keinen Handlungshorizont hätten und die Prüfung der Gesetzestauglichkeit der eigenen
Maxime(n) scheint nur dann sinnvoll, wenn es konkurrierende Interessen gibt, wenn Maximen verschiedener Menschen in Konflikt geraten können. Und nicht nur bei der Begründung,
sondern auch bei der Anwendung des KI geht es (in dieser unserer empirischen Welt) letztendlich (notgedrungen) um die Regelung von Verhalten in einer von Güterknappheit, Bedürfnissen und Konkurrenz geprägten Welt.
Vernunft allein verschafft (unabhängig von Erfahrung) wie Hume richtig ausführt überhaupt keinen tragfähigen Standpunkt, von dem aus hinreichend begründbare moralische Urteile möglich wären, obwohl Kant durch seinen apriorischen Begründungsanspruch in seiner
Moraltheorie beständig genau diesen Eindruck zu vermitteln versucht. Denn von einem (Kantischen) Standpunkt der Vernunft, womöglich sogar reiner Vernunft ausgehend wird es sehr
schwer, vernunftwidrige Aspekte der empirischen Welt allgemein, speziell menschlichen
Verhaltens in einer Moraltheorie zu integrieren, wie die völlig unzureichenden, empirischen
Problemen zugewandten Teile von Kants Rechtsphilosophie, Staatstheorie und politischer
Philosophie belegen. Demgegenüber schafft es Hume durch seine induktive genetische empiristische Vorgehensweise weitaus besser, konkurrierende egoistische und damit auch konkurrierende vernunftwidrige Handlungsansprüche in seinem allgemeinen Nutzenprinzip zu vereinen. Im Gegensatz zu Kant bildet bei Hume das Moralprinzip Endpunkt und nicht Ausgangspunkt moraltheoretischer Analyse und Bewertung.
Dass Hume und Kant alle Menschen letztendlich ohne Unterschied ihrem jeweiligen Moralprinzip unterstellen mag nicht nur normative, sondern auch methodische Gründe haben.
Der normative (aufklärerische) Aspekt liegt natürlich darin, dass alle Menschen entgegen einer mittelalterlichen Ständeordnung grundsätzlich gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben
sollen. Nicht minder bedeutsam scheint mir jedoch auch der methodische Aspekt, denn wenn
Menschen nicht als moralisch gleichwertig betrachtet würden, wäre es schwierig, für alle
Menschen (gleichermaßen) geltende Moralprinzipien und sogar einfache Normen aufzustellen, weil ansonsten im Grunde genommen für jeden Menschen in jeder neuen Lebenssituation
neue moralische Vorschriften greifen müssten, was moraltheoretisch nur sehr schwer fassbar
wäre. Ein Bauer etwa, der mit großer Mühe seine eigene Familie ernähren kann, dürfte nach
Humescher (und Kantischer) Lesart viel geringere Pflichten zur Förderung des Allgemeinwohls haben, als etwa ein reicher Fabrik- oder Großgrundbesitzer - zumal nach einer schlechten Ernte. Allerdings können diese unterschiedlichen Ausgangspositionen durch Humes teleologisch angelegtes Nutzenprinzip wesentlich besser abgefangen werden, weil es die allgemeine Nutzenoptimierung unabhängig vom Ausgangspunkt fordert, während Kants relativ starre
deontologische Vorgehensweise in dem Fall wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet.
Hume eruiert im Grunde genommen (empiristisch) nur, was alle Menschen (rationalerweise) wollen (sollten), nämlich ihre Bedürfnisbefriedigung. Diese Bedürfnisbefriedigung erzielen sie am ehesten und besten in Kooperation mit anderen Menschen. Die Kooperation selbst
wiederum gelingt nur dann optimal (führt zu optimalem Nutzen), wenn alle Menschen ihren
Nutzen finden, ihre Bedürfnisse befriedigen können. Kant begründet seinen KI vor allem mit
der (vermeintlich) höheren, der vernünftigen Bestimmung des Menschen. Dabei wird nicht
ganz deutlich, worin die intersubjektiven Grundlagen dieses weltanschaulichen Bekenntnisses
liegen. Denn ein Interesse an (ausschließlich) vernünftigem Handeln kann dem (empirischen)
Menschen gerade aufgrund der beschriebenen Konkurrenz mit anderen Menschen um eine
begrenzte Anzahl von Gütern doch nur dann unterstellt werden, sofern dieses (lückenlos) vernünftige Handeln seine Bedürfnisbefriedigung mehr fördert, als (bisweilen) unvernünftiges
egoistisches. Wenn keine religiösen, politischen oder andere weltanschauliche Überlegungen
mit schwachem intersubjektivem Fundament zur Begründung von Moralprinzipien herange194
zogen werden können, wenn also keine ideologische Bevormundung des Menschen stattfinden soll, bietet sich in meinen Augen der Humesche empiristische Weg an, herauszufinden,
was alle Menschen eben aufgrund ihres Bedürfnis-, Natur- und Handlungshorizonts (rationalerweise) am meisten wollen oder auch am meisten vermeiden wollen.
Das grundlegendste, bereits in der menschlichen Natur (biologisch) verankerte Bedürfnis
liegt sicher in der Selbsterhaltung. Unter Humeschen moralischen Gesichtspunkten müssten
alle Güter so verteilt werden, müsste der Erwerb aller Güter so geregelt werden, dass alle
Menschen ihre Selbsterhaltung sicher stellen können. Allerding wäre mit solchen, die bloße
Selbsterhaltung gewährleistenden Vorschriften, weder das Potential des menschlichen Bedürfnis-, noch seines Natur- oder Handlungshorizonts bereits erschöpft. Auch Humes Moralprinzip scheint mir durch den Nutzen zwar die individuelle Existenzsicherung vorzuschreiben,
weil die eigene Existenz Basis jeder Nutzenerwägung überhaupt darstellt, aber sie geht nach
meiner Auffassung weit über diese einfache Intention individueller und kollektiver Selbsterhaltung hinaus. Denn natürlich gibt es auch über das Grundbedürfnis der Selbsterhaltung hinaus andere, wenn auch nicht unbedingt gleich gewichtige Bedürfnisse, andere wenn auch
nicht unbedingt gleich gewichtige Güter und andere wenn auch nicht unbedingt gleich gewichtige Handlungsoptionen, die zu ihrem Schutz entsprechende Moralvorschriften erfordern.
Ohne die Humeschen Nutzenvorstellungen jetzt weiter detailliert zu verfolgen wird man sagen können, dass die Begründung einer Bedürfnishierarchie, einer Güterhierarchie und einer
Hierarchie von Handlungsoptionen (im Dienste einer Hierarchie von Moralvorschriften) sinnvoll erscheint. Dabei wird von Grundbedürfnissen und diese Grundbedürfnisse sichernden
Grundgüter auszugehen sein, denen die höchste moralische Priorität zukommt abnehmend
über höherstufige Bedürfnisse, höherstufige Güter bis hin zu Luxusbedürfnissen und Luxusgütern mit der geringsten lebenserhaltenden Dringlichkeit. Im Interesse optimaler Bedürfnisbefriedigung dürfen die Selbsterhaltungsbemühungen des einen Menschen selbstverständlich
nicht das Selbsterhaltungsstreben anderer Menschen beeinträchtigen. Noch viel weniger aber
dürfen unter Gesichtspunkten optimalen allgemeinen Nutzens höherstufige Bedürfnisse oder
gar Luxusbedürfnisse die Selbsterhaltung anderer Menschen beeinträchtigen.
Man kann mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass sich alle Menschen rationalerweise solche Vorschriften wünschen, die es ihnen ermöglichen ihre eigene Selbsterhaltung zu
sichern. Aber schon anzweifelbar scheint, ob sich alle Menschen rationalerweise auch solche
Vorschriften wünschen, die es anderen Menschen ermöglichen, jeweils ihre eigene Selbsterhaltung zu sichern? Die (börsenorientierte) Spekulation mit Grundnahrungsmittel legt jedenfalls den Verdacht nahe, es sei etlichen Menschen egal, wenn anderer Menschen ihres eigenen
Profitstrebens wegen verhungern müssten. Unter symmetrischen kontraktualistischen Voraussetzungen zwischen allen Handlungsakteuren würde in einem solchen Fall erst gar keine Kooperation zustande kommen, weshalb es unter symmetrischen politischen Rahmenbedingungen eigentlich für alle Menschen klug und vernünftig wäre, die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln abzulehnen. Dass dies unter den gegebenen empirischen politischen Rahmenbedingungen nicht geschieht, zeigt deren asymmetrische Struktur, belegt, dass die Interessen
aller Menschen in unserem Alltag eben nicht gleichberechtigt gewichtet werden (wie ich in
meinem eigenen Ansatz im nächsten Kapitel noch zeigen werde).
Der Schritt von Moralerfahrung zu Moralerkenntnis vollzieht sich dann, wenn gefragt
wird, ob es Verhaltensweisen gibt, die nicht nur (prudentiell) von einzelnen Menschen befürwortet oder abgelehnt, sondern von allen Menschen (rationalerweise) abgelehnt oder befürwortet werden (müssen). Die Lustsuche und Schmerzvermeidung bildet - wie Hume richtig
feststellt - bei allen Menschen das grundlegende Handlungsprinzip; es gibt bei allen Menschen Grundbedürfnisse, die befriedigt werden müssen, wenn ein Mensch überleben will.
Dass alle Menschen überleben wollen darf ebenfalls als Prinzip allen Lebens angesehen werden. Die zur Verfügung stehenden Güter sind jedoch begrenzt, was wesentlich erst (wie Hume
195
wiederum richtig feststellt) zur moralischen Frage führt. Damit sind die wichtigsten Parameter
erläutert, in deren Rahmen eine intersubjektive Moral hinreichend begründbar erscheint.
Das Humesche und Kantische Modell unterscheiden sich vor allem darin, wie ein (vernunftorientiertes) Zusammenleben aller Menschen prinzipienfundiert ausgestaltet sein soll,
nämlich durch das Nutzenmodell einerseits oder das Gerechtigkeitsmodell andererseits. Beide
Modelle widersprechen einander in ihren normativen Zielsetzungen nicht notwendig, obwohl
sie mit dem empiristischen (Hume) und dem rationalistischen (Kant) einen denkbar gegensätzlichen Begründungsweg aufweisen. Beide Modelle betonen einerseits mit dem Nutzen
(inhaltlich) und andererseits der Gerechtigkeit (formal) in meinen Augen lediglich unterschiedliche Aspekte von Moralität. Wenn man von Humes Standpunkt abstrahiert und Kants
konkretisiert, dürfte man auf der Grundlage des hier entwickelten Standpunktes zu einer
Schnittmenge zwischen KI, ZP einerseits und NP andererseits gelangen. Aber braucht eine
Globalmoral überhaupt moralische Prinzipien? Die Vorteile der Prinzipienbildung und Prinzipienanwendung liegen aus pragmatischer Sicht in leichterer, besserer allgemeiner Orientierung und theoretisch betrachtet in der Begründung eines Leitfaden zur Konkretisierung von
Moralnormen und Moralvorschriften. Ihre Hauptnachteile bestehen vielleicht darin, dass sie
gelegentlich zu rigoros, zu unflexibel wirken, um auch im Einzelfall gute, brauchbare Ergebnissen zu ermöglichen. Dennoch scheint wenigstens der Versuch lohnenswert, bereits im Moralprinzip selbst die hier angestrebte moraltheoretische Hauptzielrichtung, nämlich (teleologische) Nutzenoptimierung und (deontologische) Gerechtigkeitsvorstellung zu vereinen.
Bei der Begründung von Moralerkenntnis allgemein und Moralprinzipien speziell geht es
nachfolgend darum, Rationalitätsanforderungen zu erfüllen, ohne einem eindimensionalen
Rationalismus anheimzufallen, die Gefühlsbasiertheit unserer Moralvorstellungen zu akzeptieren, ohne jedoch bei einem Empirismus oder gar Emotivismus stehen zu bleiben. Der hier
vertretene Intersubjektivitätsanspruch entspricht einer allgemeinen Rationalitätsanforderung,
was nichts anderes heißt, als dass moralische Normen in aller Menschen Interesse liegen
müssen. Wenn Gefühle und vor allem Bedürfnisse (und nicht allein Vernunft wie bei Kant)
als Grundlage moralischer Ansprüche auftreten, dann können auch Kinder, Geistesschwache
und Tiere relativ weitreichende moralische Forderungen geltend machen.
Umstritten bleibt das Problem, ob und inwiefern moralische Urteile einem eigenen Wahrheitsanspruch unterliegen, mithin wahr sein können, wahr sein sollen oder sogar wahr sein
müssen, um (allgemeine) normative Verpflichtung auszulösen. Wenn man mit der ganz überwiegenden moralphilosophischen Meinung übereinstimmend annimmt, "moralische Urteile
müssen im Gegensatz zu religiösen Geboten offen sein für rationale Kritik, moralische Fragen
müssen rational kontrovers diskutiert werden können und in solchen Diskussionen müssen
auch Fortschritte erzielbar sein",455 dann kommt man wohl nicht umhin eine solche Moraltheorie zu begründen, die sich auf Tatsachen zumindest bezieht, die im Hinblick auf die sie fundierenden Tatsachen wahr oder falsch sein kann. Ohne hinreichenden Bezug auf Tatsachen
setzt sich Moraltheorie immer der Gefahr aus, nicht als wissenschaftliche Disziplin akzeptiert,
sondern in der Auseinandersetzung von Religion, Weltanschauung oder Ideologie zerrieben
zu werden und damit bereits im Vorfeld jeden globalen Anspruch zu verlieren.
Daraus resultiert natürlich das weitere Problem, was als moralisch relevante Tatsache gelten darf und inwiefern die der moralischen Normenbildung zugrundeliegende Auswahl an
Tatsachen begründet werden kann? Als Tatsachen dürfen alle Umstände gelten, die sich empirisch nachweisen, die sich rational nicht (ernsthaft) bestreiten lassen. Entscheidend für die
Auswahl der normativ relevanten Tatsachen sind nach meinem Verständnis die dem Wollen
aller Menschen (rationalerweise) zugrundeliegenden Tatsachen. Solche Tatsachen können
(allgemein geteilte) Gefühle, Bedürfnisse, Interessen (unter den Bedingungen begrenzter Res455
Scarano, Nico. Metaethik - ein systematischer Überblick. In: Handbuch Ethik, hrsg. v. M. Düwell,
C. Hübenthal, M. H. Werner, Stuttgart/Weimar 2002. S. 25-35.
196
sourcen) sein, nicht aber bloße (lediglich partikulär geteilte) religiöse oder weltanschauliche
Überzeugungen. Es geht nicht im Sinne des (naiven) moralischen Realismus darum, dass bestimmte Tatsachen per se eine moralische Qualität bereits beinhalten, sondern darum, dass sie
durch das Wollen aller Menschen (Lebewesen) eine moralische Qualität erhalten. Die weitergehende Frage bezieht sich natürlich darauf, welche normativen Implikationen aus solchen
Tatsachen erwachsen? Auch hier gilt es wiederum auf das allen Menschen (rationalerweise)
unterstellbare Wollen zu verweisen, wobei nicht übersehen werden darf, dass 'rational' keineswegs nur 'vernünftig' (im Kantischen Sinne) bedeutet, sondern auch prudentielle, verstandesbasierte (rationale) Interessen umfasst, mithin Empirie inkludiert und nicht (weitgehend)
exkludiert, auch wenn letzteres die Theorienbildung maßgeblich vereinfachen mag.
Bezogen auf Tatsachen haben grundlegende lebenserhaltende Bedürfnisse rationalerweise
normativen Vorrang vor anderen, höherstufigen Bedürfnissen (wie etwa Freiheit, Bildung,
Eigentum). Moraltheorie erwächst in meinen Augen die zentrale Aufgabe, zunächst zu klären,
wie elementare Bedürfnisse aller Menschen unter den Vorzeichen von Güterknappheit geregelt werden können, bevor sie sich Problemen der normativen Ausgestaltung höherstufiger
Ansprüche widmet. Insofern stellt die hier vertretene Moraltheorie auch Prognosen über die
Korrelation von allgemeinen elementaren und höherstufigen Bedürfnissen mit normativen
Zielen auf, die in einer Diskussion münden sollen, durch welche Vorschriften etwa eine Gesellschaft Verbrechen, Umweltverschmutzung, soziale Konflikte vermeiden kann? Und sogar
diese im Kernbereich normativen prognostischen Aussagen scheinen noch wahrheitsfähig,
ohne einen moralischen Realismus befürworten zu müssen. Zu dieser prognostischen moraltheoretischen Aufgabe gehört nach dem hier vertretenen Standpunkt auch die Motivationsfrage - allerdings weniger in einem (reinen) psychologischen Sinne, als vielmehr im Zusammenhang verstandesbasierter und vernunftbasierter Rationalität, was in letzter Konsequenz nichts
anderes bedeutet, als dass jeder Mensch bereit sein dürfte, sollte und sogar müsste, solche
Handlungen auszuführen, die ihm selbst nutzen, die seinem eigenen Vorteil dienen.
2.3.1 Naturhorizont
Rationalisten vor Kant (Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff) hatten im Gegensatz zu Kant
noch angenommen, es sei möglich, durch vernunftbasierte (apriorische) Annahmen Erfahrungsgrenzen zu überschreiten. Dahinter stand die (naive) Auffassung, die Organisation der
Natur durch ihren Schöpfer gehorche den gleichen Rationalitätskriterien wie das erkenntnisgewinnende Denken, wodurch sich Vernunft in der Beschreibung der Welt gewissermaßen
wiedererkennt, weil sie ihr Ebenbild sieht. Locke und Hume durchbrachen mit ihrer kritischen
empiristischen erkenntnistheoretischen Sichtweise diese relativ schlichten ontologischen abbildtheoretischen Ansichten und lösten damit anhaltende Erschütterungen innerhalb des kontinentaleuropäischen philosophischen Weltbildes aus.456
Humes kritischer Empirismus (Skeptizismus) legte einerseits viele in der rationalistisch
orientierten Wissenschaft entstandenen Vorurteile offen und zeigte, dass zahlreiche Einsichten schlicht auf Gewohnheit und unkritischer Überzeugung beruhen, wie etwa der Gedanke
einer Kausalität in der Natur, die er in zeitliche Sequenzen auflöst und alles darüber Hinausgehende als Metaphysik abweist. Hume und vor allem Locke legten dar, dass die verschiedenen Merkmale von Gegenständen nicht alle auf Substanzen als deren Träger reduziert werden
können. Besonders die sogenannten 'sekundären' Qualitäten (etwa Farbe, Geschmack) wiesen
Locke als subjektsbedingte Ergänzungen nach, denen nichts Substantielles entsprechen könne
(Kranken etwa schmeckt bitter, was Gesunde als süß empfinden). Sie werden vom Subjekt an
das Objekt herangetragen und auch durch das Subjekt und seine Zustände variiert. Der Er456
Vgl. nachfolgend: Wasser, Harald. Eine kurze Reise zum Konstruktivismus. Version 1.1. Aus der
Reihe Materialien zur Philosophie & Soziologie. http://autopoietische-systeme.de.
197
kenntnisschwerpunkt verlagerte sich so zunehmend und ganz modern vom Objekt weg auf
das Subjekt, auf die von ihm gemachten Erfahrungen.
Zudem finden sich bei Locke bereits datensensualistische Vorstellungen, die nahe legen,
dass der Mensch stets einzelne, an sich unzusammenhängende Daten passiv empfängt und
daraus ein Gesamtbild erst zusammensetzen muss. Hier wird Erkenntnis schon in einer zunächst nur schwachen Form als Konstruktion gedacht, aber anders als bei Kant und den späteren phänomenologischen Varianten des Konstruktivismus. Beide gehen nicht mehr davon aus,
dass Konstruktion als Zusammensetzungen von Daten verstanden werden können. Ein solches, datensensualistisches Modell erzeugt nämlich das Problem, dass Daten immer schon
Konstruktionen sind, so dass die Theorie nicht erklären kann, wie es zu so etwas wie Daten
überhaupt kommen können soll, wie etwas Konstruktionen erklären können soll, was seinerseits als Konstruktion erklärt werden müsste? Gefühle lassen sich zudem nicht durch das Abbildtheorem erklären, weil sie in der Umwelt gar nicht existieren. Ebenso wenig können Gefühle aus irgendetwas zusammengesetzt werden, dass sich in der Umwelt vorfinden lässt: Aus
dem Verlust eines Angehörigen ergeben sich keinerlei Daten, die dem Gefühl der Trauer zusammengesetzt entsprechen.
Im Grunde genommen basiert Kants (erkenntnistheoretischer) Rationalismus auf einer Radikalisierung Humeschen Denkens. Denn Humes Kritik an einer (naiven) ontologischen Abbildtheorie erweitert Kant noch, indem er nicht nur Farbe und Geschmack, sondern darüber
hinaus auch die klassischen metaphysischen Vorstellungen, nämlich Raum und Zeit, als vom
Subjekt in die Naturerfahrung und Naturerkenntnis eingebracht und jeder Beschreibung
wahrnehmbarer Objekte zugrundeliegend ausweist. Die Natur in Raum und Zeit wird von
Kant nicht als etwas vom Menschen Erkanntes, sondern Erzeugtes begriffen. Gleiches gilt für
die kategorialen Ordnungsmuster, mit deren Hilfe wir Naturvorstellungen entwickeln.457
Kant hat mit der KrV plausibel dargelegt, dass unsere Vorstellungen von der Welt unumgänglich an standpunktbezogene (kognitive) Voraussetzungen geknüpft sind, ohne einen Beobachter (der einen Standpunkt, mithin ein bestimmtes Interesse an dem Beobachteten hat)
gar nicht die Rede davon sein kann, dass es eine Realität überhaupt gibt. Realität besteht nicht
einfach standpunktunabhängig, sondern muss fortwährend vom Beobachter durch kognitive
Anstrengungen erzeugt werden, setzt zwingend ein Subjekt voraus. Realität bedeutet deshalb
immer erkannte Realität. Die Leistung des Subjekts sah Kant ähnlich dem modernen Konstruktivismus sowohl als Konstrukt von Unterschiedenem (Differenzbildung), als auch von
Gleichem (Identitätsbildung). Keine Konstruktion kann etwas aufweisen, das seinerseits keine
Konstruktion darstellt - es sei denn, man nähme an, dieses Konstruktionsunabhängige liege
vor und damit außerhalb jeder Konstruktion, was nur in einem einzigen Fall so sein kann,
nämlich dann, wenn es Konstruktionen überhaupt erst ermöglicht. Kant hat allerdings (vor
allem mit Blick auf Moral) übersehen, dass unsere Vorstellungen von der Welt kein rein rationales, sondern auch ein durch Empfindungen und Gefühle geprägtes Konstrukt sind, die
lediglich einen rationalen Überbau haben. Insofern kann es auch keinen rein rationalen
menschlichen Standpunkt zur Natur oder Moral unabhängig von Empfindungen, Gefühlen
und natürlich durch sie konstituierte Erfahrung geben. Eine Moraltheorie, die den Bedürfnisund Naturhorizont des Menschen ignoriert, entzieht ihr den einzig möglichen sicheren (intersubjektiven) Standpunkt.
Menschen stehen mit ihrer Umwelt nicht in offenem Kontakt, sind nicht in der Lage, ihre
Umwelt abzubilden, sondern müssen diese aus sich selbst heraus konstruieren. Das Subjekt
konstruiert die Welt aus seinem Bedürfnishorizont und Handlungshorizont heraus, die so konstruierte Welt ist deshalb seinem Bedürfnishorizont und Handlungshorizont angepasst. Es gibt
457
"Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir
selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt". Kant (KrV) A, S. 125)
198
sicher eine Welt auch unabhängig vom Menschen, aber wir haben keinen direkten Zugang zu
dieser imaginären Welt. Die Vorstellungen, die wir über die Welt haben, kommen nicht von
außen herein, sondern werden intern konstruiert. So kann man nach Roth Nervenimpulsen, die
während einer elektrophysiologischen Registrierung auf dem Oszillographen dargestellt werden, nicht ansehen, ob sie durch visuelle, akustische oder geruchliche Erwägungen hervorgebracht werden. Die Nervensignale sind unspezifizierbar. Dem Signal als solchen, das man mit
einer Elektrode an einem Nervenstrang abnehmen kann, sind weder Sinnesmodalität (Gehör,
Tastsinn), noch Sinnesqualität (rote oder blaue Farbe, hoher oder tiefer Ton) anzusehen. Diese
Unbestimmtheit betrifft nicht nur den Experimentator, sondern gilt auch für diejenigen Gehirnareale, in denen die Sinnesdaten verarbeitet werden. Daraus folgt, dass die erlebten Sinnesqualitäten nicht aus den Sinnen selbst stammen, sondern in der Hirnrinde (etwa visueller,
auditiver Cortex) erzeugt werden.
Dies versucht Roth dadurch zu beweisen, dass es die Möglichkeit gibt, mit ein und demselben künstlichen Reiz in den unterschiedlichen Gebieten des Gehirns ganz unterschiedliche
sensorische Halluzinationen hervorzurufen, etwa im Hinterhauptskortex visuelle Empfindungen, im temporalen Kortex auditorische und im sogenannten postcentralen Gyrus somatosensorische. So kann Roth darlegen, dass die primären Sinnesempfindungen nicht in den Sinnesorganen selbst entstehen, da sich dort nur die Umwandlung von physikalischen und chemischen Reizen in Nervenimpulse vollzieht. Der eigentliche Sinneseindruck entsteht im Gehirn,
und zwar als eine Kombination simultaner und sukzessiver Verarbeitung. Die Sinnesempfindungen entstehen hinsichtlich ihrer Modalität und Qualität im Gehirn aufgrund einer Bedeutungszuweisung nach topologischen Kriterien. Diese Kriterien sind teils angeboren, als neuroanatomische Grobverdrahtung des Gehirns, teils werden sie ontogenetisch erworben. Das
ausgereifte Gehirn scheint diesen eigenen topologischen Kriterien ausgeliefert. Dies führt
Roth zur Feststellung, das Gehirn sei ein in sich abgeschlossenes kognitives System. Es operiere keineswegs weltoffen, sondern deute nach immanenten Kriterien neuronale Signale und
konstruiere infolgedessen den gesamten Bereich der erlebbaren sinnlichen Welt.
Wenn aber schon einfache Sinnesqualitäten nicht durch die Sinnesdaten bestimmt sind,
sondern erst bei deren Interpretation entstehen, so gilt dies umso mehr für komplexere Wahrnehmungsgegenstände. Was etwas bedeutet, wie ein Eindruck zu verstehen ist, wird dem Gehirn in keiner Weise vorgegeben, Bedeutungen überhaupt müssen (standpunktbezogen) intern
erzeugt werden. Das Gehirn zeigt sich somit kognitiv abgeschlossen, es erzeugt die strukturierte Welt, in der sich das Bewusstsein vorfindet, zwar anhand von äußeren Reizen, aber aus
sich selbst heraus, allein aufgrund seiner Fähigkeit zur Generierung von Bedeutungen. Die
Welt lässt sich als Konstrukt des Gehirns auffassen, die Differenz von Umwelt und Innenwelt,
mit der normalerweise zwischen dem (selbstbestimmten) Bewusstsein und der (fremdbestimmten) Umwelt unterschieden wird, beruht nur auf einer Differenz in dieser kognitiven
Welt, die als Ganze ein Konstrukt des Gehirns darstellt.
Ein solches kognitives System erzeugt seine kognitiven Zustände aufgrund eigener früheren kognitiver Zustände, in rekursiver oder zirkulärer Weise und wird dadurch selbstbestimmt: Ein wesentliches Merkmal selbstreferentieller Systeme besteht in ihrer Autonomie.
Dies bedeutet, dass ein selbstreferentielles System von seiner Umwelt zwar nicht isoliert, aber
doch als abgeschlossen angesehen werden kann, weswegen es von dieser beeinflusst (gestört),
aber nicht gesteuert werden kann. Welche Einwirkungen aus der Umwelt auch immer in ein
solches kognitives System eintreten, die sich daraus ergebenden internen Konsequenzen werden allein vom System selbst festgelegt. Die selbstreferentielle, selbstexplikative Geschlossenheit des Gehirns bildet kein bedauerliches Versehen der Natur, sondern vielmehr die Voraussetzung für die Befähigung des Gehirns, sinnliche Eindrücke zu verarbeiten und daraus
ein Verhalten mit hinreichender Komplexität zu generieren, um eine erfolgreiche Selbsterhaltung des Organismus zu gewährleisten. Ein umweltoffenes kognitives System dagegen, in
dem Reize unmittelbar in Reaktionen umgesetzt würden, hätte ein auf einfache Reflexe redu199
ziertes Verhalten, das nur unter einfachsten Umständen dazu geeignet wäre, ein Überleben
des Organismus sicherzustellen; zu Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisleistungen
wäre es trotz oder vielmehr wegen seiner Offenheit gar nicht imstande.
Für die Erzeugung der menschlichen Konstrukte von der Welt spielt das Gehirn insofern
eine wesentliche Rolle, als es darauf angelegt scheint, Regelmäßigkeiten herzustellen, kognitive Strukturen aufzubauen, die in sich stimmig wirken und mit vorausgegangenen Operationen (mit Erfahrung) kohärent sind. Man könnte sagen, der gesamte menschliche kognitive
Apparat sei darauf ausgelegt, mit Hilfe rein quantitativer Inputs qualitative, bedeutungsreiche
Strukturen aufzubauen. Was wir als Wirklichkeit erleben scheint nach dieser Auffassung
nichts anderes als die Selbstbeschreibung des Gehirns und zwar auf der Grundlage interner
Erfahrungen und daran geknüpfter Bewertungen und Emotionen. Dieses Vorgehen lässt sich
nicht mehr mit gängigen Ursache- und Wirkungskategorien begreifen. Vielmehr handelt es
sich um geschlossene Rückkoppelungsprozesse, um ein ständiges Erzeugen von Wechselwirkungsbeziehungen. Wirklichkeit bedeutet demnach nicht mehr und nicht weniger als menschliche Erfahrungswirklichkeit und gilt daher vor allem für den Standpunkt des menschlichen
Beobachters. Der Beobachter interagiert mit seinen eigenen Zuständen und erzeugt von diesen
Interaktionen ausgehend Beschreibungen seiner Umwelt. Dadurch kann er eine Konstruktion
sowohl von sich selbst, als auch von seiner Umwelt erzeugen. In diesem Sinne lässt sich die
klassische philosophische Vorstellung einer ontologisch fixierten Realität nicht mehr aufrecht
erhalten. Wirklichkeit muss vielmehr als Vereinbarung verstanden werden, als ein Bereich
konsensorientierter Interaktion und Kooperation von Individuen. Der Konstruktivismus vermeidet deshalb jeden Versuch einer Letzbegründung, er versteht sich als nicht- reduktionistische Kognitionstheorie. Vor diesem Hintergrund kann empirisches Wissen nicht weiterhin auf
(vermeintlich) objektive Wirklichkeitsstrukturen bezogen werden, sondern muss an den Menschen und seine Konstruktionen gebunden werden. Mit dem Wegfall von absoluter Wahrheit,
Objektivität und Wirklichkeit, muss alles Wissen nach konstruktivistischer Auffassung als auf
den menschlichen kognitiven Standpunkt bezogen aufgefasst werden.
Daraus folgt, dass Einsicht, Erkenntnis von allen Menschen, von Kindern, Schülern, Studenten, Wissenschaftlern schlechthin schrittweise aufgebaut, eben erst konstruiert werden
muss und nicht als ganzes einfach übernommen werden kann.458 Insofern steht auch jede Moraltheorie vor der Herausforderung eine solche Moralerkenntnis zu begründen, die von unterschiedlichsten Moralerfahrungen aus einsehbar erscheint. Eine nicht in die moralische Alltagserfahrung integrierbare Moralerkenntnis wirkt daher vielleicht akademisch wertvoll, aber
praktisch relativ weitgehend wertlos. Piaget hat mit seiner kognitiven Psychologie versucht,
den Aufbau des Wissens schematisch darzulegen: Um Wissen zu verstehen, müssten die entsprechenden Personen es selbst aufbauen. Das erste Niveau beziehe sich darauf, etwas als
nützlich in der eigenen Erfahrung anzuerkennen. Das zweite höhere Niveau referiere darauf,
dass andere so interpretierbar sind, dass sie gleiche oder zumindest ähnliche Regeln verwendeten. Dann wären diese Vorschriften um eben diese Intersubjektivitätsstufe viabler. Zum
Aufbau einer verlässlichen viablen Wirklichkeit brauche das um Einsicht bemühte Subjekt
demnach die Erfahrung anderer; es benötige gewissermaßen deren Bestätigung, obwohl sie
immer auf die eigene Interpretation der Erfahrung anderer zurückzuführen sei. Wissen besteht in diesem Sinne in der Konstruktion von Vorstellungen, die noch nicht mit der (allgemeinen) Erfahrungswelt in Konflikt geraten sind. Diese Konstrukte stimmen nicht mit der
ontologischen Welt überein (im Sinne einer Repräsentation), sondern müssen lediglich in das
Gesamtkonzept von (allgemeiner) Erfahrung passen. So lange diese Vorstellungen für das
erkennende Subjekt einen gangbaren (viablen) Weg in dieser Welt erzeugen, der sein Überle458
Vgl. v. Glasersfeld, Ernst. Interview anlässlich seines Vortrages an der Universität KoblenzLandau, Campus Koblenz am 08.12.2000. In: Voss, R. (Hrsg.) Unterricht aus konstruktivistischer
Sicht (Instruction from a constructivist perspective). S. 26–32. Kriftel: Hermann Luchterhand 2002.
http://www.vonglasersfeld.com/253
200
ben, seine Anpassung sichert, werden eben diese Vorstellungen (im doppelten Sinne) fortbestehen. Im evolutionären Prinzip des 'Passens' liegen die Parallelen zur Evolutionstheorie.
2.3.2 Bedürfnishorizont
Inwieweit können nun Gefühle (und Bedürfnisse) in die Begründung moralischer Normen
im Rahmen eines konstruktivistischen Erkenntnismodells mit intersubjektivem Anspruch einfließen? Wie bereits bei Hume steht zunächst die unausweichliche Frage im Raum, welche
Gefühle überhaupt moralisch relevant sind und wie weit die moralisch relevanten Gefühle zur
Begründung moralischer Normen ausreichen? Nach meiner Auffassung führt die traditionelle
(Humesche) Abgrenzung von spezifisch moralischen Gefühlen gegenüber nicht-moralischen
(normalen) Gefühlen nicht zum Ziel, weil die als spezifisch moralisch ausgewiesenen Gefühle
auch außerhalb von moralisch relevanten Handlungszusammenhängen auftreten können.
Wenn etwa ein Kind gute oder schlechte Schulnoten bekommt, wenn ein Torwart einen Elfmeter hält oder durchlässt können Stolz oder Scham empfunden werden, ohne dass diese
Emotionen auch nur entfernt in einem moralisch relevanten Zusammenhang stehen. Deshalb
scheint es mir sinnvoller mit Humes Grundprinzip (des Lebens) ganz allgemein von den elementaren Gefühlen des Schmerzes und der Freude auszugehen.
Umstritten scheint auch das weiterführende Problem, welche Konsequenzen aus der emotionalen Fundierung moralischer Normen für deren Begründung erwachsen? Nach wohl vorherrschender emotivistischer Auffassung schließt die Anerkennung der emotionalen Grundlagen unserer Moralvorstellungen jeden Intersubjektivitätsanspruch aus: Wenn wir etwa Kriegsverbrechen verurteilten, äußerten wir im Grunde genommen nichts anderes als eine innere
Empfindung von Abscheu und Missfallen (Stevenson, Ayer). Da unsere Emotionen nur subjektive Geltung hätten, wir über sie letztlich nicht verfügen könnten (wir haben sie oder wir
haben sie nicht) und andere nicht dafür verantwortlich machen könnten, dass sie sie haben
oder nicht haben, folge daraus, dass moralische Urteile und Haltungen ebenfalls vollkommen
subjektiv sein müssten. Sie unterschieden sich daher letztlich (wie schon bei Hume) nicht von
reinen Geschmacksfragen (des Genusses oder des Schönen) und entsprechend ließe sich über
sie weder rational diskutieren, noch seien moralische Urteile rational begründbar.
In jüngerer Vergangenheit wurde diese Kritik insbesondere von Moralphilosophen entwickelt, die sich der sogenannten Richtung der 'Anti-Theorie' in der moralwissenschaftlichen
Diskussion verschrieben haben: Moralische Entscheidungen ließen sich demnach nicht durch
Prinzipien oder umfassende Systeme universaler moralischer Normen rechtfertigen (Williams,
Rorty, Taylor, Dancy). Moralische Urteile seien jeweils situativ oder partikulär gültig und
hingen von einer in konkreter sozialer Erziehung und Bildung gereiften moralischen Intuitionen und Tugenden ab. Sie seien kein Ausdruck kognitiver Anstrengungen und damit verbundener Einsichten, sondern Ergebnis schlichter nonkognitiver Einstellungen, wie Emotionen,
Wünschen, Präferenzen, Intentionen. Nach Meinung vieler Antitheoretiker besteht Moral wesentlich aus einer gelebten sozialen Praxis, deren Basis nicht in Gestalt universaler Prinzipien
explizierbar, geschweige denn begründbar wäre. Antitheoretiker beziehen sich vor allem auf
Argumente von Hume, aber am radikalsten wurde die emotivistische Position wohl in dessen
Nachfolge von Bentham mit der Einschätzung vertreten, dass ein Argument in moralischen
oder politischen Angelegenheiten, das nicht in die einfachen Worte 'Schmerz' oder 'Lust'
übersetzt werden könne, ein "obskures und sophistisches" Argument sei, aus dem nichts gefolgert werden könne.459 Die Kritik der Antitheoretiker und besonders der Benthamsche Ein459
"It is frequent to hear men speak of a good intention, of a bad intention; of the goodness and badness of a man’s intention: a circumstance on which great stress is generally laid. It is indeed of no
small importance, when properly understood: but the import of it is to the last degree ambiguous and
obscure. Strictly speaking, nothing can be said to be good or bad, but either in itself; which is the case
only with pain or pleasure: or on account of its effects; which the case only with things that are the
201
wand treffen natürlich die Kantische Moralphilosophie im eigentlichen Mark, weil sie gerade
mit einem dezidierten Universalitätsanspruch - zudem noch apriorischer Geltung auftritt.
Kants rationalistische Moralkonzeption beansprucht nicht auf Gefühlen zu basieren, noch
nicht einmal empirisch angelegt zu sein. Dies scheint mit guten Gründen bereits hinsichtlich
Kants (formaler) Gerechtigkeitsprinzipien (KI und ZP) anzweifelbar, aber vielleicht sind diese
Voraussetzungen wenigstens bei der Anwendung dieser Gerechtigkeitsprinzipien, namentlich
des KI erfüllt, für die Kant zwar Empirie einräumt, aber nur im Lichte von Vernunft und nicht
auf der Grundlage von Gefühlen, denn andernfalls würde der Universalitätsanspruch des KI in
seinen Augen sogleich wieder eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Anhand von Benthams
These, dass sich nur moralische Urteile, die sich auf Lustvermehrung und Schmerzvermeidung beziehen, als tragfähige moralische Urteile erweisen lassen, möchte ich nun Kants eigene Anwendungsbeispiele zum KI überprüfen und diesen Ergebnissen mögliche Lösungen
anhand Kants ZP und Humes NP gegenüberstellen. Ich werde versuchen zu zeigen, dass sich
(sinnvolle - intersubjektiv gültige) moralische Urteile letztendlich nur auf Gefühle beziehen
können, was aber keineswegs bedeutet, dass auch unsere alltäglichen Moralurteile und erst
recht nicht unsere wissenschaftlichen Moralkriterien auf Gefühle reduzieren ließen.
Fall 1: Selbstmord
Kant (KI): Ein Mensch, durch hoffnungslose Frustration des Lebens überdrüssig, möchte
sich das Leben nehmen. Noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte kommt er der Forderung
des kategorischen Imperativs nach, indem er versucht, sich seine Maxime: ,,ich mache es mir
aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es
Annehmlichkeiten verspricht, es mir abzukürzen"460 als allgemeines Naturgesetz vorzustellen.
Der Test würde nach Kant ergeben, dass die Maxime der Selbstliebe sowohl die Erhaltung des
Lebens beinhaltet, als auch die Zerstörung von Leben. Würde man die Maxime zum allgemeinen Naturgesetz erheben, wäre die Gesetzgebung der Natur widersprüchlich. Die Maxime
ist also nicht gesetzesfähig und deswegen auch nicht moralisch, denn ,,wenn die Maxime der
Handlung nicht so beschaffen ist, dass sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die
Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich."461 Kant spielt hier offenbar darauf an, dass der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen im Widerspruch zur Selbsttötung steht. Der Selbsterhaltungstrieb bildet jedoch eine natürliche Verhaltensdisposition, während der Selbsttötung
eine rationale Entscheidung zugrunde liegt. Hier besteht kein Widerspruch, wenn man eine
rationale Entscheidung höher bewertet, als einen natürlichen Antrieb, denn andernfalls könnte
man auch gar keine moralischen Gebote mehr (begründet) aufstellen. Im Kantischen Sinne
würden auch die natürliche Habgier und Regeln zum Eigentumsschutz konfligieren. Ebenfalls
widersprüchlich aus Kants Sicht scheint das Töten eines Pferdes zur Verkürzung seiner Leiden, sofern es sich ein Bein gebrochen hat. Und der Bau eines Flugzeugs, das die (natürliche)
Schwerkraft auf der Erde überwindet, stellt auch keinen Widerspruch dar. Allerdings zeigen
sich hier wiederum die Grenzen der Universalisierung von Maximen auf, denn es scheint unsinnig, den Ausnahmefall der Selbsttötung zu universalisieren und in einen Gegensatz zum
Regelfall der Selbsterhaltung zu stellen. Ebenso unsinnig wäre es, das generelle Tötungsverbot gegen den Ausnahmefall der Tötung eines Schwerverbrechers zum Erhalt des Lebens unschuldiger Geiseln, ausspielen zu wollen. Kants Argumentation scheint hier weder vernunftbasiert, noch gefühlsorientiert, sondern einfach nur vom gewünschten Ziel her (Rechtfertigung des in der preußischen Armee geltenden Selbsttötungsverbots) wirklich nachvollziehbar.
causes or preventives of pain and pleasure. Bentham, Jeremy. An Introduction to the Principles of
Morals and Legislation. 1781. Batoche Books. Kitchener 2000. S. 72.
460
Kant (GMS) S. 422.
461
Kant (KpV) S. 69f.
202
Kant (ZP): Durch Selbstmord werden niemandes Rechte oder Interessen eingeschränkt, es
sei denn, der Selbstmörder hätte Schulden, Familie oder wäre anderweitige Verpflichtungen
eingegangen, denen er sich durch seine Selbsttötung entziehen möchte. In allen anderen Fällen dürfte es schwer fallen, stichhaltige Argumente auf der Basis des ZP gegen eine Selbsttötung vorzubringen.
Hume (NP): Selbstmord scheint erlaubt, wenn der dadurch entstehende individuelle und
allgemeine Nutzen größer wirkt als der Schaden. Über die Argumente auf der Basis von Kants
ZP hinaus wird man hier vor allem noch zusätzlich erwägen müssen, unter welchen Voraussetzungen ein Selbstmörder gutes oder schlechtes Vorbild für andere Menschen sein kann. Ein
unheilbar schwerkranker Selbstmörder ohne nennenswerte Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen, der sich selbst und seinen Angehörigen ein schweres anhaltendes Leiden oder
Mitleiden ersparen möchte, verdient sicher eher unseren Respekt als ein gesunder Teenager,
der sich aus einer schlichten Laune heraus, aus Liebeskummer oder Weltverdrossenheit umbringt und damit seine Eltern in Verzweiflung stürzt. In jedem Fall scheint aus emotivistischer
(utilitaristischer) Sicht eine viel differenziertere Sichtweise auf die Selbstmordproblematik
möglich als bei Kant.
Fall 2: Bruch eines Rückzahlungsversprechens
Kant (KI): Dieses Beispiel handelt von einem Menschen, der sich Geld leihen möchte, obwohl er weiß es nie zurückzahlen zu können. Da er aber noch über ein Gewissen verfügt, versucht er seine Maxime ,,wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen,
und versprechen, es zu bezahlen, ob gleich ich weiß, es werde niemals geschehen"462 als allgemeines Gesetz zu denken. Das Ergebnis des Experimentes wäre nach Kant, dass in der Natur ein solches Gesetz die Bedingungen seiner Gültigkeit selbst zunichte machen würde, weil
ohnehin keiner mehr einem anderen Menschen Geld leihen würde. Folglich kann die Maxime
auch nicht moralisch sein. Damit argumentiert Kant aber mit der sonst so strikt abgelehnten
Erfahrung für die Unsittlichkeit eines falschen Versprechens. Weiterhin bleibt an diesem Beispiel kritisch anzumerken, dass Kant die Unsittlichkeit eines falschen Versprechens auch teleologisch mit den Konsequenzen eines Gesetzes begründet, welche die oben genannte Maxime
zum Inhalt hätte. Eine in sich widersprüchliche Maxime braucht aber gar nicht erst am KI
überprüft zu werden, um ihre Moralwidrigkeit festzustellen, weil sie bereits irrational ist und
eine moralische Norm oder moralisches Verhalten niemals irrational sein darf.
Kant (ZP): Durch das lügenhafte Versprechen würde das Vertrauen des Darlehnsgebers
missbraucht, weshalb dieses Verhalten nicht (allgemein) zustimmungsfähig erscheint. Alle
Menschen wünschen sich, dass (besonders: wichtige) Vereinbarungen eingehalten werden,
weil sie sonst nicht mehr ihr Leben sinnvoll planen könnten.
Hume (NP): Auf den ersten Blick mag man annehmen, der Bruch eines Darlehensvertrags
sei aus utilitaristischer Sicht dann gerechtfertigt, wenn dem Darlehnsgeber ein geringerer
Schaden entsteht, als dem Darlehnsnehmer Nutzen, wenn es sich also etwa um einen reichen
Dahrlehnsgeber und einen armen Darlehnsnehmer handelt. Eine Argumentation nach diesem
von erklärten Gegnern utilitaristischer Vorstellungen in der Moral gerne vorgetragenen Muster übersieht jedoch den auch von Hume immer wieder betonten überragendem Nutzen von
Rechtssicherheit für eine Gesellschaft. Denn natürlich dürfte der Darlehnsgeber in aller Regel
reicher sein, als der Darlehnsnehmer und der Schaden für alle zukünftigen potentiellen Darlehnsnehmer ungleich größer sein, als der Nutzen des einzelnen Darlehnsnehmers, durch den
Bruch seines Dahrlehensversprechens einmalig Vorteile zu erzielen.
462
Kant (GMS) S. 422.
203
Fall 3: Das 'rostende' Talent
Kant (KI): Im dritten hier angesprochen Fall handelt es sich um einen Menschen, der bemerkt, dass er von Natur aus über eine besondere Begabung verfügt. Er zieht es jedoch vor,
sich lieber dem schönen Leben hinzugeben, als sich mit der Kultivierung seiner Naturanlagen
zu befassen. Da er aber noch über ein Pflichtbewusstsein verfügt, fragt er sich, ob sich seine
Maxime der Bequemlichkeit, auch als allgemeines Naturgesetz denken lässt. Das Gesetz
könnte zum Beispiel lauten: Talente müssen nicht ausgebildet werden, wenn ihre Kultivierung
Anstrengungen erfordert. In diesem Fall wäre die Natur nach Kant aber im Widerspruch zu
ihrer eigenen Absicht, dass alle Vermögen der Menschen ausgebildet werden, "weil sie ihm
doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind."463 Die Maxime der Bequemlichkeit ist Kantisch interpretiert deshalb unmoralisch, weil sie nicht als allgemeines
Naturgesetz gewollt werden kann. Zunächst scheint es fragwürdig, der Natur überhaupt irgendeine Absicht zu unterstellen. Problematisch wirkt an diesem Fall aber zudem noch, dass
Kant behauptet, ein vernünftiges Wesen wolle notwendig alle seine Vermögen entwickeln.
Kant (ZP): Die Ausbildung eigener Talente kann wohl von keinem Menschen anderen
Menschen gegenüber mit guten Argumenten eingefordert werden. Die Maxime der Bequemlichkeit lässt sich mit dem ZP insofern vereinbaren, als dadurch niemandem geschadet wird.
Hume (NP): Zur (allgemeinen) Nutzenoptimierung gehört es auch seine individuellen Begabungen zu entwickeln, sofern sie für den allgemeinen Nutzen relevant sind. Allerdings steht
diese Einschätzung unter dem Vorbehalt, dass die Allgemeinheit die (eigene) Entwicklung
von (nützlichen) Talenten auch hinreichend honoriert, damit sich die eigenen Anstrengungen
zur Förderung des Talents auch lohnen.
Fall 4: Unterlassene Hilfeleistung
Kant (KI): Dieses Beispiel handelt von der Hilfspflicht gegenüber anderen Menschen. Kant
untersucht die Maxime, aus Gleichgültigkeit notbedürftigen Menschen die Hilfe zu verweigern. Obwohl eine solche Maxime als Naturgesetz durchaus vorstellbar erscheint, kann ein
Wille ein solches Prinzip der Natur unmöglich wollen, weil er "sich selbst alle Hoffnung des
Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde."464 In der Natur herrscht eigentlich das Recht
des Stärkeren. Die vernunftbasierte Pflicht zur Hilfe aber widerspricht dem Naturgesetz. Insofern fragt sich, inwieweit Kants Naturgesetz-Formel überhaupt ein tragfähiges Moralkriterium
darstellt? Weiterhin argumentiert Kant auch in diesem Beispiel teleologisch, indem er zur
Begründung der Unsittlichkeit der Maxime auf die Folgen eines solchen Naturgesetzes hinweist. Kant wird auch in diesem Beispiel nicht den selbst gestellten Ansprüchen gerecht.
Kant (ZP): Da jeder Mensch (unverschuldet) in Not geraten kann, aber (in der Regel) ein
Interesse an Selbsterhaltung hat, würde unterlassene Hilfeleistung nicht allgemeine Zustimmung finden
Hume (NP): Aus utilitaristischer Sicht haben Hilfeleistungen wohl besonders dann einen
moralischen Wert, wenn der durch die Hilfeleistung erzielte Nutzen größer ist, als der im Zuge der Hilfeleistung erforderliche Aufwand. Einen alten unheilbar kranken Menschen (gegen
seinen eigenen Willen) etwa künstlich am Leben zu erhalten dürfte kaum irgendwie nützlich
sein, mithin deutlich weniger Lust als Leid verursachen.
Kant gelingt es entgegen seiner ursprünglichen Absicht nicht, belastbare moralische Urteile ganz in rationalistischer Manier ohne jeden Bezug auf Gefühle, sogar ohne nennenswerten
Empiriebezug darzulegen. Auf emotionaler Basis mit verstandes- und vernunftorientierter
utilitaristischer Orientierung sind nach meiner Einschätzung jedenfalls deutlich tragfähigere
Ergebnisse erzielbar, wobei Kants Argumentation überwiegend sehr unkonzeptionell, weniger
463
464
Kant (GMS) S. 423.
Kant (GMS) S. 423.
204
von rationalen Argumenten, als vielmehr von seiner Weltanschauung über die (angeblich)
höhere Bestimmung des Menschen beeinflusst scheint. Obwohl ich Benthams Polemik gegen
die Menschenrechte scharf kritisiere (diese Haltung erklärt sich womöglich auch aus Englands
ausgedehntem Kolonialismus, von dem England zu der Zeit noch stark profitierte), muss man
ihm doch in seiner Forderung der Fundierung und Rückführbarkeit moralischer Urteile auf
positive oder negative Gefühle weitgehend Recht geben: Alle normativen moralischen Urteile, sogar die in Kantischer rationalistischer Tradition stehenden, die sich etwa auf den Begriff
der 'Freiheitsfunktionalität' bei Horn oder 'capabilities' bei Sen beziehen, lassen sich in ihrem
Kern letztendlich auf Urteile über die (allgemeine) Herbeiführung oder Vermeidung positiver
oder negativer Gefühle kondensieren. Auch wenn Horns und Sens Freiheitskonzeptionen
selbst angeben, auf unterschiedliche Freiheitsgrade zu referieren, aus denen sich unterschiedlich gewichtige moralische Werte ableiten lassen, so scheint doch die Abstufung dieser Freiheitsgrade - auch wenn sie bei Horn und Sen mit dem Entfaltungspotential von Menschen
begründet wird - auf solche mehr oder weniger positiven oder negativen Gefühle rückführbar,
die eigentlich jeder Mensch durch Bedürfnisbefriedigung oder Bedürfnisversagung empfindet.
Offensichtlich korrespondiert Horns und Sens auf unterschiedliche Freiheitsgrade referierende
Werteordnung zugleich eine Abstufung positiver oder negativer Gefühle etwa in der Hinsicht,
dass jeder Mensch am meisten am Erhalt seines Lebens Interesse zeigt, dann an der Unversehrtheit seiner Person (seines Körpers), seiner Gesundheit, der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und schließlich der Befriedigung von Luxusinteressen. Der Hornschen und Senschen Werteordnung - ich möchte (ungeprüft) sogar behaupten jeder Werteordnung - liegt
nach meiner Einschätzung (bewusst oder unbewusst) eine hierarchisierte Ordnung von Urteilen über positive oder negative Gefühle zugrunde.
Alle moralischen Vorstellungen, Urteile und Handlungen über 'gut' und 'schlecht', die nicht
im Kern mit allgemein empfundenen positiven oder negativen Gefühlen korrespondieren,
beruhen anscheinend auf religiöser, politischer oder philosophischer Weltanschauung und
sind damit nicht intersubjektiv beweisbar oder tragfähig. Dort, wo sich ein moralisches Wohl
oder Übel nicht auf (intersubjektiv geteilte oder intersubjektiv teilbare) positive oder negative
Gefühle zurückführen lässt wirkt es unplausibel. Markantestes Beispiel bleibt Kants (absolutes) Lügenverbot: Ein Lügenverbot bei Vertragsabschlüssen wie einem (schriftlichen) Darlehensvertrag wirkt plausibel, da durch den Vertrauensmissbrauch der Darlehnsgeber selbst
womöglich in existenzielle Geldnöte gerät, die mit starken negativen Gefühlen einhergeht,
wohingegen ein Lügenverbot aus Höflichkeit unplausibel erscheint, weil in dem Fall positive
Gefühle erzeugt werden, ohne jemandem zu schaden.
In Abwandlung eines bekannten Kantischen Wortes könnte man sagen, die Vorstellung eines moralischen Werts ohne ein begleitendes positives Gefühl sei leer - ein positives oder
negatives Gefühl ohne eine begleitende (moralische) Vorstellung blind. Nicht nur sind (moralische) Handlungen ohne Gefühle unmöglich, sondern bereits relativ einfache (moralische)
Vorstellungen, erst Recht Begriffe, Urteile, Prinzipien. Naheliegend scheint deshalb natürlich
auch moralische Erfahrung ohne Gefühle genetisch und geltungstheoretisch unmöglich. Moralische Erfahrung beruht auf Gefühlen von Freude und Leid in unserem Bedürfnis-, Naturund Handlungshorizont. Falls es einen Standpunkt geben sollte, von dem aus moralische Urteile intersubjektiv begründbar sind, kann er deshalb nur innerhalb des Rahmens der auf Gefühlen basierenden moralischen Erfahrung entwickelt werden. Wenn aber tatsächlich alle moralische Erfahrung auf Gefühlen über Freude und Leid beruhen, inwieweit können wir auf
ihrer Basis zu intersubjektiven moralischen Normen und Normenkriterien gelangen? Hume
hatte selbst schon aufgezeigt, dass unsere Gefühle nur eine begrenzte intersubjektive Reichweite haben. Führt die Einschätzung über die emotionale Fundierung aller moralischen Urteile zwangsläufig zu einem moralischen Subjektivismus, Relativismus, Non-Kognitivismus?
Der vor allem im anglo-amerikanischen Raum relativ stark vertretene Emotivismus scheint
(jedenfalls in seiner strengen Form) aus verschiedenen Gründen nicht haltbar: Wünsche, Inte205
ressen, Präferenzen bilden sich erst aufgrund von Erfahrung mit freudvollen und leidvollen
Gefühlen aus (niemand hat eine angeborene Vorliebe oder Abneigung gegenüber Demokratien oder Monarchien) und damit haben moralische Urteile zwar eine emotionale Grundlage,
aber durchaus auch einen rationalen Überbau. Menschen, die gute Erfahrungen in einer Monarchie gemacht haben, werden wahrscheinlich nicht auf den Gedanken kommen, sich eine
Demokratie zu wünschen, in der sich ihre Lebensumstände womöglich verschlechtern. In diesem Sinne interpretiere ich die Humesche und Benthamsche Position nicht nur als schlichten,
in sich abgeschlossenen Emotivismus, sondern als einen Emotivismus, der durchaus einen
emotivistischen Kern mit einem rationalen Überbau zulässt. Anders verstanden wäre das utilitaristische (von Hume begründete und von Bentham fortentwickelte) Nutzenprinzip ohnehin
weitgehend sinnlos.
Zur Beilegung der anstehenden globalen Probleme (Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, soziale und militärische Konflikte) scheint eine relativistische Position ohnehin ungeeignet, denn diese gewaltigen Probleme lassen sich kaum lokal politisch durchsetzen und globale moralische Normen erfordern zwingend eine (intersubjektive) kriterienorientierte Rechtfertigung. Auch der größte (theoretische) Relativist wird (praktisch) eine extrem ungleiche
Eigentumsverteilung, Überbevölkerung und Umweltzerstörung nicht akzeptieren wollen, weil
sie seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Selbst wenn bis zum heutigen Zeitpunkt keine
global geteilten Werte und Normen existieren sollten - was aus Sicht rational begründeten
Eigeninteresses durchaus angezweifelt werden kann - so stehen wir doch spätestens mit der
das Überleben der Menschheit insgesamt bedrohenden Problemlage vor der Herausforderung,
eben solche gemeinsam geteilten Werte und Normen zu schaffen.
Aus konstruktivistischer Sicht muss daher eine solche emotivistische Position abgelehnt
werden, nach der moralische Urteile keinerlei erfahrungsbasierten und vernunftorientierten
kognitiven Gehalt haben (womöglich sogar haben können), sondern ausschließlich dazu dienen, unsere Gefühle (Emotionen) auszudrücken. Auch wenn Gefühle eine (wichtige) Grundlage unserer moralischen Urteile sind, so sind sie deshalb nicht auch gleich unbedingt und
unmittelbar Kriterien moralischer Urteile, sondern durchlaufen erst Rationalitätsfilter. Die
Steinigung einer Ehebrecherin etwa mag in manchen Kulturkreisen tatsächlich positive Gefühle hervorrufen und in anderen Kulturkreisen Abscheu, weshalb Gefühle allein keine sicheren moralische Kriterien abgeben. Nur bei allen Menschen kulturunabhängig gleiche Gefühle
dürfen moralisch relevant sein. Gefühle können auch nur im Zusammenhang mit (intersubjektiv geteilten) Bedürfnissen (an erster Stelle Selbsterhaltung) und darauf aufbauenden Wünschen und Interessen (nach Bedürfnisbefriedigung) moralische Bedeutung erlangen. Gefühle
sind lediglich ein Indikator von Bedürfnissen, ähnlich wie Empfindungen ein Indikator von
Gegenständen sind.
Die positive oder negative emotionale Einstellung gegenüber dem Schächten von Tieren
oder der Tötung, Unterdrückung Andersgläubiger resultiert zu weiten Teilen (auch) aus kulturellen Zusammenhängen, aber sicher nicht aus (notwendigen) Bedürfnissen. Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Ruhe, Obdach) haben Befürworter und Gegner von Schächtung oder
der Verfolgung andersgläubiger. Um diese Grundbedürfnisse (individuell) abdecken zu können, muss jeder Mensch mit bestimmten Freiheitsrechten und politischen Rechten ausgestattet
sein. Die überlegene Akzeptanz naturwissenschaftlicher Konstruktionen gegenüber moralwissenschaftlichen Konstruktionen scheint mir weniger auf der unterschiedlichen Qualität der
wissenschaftlichen Argumentation, als vielmehr auf dem Konsens der diese Konstrukte tragenden Annahmen zu beruhen (Länge, Gewicht, Geschwindigkeit versus Nutzen, Gerechtigkeit, Freiheit), was wiederum darauf zurückzuführen sein mag, dass ersteren weitaus weniger
weltanschauliche Kontroversen und damit zusammenhängende (machtpolitische) Interessen
zugrunde liegen.
206
Dass weder durch Gefühle, noch durch Vernunft allein, sondern nur durch die Verbindung
von Gefühlen und Rationalität belastbare moralische Begriffe und erst recht tragfähige moralische Normen und Prinzipien entstehen, die auch hinreichend begründet werden können wird
deutlich, wenn wir einen zentralen moralischen Begriff wie etwa 'Demokratie' anhand seiner
kognitiven Genese (transzendental) analysieren:465 Der Demokratiebegriff beinhaltet unter
anderem die Vorstellung von der Gleichwertigkeit aller Bürger (eines Staates) insofern, als sie
gleiche politische Teilhaberechte haben, dass ihre Rechte der politischen Mitbestimmung
nicht von Religion, Herkunft, Abstammung abhängig sein sollen und dass alle Bürger nicht
nur das gleiche Recht haben zu wählen, sondern auch in ein politisches Amt gewählt zu werden. Der Demokratiebegriff inhäriert nach modernem Staatsverständnis darüber hinaus Gewaltenteilung, Grundrechte und Rechtstaatlichkeit. Wie sind nun ein Begriff von Demokratie
und ein (subjektives oder intersubjektives) Urteil über Demokratie möglich? Die verschiedenen einzelnen Vorstellungen von Demokratie müssen ganz oder zumindest überwiegend mit
einem durch Erfahrung erworbenen positiven Gefühl belegt sein, damit man zu einem positiven Gesamturteil über Demokratie gelangen kann. Dass alle Bürger hinsichtlich ihrer Rechte
und Pflichten in einem Staate gleich sein sollen, dass es Bürger und nur Einwohner geben
soll, dass es Grundrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit geben soll, muss doch jeweils mit einem positiven (oder negativen) Gefühl verbunden sein. Dies setzt erst einmal voraus, dass ich für mich will, dass ich politische Teilhaberechte (zumindest nicht in geringerem
Umfang als andere Bürger) habe, dass meine Handlungsoptionen durch Grundrechte abgesichert werden, dass ich dort, wo ich glaube in meinen Rechten verletzt zu sein, ein unabhängiges Gericht anrufen kann.
Daran schließt sich zwangsläufig die Überlegung an, ob ich diese Vorteile für mich auch
erzielen kann, wenn ich anderen diese Vorteile verweigere? Eine Despotie, in der ich als Despot alle Rechte habe und niemand anderem Rechte einräumen muss, scheint auf den ersten
Blick für mich sehr verlockend. Allerdings dürfte das Erreichen einer solchen Position mit
sehr viel Mühe und Gefahr verbunden sein und selbst wenn mir dies gelingen sollte, wäre ich
als Despot permanent dem Risiko ausgesetzt, dass andere Menschen meinen Platz einnehmen
und ebenfalls Despot werden möchten. Mithin befände sich mein Leben, mein Besitz, sogar
meine ganze Familie eigentlich ständig in Gefahr. Durch Befürwortung autoritärer Gesellschaftsformen wäre ich zudem dem viel größeren Risiko ausgesetzt, nicht selbst Despot, sondern Untergebener eines Despoten und mithin der schnöden rohen Gewalt anderer Menschen
und Bürger schutzlos ausgeliefert zu sein, wohingegen ich von der auf Freiwilligkeit beruhenden Kooperation in einer Demokratie wahrscheinlich profitieren könnte.
Erst wenn ich die einzelnen Aspekte des Demokratiebegriffes für mich (ganz oder doch
überwiegend) emotional positiv bewerte, kann ich auch zu einer positiven oder negativen Bewertung darüber gelangen, ob diese einzelnen Aspekte des Demokratiebegriffs für alle Menschen vorteilhaft sind und aus der allgemeinen Akzeptanz der Demokratievorstellung als
praktikable und praktizierte Gesellschaftsform womöglich für mich nützliche Rückkopplungseffekte entstehen. Diese Projektionen können niemals ohne Verstand und Vernunft geleistet werden, weil sie für unser emotionales kognitives Leistungsvermögen viel zu abstrakt,
komplex sind, weil sie allein auf emotionaler Basis bei weitem nicht hinreichend exakt überhaupt erfassbar, geschweige denn sicher beurteilbar sind. Bei einer Bewertung von Teilen des
Demokratiebegriffs spielen nicht nur eigene Erfahrungen in einem demokratischen oder autoritären Staat eine Rolle, sondern auch Berichte, Erfahrungen anderer Menschen in anderen
Stäten mit anderen Staatsformen. Das Ergebnis meiner emotionalen, verstandesbasierten und
vernunftbasierten Prüfung des Demokratiebegriffs lässt sich natürlich wiederum auf ein einfaches (positives oder negatives) emotionales Urteil kondensieren, das meine emotionalen und
465
Natürlich könnte man diese transzendentale Untersuchung mit gleichem Ergebnis wie beim Demokratiebegriff auch bei anderen zentralen, komplexen moralischen Begriffen wie etwa dem Begriff der
Menschenrechte oder Menschenwürde durchführen.
207
rationalen kognitiven Anstrengungen (effizient) zusammenfasst. Für dessen hinreichende
(intersubjektive) Begründung werde ich aber jederzeit gezwungen sein, auch auf die entsprechenden rationalen Einstellungen über die (positiven oder negativen) Auswirkungen einer
demokratischen Gesellschaftsordnung auf die Gefühle aller Menschen zurückzugreifen.
Mithin kann selbst eine schlichte emotionale Bewertung eines gehaltvollen Demokratiebegriffs gar nicht geleistet und noch weniger begründet werden, wenn der Begriff nicht erst
durch Rationalität analysiert, zergliedert, in seine einzelnen Elemente zerlegt, im Lichte meiner eigenen Interessen und der aller anderen Menschen betrachtet wird und dann die Ergebnisse dieser Betrachtungen mit Hilfe von Verstand und Vernunft wiederum zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Die Vor- und Nachteile von Demokratie für mich und für alle
Menschen sind mithin nur durch Inanspruchnahme von Verstand und Vernunft überhaupt
angemessen vorstellbar, erfassbar und auch beurteilbar. Ohne diese rationale Zergliederung,
Zusammenführung und Beurteilung der verschiedenen Einzelvorstellungen des Demokratiebegriffs wäre ein emotionales Urteil über Demokratie einfach nur blind. Die emotivistische
Einschätzung zur Entstehung und Begründung moralischer Normen greift deshalb in meinen
Augen schlicht zu kurz und unterschlägt deren rationale Komponenten, obwohl sie natürlich
darin Recht hat, dass unsere moralischen Vorstellungen selbst komplexester Natur im Grunde
genommen auf einfachen Gefühlen basieren.
Umgekehrt zeigt dieses Beispiel des Demokratiebegriffes gegen die rationalistische Position Kants gerichtet aber auch, dass unsere Moralvorstellungen nicht allein auf Verstand und
Vernunft beruhen können. Denn wenn man nicht mit den einzelnen Aspekten von Demokratie
(ganz oder überwiegend) ein positives Gefühl verbinden könnte, würde es auch nicht mit dem
Gesamtbegriff gelingen, weil man gar nicht entscheiden könnte, ob man lieber in einer Demokratie oder Anarchie oder Diktatur leben wollte. Ich muss doch selbst frei, selbstbestimmt und
weitgehend unabhängig leben wollen, um ein politisches System von Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit befürworten zu können. Und ich kann auch nur dann ein demokratisches politisches System für alle Menschen befürworten, wenn ich die daraus für mich resultierenden Konsequenzen akzeptiere. Weder einseitige emotivistische, noch einseitige rationalistische Vorstellungen sind daher zielführend, wenn es um die Erklärung der Genese und die
Begründung zentraler komplexer moralischer Vorstellungen geht. Daher scheint auch genetisch und geltungstheoretisch schwer darstellbar, inwieweit es im Kantischen Sinne tragfähige, substanzielle apriorische moralische Vernunftbegriffe geben können soll. Plausibler wirkt
der Gedanke von zunächst subjektiven moralischen Vorstellungen, die auf Emotionen beruhen und durch Verstand und Vernunft a posteriori geprüft und verallgemeinert werden. Alle
vernünftigen Begriffe von 'gut' und 'schlecht' würden in diesem Sinne auf positiven oder negativen Gefühlen aufsetzen, ohne sich allerdings darin bereits zu erschöpfen.
2.3.3 Handlungshorizont
Mit der empiristischen Humeschen und der rationalistischen Kantischen sind hier bislang
die beiden wesentlichen nicht-relativistischen Moraltheorien untersucht worden, die nach
meiner Auffassung am ehesten in Betracht kommen, die anstehenden globalen Probleme (aus
moralphilosophischer Sicht) zu überwinden helfen. Die empiristische Denkrichtung geht von
elementaren Grundbedürfnissen und Interessen (Selbsterhaltung) aus, die jedem Menschen
rationalerweise unterstellt werden dürfen. Sie versucht auf dieser Basis einen Kernbereich von
Moral durch ihren Nutzen für alle Menschen zu begründen. Ich halte diesen Ansatz, der letztlich mit der Idee eines Gesellschaftsvertrages begründet werden kann und auf Kooperation
und Konsens basiert, für erfolgversprechend.466 Die rationalistische Theorie des Kantischen
466
Hoerster, Norbert. Überwindung des Relativismus durch Metaphysik? In: Aufklärung & Kritik
1/1995. S. 24-29. http://www.gkpn.de/hoerster_metaphysik.htm
208
Typus der Moralbegründung geht hingegen davon aus, dass es absolut geltende, unabhängig
von individuellen Wertungen oder Interessen bestehende Verhaltensmaßstäbe gibt, die vom
Menschen ohne Empiriebezug erfassbar sind (die aber eigentlich wie bei Kant doch nur auf
Weltanschauung beruhen). Meines Erachtens scheitert jeder Versuch einer weltanschaulich
fundierten (metaphysischen) Moralbegründung, weil ihr die intersubjektive Basis fehlt, von
der aus allein sie allgemeine Anerkennung erfahren könnte.
Die empiristische Denkrichtung steht allerdings vor dem Problem, dass sie ständig auf der
Basis unvollständiger Informationen und Prognosen über die Wirklichkeit Entscheidungen
treffen muss und sich nie sicher sein kann, ob die gesetzten Ziele tatsächlich erreicht werden.
Beide Denkrichtungen lassen sich mit der Vorstellung vereinbaren, dass alle Einsichten des
Menschen Modelle, Konstruktionen sind. Modelle (etwa Landkarten) wählen aus der wahrgenommen Wirklichkeit Aspekte aus (etwa bei einer Straßenkarte das Netzwerk der Straßen und
Autobahnen) und bilden sie derart ab, dass man im Modell Handlungen probeweise vornehmen kann, ohne in Gefahr zu geraten. Wissenschaft verpflichtet darauf, sich um Modelle zu
bemühen, die eine möglichst geringe Irrtumswahrscheinlichkeit haben. Nach bestem Wissen
und größtmöglicher Anstrengung sollen sie nach dem jeweils aktuell anspruchsvollsten Stand
des Wissens größtmögliche Gewissheit bieten. Wissenschaftlich begründetes Handeln wird
auch unter den Annahmen des Konstruktivismus kein zum Dogma erhobener Relativismus,
sondern bedient sich der am besten bewährten und am weitesten entwickelten Modelle, die
ein höchstmögliches Maß an Sicherheit und Gewissheit bieten. Allerdings kann ein Rest an
möglichem Irrtum oft nicht vermieden werden. Der Konstruktivismus verbindet wichtige Vorteile des Empirismus und Rationalismus besonders in der Hinsicht, als er einerseits die (apriorischen) Konstruktionsbedingungen des Modells einräumt, andererseits aber auch Erfahrung
als Gradmesser für dessen Qualität bestätigt.
Der mit dem Konstruktivismus einhergehende fundamentale philosophische Streit zwischen Kognitivisten und Non-Kognitivisten dreht sich wesentlich um die Frage, ob Moraltheorie lediglich einem Rationalitätsanspruch oder darüber hinaus auch noch einem Wahrheitsanspruch genügen muss?467 Einer möglichst breiten intersubjektiven Akzeptanz wegen sollte
man nach meiner Ansicht mit einem weniger anspruchsvollen Rationalitätsanspruch beginnen
und dann schauen, wie weit man mit Wahrheitsüberlegungen kommt, die sich womöglich als
wünschenswert, aber nicht lückenlos erfüllbar, vielleicht als nicht einmal (zwingend) erforderlich erweisen. Die Vorstellung, in der Moral (und eigentlich auch in der Naturerkenntnis)
statt von einem Wahrheitsanspruch auszugehen (der wegen der hier vertretenen konstruktivistischen Auffassung unseres Denkens ohnehin in den Hintergrund tritt) von einem Rationalitätsanspruch zu reden, finde ich sehr attraktiv. Auf diesem Wege würde erst einmal die traditionelle grundlegende Differenz zwischen Natur- und Moralerkenntnis überwunden. In diesem Sinne könnten wir einerseits von einem auf Erfahrung beruhenden verstandesbasierten
(subjektiven) Rationalitätsanspruch und andererseits von einem vernunftbasierten (intersubjektiven) Rationalitätsanspruch sprechen.
Im Interesse einer möglichst breiten intersubjektiven Akzeptanz sollten moralische Geltungsansprüche erst einmal so niedrig wie möglich angesetzt werden und es sollte eher von
intersubjektiv geteilten (biologische, psychologischen, sozialen) Grundbedürfnissen gesprochen werden, als von intersubjektiv höchst umstrittenen Überlegungen zur (tatsächlichen oder
vermeintlichen) Bestimmung des Menschen in dieser Welt, mit denen Moraltheorie zwangsläufig in Konkurrenz zu religiösen oder politischen Vorstellungen gerät. Verkehrsregeln etwa
haben einen viel stärkeren (normativen) Rationalitätsanspruch, als einen (normativen) Wahrheitsanspruch. Verkehrsregeln helfen allen Verkehrsteilnehmern, möglichst sicher und schnell
durch den Verkehr an ihre jeweiligen Ziele zu gelangen. Diesem Zweck entsprechend werden
467
Vgl. Leist, Anton. Wirksamkeit statt Wahrheit: Warum ethische Theorien überflüssig sind.
209
etwa Verkehrsschilder aufgestellt, Verkehrsteilnehmern mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsniveaus unterschiedliche Fahrspuren zugewiesen (Straße, Radweg, Bürgersteig). Ampeln,
Zebrastreifen, Gebote der Rücksichtnahme, Vorfahrtsregeln sollen schwächere Verkehrsteilnehmer vor stärkeren schützen.
Ähnlich wie Verkehrsregeln sollten auch moralische Normen von ganz einfachen geltungstheoretischen Voraussetzungen, aber einem möglichst hohen subjektiven (verstandesbasierten) und intersubjektiven (vernunftorientierten) Akzeptanzniveau ausgehend erst einmal dem
relativ einfachen Ziel dienen, allen Menschen besser durch ihr Leben zu helfen. Die erste entscheidende grundlegende Forderung an moralische Normen liegt in ihrer Rationalitätsanmutung, ihrer Begründbarkeit im Interesse aller Menschen. In diesem Sinne sind moralische
Normen ebenso wie Verkehrsregeln ein Konstrukt zu (kollektiven) Bewältigung eines Problems (Straßenverkehr oder allgemeine Lebensbewältigung). Ausschlaggebend für die Qualität
einer moralischen Norm ist im konstruktivistischen Sinne nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern
ihre Viabilität. Normen, die sich bewähren, können beibehalten, Normen die sich nicht bewähren modifiziert oder abgeschafft werden. Wer annimmt, dass sich nur solche Urteile (moralisch) rechtfertigen lassen und mit einem allgemeinen Geltungsanspruch auftreten dürfen,
die wahr (oder falsch) sein können, macht es sich viel zu einfach.468 Wie das Beispiel der
Verkehrsregeln zeigt, scheint ein Rationalitätsvorbehalt zunächst einmal vollkommen ausreichend, um normative Forderungen mit allgemeinem Anspruch von bloß subjektiven normativen Wünschen, Überzeugungen, Hoffnungen (religiösen Vorstellungen) abzugrenzen. Dass
bestimmte Normen von sehr vielen oder sogar von allen Menschen beachtet werden, garantiert jedoch noch nicht ihre moralische Qualität (wenn alle Menschen Andersgläubige ausgrenzen ist das mitnichten moralisch). Daher müssen noch weitere spezifisch moralische Kriterien zum Merkmal der allgemeinen Akzeptanz hinzukommen.
Sofern Humes Einschätzung über die Gefühlsbasiertheit unseres Denkens und Handelns
zutrifft (was ich annehme), reicht aber selbst die elaborierteste Rationalitätsanmutung alleine
(noch) nicht aus, uns zu einem bestimmten Handeln zu bewegen. Für Hume steht hier das
Sympathieprinzip in Gestalt des Mitgefühls im Mittelpunkt. Ich habe schon mehrfach darauf
hingewiesen, dass nach meiner Einschätzung allein Mitgefühl keine hinreichende Erklärung
für die Beachtung moralischer Normen bietet, weil doch die Erfahrung zeigt (wie auch Hume
einräumt) dass Egoismus in der Regel viel stärker motiviert und Normen nur dann beachtet
werden, wenn entweder Ihre Beachtung eigene Vorteile bietet oder ihre Übertretung sanktioniert wird (also die Beachtung ebenfalls Vorteile bietet durch Vermeidung von Sanktionen).
Vermutlich bildet Egoismus (Selbsterhaltung, Bedürfnisbefriedigung) den stärksten Antrieb
im Menschen und das Mitgefühl als evolutionsbiologisch höher entwickelte soziale Kompetenz ermöglicht es uns, zu kooperieren und zwar eben im Interesse unserer Selbsterhaltung,
Bedürfnisbefriedigung. In diesem Sinne wäre das Mitgefühl Instrument unseres (egoistischen)
Selbsterhaltungstriebs, unserem ständigem Bestreben nach optimaler Bedürfnisbefriedigung.
So haben alle Lebewesen einen Selbsterhaltungstrieb, aber nur höher entwickelte Lebewesen
(die ontogenetisch erlernt kooperieren), verfügen auch über Mitgefühl, das die Grundlage
(ontogenetisch erlernter) Zusammenarbeit bildet. Wenn demnach Gefühle (Egoismus in Gestalt von Lustsuche und Schmerzvermeidung sowie Mitgefühl) Grundlage unseres Denkens
und Handelns sind, dann scheint es ratsam, vor der Rationalitätsforderung moralischer Normen auch noch deren emotionale Voraussetzungen, deren emotionale Plausibilität zu diskutieren. Im Zusammenhang mit den übrigen kognitiven Stufen unseres moralischen Einsichtsvermögens möchte ich ein vierstufiges Prüfungsverfahren zur Beurteilung der Gesamtqualität
moralischer Normen vorschlagen:
468
Vgl. Scarano (2002) S. 25-35 und v. Kutschera, Franz. Grundlagen der Ethik. de Gruyter, Berlin
1982 (2. Aufl. 1998) S. 48f.
210
1. (emotionaler) Plausibilitätsvorbehalt (Gefühlsbasiertheit von Normen - Hume)
2. (subjektiver) Rationalitätsanspruch (Verstandesbasiertheit von Normen)
3. (intersubjektiver) Rationalitätsanspruch (Vernunftbasiertheit von Normen)
4. (objektiver) Wahrheitsanspruch (Wahrheitsgehalt von Normen - Kant)
Damit eine moralische Norm für eine Globalmoral hinreichend motivierend und begründet
gelten darf, sollte sie zumindest in den ersten drei Prüfungsverfahren von der emotionalen
Plausibilität über die subjektive Rationalität bis hin zur intersubjektiven Rationalität überzeugend abschneiden. In meinen Augen wirkt es wenig hilfreich und zielführend, über einen
Wahrheitsanspruch vor einem Plausibilitätsvorbehalt zu diskutieren, denn aus naheliegenden,
ganz pragmatischen Gründen hat im globalmoralischen Zusammenhang nicht der (in irgendeiner Weise geartete) Wahrheitsanspruch, sondern die Überzeugungskraft moralischer Normen (für alle Menschen) Priorität, damit sie möglichst große Wirksamkeit entfalten. Millionen Menschen sind auf dieser Erde (viel) zu dick, obwohl sie genau wissen, dass es (im klassischen Sinne verstanden) wahr ist, dass (starkes) Übergewicht der Gesundheit schadet. Die
Einsicht von (wieder im klassischen Sinne verstandener) Wahrheit alleine ruft also nicht unbedingt bereits ein entsprechendes Motiv und schon gar kein entsprechendes Verhalten hervor.469 Insofern scheint die Prüfung der emotionalen Plausibilität vor dem Wahrheitsgehalt
von Normen auch aus allgemeiner systematischer moraltheoretischer Sicht geboten.
469
Diesen für manchen Moralphilosophen erstaunlichen Vorgang erklärt v. Lutterotti in seinem Artikel über einen entsprechenden psychologischen Forschungsbericht: "Um dem weltweiten Trend zu
Übergewicht Einhalt zu gebieten, reicht es offenbar nicht, nur an die Vernunft zu appellieren. Mindestens ebenso wichtig sei es, die hiervon unabhängigen Handlungstriebkräfte ins Visier zu nehmen,
schreiben Forscher um die Psychologin Theresa Marteau von der Cambridge University in Großbritannien (“Science“, Bd. 337, S. 1492). Die unwillkürlichen Motivationszentren im Gehirn bestimmten
unser Tun nämlich sehr viel mehr als gemeinhin angenommen. Bislang stünden diese aber mehrheitlich unter dem - meist wenig gesundheitsfördernden - Einfluss der an hohen Verkaufszahlen interessierten Marktstrategen. Viele Dickmacher landeten nämlich nur im Einkaufskorb, weil sie attraktiv
verpackt sind, in der Werbung als begehrenswert dargestellt werden und sich in Reichweite befinden.
Starke Impulse und Begierden sind freilich nicht der einzige Grund, warum Diätvorhaben oft kläglich
scheitern. Eine wichtige Rolle spielen daneben durch Wiederholungen eingeprägte Automatismen.
Wie die Ergebnisse einschlägiger Erhebungen zeigen, führen wir rund die Hälfte unserer täglichen
Aktivitäten mechanisch aus. Beispiele sind das morgendliche Kaffeekochen, das Absperren der Haustür beim Verlassen der Wohnung und die Fahrt zum Büro. Der Vorteil solcher gleichsam von allein
ablaufenden Tätigkeiten ist, dass sie wenig Konzentration erfordern und man die Aufmerksamkeit
daher anderen Dingen zuwenden kann. Der Nachteil: Schädliche Automatismen halten sich genauso
hartnäckig wie nützliche. Hat man sich beispielsweise angewöhnt, nach der Arbeit immer ein bestimmtes Fast-Food-Restaurant aufzusuchen oder beim Fernsehen reflexartig nach Chipstüte und Bier
zu greifen, hat der gute Wille naturgemäß einen schweren Stand".
Veränderungen des Umfelds halten Marteau und ihre Kollegen insofern für effektiver, als man hiermit
unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund weite Teile der Bevölkerung zu erreichen vermag.
Ein weiterer Vorzug: Etlichen Beobachtungen zufolge zeigen schon kleine Änderungen mitunter große
Wirkung. So gibt es Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche in der Schulpause mehr Obst einkaufen, wenn sich dieses griffbereit neben der Ladenkasse befindet. Bei einem attraktiven Angebot an
Obst und Gemüse verzichten sie zudem häufiger auf Eis und andere Schleckereien. Erwachsene scheinen nicht minder empfänglich für solche Verhaltensstupser zu sein. Laut einer Verbraucherstudie der
New Mexico State University reicht es offenbar, einen bestimmten Bereich des Einkaufswagens als
„Ablage für Obst und Gemüse“ zu kennzeichnen, um den Verkauf solcher Lebensmittel merklich anzukurbeln. Im Restaurant lässt sich das Essverhalten der Gäste zudem günstig beeinflussen, wenn man
die gesunden Speisen einige Zentimeter vor den anderen Gerichten am Buffet präsentiert oder im Menü eigens auf kalorienarme und gesunde Speisen hinweist.
211
In welchem Verhältnis stehen der hier erhobene Plausibilitätsvorbehalt und die Rationalitätsansprüche? Eine moralische Vorschrift, die dem Plausibilitätsvorbehalt entspricht, aber
nicht intersubjektiven Rationalitätsanforderungen (etwa: mache jederzeit, was Dir gefällt) ist
unbrauchbar. Ebensowenig taugt im globalmoralischen Zusammenhang aber auch eine Norm,
die intersubjektiven Rationalitätsanforderungen genügt (etwa: erfülle jederzeit Deine Pflicht),
aber wegen der fehlenden emotionalen Akzeptanz nicht motiviert. Wir benötigen für die globale Verbreitung moralischer Normen solche Vorschriften, die möglichst alle Bedingungen
erfüllen, den emotionalen Plausibilitätsvorbehalt und die subjektiven wie intersubjektiven
Rationalitätsanforderungen. Im Hinblick auf den Erfolg einer Globalmoral sollten sowohl die
Emotionen, als auch der Verstand und die Vernunft aller Menschen angesprochen werden.
Als problematisch im Zusammenhang mit einer möglichen Forderung nach einem Wahrheitsanspruch in der Moral erweist sich allerdings, dass wir keine (absolut) zuverlässigen Kriterien für Wahrheit haben (weder in der Natur- noch in der Moralwissenschaft). Ein Wahrheitsanspruch scheint für Naturwissenschaft auch nicht (zwingend) erforderlich, er verlangt
einen hohen argumentativen Aufwand mit oft fragwürdigem Ergebnis. Es scheint mir ausreichend, wenn intersubjektive Moralvorschriften unseren (sicher begründbaren) Rationalitätsanforderungen genügen, sie weder auf religiöse, politische oder andere weltanschauliche Überzeugungen angewiesen, weltanschaulich also neutral sind. Rationalitätsansprüche bilden die
(zureichenden) Mindestanforderungen, die an moralische Normen zu stellen sind. Aus den
genannten Gründen scheint es sinnvoller, sich intensiver mit Rationalitätsanmutungen, statt
mit Wahrheitsansprüchen auseinanderzusetzen. Auch in moralwissenschaftlicher Hinsicht
dürften die Chancen auf einen Konsens, die breite Unterstützung für moralische Vorschriften
dadurch steigen, denn es gibt (zunehmend) Autoren, die den Rationalitätsanspruch moralischer Normen befürworten, aber einen Wahrheitsanspruch ablehnen.
Die transzendentale Deduktion von Moralvorstellungen hat bis hierhin gezeigt, dass sich
tragfähige moralische Gebote und Verbote nur auf intersubjektiv nachweisbare Gefühle (Bedürfnisse, Interessen) als Tatsachen beziehen können, weil sie erst dem Menschen einen
Standpunkt verleihen, von dem ausgehend intersubjektiv geteilte moralische Urteile und die
Vermeidung des verhängnisvollen Sogs von Weltanschauungen möglich sind. Wenn aber
unser (Denken und) Handeln auf Gefühlen beruht, inwieweit kann oder muss sogar diesem
Umstand auf der Plausibilitätsebene, Rationalitätsebene, Intersubjektivitätsebene (und auf der
Wahrheitsebene) Rechnung getragen werden? Gefühle sollten in jedem Fall auf allen drei
Abstraktionsebenen berücksichtigt werden und zwar mit abnehmendem emotionalen Anteilen
und zunehmenden Rationalitätsgraden. Von dieser Anforderung dürften besonders im Kantischen Sinne vernünftige moralische Normen oder Ziele ohne emotionale Basis betroffen sein.
1. (emotionaler) Plausibilitätsvorbehalt. Nach meiner Einschätzung bleibt es unverzichtbar
für den Erfolg einer Globalmoral, dass sie sich möglichst problemlos von unseren moralischen Intuitionen im Alltag ausgehend erreichen, mithin verstehen und befolgen lässt. Insofern stellt der Plausibilitätsvorbehalt einen wichtigen Grundbaustein für die hier gesuchte
Globalmoral dar. Zum Plausibilitätsvorbehalt zähle ich die Bereitschaft, die Motivation, Normen zu folgen, die relativ einfache Verständlichkeit ihrer Forderungen und die allgemeine
Überzeugung von ihrer für alle Menschen hilfreichen Wirkung. Anhand dieser Vorgaben
möchte ich nun Verkehrsregeln, die Reziprozitätsregel ('wie du mir, so ich dir' - abgekürzt:
RR), die Goldene Regel ('was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu'
Denn viele der Einflüsse, die einen gesunden Lebensstil fördern, lassen sich ohne strengere Vorschriften nicht nachhaltig genug kontrollieren. Das gelte unter anderem für die Nahrungsmittelwerbung in
Kindersendungen, schreibt Marteau. Unabhängig von der Art des beworbenen Produkts verleiten solche Spots die kleinen Zuschauer nämlich dazu, sehr viel mehr zu essen".
v. Lutterotti, Nicola. „Nudging“ Motivationshilfen fürs gesunde Essen faz.net/11.10.2012. http://www.
faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/nudging-motivationshilfen-fuers-gesunde-essen-11919680.html
212
abgekürzt: GR), Kants KI und ZP sowie Humes Nutzenprinzip untersuchen. Auf der Plausibilitätsebene werden keine staatlichen Zwangsmaßnahmen, wohl aber mögliche soziale Sanktionen der jeweiligen moralischen Norm durch das gesellschaftliche Umfeld des (empirischen)
Handlungsakteurs vorausgesetzt. Es geht einfach nur darum herauszufinden, inwieweit eine
moralische Norm durch ihre (erhoffte oder nachgewiesene) Wirkung (aus sich selbst heraus)
genügend Motivation zu ihrer Beachtung entwickelt. Im Mittelpunkt des Interesses eines empirischen Subjekts steht in aller Regel sein eigener (kurzfristiger) Nutzen, seine eigene (kurzfristige) Bedürfnisbefriedigung - auch und gerade aus emotionaler Sicht, denn wir können uns
doch nur dann unserer mittel- und langfristigen Bedürfnisbefriedigung (ausreichend) widmen,
wenn unsere aktuelle (lebenserhaltende) Bedürfnisbefriedigung bereits gesichert scheint.
Weil wir bereits evolutionsbiologisch darauf angelegt sind, emotional fundierte Entscheidungen zu fällen, weil Emotionen unmittelbaren Einfluss auf unsere Handlungsentscheidungen nehmen können, benutzt die Werbung oft Verkaufsstrategien, die uns weniger rational,
als vielmehr emotional ansprechen und uns einen Nutzen signalisieren (etwa durch Sonderangebote, durch grelle rote oder gelbe Preisschilder). Natürlich wirkt es auf den ersten Blick
unstatthaft, die wissenschaftliche Qualität moralischer Normen an Einsichten zu messen, die
(auch) in der Werbebranche angewandt werden, aber ich halte es für angemessen, andere
Wissensgebiete besonders in Motivationsfragen einzubeziehen, denn der emotionale Anreiz,
einer moralischen Norm zu folgen, bildet zwar nur einen Aspekt wissenschaftlicher Normenbegründung, aber im Zusammenhang mit der hier entwickelten Globalmoral sicher einen ganz
wesentlichen. Einen ersten ganz wichtigen Anreiz für die weltweite Akzeptanz moralischer
Normen könnten sicher größere Erfolgsaussichten bei der eigenen Bedürfnisbefriedigung als
durch deren Missachtung bilden.
Verkehrsregeln werden in der Regel von allen Verkehrsteilnehmern beachtet, weil alle davon profitieren, obwohl sie zumindest in Teilen nicht durchgehend (rational) begründbar erscheinen. So gibt es in England den Rechtsverkehr, in Kontinentaleuropa den Linksverkehr.
Verkehrsregeln entfalten ihre segensreiche Wirkung vorwiegend dadurch, dass sich eben
(fast) alle Verkehrsteilnehmer daran halten. Insofern scheint auch aus diesem Blickwinkel
Kants Auffassung unzutreffend, (moralische) Normen müssten (apriorisch) wahr sein, um
(allgemeingültig und kategorisch) verbindlich sein zu können. Verkehrsregeln und Verkehrslenkung lassen sich durch Empirie verbessern, sie genügen keinem, benötigen aber auch keinen Wahrheitsanspruch, sondern lediglich einem Rationalitätsanspruch, der ihre Beachtung
absichert. So geht man in den letzten Jahren etwa dazu über, unfallträchtige Kreuzungen
durch Kreisverkehre zu ersetzen. Die weltweit feststellbare relativ große emotionale Nähe von
Verkehrsregeln zu unserem allgemeinen normativen Alltagsverständnis ergibt sich wohl daraus, dass sie uns ohne weltanschauliche Vorbelastung (weltanschaulich weitgehend neutral)
einen ganz wichtigen Vorteil bei unserer alltäglichen Bedürfnisbefriedigung bieten.
Die Goldene Regel zeigt erste Anhaltspunkte für die (notwendigen) Strukturen moralischer
Symmetrie zwischen Handlungsakteuren auf. Sie erfreut sich ähnlich Verkehrsregeln weltweit
relativ starker Verbreitung und viele Menschen sind bereits von ihren Eltern oder in der Schule mit dieser Regel vertraut gemacht worden, oft auch in Zusammenhang mit der doch mitunter recht groben Behandlung von Haustieren durch Kinder und dem Hinweis, dass Tiere ebenso wie Menschen Schmerzen empfinden und darunter leiden. Die Goldene Regel entspricht
auch unseren moralischen Erfahrungen im Alltag insofern, als wir nämlich von anderen Menschen freundlich behandelt werden, wenn wir selbst freundlich mit ihnen umgehen. Die
Schwäche der Goldenen Regel besteht allerdings darin, dass sie kein bestimmtes Handeln
vorschreibt oder untersagt, sondern ihre Ausübung relativ stark auf subjektiven Einstellungen
des jeweiligen Handlungsakteurs beruht. Ein schneller, sportlicher Fahrer etwa wird von anderen Verkehrsteilnehmer auch eine schnelle, riskante Fahrweise tolerieren und diese damit
womöglich überfordern, obwohl er sich innerhalb des von der Goldenen Regel vorgegebenen
normativen Rahmens bewegt.
213
Ein wichtiger Vorteil der Goldenen Regel liegt aber in jedem Fall in ihrem unmittelbar herstellbaren, einfachen und engen emotionalen Bezug zwischen eigenem und fremden Handeln.
Von den Motivationsanforderungen her stellt die GR deshalb eher geringe Ansprüche. Offenbar reicht es aus, im Eigeninteresse bestimmte Handlungen zu unterlassen, die man von anderen einem selbst gegenüber vorgenommen vermeiden möchte. Ungeklärt bleibt freilich, was
man gemäß der GR tun darf, wenn man unter Handlungen zu leiden hat, die man selbst ablehnt und deshalb normalerweise nicht gegenüber anderen ausführen würde. Anders als die
Regel 'wie Du mir so ich Dir' gestattet es die GR jedenfalls dem Wortlaut nach offenbar nicht,
Gemeinheiten anderer Menschen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Die GR erlaubt es wegen
ihrer Fokussierung auf die für jeden sichtbare Handlung moralisches oder unmoralisches Verhalten anderer Menschen recht problemlos zu beurteilen.
Menschen haben offenbar eine stark evolutionsbiologisch angelegte Neigung zu reziprokem Verhalten - nach dem Motto: 'Wie Du mir so ich Dir'. Wenn wir beschenkt werden, fühlen wir uns verpflichtet, uns zu revanchieren. Auch diese Einsicht haben wir wohl (zumindest
indirekt) der Werbebranche zu verdanken. Personen, die ein (kleines) Geschenk erhalten, sind
offenbar viel eher bereit einen Vertrag (etwa für ein Zeitschriftenabonnement) abzuschließen,
als ohne ein Geschenk. Diese Verhaltensweise spricht im Grunde genommen auch die GR
aus. Beide moralischen Regeln schreiben eigentlich keine bestimmten Handlungsweisen vor,
sondern orientieren sich einfach nur am Verhalten anderer Menschen oder an den Wünschen
und Interessen der eigenen Behandlung durch andere Menschen. Die GR scheint mir sogar
mit Kants KI vereinbar: Ich verhalte mich anderen Menschen gegenüber so, wie sie sich mir
gegenüber verhalten sollen. Insgesamt besteht die GR in meinen Augen den Plausibilitätsvorbehalt, obwohl sie Mängel aufweist - und zwar vor allem erstens hinsichtlich der Reaktion auf
Verstöße gegen die GR und zweitens bezüglich des aktiv geforderten moralischen Verhaltens,
denn die GR spricht eigentlich nur von Unterlassungspflichten, es sei denn, man erweiterte sie
um die Regel, dass man sich anderen Menschen gegenüber so verhalten solle, wie man sich
ihr Verhalten gegenüber einem selbst wünsche.
Die Schwäche der GR, kein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, sondern im Grunde nur
reziprokes Verhalten zu normieren, bedeutet bezogen auf das Humesche GP, dass man, weil
man selbst Freude sucht und Schmerz vermeiden möchte, auch anderen Menschen Freude
bereiten und keine Schmerzen zufügen sollte. Da wohl die wenigsten Menschen die GR automatisch mit Humes GP verbinden dürften, scheint mir der Gedanke gegenseitiger Freudevermehrung und Schmerzvermeidung klarer in Humes NP aufgehoben, das mit der Aufforderung, allgemeinen Nutzen zu stiften in dieser Hinsicht eine nicht bloß passive reziproke, sondern auch eine aktive reziproke Rolle von allen Menschen verlangt. Darüber hinaus hat das
NP natürlich eine viel größere Reichweite, als es sich nicht nur im privaten, persönlichen Umfeld anwenden lässt, sondern auch im Verhältnis etwa zwischen Staat und Bürgern oder Unternehmen und Bürgern.
Ein weiterer Vorzug des NP scheint mir vor allem darin zu bestehen, dass es im Grunde
genommen unser eigenes (natürliches) Verhalten im Alltag insofern aufnimmt, als wir fortwährend darum bemüht sind, jedenfalls uns selbst zu nutzen. Hauptgegenstand der Sozialisation und unserer moralischen Erfahrung im Alltag dürfte ohnehin sein, immer besser einzusehen, was uns selbst (nicht nur kurz-, sondern auch mittel- und langfristig) schadet und was uns
unter den gleichen temporären Aspekten nutzt. Humes NP erweitert unsere Perspektive des
Eigennutzes im Grunde genommen nur um die Perspektive des Gesamtnutzens mit der Aussicht, dass sich unser Eigennutz durch Unterstützung des Gesamtnutzens nicht etwa vermindert, sondern sogar noch erhöht. Damit liegt es in unser aller Interesse, den Gesamtnutzen
zumindest insoweit zu unterstützen, als dadurch unser Eigennutz erhöht wird. Gegenüber nutzenwidrigem unmoralischem Verhalten kann ich mich dadurch zur Wehr setzten, dass ich
dieses Verhalten unterbinde; gegenüber nutzenwidrigem Verhalten stifte ich unter Umständen
auch dadurch Nutzen, dass ich Handlungsweisen vornehme, die unter normalen Bedingungen
214
nicht mir dem Nutzenprinzip vereinbar wären (etwa Freiheitseinschränkungen für diejenigen,
die der Allgemeinheit schaden). Inwieweit eine Handlung anderer Menschen der Allgemeinheit nutzt oder schadet lässt sich im Regelfall relativ leicht eruieren, weil nicht ihr (oft verborgenes) Motiv, sondern die verursachten Folgen ausschlaggebend sind.
Das Kantische ZP beschreibt als formales Moralprinzip, als schlichtes Gerechtigkeitsprinzip im Grunde genommen idealerweise die Grenzen des Humeschen NP, indem es die Zustimmung aller anderen Menschen zu meinem (individuellen und allgemeinen) Nutzendenken
und vor allem Nutzenhandeln einfordert. Wenn man diese Anforderung auf eine engere soziologische und psychologische Ebene herunterbricht, könnte man sich zunächst fragen, ob mein
Verhalten durch meine Eltern, Kinder, Freunde, Arbeitskollegen, Bekannten befürwortet oder
abgelehnt würde. Durch diese Konkretion verstärkt sich der emotionale motivationale Aspekt
des Kantischen ZP, verliert aber auch an allgemeiner Verbindlichkeit. Denn als Mitglied einer
Mafiafamilie erfahre ich natürlich durch ganz andere Handlungsweisen Selbstbestätigung,
Lob, Anerkennung, als eine Pastorentochter. Durch das Erfordernis der Zustimmung zumindest der von einer Handlung betroffenen Personen (im Idealfall aller Menschen) scheint eine
Überprüfung dieses Moralkriteriums jedoch besonders einfach und effektiv. Denn die Einschätzung des moralischen Gehalts einer Handlung wird anders als bei allen anderen hier vorgestellten moralischen Normen nicht nur vom Handelnden selbst vorgenommen, der in aller
Regel versuchen wird, zu seinem eigenen Vorteil zu argumentieren, sondern auch von anderen Menschen, was natürlich erheblich konsensfördernd wirken dürfte, da sich ein weitsichtiger Handlungsakteur aus Furcht gegenüber sozialen Sanktionen, vor dem möglichen Misserfolg seiner Handlung bei anderen Menschen versichern dürfte, ob diese seine Handlung akzeptieren oder eher ablehnend gegenüberstehen.
Ein annähernd plausibler emotionaler Zugang zu Kants KI scheint mir nur über seine stark
weltanschaulich geprägte Vorstellung von der höheren Bestimmung des Menschen möglich.
Allerdings dürfte dieser Zugang aus naheliegenden Gründen vor allem für große Teile der in
bitterer Armut lebenden Weltbevölkerung versperrt sein. Und auch viele Menschen in den
entwickelteren Industrieländern werden angesichts der von Menschen verursachten drohenden
Ressourcenknappheit, zunehmender Umweltverschmutzung, drohender Klimakatastrophe,
horrender Staatsverschuldung und permanenter Bankenkrise an Kants heheren (idealistischen)
Ansichten starke Zweifel hegen. Ein emotionaler Zugang zum Kantischen KI scheint darüber
hinaus auch wegen des geforderten sperrigen zweistufigen Verfahrens der Maximenbildung
und der Maximenprüfung schwer möglich. Ohne Verstandesgebrauch dürfte bereits die Maximenbildung unmöglich sein und die Maximenprüfung erfordert zwingend Vernunft.
Kant scheint im Kontext seines KI und dem Gefühl der Achtung ohnehin einem elementaren Missverständnis zu unterliegen: Wenn Gefühle für unser Handeln (und Denken) im Sinne
Humes (und der modernen Psychologie) grundlegend sind, dann bedeutet dies, dass Emotionen einer speziellen Norm und der Normenbildung allgemein (genetisch und geltungstheoretisch) vorausgehen müssen, dass Normen auf Emotionen aufbauen müssen und nicht etwa wie
bei Kants KI und dem Gefühl der Achtung einfach einer rationalen Überlegung durch ein hinterher geschobenes Gefühl zu konkreter, faktischer Handlungsrelevanz verholfen werden
kann. Allein schon der Wunsch, einer beliebigen (moralischen) Norm (ganz gleich welchen
Inhalts) zu folgen, erfordert emotionale Voraussetzungen die erfüllt sein müssen, damit eine
konkrete (moralische) Norm überhaupt erst Beachtung findet, verstanden und befolgt wird.
Eine solche emotionale Voraussetzung könnte etwa der Wunsch nach Selbsterhaltung oder
das Interesse an Bedürfnisbefriedigung und in einem weiteren Sinne die Hoffnung auf ein
besseres Leben sein. Eine solche empirische emotionale Grundlegung moralischer Normen
möchte Kant aber gerade ausschließen, wodurch ein emotionaler Zugang insbesondere zu
seinem KI prinzipiell erschwert bleibt. Ein vernunftgewirktes Gefühl, wie das Kantische Gefühl der Achtung wirkt wie eine Aporie, wie eine Jungfrauengeburt. Es geht doch in der Mo-
215
tivationsproblematik eigentlich um eine emotionale Verankerung moralischer Normen und
nicht um deren schlichte emotionale Ergänzung.
Meine emotionale Bereitschaft zur Beachtung beliebiger Normen hängt in starkem Maße
auch davon ab, inwiefern sich andere an diese Regeln halten. Dies liegt alleine schon daran,
dass meine Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen unwillkürlich von diesen Regeln
bestimmt wird, sie durch meine Erziehung, meine Sozialisation gewissermaßen mit der Muttermilch aufgenommen wird. Natürlich steigt die Motivation für mich zur Akzeptanz einer
moralischen Norm beträchtlich, wenn sich (fast) alle anderen Menschen auch entsprechend
verhalten, denn sofern die Beachtung einer bestimmten Norm die gelebte soziale Praxis bestimmt, erfährt auch deren soziale Sanktionierung bereitwilliger Anerkennung. In dieser Hinsicht bieten die als Volksweisheiten geltende GR, die RR, aber auch das unserem natürlichen
Verhalten nahe kommende Humesche NP und sogar noch das Kantische ZP gegenüber seinem KI deutliche Vorteile. Letzteres dürfte bislang kaum irgendwo auf der Welt Verbreitung
gefunden haben. Seine globale Etablierung wäre unter emotionalen Aspekten wohl mit einem
extrem hohen Aufwand verbunden, sofern dies überhaupt möglich (und sinnvoll) scheint.
2. (subjektiver) Rationalitätsanspruch. Wenn eine Norm zumindest prudentiell rational begründet sein soll, muss explizit dargelegt werden können, warum eine (beliebige) Person ihr
Folge leisten sollte (ist es für mich klug so zu handeln?).470 Auf der ersten, der verstandesbasierten Rationalitätsstufe gilt es nunmehr zu klären, welche moralische Norm aus der subjektiven rationalen Sicht des Einzelnen größere Realisierungschancen bietet. Vorausgesetzt wird
dabei weniger das rationalistische Kantische Vernunftsubjekt, als vielmehr das Humesche
hedonistisch orientierte empirische Subjekt, weil es dem uns im Alltag bekannten Menschen
sehr viel mehr ähnelt. Im Mittelpunkt des prudentiellen Interesses des empirischen Subjekts
steht natürlich sein eigener Nutzen (Bedürfnisbefriedigung).
Die hier erörterte anspruchsloseste normative Variante, nämlich Verkehrsregeln, lässt sich
sehr einfach aus prudentieller Sicht begründen, denn ohne Verkehrsregeln könnte man das
Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer nicht antizipieren, es käme vor allem bei höheren Geschwindigkeiten unweigerlich zu Unfällen, es entstünden chaotische Zustände, die eigenen
Bedürfnisse könnten kaum mehr (optimal) befriedigt werden. Wenn etwa Rollstuhlfahrer,
Radfahrer, Mopedfahrer, Sportwagenfahrer, Lastwagenfahrer die Fahrbahn in beide Richtungen beliebig nutzen dürften, käme der Verkehr recht schnell zum Erliegen. Selbst dort, wo der
Einzelne eine Verkehrsregel vorübergehend übertritt, vielleicht 40 in einer Tempo-30 Zone
fährt, wünscht er sich doch, dass die Tempo-30 Verkehrsregel gilt, damit er selbst sicher und
zügig diese Straße benutzen, damit sein Kind, das vielleicht den gleichen Weg mit dem Fahrrad zur Schule fährt, ihn sicher und wohlbehalten befahren kann.
Auch die schlichte Regel 'wie Du mir, so ich Dir' erfüllt die prudentielle Rationalitätsanforderung. Wenn sich jemand mir gegenüber unkooperativ zeigt, wäre es nutzlos, ihm weiterhin Kooperationsangebote zu machen. Andererseits scheint es auch durchaus klug, eine Kooperation fortzusetzen, aus der sich für beide Parteien Vorteile ergeben. Nicht ohne Grund
gehört diese Regel über reziprokes Verhalten zu den am meisten beachteten Verhaltensregeln
weltweit überhaupt und zwar über alle religiösen, kulturellen, sozialen, geographischen Grenzen hinweg. Das dürfte vor allem daran liegen, dass sie unmittelbar einleuchtet, sehr einfach
anzuwenden ist und sehr effektiv wirkt, dass sie sich über Jahrhunderte, wenn nicht sogar
über Jahrtausende hinweg bewährt hat und unsere natürlichen Verhaltensmuster zu reziprokem Verhalten unterstützt. Allerdings wirkt reziprokes Verhalten nicht in jedem Fall konfliktmindernd, sondern eher konfliktfördernd, was im moraltheoretischen Zusammenhang
natürlich nachteilig erscheint.
470
Krijnen (1998) S. 21ff.
216
Eine im Zusammenhang mit der globalen Wirksamkeit von Normen wichtige Frage geht
dahin, ob der Nutzen für mich in der Beachtung einer Regel davon abhängt, dass sich auch
andere an diese Vorschrift halten? Oder anders formuliert: Unter welchen Voraussetzungen
bietet eine Regel für das prudentielle Subjekt genügend (sichere) Orientierung? Dies Fall tritt
ein, wenn andere wissen, dass es nach dieser Regel handelt und es weiß, dass andere nach
dieser Regel handeln und sein Handeln auch nach dieser Regel beurteilen. Es geht also hier
wie bei Verkehrsregeln im Grunde genommen vor allem um die Antizipierbarkeit des Verhaltens anderer. In diesem Zusammenhang gewinnt auch ein bedeutsamer Aspekt prudentieller
Orientierung an Regeln durch die soziale Sanktionierung bei Überschreitung einer Norm an
Gewicht. Dabei spielt der intersubjektive Gehalt oder gar der Wahrheitsgehalt einer Norm aus
prudentieller Sicht nur eine untergeordnete Rolle, denn eine wahre Regel, die wenig beachtet
und sanktioniert wird, nutzt dem Subjekt nur wenig, weil es dann nur unzureichend das Verhalten anderer antizipieren kann.
Die GR bietet den entscheidenden Vorteil, schädliches Verhalten gegenüber anderen Menschen zu erschweren, weil man selbst nicht schlecht behandelt werden möchte. Wenn man
selbst Bedürfnisbefriedigung (notwendig) braucht und diese Bedürfnisbefriedigung zwangsläufig nicht ohne die Beteiligung anderer Menschen (optimal) gelingen kann, dann scheint es
zweifellos prudentiell rational, sich anderen Menschen gegenüber freundlich gesinnt, kooperativ zu verhalten. In dieser Hinsicht ist der für die positiven Auswirkungen von reziproken
Handlungsmustern erforderliche Vertrauensvorschuss bereits in der Norm selbst fest verankert. Da das prudentiell orientierte Subjekt nicht belogen, betrogen, bestohlen, verletzt oder
gar getötet werden möchte, dürfte es solche Handlungsweisen in der Regel nicht an den Tag
legen - es sei denn sie würden bei anderen Menschen, aber nicht bei ihm selbst sanktioniert.
Insofern scheint die allgemeine Anerkennung und damit verbunden auch die allgemeine Sanktionierung von Normen ein wichtiger Bestandteil der normativen Orientierung des prudentiellen Subjekts auch mit Bezug auf die GR.
Das Kantische ZP vermag dem Handelnden zumindest lokal Vorteile bieten, wenn es im
Konsens etwa mit einer Dorfgemeinschaft seine Bedürfnisse besser befriedigen kann, als im
Dissens. Regional und erst recht national oder sogar global setzt das ZP allerdings relativ
hochentwickelte Meinungsbildungsprozesse voraus, die (noch) nicht von jeder Gesellschaft
darstellbar sind. Der Kantische KI bereitet aus prudentieller rationaler Sicht nach meiner Einschätzung die größten Realisierungprobleme, weil er doch durch sein relativ kompliziertes
zweistufiges Verfahren ein bestimmtes Abstraktionsvermögen voraussetz, dass nicht von allen Menschen erwartet werden darf. Nehmen wir an, ich habe die Maxime stets meinen Vorteil zu suchen und stelle ihre Unvereinbarkeit mit dem KI fest. Der KI belehrt mich in dem
Fall nicht über eine bessere Alternative. Weitere erhebliche Problem des Kantischen KI bestehen in der verlangten eigenen (bedingungslosen) Motivation zu seiner Beachtung, ohne
dass die Motivation anderer Menschen (immer hinreichend) durchschaut werden kann und
seiner beanspruchten kategorischen Geltung - ich mich selbst dort, wo mir andere Menschen
schaden, gerade nicht reziprok verhalten soll, ich dem KI Folge leisten muss, auch wenn ihn
(viele) andere Menschen missachten oder Übertretungen des KI gar nicht sanktioniert werden.
Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt einer Maxime oder den möglichen Umfang eines
Gesetzes sind unter diesen Voraussetzungen nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidbar.
Kants KI bietet selbst jedoch kein Verfahren an, diese Meinungsverschiedenheiten etwa über
ein Zustimmungs- oder Konsensprinzip in den Griff zu bekommen. Insofern scheint mir der
KI nicht erst in seiner (konkreten) Anwendung, sondern bereits durch das Verständnis seiner
(abstrakten) Anforderungen sehr hohe Hürden aufzustellen. Welchen Sinn aber hätten etwa
Verkehrsregeln, die zwar höchsten (wissenschaftlichen) Ansprüchen genügen, jedoch im Alltag viel zu kompliziert für eine flächendeckende Beachtung sind?
Das NP umgeht einige der bislang aufgezählten Schwächen moralischer Normen sehr elegant, indem es durch Beachtung des Gesamtnutzens auch eine Förderung des Eigennutzens
217
verspricht. Allerdings enthält das Nutzenprinzip keine näheren Bestimmungen darüber, wie
diese individuelle und kollektive Nutzensteigerung erzielt werden soll. Insofern fordert es nur
indirekt dazu auf, den allgemeinen Konsens über Nutzen und Schaden im Interesse aller Menschen zu suchen, zu bestimmen und durchzusetzen. Denn je größer der allgemeine normative
Konsens wird, desto größer dürfte auch der allgemeine Nutzen und damit wiederum auch der
individuelle Nutzen sein. Aber natürlich setzt diese allgemeine Konsensbildung über die lokale Ebene hinaus auch politisch institutionalisierte Verfahrensweisen eben dieser Konsensbildung voraus - erst Recht bei globalen Themen wie Umwelt, Klima, Wirtschaft.
3. (intersubjektiver) Rationalitätsanspruch. Auf dieser kognitiven Abstraktionsstufe muss
geprüft werden, inwieweit die hier vorgestellten Normen nicht nur einem emotionalen Vorbehalt, einer subjektiven Rationalitätsanmutung, sondern auch einer intersubjektiven Rationalitätsanforderung und damit Vernunftansprüchen genügen können. Damit sind wir ein Stück
weit näher beim Abstraktionsniveau der Kantischen Moraltheorie angelangt und haben uns
vom Abstraktionsgrad her der Humeschen entfernt. Intersubjektivität im hier verstandenen
Sinne bedeutet einfach, dass eine Norm nicht nur aus Sicht einzelner oder vieler, sondern aller Menschen (rational) akzeptabel wird. Die Chancen hierfür scheinen dann am aussichtsreichsten, wenn eine Norm bereits die vorangegangenen Abstraktionsstufen möglichst erfolgreich gemeistert hat, denn eine Norm, die nicht einmal zum Vorteil einzelner oder vieler Menschen gereicht, kann wohl kaum für alle Menschen Nutzen bringen.
Verkehrsregeln sind generell unabhängig von unserer Religion, unserer Weltanschauung,
unseren politischen Anschauungen, unserer Herkunft, unserem sozialen Status geeignet, unser
Bedürfnis nach Fortbewegung im Zusammenhang mit anderen Zielen (in Arbeit, Freizeit) zu
erfüllen. Wenn man einmal bestimmte umstrittene Fragen von Verkehrsregeln (in Deutschland etwa Tempolimit auf Autobahnen oder Tempo-30 in Städten, Promillegrenze) außer acht
lässt, dann sind die allermeisten Verkehrsregeln weitgehend unabhängig von vielen Vorurteilen und Konfliktpotentialen, die normalerweise gewöhnlichen Normen anhaften. Wahrscheinlich liegt das am gemeinsamen Zweck aller Menschen, möglichst schnell und sicher durch
den Straßenverkehr zu kommen. Ziel einer Globalmoral sollte deshalb in jedem Fall (auch)
die Begründung solcher Moralvorschriften sein, die allen Menschen unabhängig von ihrer
Religion, Abstammung, Herkunft möglichst großen Nutzen bieten. Denn der Nutzen stellt für
sehr viele Menschen das entscheidende Handlungskriterium dar, wenn es darum geht, sowohl
emotional, als auch verstandesbasiert und vernunftbasiert Handlungsalternativen zu hierarchisieren, sinnvolle Handlungsoptionen von weniger sinnvollen oder sogar schädlichen zu
unterscheiden. Verkehrsregeln sind unverzichtbar insbesondere dort, wo hochentwickelte Industriegesellschaften auf den schnellen, sicheren Transport von Waren angewiesen sind. Verkehrsregeln dienen allen Verkehrsteilnehmern. Es verschafft dem Radfahrer Vorteile, wenn
sich der Lastwagenfahrer nicht auf dem Fahrradweg befindet, ebenso wie es dem Lastwagenfahrer nutzt, dass ihm der Radfahrer nicht auf der Straße den Weg versperrt.
Die schlichte Regel 'wie Du mir, so ich Dir' dürfte im Konfliktfall eher zur Eskalation, als
zur Beschwichtigung von Interessengegensätzen führen. Denn wohlwollendes Verhalten anderen Menschen, vor allem fremden Menschen gegenüber setzt Vertrauen in die Erwiderung
entgegenkommenden Verhaltens voraus. Diese einfache Regel fordert nicht, anderen Menschen dieses Vertrauen entgegenzubringen, was unter der Voraussetzung allgemeiner Beachtung zwangsläufig zu wohlwollendem Verhalten führen müsste, sondern sie verlangt lediglich
reziprokes Verhalten. Und wenn ein Mensch einen anderen Menschen (aus welchen Gründen
auch immer) schlecht behandelt oder dieser sich auch nur (möglicherweise zu Unrecht)
schlecht behandelt fühlt, dann kann das Ergebnis dieses Konflikts nicht gesellschaftsfördernd
enden. Da jedoch niemand betrogen, bestohlen, verletzt oder gar getötet werden möchte, dürften solche Handlungsweisen gewöhnlich (bei ausreichender Sanktionierung) in einer nicht an
der RR, sondern an der GR orientierten Gesellschaft keine nennenswerte Rolle spielen.
218
Das Kantische ZP sollte lokal, etwa bis zu der Ebene einer Dorfgemeinschaft (wo jeder
noch jeden kennt) zu guten Resultaten führen, darüber hinausgehend auf regionaler und erst
Recht auf nationaler und globaler Ebene überfordert sein, jedenfalls wenn man es in seiner
grundlegenden archaischen, auf persönlicher Kommunikation beruhenden Form betrachtet.
Auf lokaler Ebene kennt jeder die grundlegenden Einstellungen und Interessen der anderen
Dorfbewohner und kann deren Meinung zu bestimmten Handlungsweisen antizipieren, gegebenenfalls sogar in einem persönlichen Gespräch erfragen oder klären. Aber bereits auf regionaler Ebene etwa einer größeren Stadt, eines Landkreises oder eines Bundeslandes sind diese
persönlichen Kontakte der Menschen untereinander nicht mehr möglich, es müssen institutionalisierte politische Verfahren (auch in Formen repräsentativer Demokratie) geschaffen werden, um den Konsens über erlaubte und unerlaubte Handlungsweisen zu ermöglichen.
Für sich allein genommen bleiben das Kantische ZP ebenso wie Kants KI als (formale) Gerechtigkeitsprinzipien hinter dem inhaltlich wesentlich gehaltvolleren Humeschen NP zurück,
denn sie beschreiben jedenfalls nicht direkt, was man tun oder unterlassen sollte, sondern lediglich indirekt, auf welchem Wege man herausfinden kann, was man tun oder unterlassen
sollte. Sie stellen in meinen Augen abstraktere, anspruchsvollere Formulierungen des moralischen Symmetrieprinzips der GR dar. Und wie die GR leiden beide Kantischen Moralprinzipien an inhaltlicher Unterbestimmtheit. Kants eigene Beispiele zum KI zeigen, dass bereits
die Maximenformulierung ein erhebliches Problem darstellen kann, denn nicht immer lässt
sich bestimmten Handlungen eine eindeutige Maxime zuordnen, ihre Formulierung hängt oft
vom individuellen Wissensstand ab. An Kants eigenen Beispielen wird aber auch klar, dass
sich der KI keineswegs immer so eindeutig, leicht und schnell anwenden lässt, wie von ihm
behauptet. Denn die Maximenformulierung, deren Formalisierung und die Suche nach einem
Widerspruch unterliegt zahlreichen Schwierigkeiten, die eine rasche und einfache Prüfung der
Maxime unmöglich machen. Dadurch wird Kants KI in neuen Situationen des Alltags, bei
neuen Herausforderungen kaum zeitnah anwendbar. Erschwerend kommt noch hinzu, dass
Kant hinsichtlich der Motivationsstruktur sehr hohe Anforderungen stellt, die sich ebenfalls
im Alltag kaum in dieser Rigorosität erfüllen lassen dürften. Kant selbst räumt ein, dass es
womöglich noch nie eine Handlung gegeben hat, die seinen extrem hohen Anforderungen
genügt. Darüber hinaus versteht Kant seinen KI kategorisch, er gestattet kein Abweichen,
auch wenn man selbst unmoralischem Handeln ausgesetzt wird.
Eine Schwäche des Humeschen NP scheint mir vor allem darin zu liegen, dass es hinsichtlich der Abgrenzung zwischen dem (noch) erlaubten Eigennutz und dem (schon) geforderten
Gesamtnutzen zu unspezifisch bleibt. Wenn man bedenkt, dass mancher Banker vor der Finanzkrise noch glaubte, mit hochriskanten Geschäften 'Gottes eigene Werk' zu tun, dann wird
schnell deutlich, dass dem individuellen Nutzenstreben scharfe Grenzen gezogen werden
müssen. Diese Grenzen sind nach meiner Einschätzung in jedem Fall dort bereits überschritten, wo ein (möglicher) Schaden für die Allgemeinheit zumindest billigend in Kauf genommen wird. Die Einschätzung größerer Risiken für die Allgemeinheit darf deshalb niemals allein in privater Hand liegen, sondern gehört in staatliche Obhut. Die Humesche Forderung
nach allgemeiner Nutzengenerierung sollte durch den Zusatz eingeschränkt werden, diesen
Nutzen weitestgehend möglich ohne Schaden für andere Menschen zu erzielen. Bereits die
GR untersagt es, anderen Menschen speziell und der Allgemeinheit generell zu schaden. Denn
natürlich kann ich unter Umständen vor allem dann für mich selbst Nutzen erzielen, wenn ich
anderen Menschen (rücksichtslos) schade.
Unter intersubjektiven Rationalitätsgesichtspunkten hängt die Qualität einer Norm maßgeblich davon ab, dass sich (möglichst) alle Menschen (aus rationalen Gründen) an sie halten
können und wollen. Bei Kant wird dieser Zusammenhang gar nicht thematisiert, was einmal
mehr belegt, wie weit sich seine rationalistische Moralkonzeption von der moralischen Praxis
entfernt. Unter dem Humeschen Nutzengesichtspunkt darf eine Norm auch dann noch aufrecht erhalten werden, wenn sie nicht alle Menschen beachten. Gegebenenfalls sollten Sankti219
onen und damit der Befolgungsdruck erhöht werden, um einer Norm zu mehr Beachtung und
damit zu größerem allgemeinen Nutzen zu verhelfen. Der entscheidende Grund für die hohe
Relevanz der Beachtungsquote einer Norm in einer Gesellschaft unter intersubjektiven Gesichtspunkten liegt in ihrer ordnungsstiftenden Funktion. Diese ordnungsstiftende Funktion
erfüllt eine Norm nur dann, wenn alle wissen, dass alle anderen nach dieser Regel handeln
und Übertretungen dieser Regel sanktioniert werden, so dass sich ihre Übertretung (meistens)
eben nicht lohnt. Mithin entscheidet hier deren öffentliche Wirksamkeit und nicht nur deren
private Akzeptanz im Lebensumfeld eines Handlungsakteurs, wie bei prudentieller Rationalität genügenden Normen. Ähnlich den Verkehrsregeln geht es hier in erster Linie um die allgemeine Antizipierbarkeit des Verhaltens anderer, ohne die eine (moderne) arbeitsteilige Gesellschaft nicht bestehen kann.
4. (objektiver) Wahrheitsanspruch. Im Fokus der Untersuchung steht nunmehr die Frage,
inwieweit sich für einen normativen Wahrheitsanspruch gegenüber einem normativen Intersubjektivitätsanspruch überhaupt noch nennenswerte Vorzüge ausweisen lassen? Verkehrsregeln, die schlichte Regel 'wie Du mir, so ich Dir' und die GR beinhalten gar keinen Wahrheitsanspruch, sondern lediglich einen (vor allem prudentiellen und nur begrenzt intersubjektiven) Rationalitätsanspruch. Beide in Sprichworte gefassten Regeln spiegeln Lebensweisheiten wieder, mit denen man sein Leben auf kluge Weise bewältigen können soll, aber sie begründen keinesfalls irgendwelche moralischen Pflichten.
Hume und viele seiner Befürworter bestreiten bereits die Voraussetzungen zur Erfüllung
eines normativen Wahrheitsanspruches, weil sie Moral durch ihre ausschließliche Fundierung
auf Gefühlen als grundsätzlich nicht wahrheitsfähig ausweisen. Dieses Urteil mag nach meiner (groben) Einschätzung sicher vor dem Hintergrund von Humes verkorkster 'moral sense'
Lehre zutreffen, aber nicht unbedingt für den später zentralen Nutzengedanken, der auch nach
seiner eigenen Auffassung nur durch Verstand und Vernunft hinreichend begründet und realisiert werden kann. Deshalb scheint mir Humes Meinung aus zwei gewichtigen Gründen nicht
durchschlagend: Denn erstens geht es in der hier dargelegten Moral gar nicht um die Frage,
ob bereits Gefühle selbst wahrheitsfähig sind, sondern erst die auf Gefühlen, Wünschen, intersubjektiven Bedürfnissen und Interessen aufbauenden, durch Verstand und Vernunft zu rechtfertigenden Normen eben mit Blick auf die Konsistenz ihres emotional und rational fundierten
Begründungszusammenhangs und zweitens könnte sich Moral wieder ganz im Humeschen
Sinne immerhin noch darauf beziehen, inwieweit durch bestimmte Normen positive Gefühle
von manchen, vielen oder allen Menschen im Sinne seines Grundprinzips möglicherweise,
tatsächlich oder notwendig gefördert werden.
Für den Aufbau einer Moralordnung sind nicht beliebige Gefühle relevant, etwa was ein
Betrachter beim Anblick des Eiffelturms oder der Alpen empfindet, sondern solche Gefühle,
die jeder Mensch vermeiden möchte und die durch Sanktionierung der diese Gefühle auslösenden Handlungsweisen unterbunden werden können. Dabei wird vorausgesetzt, dass jeder
Mensch freudvolle Erfahrungen sammeln und leidvolle vermeiden möchte. Der Tod eines
geliebten Verwandten etwa löst bei allen Menschen negative Gefühle aus, kann aber auch
durch die elaboriertesten Normen nicht verhindert werden. Insofern wäre es völlig sinnlos, ein
Verbot auszusprechen, sterben zu dürfen, wenn man trauernde Verwandte hinterlässt. Besonders unangenehme Gefühle, die durch eine mit entsprechender Sanktionierung verbundene
Normen verhinderbar sind, beziehen sich wie erwähnt in erster Linie darauf, zum eigenen
Schaden belogen, betrogen, bestohlen, verletzt oder gar getötet zu werden. Dass alle Menschen diese Handlungsweisen ihnen selbst gegenüber ablehnen, kann als Tatsache verifiziert
oder falsifiziert werden, unterliegt mithin Intersubjektivitätskriterien, deren Geltungs- und
Verbindlichkeitsanspruch durch weitergehende Prüfung eines Wahrheitsanspruchs in meinen
Augen jedoch nicht wesentlich gesteigert oder vermindert werden kann.
220
Neben diesen Verboten kann ein Normensystem auch bestimmte Gebote zum Schutz bestimmter Handlungsweisen aussprechen. Positive Gefühle lösen bei allen Menschen vor allem
solche Handlungen aus, die mit Bedürfnisbefriedigung verbunden sind. Auch dies darf als
intersubjektiv überprüfbare Tatsache gelten. Ein Normensystem kann insofern solche Handlungsweisen schützen, die zumindest der elementaren Bedürfnisbefriedigung dienen. Moralische Gebote und Verbote sind also grundsätzlich selbst dann intersubjektiv überprüfbar, wenn
sie auf Gefühlen beruhen. Der entscheidende Gesichtspunkt liegt darin, dass die Gebote oder
Verbote durch Verstand und Vernunft als im Interesse aller Menschen liegend hinreichend
begründbar sind. Das Nutzenprinzip schreibt in meinen Augen in seinem normativen Kern
nichts anderes vor als eben Handlungen zu unterbinden, die bei allen Menschen (vermeidbare)
negative Gefühle auslösen und solche Handlungen zu ermöglichen oder zu fördern, die eben
der Bedürfnisbefriedigung dienend bei allen Menschen positive Gefühle auslösen.
Vor diesem Hintergrund fragt sich nun, ob und inwieweit die verbleibenden hier untersuchten moralischen Normen, nämlich Kants KI und ZP einem Wahrheitsanspruch genügen?
Der normative Kern beider elementaren Moralnormen, Moralprinzipien besteht nach meiner
Auffassung in Gerechtigkeitsvorstellungen, denn sie schreiben im Gegensatz zu Humes NP
keine inhaltlich bestimmte Handlungsweise vor. Sie dienen als (unterschiedlich abstrakte)
formale Handlungsanweisungen vielmehr dazu, inhaltliche moralische Vorschriften erst zu
generieren. Grob gesprochen beruhen beide Moralnormen im Grunde genommen auf der Vorstellung einer Symmetrie zwischen moralischen Handlungsakteuren. Inwieweit aber sollte der
Grundgedanke moralischer Gleichwertigkeit aller Menschen wahrheitsfähig sein? Unabhängig davon, ob man diese Vorstellung wie Kant eher auf die menschliche Vernunft oder wie
Hume auf die menschliche Bedürftigkeit stützt, scheint sie gar nicht wahrheitsfähig, sondern
nur konsensfähig, wodurch sich eine zentrale moraltheoretische Grundaussage der Wahrheitsprüfung im klassischen Sinne entzieht.
Doch wie kann die von Gerechtigkeitstheorien speziell und Moraltheorien allgemein in der
Regel vorausgesetzte, abstrakte moralische Gleichheit wenn schon nicht als wahr erwiesen, so
doch wenigstens intersubjektiv begründet werden, denn Menschen unterscheiden sich faktisch
doch in vielerlei Hinsicht, in ihren Begabungen, ihrem Charakter, ihrem Körpergewicht? Moralische Gleichheit lässt sich nach meiner Einschätzung entweder nur in rationalistischer Manier mit der prinzipiell gleichen Vernunftausstattung des Menschen oder aber emotivistisch
mit seinem prinzipiell gleichen Bedürfnishorizont im Sinne Humes fordern. Benachteiligungen beurteilen alle Menschen naturgemäß als negativ. Bereits kleine Kinder haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, wenn es etwa um die Verteilung von Süßigkeiten geht. Benachteiligungen werden in aller Regel nur dann akzeptiert (sind nur dann nicht mit negativen
Gefühlen verbunden), wenn es dafür einen hinreichenden Grund gibt. Wenn von fünf Kindern
in einer Runde ohne nähere Begründung vier Kinder je eine Tafel Schokolade erhalten, das
fünfte jedoch nur eine halbe Tafel, werden sich alle Kinder dieser Welt an Stelle des benachteiligten Kindes ungerecht behandelt fühlen und starke negative Gefühle empfinden.
In der Geschichte des Menschen hat wohl kaum ein anderes moralisches Problem mehr
Aufmerksamkeit erhalten, als das der Rechtfertigung von Gründen für normative Bevorzugungen oder Benachteiligungen. Im Altertum wurden Benachteiligungen oft mit der übermenschlichen Abstammung eines ganzen Herrschergeschlechts begründet. Die Existenz ägyptischer Pyramiden verdanken wir etwa diesem Umstand. Im Mittelalter finden sich Begründungsversuche für Ungleichbehandlungen unter Hinweis einer angeblich von Gott gewollten
weltlichen Ordnung. In aufgeklärten Gesellschaften wird heutzutage eigentlich nur noch unterschiedliches Leistungsvermögen für Bevorzugungen oder Benachteiligungen allgemein
akzeptiert. Dennoch scheint mir nach wie vor eines der größten inhaltlichen moralischen
Probleme im Alltag und in der Moralphilosophie überhaupt darin zu bestehen, geeignete Kriterien für normative Ungleichbehandlungen zu finden. Und innerhalb dieser Fallgruppe wiederum dürften vor allem die Fragen nach der Rechtfertigung von sozialen, aber auch politi221
schen Ungleichheiten den bedeutendsten Stellenwert einnehmen. Denn dass etwa ein Verbrecher (durch Freiheitsentzug) anders behandelt werden darf, als ein gesetzestreuer unbescholtener Bürger dürfte weithin unstrittig sein.
Zentrale Diskussionspunkte einer normativen Begründung von Ungleichheit beziehen sich
auf die Grenzen wirtschaftlicher und politischer Macht. Zu beiden wichtigen Problemen leisten weder Kants KI, noch sein ZP entscheidend Aufklärung. Während sich der KI nur akteursbezogen anwenden lässt, mithin unter einer starken individualistischen Moralperspektive leidet, die seine Projektion auf ein staatliches Gebilde behindert oder sogar verhindert und deshalb seinen Anwendungsraum entscheidend verkürzt, lässt sich das ZP - obwohl von Kant
auch individualistisch konzipiert - wenigstens indirekt nicht nur auf gleichgestellte einzelne
moralische Subjekte, sondern auch auf ein gesellschaftlich organisiertes Gemeinwesen anwenden. In diesen Zusammenhang projiziert könnte man annehmen, alle sozialen oder politischen Ungleichheiten in einer Gesellschaft wären dann moralisch rechtfertigbar, wenn ihr alle
Mitglieder eben dieser Gesellschaft zustimmen oder zumindest (rationalerweise) zustimmen
könnten. Damit wären zwar immer noch keine inhaltlichen Kriterien für soziale und politische
Ungleichheiten in einer Gesellschaft gefunden, aber es wäre zumindest ein Verfahren zu deren Begründung aufgestellt. Auch die in Kantischer Tradition stehenden Ansätze (Rawls, Habermas) überschneiden sich wesentlich darin, eine rationalistische Begründung von Gerechtigkeitskriterien oder zumindest Verfahren zu deren Auffindung liefern zu wollen.
Das Humesche Nutzenprinzip bietet gegenüber den Kantischen Moralprinzipien insofern
einen ganz entscheidenden Vorteil, als es individuelles und staatliches Handeln (explizit) dem
gleichen moralischen Kriterium unterwirft, nämlich dem Nutzen. Diese wesentlich größere
Reichweite des Humeschen NP gegenüber vor allem dem KI, aber auch eigentlich dem (im
Kantischen Sinne verstandenen) ZP, vereinheitlicht und vereinfacht die Bewertung privaten
und öffentlichen (moralischen) Handelns ganz wesentlich. Natürlich lässt sich hier wiederum
das gegen den Utilitarismus erhobene Standardargument vortragen, dass unter diesen Voraussetzungen ein beispielloser Relativismus rechtfertigbar sei, weil nahezu jede individuelle oder
staatliche Grausamkeit mit ihrem Nutzen begründet werden könne. Allerdings scheint mir
diese pauschale Polemik wesentlich verkürzt und unreflektiert, denn tatsächlich dürfte doch
der größte Nutzen durch eine Gesellschaft nur dann realisierbar sein, wenn alle Gesellschaftsmitglieder und der Staat das Nutzenprinzip engagiert umsetzen. Dies wird aber nur
dann möglich sein, wenn alle Gesellschaftsmitglieder vom erzielbaren oder erzielten Nutzen
angemessen profitieren, wenn sich also wirtschaftliche und politische Macht so verteilen und
legitimieren, dass alle Gesellschaftsmitglieder davon den größten Nutzen haben. Wie bereits
im vorherigen Kapitel dargelegt, zählt Rechtssicherheit zum Kernbestand des Nutzenkalkühls,
denn ohne Rechtssicherheit bleibt weder eigenes Handeln planbar, noch fremdes Handeln
kalkulierbar. Niemand würde etwa Verträge abschließen, wenn er nicht sicher wäre, dass sie
von Rechts wegen eingehalten werden müssen und deren Einhaltung vor Gerichten eingeklagt
werden kann. Ohne Verträge lässt sich in unserer modernen hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft keine vernünftige (sinnvolle) Kooperation denken. Über Hume hinausgehend dürften
deshalb auch Grundrechte und politische Mitwirkungsrechte zum Kernbestand des Nutzenkalkühls zählen, denn welches Gesellschaftsmitglied wird sich schon zum Nutzen der Allgemeinheit einsetzen, wenn es nicht sicher sein kann, als gleichberechtigtes Mitglied einer Gesellschaft von eben diesem Nutzen auch gleichberechtigt zu profitieren?
In welcher Korrelation stehen nun Wahrheitsanspruch und Nutzen? Macht es überhaupt
Sinn, Nutzen und Wahrheitsanspruch miteinander zu verbinden und woran sollte der Wahrheitsanspruch beim Nutzen gemessen werden? Hier sind zweierlei Wege denkbar, nämlich
indem man entweder die Gesellschaftsmitglieder befragt, ob und inwieweit der Staat ihren
Nutzen fördert, inwieweit sie vom Gesamtnutzen (angemessen) profitieren, inwieweit sich der
Nutzen gerecht in einer Gesellschaft verteilt oder indem man anhand bestimmter Kriterien
untersucht, inwieweit Nutzen durch eine Gesellschaft optimal realisiert wird. In ersterem Fall,
222
in dem vorrangig die Zufriedenheit von Gesellschaftsmitgliedern gemessen werden kann,
wird man kaum über intersubjektive Ergebnisse hinausgelangen, im letzteren Fall scheint es
schwierig solche Kriterien auszumachen, an denen der Wahrheitsanspruch optimalen Nutzens
gemessen werden soll. Auch hier dürfte man kaum mehr als bestimmte Korrespondenzen zwischen bestimmten Indikatoren für optimalen Nutzen erreichen. Als Indikatoren könnten etwa
die (gerechte) Verteilung von Einkommen und Eigentum oder gleiche politische Partizipationsrechte dienen.
Abschließend bleibt zu fragen, welche hier untersuchten Normen am ehesten den Anforderungen an (emotionale) Plausibilität, (prudentielle) Rationalität, (intersubjektive) Rationalität
oder (objektive) Wahrheit genügen? Ich denke, es geht im Interesse der gewaltigen vor uns
liegenden Probleme vor allem um die größtmögliche Wirkung einer Globalmoral zur Lösung
eben dieser Probleme. In diesem Sinne sollte deren Basis auf einem starken emotionalen Fundament ruhen, von dem ausgehend alle anderen höheren kognitiven moralischen Stufen so gut
als irgend möglich abgedeckt werden. Wissenschaftlich sehr anspruchsvolle, aber nicht plausible moralische Normen werden uns bei den gestellten Aufgaben nicht weiterhelfen, wenn
sie faktisch unwirksam bleiben. Die Wahrheit einer Regel interessiert meist weniger, als deren
Nutzen, denn eine wahre Regel, die wenig nutzt, wird in der Gesellschaft recht wenig beachtet. Demgegenüber scheint der Gerechtigkeitsgehalt einer Norm gesamtgesellschaftlich betrachtet schon bedeutend wichtiger, als der Wahrheitsgehalt (wie Hume richtig bemerkt), weil
nur dann eine Norm hinreichend rechtfertigbar und damit für möglichst viele Menschen akzeptabel wird. Eine Norm die sich emotional, verstandesbasiert und vernunftbasiert im Subjekt verankert, weil sie sich in der Erfahrung des Subjekts bewährt und das Subjekt in seiner
Meinung über ihre gerechte und nützliche Wirkung bestätigt, wird sich wohl am ehesten in
der Praxis bewähren können. Demgegenüber scheint Kants Empfehlung, sich bei der Begründung (und Anwendung) von Moral gerade nicht auf Erfahrung, die (im Alltag) wichtigste,
wenn auch nicht höchste kognitive Ebene des Menschen zu berufen, zwar eine folgerichtige
Konsequenz seiner rationalistischen Moralkonzeption, wirkt aber dennoch nicht nur unklug denn wir sollten nach Möglichkeit alle uns zur Verfügung stehenden kognitiven Ebenen in
Betracht ziehen, die uns weiterhelfen können - sondern auch weltfremd.
Zudem darf nicht übersehen werden, dass Humes Nutzenprinzip den KI (und das ZP) nicht
nur an Reichweite und Einfachheit übertrumpft, weil es individualistisch und kollektivistisch
interpretiert und angewandt werden kann, sondern auch hinsichtlich seiner konsistenteren
Begründungsstruktur und der weitaus geringeren motivationalen Anforderungen, denn seinen
eigenen Nutzen verfolgt ohnehin jeder Mensch bereits von Natur aus und das Nutzenprinzip
bietet sogar die Chance, diesen Eigennutz durch Beachtung des Allgemeinnutzens noch zu
vergrößern. Ein weiterer erheblicher Vorteil des Humeschen NP liegt darin, dass es relativ
stark auf allen kognitiven Ebenen (emotional, verstandesbasiert und vernunftbasiert) argumentativ vertretbar scheint, wohingegen Kants KI eigentlich nur einigermaßen überzeugend
unter den deutlich an Komplexität reduzierten Bedingungen auf der Vernunftebene funktioniert. In dieser Hinsicht scheint mir Kants gesamte Moraltheorie relativ schwach aufgestellt,
denn nicht nur von der Begründungsseite her wird Vernunft zu sehr in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch von der Anwendungsseite und sogar von der Anspruchsseite her bezüglich der (möglichen) Träger moralischer Rechte (und Pflichten). Dadurch werden Tiere, Kinder, Geisteskranke von direkten moralischen Ansprüchen ausgeschlossen. Lebewesen von
fernen Planeten, die über Emotionalität und Verstand, aber keine Vernunft verfügen, wäre aus
Kantischer moralischer Sicht kaum etwas vorzuwerfen, wenn sie uns misshandeln (nachdem
sie gesehen haben, wir wir Tiere in industriellen Produktionsanlagen quälen, uns gegenseitig
umbringen oder einfach verhungern lassen). Die emotivistische Basis Humes bietet hingegen
den Vorzug, jedes über Mitgefühl für andere empfindende Lebewesen zu verpflichten, eben
223
diese Wesen entsprechend wohlwollend zu behandeln. Emotional, verstandesbasiert und vernunftorientiert schneidet nach meiner Untersuchung am besten das Nutzenprinzip ab.
Kant deckt durch seine Gerechtigkeitsprinzipien (KI und ZP) eigentlich nur den Handlungshorizont abstrakter vernünftiger Subjekte ab, Hume hingegen durch das Nutzenprinzip
den Bedürfnishorizont, den Naturhorizont und den Handlungshorizont gefühlsbasiert denkender und handelnder alltäglicher Menschen. Moralische Normen dienen der Absicherung von
Handlungsoptionen (durch Gebote und Verbote), deren hinreichende Begründung nach hier
vertretener Auffassung nur im Lichte des gemeinsamen Bedürfnis-, Natur- sowie Handlungshorizonts erfolgen kann und erweisen hierdurch ihren allgemeinen Nutzen. Moralische Normen sollten an erster Stelle der Absicherung einer Befriedigung von Grundbedürfnissen und
damit verbundener Handlungsoptionen in einem von Konkurrenz, Kooperation und Güterknappheit geprägten Lebensumfeld dienen. Nach den hier angestellten Überlegungen brauchen wir nicht zwingend einen Wahrheitsanspruch für moralische Normen, weil wir keine
sicheren Kriterien für Wahrheit haben und weil intersubjektive Rationalität bereits hinreichend Orientierung und Sicherheit bei Begründung und Anwendung moralischer Normen
bieten. Ein Wahrheitsanspruch scheint eher geeignet, um religiöse Vorstellungen zu befördern, für die es keinerlei Rationalitätsanspruch geben kann. Weil sich die Grenzen unseres
Wissens über die Natur, die Gesellschaft, die Moral ständig verschieben, scheint es wesentlich
sinnvoller, von Rationalitätsanforderungen auszugehen, als von möglicherweise unerfüllbaren
Wahrheitsansprüchen zu sprechen. Rationalitätsanforderungen müssen im Lichte neuer Einsichten ständig hinterfragt werden, Wahrheitsansprüche hingegen nicht. Insofern fordern uns
Rationalitätsansprüche viel stärker als Wahrheitsansprüche heraus, unser Wissen auf allen
Gebieten immer wieder anhand neuer Einsichten zu überprüfen und zu verbessern.
Moralische Relativisten machen häufig den grundlegenden Fehler, von der richtigen Diagnose vieler verschiedener existierender Moralvorstellungen in unserer Welt ausgehend den
Schluss zu ziehen, dass es kein einheitliches Moralsystem geben könne. Die moralische Pluralität in der Welt lässt sich in der Tat nicht leugnen. Daraus kann aber nicht gefolgert werden,
dass dieser Zustand beibehalten werden sollte oder fortbestehen müsste. Man kann durchaus
auf deskriptiver Ebene einem moralischen Relativismus zustimmen und auf normativer Ebene
am Universalismus festhalten.471 Deshalb fragt sich, ob der Relativist eher meint, es könne
(mangels Begründbarkeit) keine allgemein verbindliche moralische Normen geben (moraltheoretisches Problem) oder es solle (vielleicht im Interesse kultureller Vielfalt) keine allgemein verbindliche Normen geben (soziologisches Problem). Dabei gilt es jedoch zu bedenken,
dass ein globaler Markt globale Marktregeln erfordert - ebenso wie die globale Umweltverschmutzung globale Umweltvorschriften. Der Relativist kann sich hier nicht (mit guten Gründen) auf unterschiedliche kulturelle Hintergründe in den unterschiedlichen Ländern dieser
Erde berufen. Denn ohne allgemein verbindliche Handlungsvorschriften werden sich diese
Probleme weder theoretisch lösen, noch faktisch bewältigen lassen.
Zusammenfassung
Das Vorhaben einer transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen hat sich meiner Einschätzung nach nicht nur als sinnvoll und möglich, sondern als durchaus gewinnbringend erwiesen. Es konnte gezeigt werden, dass Moralvorstellungen ihren Ursprung in Gefühlen haben - alle Menschen möchten gemäß dem Humeschen Grundprinzip Freude herbeiführen und Schmerz vermeiden. Dieses Verhaltensgrundmuster wird in seiner einfachsten Form
durch gefühlsbasierte Wünsche ausgedrückt, durch komplexere verstandesbasierte Interessen
471
Vgl. Forst, Rainer: Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Zu einer konstruktivistischen Konzeption von Menschenrechten. In: Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler, Matthias Lutz-Bachmann
(Hrsg.) Recht auf Menschenrechte. Frankfurt/ Main 1999. Suhrkamp. S. 66-105.
224
überformt und schließlich durch intersubjektiv begründbare Normen wissenschaftlich handhabbar. Die wichtigste Einsicht der transzendentalen Deduktion unserer Moralvorstellungen
liegt darin, dass nur aus der Verbindung von Gefühlen und Verstand und Vernunft intersubjektiv gültige Moralvorschriften entstehen können, dass Gefühle Basis sind für Moralerfahrung und Moralerfahrung wiederum Grundlage für Moralerkenntnis. Diese Einschätzung wird
auch durch aktuelle evolutionsbiologische und entwicklungspsychologische empirische Forschung untermauert. Das unterschiedliche kognitive Niveau von bloßen Wünschen gegenüber
Interessen oder gar intersubjektiven Normen lässt sich an dem abnehmenden emotionalen
Grad und dem steigenden rationalen Grad messen.
Darüber hinaus ermöglicht nur die Verbindung unseres Bedürfnishorizonts mit unserem
Naturhorizont und unserem Handlungshorizont ein tragfähiges Gesamtbild unserer kognitiven
(moralischen) Leistungen. Die transzendentale und empirische Apperzeption wirkt erst im
Zusammenhang von Bedürfnishorizont, Naturhorizont und Handlungshorizont überzeugend
und vollständig. Die Kantische Beschränkung auf unseren Naturhorizont verkürzt dagegen die
Reichweite aller Apperzeptionsleistungen. Ebenfalls unplausibel wirkt Kants Einschätzung,
den Begründungsweg der KrV in seiner Moraltheorie umkehren zu müssen, weil es nicht um
die Erkenntnis, sondern um die Realisierung von Gegenständen gehe, denn auch in der Moraltheorie steht zunächst die Erkenntnis von Moral im Vordergrund. Und es ist nicht einsehbar
(weder philosophisch, noch naturwissenschaftlich), dass unsere kognitiven Leistungen hinsichtlich der Natur anders aufgestellt, anders strukturiert sein sollten, als unsere kognitiven
Leistungen bezüglich der Moral. Die Urteilsfunktionen respektive die Kategorien erweisen
sich nicht nur bei der Naturbetrachtung durch Ordnung und Hierarchisierung unserer Empfindungen von der Umwelt, sondern auch bei der Ordnung und Hierarchisierung unserer Gefühle
über unsere Bedürfnisse und bei der Ordnung und Hierarchisierung unserer Handlungsoptionen durch Moralvorschriften als unverzichtbar.
Unsere Moralvorstellungen haben emotivistische Grundlagen, weil sich alle subjektiv und
intersubjektiv (hinreichend) begründbaren Moralvorschriften letztendlich auf die Herbeiführung positiver und die Vermeidung negativer Gefühle beziehen. Deshalb sollten Moralvorschriften das emotivistische Fundament menschlichen Handelns nicht vernachlässigen oder
gar ignorieren. Die Berücksichtigung emotivistischer Grundlagen in der Moral darf jedoch
nur insoweit erfolgen, als sie auf intersubjektiv geteilten (notwendigen) Bedürfnissen beruhen. Ohne Gefühle und die Erfahrung von freudvollen und schmerzhaften Handlungsalternativen wären wir gar nicht imstande, die elementare Differenz zwischen 'gut' und 'schlecht'
auszusprechen oder auch nur zu denken, wir könnten über Moral wie Blinde von Farben sprechen. Alle subjektiv oder intersubjektiv (durch Verstand oder Vernunft) begründbaren Regeln
und Normen gehen letztendlich auf die mit Gefühlen verbundenen Erfahrungen von angenehmen oder unangenehmen Ereignissen zurück. Insofern können wir nur durch Gefühle und
darauf aufbauende Erfahrung zu intersubjektiv begründbarer moralischer Einsicht gelangen.
Alle moralischen Normen, auch Kants nach eigenen Angaben empiriefreier KI sind nur
möglich durch die vorhergehende Erfahrung positiver oder negativer Gefühle. Denn woher
sollten wir wissen, welchen Sinn allgemein verbindliche Gesetze im moralischen Zusammenhang haben, was uns als allgemeines Gesetz tauglich, wünschenswert, erstrebenswert scheint,
wenn nicht durch die Erfahrung mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen. Nur durch
unsere eigene subjektiv Erfahrung mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen können wir
ermessen, was für alle Menschen mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen verbunden
sein mag und deshalb durch allgemeine Gesetze überhaupt geboten oder verboten werden
sollte. Eine auf den ersten Blick ausschließlich vernunftbasierte rationalistische Moraltheorie
wirkt deshalb nur insofern möglich, als sie vermeintlich empiriefreie moralische Wertungen
letzten Endes doch hintergründig emotional auflädt. Denn wie sollte Vernunft etwa durch den
KI überhaupt die Forderung auch nur formulieren können, dass alle Menschen gleiche Rechte
und Pflichten haben sollen, wenn wir nicht alle Erfahrungen mit negativen Gefühlen im Zu225
sammenhang von Benachteiligung gemacht hätten? Und wie sollten wir die moralische Forderung nach Gleichberechtigung überhaupt verstehen können, wenn wir nicht aus Erfahrung
wüssten, dass Menschen ständig benachteiligt werden und diese Benachteiligung mit negativen Gefühlen verbinden?
Moralische Normen haben den entscheidenden Sinn, möglichst allen Menschen möglichst
zahlreiche Handlungsoptionen (durch Gebote und Verbote) zu eröffnen und damit unser aller
Nutzen zu dienen. Ohne moralische Normen scheint eine Absicherung der Befriedigung von
Grundbedürfnissen und damit verbundener Handlungsoptionen in einem von Konkurrenz,
Kooperation und Güterknappheit geprägten Lebensumfeld weder theoretisch vorstellbar, noch
faktisch durchführbar. Durch den hier vertretenen konstruktivistischen Ansatz mit einem
intersubjektiven Rationalitätsanspruch wird ein Wahrheitsanspruch in der Moral überflüssig,
ohne dass darunter die Verbindlichkeit moralischer Normen leiden müsste. Ein einfaches
prägnantes Beispiel für Vorschriften, die einen (prudentiellen und intersubjektiven) Rationalitätsanspruch, aber keinem Wahrheitsanspruch genügen, sind Verkehrsregeln. Ihre allgemeine
Anerkennung und Wirksamkeit verdanken sie vor allem dem Interesse aller Verkehrsteilnehmer, sicher durch den Straßenverkehr zu gelangen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Die
Beachtung von Verkehrsregeln bietet mithin allen Verkehrsteilnehmern einen im Alltag spürbaren Vorteil. Verkehrsregeln gelten weitgehend unabhängig von religiösen, weltanschaulichen oder politischen Voraussetzungen. Sie schaffen für alle Menschen unabhängig von ihrer
sozialen Herkunft, Abstammung oder Überzeugung einen nachweisbaren Nutzen.
Insofern wirken weltanschaulich voraussetzungsfreie normative Begründungsmuster ohne
Wahrheitsanspruch - wie für Verkehrsregeln - auch am ehesten geeignet, um global wirksame
Moralvorschriften zu begründen. Inhaltlich sollen uns Verkehrsregeln sicher durch den Straßenverkehr führen und Moralvorschriften zuverlässig in unserem Leben orientieren. Dieser
Anforderung entsprechen erfahrungsbasierte Handlungsregeln etwa in Gestalt der Volksweisheiten 'wie du mir, so ich dir' oder die Goldene Regel nur unzureichend. Deshalb benötigen
wir elaborierte Moraltheorie, wobei Humes nutzenorientierte Moralvorstellungen dem argumentativen Vorbild von Verkehrsregeln weitaus mehr entsprechen, als die Kantische Moralphilosophie. Kants vernunftbasierte apriorische Morallehre erweist sich in vielen Teilen als
wenig praktikabel und überzeugt deshalb insgesamt nicht. Seine schwankenden Versuche,
überzeugende Argumente für oder gegen die Durchführung einer transzendentalen Deduktion
unserer Moralvorstellungen aufzuweisen, zeigen, wie unsicher er auf dem Gebiet der Moraltheorie gewesen sein muss. Auch die Kantischen Gebote und Verbote lassen sich letztendlich
zwangsläufig (von ihm wohl unbeabsichtigt) - soweit intersubjektiv begründbar und nicht auf
schlichter Weltanschauung beruhend - auf die Herbeiführung positiver und die Vermeidung
negativer Emotionen zurückführen.
3. Kontraktualistische Moralkonstitution
Wie die transzendentale Rekonstruktion unserer Moralvorstellungen gezeigt hat, sind der
Bedürfnis- und Naturhorizont selbst schon konstruktivistisch aufgebaut. Insofern muss die
Abgleichung von Bedürfnis- und Naturhorizont in der Handlungsplanung und in der Moralbegründung erst recht konstruktivistisch angelegt sein. Die transzendentale Rekonstruktion
unserer Moralvorstellungen legt nahe, dass alle (verstandes- und auch vernunftbasierten) moralischen Urteile eine emotivistische Basis haben. Die transzendentale Rekonstruktion unserer
Moralvorstellungen ergab ferner, dass sich ein konstruktivistisches Modell eignet, Genese und
Geltung unserer Naturvorstellungen, Bedürfnisvorstellungen und Handlungseinstellungen zu
erklären. Die transzendentale Rekonstruktion unserer Moralvorstellungen hat kurz gesagt dargelegt, wie Vorstellungen von Moral überhaupt erst möglich sind. In der nun folgenden konsensorientierten kontraktualistischen Moralkonstitution geht es darum aufzuzeigen, welche
226
Moralvorstellungen am ehesten geeignet scheinen, das Zusammenleben vieler verschiedener
Menschen in einer Gesellschaft zu regeln. Dabei beschränke ich mich in diesem Kapitel zunächst auf nationalstaatliche kontraktualistische Überlegungen. Die Reichweite nationalstaatlicher Normensysteme könnte sich allerdings unter den globalen Wirtschaftsbedingungen des
21. Jahrhunderts in vielen Bereichen als zu begrenzt erweisen, um global wirksame Handlungsziele durchzusetzen. Deshalb werde ich im übernächsten Kapitel auf die Herausforderungen einer globalen Politik-, Wirtschafts- und Sozialordnung eingehen.
Nach Meinung vieler Beobachter entspricht einem konstruktivistischen Erkenntnismodell
am ehesten eine kontraktualistische Moral, weil hier Genese und Geltung aus der Perspektive
eines einzelnen Menschen, aus der (konkreten lebensnahen) Akteursperspektive begründet
werden können und ein Rückgriff auf hedonistische oder idealistische Zielsetzungen aus der
(abstrakten lebensfernen) Beobachterperspektive weitgehend überflüssig sind. Der rationalistische Theorietypus etwa von Kant, Rawls, Habermas bietet nur einen eingeschränkten Konstruktivismus, weil er starke Vorannahmen machen, die selbst wiederum rechtfertigungsbedürftig erscheinen und somit fertige Konstrukte sind, ohne die Genese dieser Konstrukte aufzuzeigen. Bei Kant handeln Vernunftsubjekte unter idealen Bedingungen, bei Rawls entscheiden Vernunftsubjekte unter dem Schleier des Nichtwissens und Habermas nimmt eine ideale
Kommunikationsgemeinschaft von Vernunftsubjekten an.
Aus konstruktivistischer Sicht geht es in der Moral weniger um Wahrheit, als um rationale
Argumente, Viabilität für das Zusammenleben vieler Menschen in einer Gesellschaft (ähnlich
Verkehrsregeln), letztendlich aller Menschen. Die Mitglieder einer Gesellschaft mit geteilten
moralischen Auffassungen werden bereitwilliger und erfolgreicher in Übereinstimmung mit
anerkannten Normen und Prinzipien auf gemeinsame Ziele hin kooperieren.472 Es gibt keinen
(notwendigen) Zusammenhang zwischen Konsens und Wahrheit, wohl aber zwischen Konsens und Viabilität. Wenn Moral ausschließlich eine Angelegenheit von Gefühl und Intuition
wäre, könnte durch die Forderung nach Dialogen, Diskursen, Konsens nicht viel gewonnen
werden - Verstand und Vernunft müssen daher eine bestimmte Rolle spielen.473
Die Vorstellung individueller Zustimmung als notwendiger Voraussetzung für die Legitimität von Normsetzungsverfahren kann als ein Kerngedanke der Aufklärung bezeichnet werden.474 Besonders im Kontraktualismus erhält der Konsensbegriff ein erhebliches Gewicht.
Dessen Aktualisierung durch Rawls fordert, dass "die Argumentation für die Gerechtigkeitsgrundsätze von einer Übereinstimmung ausgeht",475 deutlicher in der Originalfassung, "that
the argument for the principles of justice should proceed from some consensus."476 Auch in
der von Apel und Habermas entwickelten Diskursethik spielt der Konsensbegriff eine hervorgehobene Rolle.477 Auf eine moralische Norm, der mindestens alle Bürger, bestenfalls alle
Menschen zugestimmt haben oder auch nur alle rationalerweise zustimmen könnten, dürfen
alle legitimerweise verpflichtet werden."478 Doch wie lässt sich die Entstehung eines solchen
Konsenses begründen? Abweichend von den inzwischen klassischen Kantisch inspirierten
rationalistischen Vorbildern halte ich einen utilitaristischen Begründungsweg über Interessenkongruenzen für den erfolgversprechenderen Ansatz.
Der Konsens erfolgt auf der Grundlage des Wunsches, positive Gefühle zu vermehren und
negative Gefühle zu vermeiden - und zwar kurzfristig, mittelfristig und langfristig durch kognitiven Einsatz von Gefühlen, Verstand, Vernunft. Eine Wahl zu haben bedeutet, sich anhand
der kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen einer Handlung für seine Bedürfnisse,
472
Vgl. Kuhse (1996) S. 100.
Vgl. Kuhse (1996) S. 119.
474
Bayertz (1996) S. 63.
475
Rawls (1979) S. 630.
476
Rawls (1971) S. 581.
477
Bayertz (1996) S. 60.
478
Bayertz (1996). S. 64.
473
227
Wünsche, Interessen und darauf aufbauender Gründe entscheiden zu können. Daher beruht
ein wichtiger Gedanke des Konstruktivismus darauf, dass Handlungsakteure eine Realität
konstruieren, die von ihrem Tun, Wollen und Denken nicht unabhängig gegeben, sondern
vielmehr ihr Ergebnis darstellt. Wenn diese zentrale Annahme weitgehend zutreffen soll, dann
darf die konstruierte Realität nicht nur den Naturhorizont, den Bedürfnishorizont und den
Handlungshorizont betreffen, sondern natürlich auch den moralischen Horizont. Während es
einer realistischen Position wie dem Normativen Realismus zufolge normative Wahrheiten
gibt, die von unseren moralischen Einsichten völlig unabhängig sind, muss eine konstruktivistische Position darlegen, inwiefern alle moralischen Vorstellungen erst das Ergebnis eben
unseres Wollens, Tuns und Denkens sind.
Infolgedessen wird für die hier zu entwickelnde Globalmoral ein normatives Modell zu
wählen sein, dass einerseits die (konstruktivistische) Genese unserer Moralvorstellungen angefangen von Gefühlen bis hin zu Verstand und Vernunft - angemessen artikulierbar und
andererseits die (konstruktivistische) Geltung unserer Moralvorstellungen - angefangen von
der relativ konkreten, subjektiv gültigen Perspektive des Handlungsakteurs bis hin zum relativ
abstrakten, intersubjektiv gültigen Konsens adäquat darstellbar macht. Beiden Anforderungen
genügen weder der (einseitig) empiristische Humesche, noch der (einseitig) rationalistische
Kantische Ansatz. Die Humesche Moraltheorie scheitert mangels eines plausiblen Rationalitätskonzepts bereits an der Aufgabe, die Bedeutung von Verstand und Vernunft in unseren
Moralvorstellungen hinreichend zu erklären und verfehlt die zweite Anforderung intersubjektiv gültiger Moralvorstellungen aus dem gleichen Grund. Auch Kants Moraltheorie kann beiden Anforderungen - wenn auch aus ganz anderen Gründen - nicht gerecht werden, denn
durch seinen überzogenen Vernunftbegriff verstellt er sich von vornherein den Blick auf die
Genese unserer Moralvorstellungen (vor allem deren emotivistische Grundlagen) und vermag
deshalb auch nicht die verschiedenen Abstraktionsstufen und Geltungsebenen von subjektiv
gültigen gefühlsbasierten über subjektiv gültige verstandesbasierte (prudentielle) bis hin zu
intersubjektiv gültigen vernunftbasierten Moralvorstellungen zu rekonstruieren.
Wenn Handlungen nur auf der Basis von Gefühlen möglich sind, dann muss auch eine
kontraktualistische Moraltheorie zeigen, wie auf der Basis von Gefühlen zunächst ein prudentieller und schließlich ein vernunftorientierter Kontraktualismus möglich sind, dann reicht es
nicht aus, in rationalistischer Manier (Kant, Rawls, Habermas) allgemeine Gerechtigkeitsverfahren aufzustellen, deren Anbindung an die Motivationsstruktur des empirischen Subjekts
zumindest fragwürdig bleibt. Anliegen der hier entwickelten kontraktualistischen Argumentationsfigur ist es, Moral mit möglichst schwachen Annahmen zu begründen und damit weitgehend auf den Kantischen, teleologisch ausgerichteten metaphysischen Ballast der Moralbegründung zu verzichten, der - vor allem was die Bedeutung (reiner) praktischer Vernunft anbelangt - nicht durchweg konsistent wirkt, ohne bei einem moralpsychologischen Standpunkt
stehen zu bleiben, wie er etwa von Hume entwickelt wurde. Beherrschendes Ziel bleibt es, die
Entwicklung moralischer Handlungsorientierung genetisch und geltungstheoretisch aus Sicht
eines beliebigen (rationalen) Handlungsakteurs zu rekonstruieren. Damit wird versucht, die
Kontroverse zwischen prudentiellen und vernunftbasierten Vorstellungen - hauptsächlich zwischen den an Hume und an Kant ausgerichteten Ansätzen - in einem neuen Versuch zu überwinden. Dabei sollen natürlich die Stärken beider Ansätze - Genese bei Hume, Geltung bei
Kant - erhalten und deren Schwächen - Genese bei Kant, Geltung bei Hume - vermieden werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch auf die bereits im letzten Kapitel angestellten
transzendentalen Überlegungen zurückgegriffen werden. Ziel der ganzen Untersuchung bleibt
eine Moralordnung, die Empiristen und Rationalisten gleichermaßen billigen können, auf deren Grundlage Hedonisten und Idealisten, Christen, Moslems und Atheisten gemeinsam
(friedlich) kooperieren können. Gerade das Konfliktpotential säkularer Auseinandersetzung
scheint sich in den letzten Jahren durch die Stärkung vor allem islamistischer Glaubensgemeinschaften mit weitreichenden politischen Ansprüchen deutlich verstärkt zu haben.
228
Im vorhergehenden Kapitel über die transzendentale Analyse unserer Moralvorstellungen
habe ich ein Modell entwickelt, das als Standardmodell für die Erklärung moralischen Verhaltens gelten könnte. In diesem Kapitel möchte ich nicht minder ambitioniert ein konsensorientiertes kontraktualistisches Modell darlegen, das als Standardmodell für die Begründung
moralischer Normen fungieren soll. Damit wird insgesamt das anspruchsvolle Vorhaben umschrieben, ein moraltheoretisches Standardmodell zu schaffen, mit dessen Hilfe einerseits die
individuelle Genese moralischer Vorstellungen und moralischen Verhaltens erklärt und andererseits vor allem die intersubjektive Geltung und Verbindlichkeit moralischer Normen begründet werden kann. Beide Aspekte verbindet in meinen Augen am ehesten eine Synthese
aus prudentiellem und vernunftbasiertem konsensorientiertem Kontraktualismus oder in einer
anderen Terminologie ausgedrückt eine Synthese von individualistischem und universalistischem Kontraktualismus.
Mit diesem Modell knüpfe ich gleichzeitig an meinen Vorschlag aus der Einleitung an, den
Weg für eine herrschende Lehrmeinung über wichtige moraltheoretische Probleme und fundamentale moralische Normen zu ebnen. Denn diese herrschende Lehrmeinung wird am ehesten auf der Grundlage eines moraltheoretischen Standardmodells gelingen. Wenn man hingegen (weiterhin) auf der Basis unterschiedlichster Ansätze für die Begründung und zusätzlich
noch die Erklärung moralischen Verhaltens argumentiert, wird man kaum zu einer hier geforderten Globalmoral im Interesse der vor uns liegenden gewaltigen Herausforderungen auf
dem Gebiet von Politik, Wirtschaft und vor allem dem Umweltschutz gelangen können. Das
hier vorgeschlagene konsensorientierte kontraktualistische Standardmodell kann selbstverständlich ergänzt und berichtigt werden, jedoch sollte so lange an ihm festgehalten werden,
bis ein besseres Modell gefunden wird. Die leitende Vorstellung ist einfach die, dass wir zur
Bewältigung der globalen Herausforderungen eine global wirksame moralische Handlungsstrategie benötigen, auf deren Grundlage diese Herausforderungen erfolgversprechend annehmbar sind. Damit verbindet sich keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal oder gar ein
Wahrheitsanspruch hinsichtlich dieses geforderten Standardmodells, der andere Moraltheorie
obsolet macht, sondern eine eher pragmatische Entscheidung zugunsten eines gemeinsamen
moraltheoretisch fundierten Handlungsrahmens, auf dessen Grundlage die Begründung gemeinsamer Handlungsnormen möglich werden. Die Forderungen nach einer Globalmoral,
einem Standardmodell, der Ausbildung einer herrschenden Lehrmeinung in der Moral gehören in meiner Sicht der Dinge zusammen. Wenn man nur eine der drei Forderungen befürwortet, wird man kaum umhinkommen, auch die anderen Ziele zu unterstützen.
Der individualistische Kontraktualismus nimmt an, dass Handlungsakteure zu einer Einigung über grundlegende Verhaltensnormen gelangen, weil sie in ihrem persönlichen Interesse
liegt. Der in der Tradition von Rousseau und Kant liegende, von Rawls und Habermas fortgesetzte abstraktere universalistische Kontraktualismus verfolgt zwar ebenfalls das Ziel, zu einer grundlegenden Einigung über elementare Regeln der Gesellschaft zu kommen, aber nicht
auf dem rationalen Selbstinteresse prudentieller Handlungsakteure basierend, sondern vernunftbestimmter Personen unter idealen Bedingungen.479 In meinen Augen besteht nicht nur
kein Widerspruch zwischen prudentiellem und vernunftbasiertem Kontraktualismus, sondern im richtigen Licht betrachtet - sogar ein Kongruenzverhältnis. Um es aufzuhellen wird hier
zunächst ein prudentieller Kontraktualismus dargelegt, aus dem sich im darauffolgenden Abschnitt ein vernunftbasierter Kontraktualismus entwickelt.
Für meinen Ansatz muss daher unbedingt zwischen einem bloß prudentiellen (individualistischen) verstandesbasierten und einem vernunftorientierten (universalistischen) Kontraktualismus unterschieden werden: Das kontraktualistische Verfahren lässt sich zunächst auf einer
Ebene bloß prudentieller Rationalität durchführen, wie sie wohl Hobbes', Lockes, Humes'
empiristischen und den darauf gründenden utilitaristischen Ansätzen zugrunde liegt, darüber
479
Siehe dazu: Hampton (1991) S. 31ff.
229
hinaus aber auch auf einer Ebene vernunftbasierter Rationalität, der sich Kants, Rawls' und
auch Habermas' Ansatz ganz überwiegend bedienen. Durch eine in meinen Augen genetisch
und geltungstheoretisch notwendige Verbindung beider Abstraktionsebenen gelangt man von
einem Standpunkt prudentiell orientierter Perspektiven verschiedenster Handlungsakteure zu
einem Standpunkt der moralischen Bedingungen eines hypothetischen Vertragsszenarios, das
die intersubjektive Begründung moralischer Normen ermöglicht. Wird dieser moraltheoretische Standpunkt erst einmal erreicht, lässt sich von ihm ausgehend die moralische Praxis vom
Vertragsgedanken her - der hier als 'Richtschnur' (Kant) fungiert - als mehr oder weniger kongruent beurteilen.
Das grundlegende Interesse an Bedürfnisbefriedigung bildet in meinen Augen den entscheidenden Antrieb für die Entwicklung moralischer Vorstellungen und dementsprechend
auch für (faktische) gesellschaftliche Normen. Jeder Mensch sieht früher oder später ein, dass
er seine Bedürfnisse ohne die Hilfe anderer Menschen kaum befriedigen kann. Dies gilt natürlich um so mehr in unserer modernen, stark arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Niemand
kann Zimmermann, Schneider, Landwirt, Zahnarzt, Showmaster, Automechaniker und vieles
dergleichen mehr sein und alle damit zusammenhängenden Bedürfnisse selbst befriedigen.
Aus dem Wunsch, die eigenen Bedürfnisse (möglichst optimal) zu befriedigen, erwächst
zwangsläufig das Interesse, mit anderen Menschen zu kooperieren. Diese Kooperation kann
nun abhängig vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft auf ganz unterschiedlichen Ebenen
stattfinden. Aber bereits auf dem gesellschaftlichen Entwicklungsniveau einer steinzeitlichen
Population gelingt diese Kooperation nur dann (dauerhaft), wenn sie bestimmten (moralischen) Regeln unterliegt. Das (egoistische) Bestreben, die eigenen Bedürfnisse so gut als irgend möglich zu befriedigen, treibt den Handlungsakteur an, (moralische) Vorstellungen über
eigene und allgemeine Verhaltensregeln zu entwickeln.
Mir scheint das hier vorgestellte kontraktualistische Moralmodell durchaus geeignet, die
Entwicklung moralischer Vorstellungen individualgenetisch und sogar menschheitsgeschichtlich zu beschreiben: Die Genese des Menschen vom Kind zum Jugendlichen und schließlich
zum Erwachsenen, das Sammeln von Erfahrung in Verbindung mit der Ausbildung von Vernunft spiegelt ziemlich genau die hier aufgeführten Entwicklungsschritte von prudentiellen zu
vernunftbasierten Moralvorstellungen wieder. Das Kind lernt vor allem im Umgang mit anderen Kindern, dass es seine Bedürfnisse nach gemeinsamen Spielen besonders gut dann befriedigen kann, wenn es gemäß der Goldenen Regel die anderen Kinder ebenso freundlich und
kooperativ (Piaget) behandelt, wie es von den anderen Kindern behandelt werden möchte.
Und gerade als Erwachsene können wir die Erfahrung machen, dass unsere komplizierter
werdende Bedürfnisbefriedigung in nahezu allen Bereichen am ehesten gelingt, wenn wir
kooperieren und diese Kooperation (privat wie öffentlich) bestimmten (allgemein akzeptierten) Verhaltensvorschriften unterliegt.
Selbst unter historischen Gesichtspunkten spielt der kontraktualistische Kooperationsgedanke zur gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung eine wichtige Rolle: Die in den Ursprüngen
der Menschheitsgeschichte beginnende Arbeitsteilung wäre ohne konsensbildende kontraktualistisch angelegte Moralvorstellungen unmöglich gewesen. Für den Entwicklungsstand einer
Gesellschaft unzureichende Kooperationsregeln und damit verbunden mangelhafte Bedürfnisbefriedigung sind nach meiner Einschätzung stets Motor der gesellschaftlichen Entwicklung
der Menschheit gewesen. Man denke hier als Paradebeispiel an die französische Revolution,
die einen Zustand beendete, in dem eine kleine Oberschicht in großem Überfluss lebte und
weite Bevölkerungsteile in tiefer Armut. Ich möchte sogar behaupten, dass als ungerecht empfundene Regeln für die gegenseitige Bedürfnisbefriedigung Motor und Maßstab der moralischen Entwicklung des Menschen in Theorie und Praxis überhaupt gewesen sind. Ein im Verlauf der Menschheitsgeschichte wachsendes Einsichtsvermögen (in die Vorteile von Kooperation) hat durch die sie ermöglichende Arbeitsteilung zu Fortschritten von Wissenschaft und
230
Technik geführt, die wiederum eine verbesserte Bedürfnisbefriedigung gestatteten. Auf dieser
Basis sind höherentwickelte Kooperationsmodelle überhaupt erst möglich geworden: Errungenschaften wie Geld, Eigentum, Ehe und Regierungen werden nur durch kooperatives
menschliches Verhalten geschaffen und erhalten. Bei diesen Erfindungen verhält es sich nicht
wie mit einem Gegenstand - etwa einem Messer - der einmal hergestellt immer verfügbar
bleibt, wenn er nicht zerstört wird, sondern diese Einrichtungen behalten ihre (institutionelle)
Bedeutung nur durch permanentes kooperatives Verhalten.
Die Anforderungen einer Globalmoral an moralische Prinzipien sind überschaubar, aber
gleichwohl anspruchsvoll: Sie sollen möglichst klar, einfach und verständlich in der Begründung wie der Anwendung sein, für möglichst viele moralische Aspekte moralischen Handelns
verwendbar sein (Motiv, Handlung, Konsequenzen) und auf möglichst allen moralischen Abstraktionsebenen anwendbar (Prinzip, Norm, Einzelhandlung). Wenn ein moralisches Prinzip
von verschiedenen moraltheoretischen Standpunkten aus gerechtfertigt werden kann oder zumindest Kompatibilität zeigt, spricht einiges dafür, dass es nicht von besonderen weltanschaulichen Grundvoraussetzungen abhängt, mit denen es steht oder fällt und damit steigen die
Chancen, dass es über unterschiedliche moraltheoretische Grenzen (Auffassungen) hinweg
universelle, intersubjektive Geltung besitzt. Meine Entscheidung zugunsten des Kantischen
und Humeschen Ansatz beruhte auf der Überzeugung, dass ihre empiristische und rationalistische Theorie zur Begründung moralischer Normen am tragfähigsten sind und beide Ansätze
in einem kontraktualistischen Ansatz zusammengeführt werden können. Ihre bislang ganz
überwiegend angenommene Unvereinbarkeit scheint mir ein wesentlicher Hinderungsgrund
für die substantielle Weiterentwicklung aktueller Moraltheorie zu sein.
Natürlich gibt es keine voraussetzungslose Theorie - aber (gleichberechtigte) Menschen
würden sich gemäß der Reziprozitätsregel rationalerweise darauf einigen, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf, weil sonst überhaupt keine oder nur sehr schwer oder
sehr eingeschränkt Vereinbarungen möglich wären. Ein Abweichen von dieser Gleichheit
erfordert sorgfältiges Begründen, mithin müssten Ungleichbehandlungen eigens gerechtfertigt
werden. Dies kann mit Hinweis auf Herkunft, Abstammung oder besondere Fähigkeiten von
Menschen kaum gelingen. Menschen würden sich darauf einigen, dass alle Handlungsakteure
vernunftbasiert und nicht nur verstandesbasiert oder sogar nur gefühlsbasiert handeln sollen,
weil andernfalls weder gemeinsame Regeln geschaffen, noch gemeinsam beschlossene eingehalten werden könnten. Menschen würden sich etwa darauf einigen, dass man geliehenes
Geld zurückzahlen muss, selbst wenn man mit dem Geld etwas (vermeintlich) besseres anfangen kann, als der Darlehnsgeber, dass man aus Eifersucht nicht einen anderen Menschen verletzen oder übervorteilen darf.
Mir scheint es im vorliegenden Zusammenhang fruchtbarer, (zunächst) nicht auf ein spezielles Vertragsdenken in naturrechtlicher Tradition zurückzugreifen, sondern ein loses Vertragsszenario zu entwerfen; das Vertragsmodell in der ursprünglichen Wortbedeutung erst
einmal schlicht unter dem Aspekt des 'sich vertragens', des 'sich einigens' zu betrachten, seinen Vorbedingungen, dem Verfahren selbst und schließlich seinen Konsequenzen - mit dem
Ziel (moralisch) geregelter Kooperation, des 'sich auf gemeinsame Ziele einigenden Verhaltens'. Die kontraktualistische Position befürwortet von jedem Individuum (prudentiell und
vernünftigerweise) selbst gewollte und verantwortete moralische Regeln und lehnt alle Versuche ab, ihm Verhaltensvorschriften - von welcher Seite und mit welcher Begründung auch
immer - aufzuerlegen. Sie fordert in ihren Normen und von der Einsicht in ihre Begründungsstruktur nicht mehr, als von jedem (durchschnittlichen) Menschen auch tatsächlich im Alltag
geleistet werden kann. Gerade in dieser Hinsicht dürfte etwa die Kantische Moraltheorie den
'Normalbürger' deutlich überfordern, was zwar nicht gegen ihre wissenschaftliche Qualität
spricht, aber immerhin die auch moraltheoretisch relevante Motivationsproblematik und die
Chancen ihrer faktischen allgemeinen Realisierbarkeit betrifft, die im Zusammenhang mit der
231
hier verfolgten Globalmoral natürlich erhebliches Gewicht gewinnt.480 Sie verlangt von jedem
Menschen lediglich, die Bedeutung eigener Interessen im Zusammenspiel mit den Interessen
anderer Menschen einzuschätzen, nicht allein den eigenen Standpunkt, sondern auch andere
und den eigenen von diesen aus beurteilen zu können.
Meine kontraktualistische Moralbegründung zielt nun nicht in erster Linie darauf ab, die
Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen oder die Grundbedürfnisse aller Menschen zu eruieren,
um hieraus relativ konkrete Normen zu entwickeln, sondern darauf, relativ abstrakte Prinzipien darzulegen, anhand derer moralische Normen zur Bedürfnisbefriedigung begründet werden können. Es geht somit zunächst weniger um konkrete inhaltliche Normen, sondern um ein
auf Tatsachen beruhendes, empirisch fundiertes Moralprinzip, das bestimmt, wie Menschen
Verhaltensregeln generieren können oder sollen. Im Zentrum des Interesses steht mithin die
Entwicklung und Begründung abstrakter Verfahrensvorschriften und nicht konkreter Verhaltensregeln. Weil Menschen auf Kooperation untereinander angewiesen sind, scheint es sinnvoll, ihr Verhalten untereinander im Konsens zu regeln. Das Prinzip der hier entwickelten
kontraktualistischen Moral könnte deshalb lauten, sich in der Weise zu verhalten, dass alle
anderen Menschen zustimmen könnten. Empirie (Bedürftigkeit des Menschen, Kooperationserfordernis) bildet den Ausgangspunkt des hier entwickelten Moralprinzips, aber nicht bereits
dessen Endpunkt (Konsensbildung über Verhaltensregeln). Dabei gehe ich von einem worstcase-Szenario aus: Kooperation, Kooperationsregeln und Moral sollen soweit als irgend möglich auch für Egoisten annehmbar sein.481 Für die Begründung von Moral empfiehlt sich diese
Szenerie, denn wenn sich Moral für Egoisten überzeugend darlegen lässt, dann scheint sie
wirklich belastbar und der globalen Herausforderung gewachsen. Wenn zudem komplizierte
und einfache Gründe zur Rechtfertigung der gleichen moralischen Norm vorliegen, sind einfache vorzuziehen; sofern sich schwache und starke Motive für die Beachtung einer moralischen Norm finden lassen, gewinnen starke Motive Priorität. Einfache Rechtfertigung und
starke Motive erhalten natürlich erst recht gegenüber komplizierten Gründen und schwachen
Motiven den Vorzug.
Der Aufbau des Kapitels gestaltet sich wie folgt. Ausgehend von den 1.) anthropologischen
Voraussetzungen einer konstruktivistischen Moral wird zunächst 2.) ein prudentieller (individualistischer) und darauf basierend 3.) ein vernunftbasierter (universalistischer) Kontraktualismus entwickelt.
1.) Die hier vorgestellt kontraktualistische Moralbegründung geht vom einfach belegbaren
Sachverhalt aus, dass alle Menschen notwendig bestimmte Grundbedürfnisse haben und deswegen zwangsläufig kooperieren müssen. Gefühle sind ein Indikator für Bedürfnisse. Für die
später darzulegende intersubjektive Grundlegung von Moral scheint es mir daher sinnvoller,
nicht erst wie Hume bei Gefühlen anzusetzen, sondern bereits bei den dahinter stehenden Bedürfnissen, die zudem noch in weit stärkerem Maße intersubjektiv operationalisierbar sind,
denn ein und die gleichen Bedürfnisse können sich je nach unterschiedlicher psychischer Ver480
Hier liegt offenbar ein signifikanter Unterschied zwischen natur- und moralwissenschaftlicher Einsicht: Man kann motiviert sein, auch komplizierte technische Anwendungen zu nutzen (etwa GPS oder
Computerprogramme), auch wenn man deren naturwissenschaftliche Grundlagen nicht verstanden hat,
wohingegen die Beachtung moralischer Normen ohne Einsicht in deren Berechtigung allgemein doch
relativ schwer fällt. Natur- und moralwissenschaftlicher Einsicht gemeinsam ist, dass deren Anwendung um so wahrscheinlicher wird, je größer der von ihr ausgehende (eigene) Vorteil erscheint.
481
"Alles Wohlwollen ist bloße Heuchelei, Freundschaft ist Betrug, Gemeinsinn eine Posse, Treue
eine Falle, um Glauben und Vertrauen zu gewinnen; und während wir alle im Grunde nur unsere persönlichen Interessen verfolgen, tragen wir diese schönen Masken, um die anderen in Sicherheit zu
wiegen und sie dann um so eher unseren Tücken und Machenschaften auszusetzen". Hume (Enq) S.
227. "Und unter den neueren haben Hobbes und Locke, die das egoistische System der Moral verteidigten, ein untadeliges Leben geführt ...". Hume (Enq) S. 228.
232
fassung einer oder zumal mehrerer Person verschieden stark emotional ausprägen. Für jemanden dem jeden Tag eine reiche Palette an Nahrungsmitteln zur Verfügung steht, mag das Gefühl von Hunger unerträglich sein, wohingegen jemand, der in der Fastenzeit ohnehin weniger
zu sich nimmt, das Hungergefühl durchaus verkraftbar scheint. In jedem Fall stirbt ein jeder
Mensch, wenn seinem Körper über einen bestimmten Zeitraum hinweg ein gewisses Quantum
an Lebensmitteln vorenthalten bleibt.
Ganz im Sinne Humes und Benthams bin ich überzeugt, dass alle Menschen (alle Lebewesen mehr oder weniger bewusst) im Grunde versuchen, positive Gefühle (Bedürfnisbefriedigung) zu erzielen und negative Gefühle (Bedürfnisentsagung) zu vermeiden. Positive Gefühle
werden als 'gut' negative Gefühle als 'schlecht' beurteilt. Von Moral kann dann gesprochen
werden, wenn es um die intersubjektive Relevanz von positiven oder negativen Gefühlen und
den dahinter stehenden Bedürfnisse geht. Dafür werden positive oder negative Gefühle durch
Verstand und Vernunft hierarchisiert, deren Ursachen analysiert und Verhaltensregeln (Kriterien für Verhalten) entwickelt, die das Entstehen positiver Gefühle und das Vermeiden negativer Gefühle fördern helfen sollen.
Ein großer Verdienst Humes liegt in seiner Einsicht, dass alle moralischen Urteile von Bedürfnissen, Wünschen, Interessen ausgehen und sich letztendlich (sinnvollerweise) auch (nur)
auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse, Wünsche, Interessen richten können. Diesen Zusammenhang ignorierende Moraltheorien - vornehmlich des rationalistischen Typs, in dem
Gerechtigkeitsfragen im Mittelpunkt stehen - werden spätestens dann von eben diesem Zusammenhang wieder eingeholt, wenn es darum geht konkrete (inhaltliche und nicht nur formale) Vorschriften aus abstrakten Gerechtigkeitskriterien zu entwickeln. Dann zeigt sich nämlich, dass Gegenstand von Gerechtigkeitserwägungen wiederum nur solche Sachverhalte sein
können, die direkt oder indirekt mit der Bedürfnisbefriedigung korrelieren - sei es Freiheit
und Eigentum bei Kant oder Chancengerechtigkeit bei Rawls. Die gerechte Zuerkennung von
Freiheit, Eigentum, Chancen kann nach hier vertretener Auffassung letztlich keinen anderen
intersubjektiv begründbaren Sinn haben, als für alle Menschen die normativen Voraussetzungen zu schaffen, ihre Bedürfnisse so gut als eben möglich zu befriedigen.
2.) Der verstandesbasierte individualistische Kontraktualismus geht vom Eigeninteresse
der Menschen aus, verankert darin überhaupt erst das Erfordernis für die Einführung der Institution 'Moral'. Rationales Verhalten bedeutet Optimierung des eigenen Vorteils (Nutzens).
Aus Gründen der Selbsterhaltung, der eigenen Sicherheit (dem ureigensten Interesse), treffen
Menschen Vereinbarungen zur Einhaltung moralischer Normen (bei Hobbes noch durch Vertrag, später bei Hume eher durch Übereinkunft). Die Vorstellung der Verfolgung nur eigenen
kurzfristigen Interesses wird von einer Strategie allgemeinen langfristigen Interessenausgleichs ergänzt, weil die konsequente direkte Verfolgung des Eigennutzes nur zu suboptimalen Ergebnissen hinsichtlich des erzielbaren Gesamtnutzens (für alle Menschen) führt.
In meinem individualistischen kontraktualistischen Ansatz werde ich relativ konkret untersuchen, inwiefern die politischen, wirtschaftlichen, sozialen Bedingungen und die Regelungen
zum Umweltschutz in Deutschland als auf einem allgemeinen gesellschaftlichem Konsens
beruhend angesehen werden können oder doch nur auf bestimmte Machtkonstellationen zurückzuführen sind. Prädestiniert für die Analyse eines allgemeinen gesellschaftlichen Konsenses scheint mir in jedem Fall das utilitaristische Nutzenmodell, weil jeder Mensch rationalerweise seinen eigenen Vorteil anstrebt. Abhängig vom Ergebnis der Analyse über die Kongruenz oder Diskrepanz der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland mit allgemein konsensfähigen Nutzenvorstellungen werde ich Vorschläge zur Verbesserung entweder
des kontraktualistischen Modells oder zur Anpassung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen umweltpolitischen Wirklichkeit in Deutschland machen.
Mit dem Nutzengedanken bringt Hume zwar den normativen Zusammenhang zwischen
unseren Bedürfnissen, Wünschen, Interessen und unseren Moralvorstellungen kohärent zum
Ausdruck, vernachlässigt dabei aber Gerechtigkeitsgesichtspunkte, wodurch sich seine Moral233
theorie (und die allermeisten anderen utilitaristischen Moraltheorien auch) erhebliche normative Defizite einhandelt. Deshalb werde ich im letzten Kapitel über einen vernunftbasierten,
universalistischen Kontraktualismus versuchen, einschlägig bekannte Mängel utilitaristischen
Denkens herauszuheben und Vorschläge zu dessen Optimierung machen.
3.) Der klassische vernunftbasierte universalistische Kontraktualismus verzichtet gemeinhin auf eine solche Strategie der Optimierung prudentieller Rationalitätskonzeptionen, weil er
sich zur Erfüllung anspruchsvollerer moralischer Geltungsansprüche berufen fühlt. Dabei geht
es in der Regel nicht um (pragmatische) Überlegungen zur Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen (etwa im Sinne von Verkehrsregeln), sondern vorrangig um die Begründung
und Rechtfertigung normativer Wahrheit. Über die (deutliche) Reduktion empirischer Handlungsbedingungen nimmt der universalistische Kontraktualismus einfach an, es gebe Gründe
für die Akzeptanz moralischer Normen, die zumindest für alle vernünftigen Menschen nachvollziehbar sind. Die zentrale moralische Aufgabenstellung besteht nach meiner Auffassung
jedoch aus prudentieller und universalistischer Perspektive gerade darin, Spielräume zur Verfolgung von individuellen prudentiellen Handlungsinteressen zu schaffen, ohne die Frage aus
dem Blick zu verlieren, wie die daraus entstehenden Interessenkonflikte in moralisch legitimer Art und Weise vernünftig geregelt werden können.
Meine Zielvorstellung einer Überwindung der Kontroverse zwischen prudentiellem und
vernunftbasiertem Kontraktualismus erfordert wiederum auch die inhaltliche und methodische
Bewältigung der alten Kontroverse zwischen Hume und Kant, die von Humeanern und Kantianern bis in die jüngste Vergangenheit immer noch eher verschärft, als beschwichtigt wird.
Während Hume und seine Nachfolger vor allem die empirische psychologische Seite unserer
Moralvorstellungen untersuchen, ohne in einem umfassenden Sinn zu hinreichend begründeten normativen Vorstellungen gelangen zu können (verstandesbasierter Kontraktualismus),
beschäftigen sich Kant und seine Befürworter vornehmlich rationalistisch mit Geltungsfragen
und vernachlässigen dabei die Genese unserer Moralvorstellungen und damit auch deren Motivationshintergrund (vernunftbasierter Kontraktualismus).
Hume und nahezu alle Handlungsutilitaristen übersehen, dass optimaler Nutzen für alle
Menschen nur über Gerechtigkeitsvorschriften erzielt, dass eine Motivation zur Beförderung
des Gemeinwohls, des Gesamtnutzens nur über solche Gerechtigkeitsvorschriften gewährleistet werden kann, die sicher stellen, dass alle auch von den Früchten einer Gemeinschaft Gesellschaft angemessen (gerecht) partizipieren. Diesen Begründungsweg in seinen wichtigsten
geltungstheoretischen Dimensionen nachzuzeichnen, widmet sich vorliegendes Kapitel. Es
bietet sich nicht zuletzt aus heuristischen Erwägungen an, diesen Begründungsweg genetisch
nachzuzeichnen - angefangen vom Subjekt mit seinen (individuellen) Bedürfnissen, Wünschen, Interessen bis hin zu (intersubjektiven) Gerechtigkeitsprinzipen. Für die Rechtfertigung
dieses Begründungswegs in allen seinen wesentlichen genetischen und geltungstheoretischen
Aspekten scheint mir keine moraltheoretische Begründungsfigur geeigneter, als die konsensorientierte kontraktualistische, die verlangt, dass alle Moralvorschriften letztendlich auch vom
Standpunkt, von der Interessenlage jedes Individuums aus erklärbar sein müssen. Unter ihrem
Dach versuche ich eine Synthese von Nutzendenken und Gerechtigkeitsvorstellungen, von
individualistischem und universalistischem Kontraktualismus.
3.1 Anthropologische Grundlagen
Grundlage einer globalen Moraltheorie kann nur ein weitgehend weltanschaulich neutrales,
intersubjektiv geteiltes Menschenbild sein. Mit Kant und Hume haben wir zwar europäische
Moraltheorien, aber gleich zwei völlig verschiedene Menschenbilder. Davon abgesehen sind
mir auch keine anderen Moraltheorien bekannt, die genau das gleiche Menschenbild voraussetzen. Wenn man jetzt noch den asiatischen Kulturraum hinzuzählt, in dem die Gemeinschaft
(angeblich) mehr zählt als das Individuum oder den moslemischen Kulturraum, wo Frauen
234
weniger wert scheinen als Männer, gelangt man zu einer unübersehbaren Anzahl von Menschenbildern. Als intersubjektive Grundlage für eine Moraltheorie als Basistheorie mit globalem Anspruch kommt nur ein solches Menschenbild in Betracht, dessen Eckpfeiler auf allgemein anerkannten Tatsachen beruhend naturwissenschaftlich abgesichert sind.
In meinen Augen bedeutet es eine unbegründete und auch völlig unnötige Verengung moralischer Perspektiven, den Menschen ausschließlich auf ein hedonistisches oder idealistisches Menschenbild einzuschränken. Denn der Mensch genießt (gegenüber den meisten Tieren) den großen Vorzug, nicht einfach nur gut oder nur böse, nur hedonistisch oder nur idealistisch orientiert zu sein, sondern selbst entscheiden zu können, ob er egoistisch oder rücksichtsvoll oder wie auch immer sein will. Den Ausschlag dafür, was für Menschen wir sind,
gibt also die Beantwortung der Frage, was für Menschen wir sein wollen. Menschenbilder
entstehen aus der Beschäftigung mit dem Problem, wie wir als Menschen anderen Menschen
gegenüber erscheinen möchten und wie andere Menschen sich uns gegenüber verhalten sollen? Welches Menschenbild wir unseren moralischen Überlegungen zugrunde legen, hängt
somit wesentlich davon ab, unter welchen zwischenmenschlichen Bedingungen wir leben
wollen. Welche moralischen oder unmoralischen Handlungen in unserem Interesse liegen,
beruht ganz einfach darauf, wie wir uns selbst einschätzen und von anderen Menschen eingestuft werden wollen. Menschen sind die einzigen uns bekannten Wesen auf dieser Erde, deren
Handeln nicht notwendig von ihrer (biologischen) Natur bestimmt wird, die sich mit relativ
großen Freiheitsgraden in ihrem Denken, Wollen und Handeln selbst entwerfen können.
Von einer Moraltheorie mit intersubjektivem Geltungsanspruch darf erwartet werden, dass
ihre Normierungen nicht menschenbildspezifisch sind, sich ihr Geltungsanspruch bereits von
selbst erledigt, wenn man von einem anderen Menschenbild (einer anderen Weltanschauung)
ausgeht. Eine Moraltheorie mit intersubjektivem Geltungsanspruch muss für hedonistische
und idealistische Selbstentwürfe (und sogar religiöse Selbstentwürfe) grundsätzlich 'offen'
sein, darf kein bestimmtes Menschenbild vorschreiben, weil andernfalls ihr Geltungsanspruch
auf Menschen mit eben diesem Menschenbild beschränkt bleibt. Für ein intersubjektiv gültiges Menschenbild muss auf solche Merkmale des Menschen zurückgegriffen werden, die von
allen Menschen teilbar sind, was nichts anderes bedeutet, als dass auf solche Merkmale zurückgegriffen werden muss, die hedonistischen oder idealistischen Einstellungen vorausgehen. Moraltheorie hat die Grundlagen für die (rechtlichen und ethischen) Bedingungen dieser
Selbstentwürfe aufzeigen und deren Grenzen (sofern sie das Zusammenleben mit anderen
Menschen tangieren).
Keine Moraltheorie sollte übersehen, dass Menschen nur dann ein selbstbestimmtes Leben
als Menschen führen, wenn sie ihren je eigenen Entwurf vom Menschsein (unabhängig von
irgendwelchen philosophischen, religiösen oder politischen Weltanschauungen) realisieren
können, den keine Morallehre mit wissenschaftlichem Anspruch vorzuschreiben sich jemals
befugt fühlen darf. Denn der besondere moralwissenschaftliche Anspruch entsteht gerade aus
dem Bemühen zu zeigen, unter welchen allgemeinen normativen Rahmenbedingungen alle
Menschen mit gleichem moralischen Anspruch auf ein in ihren Augen sinnvolles Leben ihre
jeweils speziellen Lebensentwürfe mit den entsprechenden Weltanschauungen am ehesten
realisieren können. Es geht im moraltheoretischen Zusammenhang primär also nicht um die
Frage nach den Voraussetzungen eines nur individuell entscheidbaren guten Lebens, sondern
um das Problem der moralischen Begründung solcher allgemeinen Lebensverhältnisse, in
denen der Spielraum für die Verwirklichung ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe und deren Grenzen gerecht bestimmt wird.
Der Mensch bewegt sich in seinem Naturhorizont, Bedürfnishorizont, Handlungshorizont
um überleben zu können, auf allen drei kognitiven Ebenen, einer Gefühls- und Empfindungsebene, auf einer Verstandesebene und einer Vernunftebene. Dabei nimmt er wohl (in seinem
Alltag) am häufigsten die Gefühls- und Empfindungsebene, weniger die Verstandesebene und
235
am seltensten die Vernunftebene in Anspruch. Wie die transzendentale Analyse unserer Moralvorstellungen gezeigt hat, enthält die Empfindungs- und Gefühlsebene nicht notwendig
Elemente der Verstandesebene oder gar Vernunftebene, aber die Verstandesebene beinhaltet
zwangsläufig auch Gefühls- und Empfindungsdimensionen und ebenfalls nicht notwendig
Vernunftelemente, während die Vernunftebene zwangsläufig Verstandesaspekte und damit
natürlich auch wiederum Gefühls- und Empfindungselemente umfasst.
Sich auf allen drei kognitiven Ebenen bewegen zu können, macht das Menschsein überhaupt erst aus. Für die optimale Wirksamkeit einer Moraltheorie erscheint es (zwingend) erforderlich, den Menschen auf allen drei Ebenen anzusprechen und eine sinnvolle Balance
zwischen allen drei Ebenen zu finden. Nur wenn der Mensch mit seinen Gefühlen, mit seinem
Verstand und seiner Vernunft angesprochen wird, lässt er sich von Moral handlungswirksam
überzeugen. Dabei dürfen natürlich nicht die Grenzen der drei unterschiedlichen kognitiven
Ebenen übergangen werden. Die von Gefühlen dominierte Ebene bietet - weil nicht mit rationaler Einsicht verbunden - einen starken spontanen, eher kurzfristigen Handlungsanreiz, wodurch die Gefahr besteht, dass der mit einer bestimmten Handlung verbundene positive Anreiz später einmal nicht mehr so eindeutig ausfällt, ganz nachlässt oder sich sogar in das Gegenteil verkehrt. Sie bietet außerdem relativ wenig zuverlässige Orientierung. Die Verstandesebene verlangt (teils emotional und teils prudentiell rational) nach einem Ansatz, der die
(persönlichen) kurzfristigen Interessen eines Menschen berührt. Die Vernunftebene (teils
emotional, teils prudentiell und teils vernunftbasiert rational) appelliert hingegen an die langfristigen Interessen eines Menschen. Deshalb erweisen sich alle Moraltheorien für eine Globalmoral als unzureichend, die den Menschen eindimensional ganz oder überwiegend nur auf
einer Gefühlsebene, einer Verstandesebene oder einer Vernunftebene ansprechen.
Nach meiner Einschätzung lässt sich weder eine (rein) empiristische (Hume), noch eine
(rein) rationalistische (Kant) Auffassung durchgängig plausibel unterstützen. Weder werden
wir allein von unseren eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen, noch allein von Vernunft in unserem Handeln geleitet, denn in beiden Fällen wäre Moral schlicht und einfach
überflüssig: Wenn wir uns nur von unseren Wünschen leiten lassen würden, könnten uns rationale Gründe in unseren Handlungsentscheidungen überhaupt nicht beeinflussen und wir wären in praktischer Hinsicht schlechterdings gar nicht lernfähig, in letzter Konsequenz vermutlich nicht einmal lebensfähig, was aber die Entwicklung von (unrealistischen) kindlichen
Wünschen hin zu den (realistischen) Wünschen Erwachsener widerlegt. Auch wenn wir uns
nur von vernünftigen Gründen in unserem Handeln leiten ließen bräuchten wir keine Moral,
da wir in dem Fall ohnehin immer moralisch handeln würden.
Tatsächlich findet ein ständiger Abgleich zwischen unseren Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen, unserer verstandesbasierten Lebenserfahrung, unseren verstandesbasierten Interessen
und vernünftigen Überlegungen statt. Dieser Abgleich stellt im Grunde genommen nichts
anderes als ein Kosten- Nutzenkalkühl dar, in dem wir den Nutzen unseres Tuns mit seinem
Aufwand gegeneinander aufrechnen. Diese Vorgehensweise bildet methodisch und inhaltlich
im Grunde genommen das utilitaristische Nutzenkalkühl ab. Wenn allerdings keine Moralkriterien (etwa Gerechtigkeit durch allgemeinen Nutzen) in das Nutzenkalkühl einfließen, bleibt
das Nutzenprinzip kein spezifisch moralisches Kriterium (allgemeiner) Handlungsrationalität,
sondern nicht unbedingt ein unmoralisches, aber jedenfalls ein außermoralisches. Die Grundlage des Nutzenkalkühls bildet rationales Handeln. Wenn X seine Familie in Armut stürzen
würde, um sein ganzes Vermögen für ein Kinderhilfswerk in Afrika zu spenden, so würden
wir sein Verhalten zwar als (partiell) moralisch lobenswert, aber nicht unbedingt als rational
bezeichnen, weil der daraus erwachsende Aufwand weitaus größer ist, als der für ihn daraus
resultierende Ertrag. Nehmen wir an, X sei übergewichtig und möchte abnehmen, weil sein
Arzt im gesagt hat, er schädige andernfalls seinen ganzen Organismus, was zu einer deutlich
verkürzten Lebenserwartung führe. Wenn dies im Winter nur mit einer Kartoffeldiät ginge, X
aber Kartoffeln überhaupt nicht ausstehen mag, wird er seinen Wunsch abzunehmen, vermut236
lich zurückstellen, weil der Verlust an Lebensqualität durch die unliebsamen Kartoffeln für
ihn einen höheren Stellenwert hat, als der Gewinn an Lebensqualität durch weniger Übergewicht. Wenn er jedoch im Sommer eine Möhrendiät machen kann und Möhren zu seinem
Lieblingsgemüse zählt, wird er wahrscheinlich gerne abnehmen, weil das Kalkül von Aufwand und Nutzen in dieser Rechnung für X eindeutig positiv ausfällt.
Gefühlsbasierte Wünsche können auch ohne vernünftige Überlegungen oder sogar entgegen vernünftiger Erwägungen handlungswirksam werden, wohingegen vernünftige Überlegungen ohne entsprechenden Wunsch, ohne entsprechendes Motiv in der Regel kaum realisiert werden dürften. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Wenn ich keine Autos mag und deshalb auch keinen Führerschein besitze, wird mich auch nicht ein besonders preisgünstiges,
sparsames und umweltfreundliches Auto zum Kauf bewegen. Wenn ich hingegen schon von
Kind auf einen Sportwagen fahren wollte, kaufe ich vielleicht wegen des geringen Preises ein
solches Fahrzeug, obwohl dann der bereits geplante Urlaub mit der Familie nicht durchgeführt
werden kann und sich meine Familie wegen der hohen Unterhaltskosten für den Sportwagen
stark einschränken muss.
Freilich wird durch rationale Überlegung (das wollte ich mit der Entwicklung kindlicher
Wünsche zu Wünschen von Erwachsenen bereits andeuten) eine Modifikation von Wünschen
möglich: Anstatt eines Sportwagens, könnte ich mir auch einen sportlichen Kombi kaufen,
damit meine Bedürfnisse und die meiner Familie 'versöhnt' sind. Auch wenn ich mich nie für
Immobilien interessiert habe, werde ich nach dem Vortrag eines redegewandten Vertreters
vielleicht in Immobilienfonds investieren, wenn ich ohnehin den Wunsch habe, mein erspartes
Geld gewinnbringend anzulegen. Neue Wünsche können aber nicht allein durch vernünftige
Erwägungen entstehen, sondern müssen immer an bereits bestehenden Wünschen anknüpfen.
Ähnlich kann man nur etwas neues lernen, wenn es an bereits Erlerntem andockt, etwa eine
neue Sprache nur dadurch, dass man sie mit der Syntax einer bereits beherrschten Sprache in
Verbindung bringen kann.
3.1.1 Bedürfnisse
Gefühle sind evolutionsbiologisch wohl die ältesten Instrumente der Verhaltenssteuerung,
indem der Körper (das Gehirn) Handlungen und sogar Vorstellungen von Handlungen zur
Selbsterhaltung fördert oder erschwert. Die Natur hat Lebewesen so eingerichtet, dass sie
mangelnde Bedürfnisbefriedigung als unangenehm und ausreichende Bedürfnisbefriedigung
als angenehm empfinden. Durch Nahrungsaufnahme oder Fortpflanzungserfolg etwa ausgelöste Gefühle 'belohnen' und unangenehme Gefühle, wie Durst oder Schlafmangel 'bestrafen'
einen Organismus. Jeder Mensch hat zusammen mit den meisten anderen Lebewesen auch
bestimmte natürliche Grundbedürfnisse, deren Befriedigung seine Existenz überhaupt erst
ermöglichen - vor allem nach Nahrung, Sexualität, Bewegung, Ruhe, Schlaf. Mit Hilfe von
Gefühlen wie Hunger oder Sattheit, Mut oder Furcht, Müdigkeit oder Anspannung soll das
Überleben des Organismus auch unter widrigen Lebensbedingungen sichergestellt werden.
Alle Lebewesen konkurrieren im Grunde darum, ihre Bedürfnisse so gut als irgend möglich
zu befriedigen. Viele Lebewesen sind imstande, mittels raumzeitlicher und kategorialer Ordnungsfunktionen, teilweise subjektiv gültiger Ordnungsvorstellungen und der Mensch sogar
durch intersubjektiv gültige raumzeitliche und kategoriale Ordnungsprinzipien bestimmte
Ereignisse mit dem Eintritt bestimmter Gefühle kausal zu verknüpfen und darüber Erfahrung
zu bilden, sich etwa zu merken, wo vermutlich Nahrung (etwa eine Wasserstelle) gefunden
werden kann oder wie man gegenüber Artgenossen und Feinden reagieren sollte.
Erstaunlicherweise können evolutionär angelegte Verhaltensmuster, Bedürfnisse und darauf gründende Gefühle Verhaltensweisen eines Menschen maßgeblich beeinflussen, ohne
dem Träger selbst bewusst zu werden. Beispielsweise können Mädchen oder Jungen, die nur
mit einem Elternteil aufgewachsen sind, später einen Mutter- oder Vaterkomplex entwickeln
237
und ältere Partner bevorzugen. Aus der empirischen psychologischen Forschung wissen wir
auch, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit (Scheidung der Eltern, Gewalt, Armut) das
Verhalten eines Erwachsenen unbewusst dauerhaft prägen können. Ebenfalls bevorzugen
Männer unbewusst Frauen mit bestimmten Körperproportionen, weil sie Fruchtbarkeit signalisieren oder Frauen Männer mit einer tiefen Stimme aus ähnlichen Gründen. In diesem Sinne
wäre ein Mensch, der zwar unermüdlich den kategorischen Imperativ beachtet, aber durch
seine Kindheit eine (unbewusste) Verhaltensstörung aufweist weniger frei, als ein Mensch,
der nur gelegentlich den kategorischen Imperativ beachtet, aber (auch) die psychologischen
Gründe seines Handelns kennt und bei seinen Entscheidungen berücksichtigt.
Gefühle können fraglos unmittelbar handlungsbestimmend sein, wenn sie nicht die rationalen 'Filter' von Verstand und Vernunft durchlaufen. Viele unserer Entscheidungen im Alltag
werden allein von einer Gefühlsebene aus gesteuert (wir treffen nach Meinung von Experten
am Tag etwa 100.000 Entscheidungen, von denen uns nur ein Bruchteil bewusst wird) und
kognitive Anstrengungen durch Verstand und Vernunft finden erst dann statt, wenn wir unsicher sind, ob die gefühlsmäßige Entscheidung wirklich Vorteile zeitigt oder ob wir durch Gebrauch von Verstand und erst recht Vernunft vielleicht eine noch bessere Handlungsentscheidung erzielen würden. Wir dürfen also davon ausgehen, dass die meisten Handlungsentscheidungen in unserem Alltag von einer (mehr oder weniger unbewussten) Gefühlsebene aus getroffen werden und wir zusätzlich Verstand und Vernunft erst dann einsetzen, wenn wir vor
einer grundsätzlich neuen oder besonders wichtigen Entscheidung stehen. Witzigerweise entscheiden Menschen aber auch dann auf einer Gefühlsebene - was besonders oft Frauen von
Männern unterstellt wird - wenn sie selbst bei einer relativ wichtigen Entscheidung sich auf
Verstandes- oder Vernunftebene kein klares Urteil bilden können, weil ihnen etwa das Wissen, die Erfahrung fehlt, die Handlung von ihren Voraussetzungen, Anforderungen und Konsequenzen her zu überblicken oder aber einfach der Gebrauch von Verstand und Vernunft zu
unsicher, mühselig oder zeitraubend erscheint. Vermutlich sind Menschen durch nichts stärker zum Handeln motivierbar, als durch die (mögliche, wahrscheinliche, sichere) Aussicht auf
eigene Bedürfnisbefriedigung.
Aufbauend auf den Grundbedürfnissen hat allerdings jeder Mensch andere konkrete Bedürfnisse. Es gibt vermutlich keine zwei Menschen (nicht einmal sich sehr ähnliche eineiige
Zwillinge), die exakt die gleichen Bedürfnisse haben. Gebührt deshalb Kant gleich Recht,
weil er meint, Bedürfnisse könnten keine tragfähige Basis Basis für Moralvorstellungen bilden? Entscheidend ist, von welcher Abstraktionsebene aus man diese Bedürfnisse betrachtet:
Man darf ruhig unterstellen, dass alle Menschen gleiche Grundbedürfnisse haben (etwa Nahrung, Schlaf, Fortpflanzung) und sich lediglich darin unterscheiden, wie sie diese Grundbedürfnisse befriedigen. Reiche Menschen werden mitunter Champagner und Kaviar bevorzugen, wohingegen ärmere Menschen mit Brot und Wasser vorlieb nehmen müssen. Es lässt
sich jedoch noch eine Abstraktionsstufe über die Grundbedürfnisse hinausgehen und angeben,
dass alle Menschen zwangsläufig Bedürfnisse haben. Von dieser Abstraktionsebene aus gesehen sind alle Menschen völlig gleich. Diese Art strenger Gleichheit reklamiert Kant auch hinsichtlich der Vernunft aller Menschen. Es geht um Bedürfnisse, die in jedem Menschen einen
mehr oder weniger starken fortwährenden Handlungsantrieb, um nicht zu sagen Handlungsdruck erzeugen. Hätten Menschen hingegen überhaupt keine Bedürfnisse (durch Handlungen)
zu befriedigen, bräuchten sie womöglich gar keine Moralvorschriften, denn ein vernünftiges
Wesen ohne Bedürfnisse wäre vielleicht sich selbst genug, müsste aber in jedem Fall nicht
notwendig handeln, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen. Der ursprüngliche Handlungsantrieb geht deshalb (phylogenetisch und ontogenetisch gesehen) eindeutig von den Bedürfnissen und nicht von Vernunft aus und existiert im heranwachsenden Mensch schon lange
Zeit, bevor sich überhaupt so etwas wie Vernunft ausbildet.
238
Hume erkennt richtig, dass es ohne Gefühle gar keinen Handlungsanreiz geben kann. Allerdings übersieht er, dass hinter unseren Gefühlen Bedürfnisse stehen. Gefühle sind wie erwähnt verhaltenssteuernde Instrumente unseres Körpers zum Zwecke unserer Bedürfnisbefriedigung; Bedürfnisbefriedigung 'belohnt' er mit angenehmen Gefühlen, Bedürfnisentsagung
'bestraft' er mit unangenehmen Gefühlen. Grundlegender für unser Handeln sind also nicht
Gefühle, sondern Bedürfnisse. Durch rationales Verhalten (Erfahrung und Vernunft) befriedigt man seine Bedürfnisse in der Regel eher und nachhaltiger, als durch schlichtes emotionales Verhalten. Mittels rationalem Verhalten in Bezug auf meine Bedürfnisbefriedigung bin ich
meinen Gefühlen nicht völlig 'ausgeliefert', sondern kann von vornherein positive Gefühle,
Erlebnisse versuchen herbeizuführen und negative Erfahrung versuchen zu vermeiden. Es
scheint daher ein grundlegender Fehler im Utilitarismus, von Gefühlen und nicht den sie auslösenden Bedürfnissen - genauer: Grundbedürfnissen auszugehen. Denn negative Gefühle
kann es auch auslösen, wenn mein Haus nicht mindestens die doppelte Größe hat, wie das des
Nachbarn. Bedürfnisse (vor allem Grundbedürfnisse) sind objektivierbar, positive oder negative Gefühle hingegen kaum. Hume vermag zudem nicht recht deutlich zu machen, wie positive oder negative Gefühle durch Verstand und Vernunft weiterverarbeitet werden. Dies betrifft vor allem die (rationalen) Entwicklungsstufen von moralischen Gefühlen zum MPOV
(moral point of view). Erst die Fähigkeit zur rationalen Steuerung von Verhalten verschafft
dem Menschen doch die weit über das Tier hinausgehende Handlungskompetenz. Wenn Gefühle beim Menschen hingegen ähnlich unmittelbar handlungsbestimmend wären, wie bei
Tieren, hätten Menschen auch kaum größere Handlungskompetenz. Denn selbst unser Wissen
über die Natur hat uns doch nur deshalb entscheidende Vorteile gegenüber anderen Lebewesen gebracht, weil wir es in unserem Handeln auch berücksichtigen konnten.
Bedürfnisse lassen sich auch (eher) unter rationale Kontrolle bringen, als Gefühle (gegen
Hume). Wenn ich mir etwa das Rauchen abgewöhne, kann ich das Bedürfnis nach Nikotin
durch meinen Willen, gesünder zu leben unterdrücken, aber nicht das Gefühl des Entzugs.
(Grund-) Bedürfnisse bieten den 'Vorteil', dass sie sich (eher) generalisieren, quantifizieren,
rationalisieren lassen, als Gefühle oder Präferenzen (Präferenzutilitarismus). Gefühle hat man
oder man hat sie nicht - sie lassen sich kaum steuern (so auch Hume). Gefühle sind jedoch nur
deshalb oft derart handlungswirksam (handlungsmächtig), weil hinter ihnen (in unserer Natur
angelegte) elementare Bedürfnisse stehen. Das Kantische Gefühl der Achtung mag zwar unter
Umständen ein Gefühl sein, aber weil dahinter kein Bedürfnis steht, nimmt es auf unser Handeln (im Alltag) bei weitem nicht diesen Einfluss, wie Gefühle, hinter denen naturgegebene
(echte) Bedürfnisse stehen. Wenn also Kant meint, dass moralisches Handeln sinnlicher Antriebe bedarf, hätte er nachweisen müssen, nicht wie ein 'vernunftgewirktes' moralisches Gefühl der Achtung gegenüber Moral entstehen, sondern wie ein Bedürfnis nach und darauf basierend ein Interesse an moralischem Handeln erweckt werden kann. Dieses Bedürfnis nach
moralischem Handeln dürfte um so stärker sein, je mehr es mit unserem natürlichen Antrieb
zur Bedürfnisbefriedigung korrespondiert und sich nicht - wie es Kant ausdrücklich verlangt von ihm distanziert. Insofern fordert der Kantische Ansatz den Humeschen geradezu als
Grundlage und umgekehrt der Humesche Standpunkt nach universell gültigen Moralvorstellungen im Kantischen Sinne. Dazu müsste gezeigt werden, wie eine Verbindung von moralischer Genese aus der Humeschen Gefühlswelt zur moralischen Geltung im Kantischen Vernunftkosmos gelingen kann.
Allerdings erreichen wir Moral nicht unabhängig von unserer Natur (allein durch Vernunft), wie Kant in fundamentaler Fehleinschätzung offenbar meinte, sondern nur im Rahmen
unserer Natur (wie Hume zutreffend annahm). Der von Kant propagierte Gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft erweist sich empirisch als unhaltbar. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen belegen, dass die dualistische Sicht auf den Menschen nicht der Realität entspricht.
Zumindest die handlungsbestimmende Vernunft des Menschen funktioniert nachweislich
nicht unabhängig von anderen kognitiven Leistungen, wie (meine transzendentale Analyse
239
und) aktuelle neurologische Forschung zeigen: Das gegenüber Verstand und Vernunft sehr
viel ältere limbische System, das neben der Steuerung vegetativer-nervöser und hormoneller
Vorgänge für die Steuerung von Affekten wie Liebe, Furcht oder Wut zuständig ist, stellt
nach Roth das zentrale Verhaltensbewertungssystem dar.482 Hier entscheide sich, welche Bedeutung eine bestimmte Erfahrung hat, was auf Grund gemachter Erfahrungen im Gedächtnis
gespeichert wird, um künftiges Verhalten entsprechend zu steuern und zu motivieren.
Auf der Basis dieser Erfahrungen ordnet der Mensch die Welt in der Art und Weise, dass
er sinnvoll in ihr agieren kann. Die Bedeutung einer Erfahrung und damit ihr Einfluss auf die
Ausbildung bestimmter Denkmuster werden entscheidend vom limbischen System und somit
von den in Verbindung mit der Erfahrung gemachten Emotionen bestimmt. Da die Bedeutung
und damit die Speicherung von Erfahrungen von den emotionalen Begleitumständen bestimmt wird, erhält die emotionale Ebene eine fundamentale Rolle für das notwendigerweise
von seinen gemachten und gespeicherten Erfahrungen abhängende Verhalten, Denken und
Urteilen eines Menschen. Daher stellen auch die letztlich ins Bewusstsein dringenden und
dort kognitiv verarbeiteten Inhalte bereits eine Auswahl dar, die von emotionalen Gesichtspunkten bestimmt wird. Roth erklärt hierzu: "Dieses Bewertungsgedächtnis, in dem unsere
gesamte Lebenserfahrung abgelegt ist, steuert unser Verhalten. Es entscheidet unter Berücksichtigung der jeweiligen Reize aus der Umwelt und meinem Körper, was ich im nächsten
Augenblick tue. Dies bedeutet, dass die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens aus den
'Tiefen' unserer unbewussten Gedächtnisinhalte und den damit verbundenen Gefühlen und
Motiven stammen."483
Wenn die Funktion des menschlichen Gehirns von dessen Erfahrungen abhängt, so betrifft
diese Erfahrung die gesamte Identität des Menschen, seine kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, seine bewussten und unbewussten Verhaltensmotive, seine Auffassung von der
Welt, wie von seinen Mitmenschen und nicht zuletzt damit natürlich auch sein moralisches
Denken, seine moralischen oder sozialen Kompetenzen. Alleinige Vernunfterkenntnis moralischer Regeln reicht - wie auch Damasios Fälle beweisen - bei weitem nicht aus, um ein moralisches oder auch nur soziales Verhalten zu motivieren. Moralische Verhaltens- oder Denkweisen, wie etwa die Bereitschaft andern zu helfen, Verantwortungsbewusstsein andern gegenüber, der Respekt gegenüber dem Leben und den Interessen anderer können nicht allein
durch Einsicht herbeigeführt, 'erzwungen' werden. Moralisches Verhalten kann letztlich nicht
eingefordert werden, wenn es nicht Teil der Identität eines Subjektes geworden oder wenn die
physiologische Basis hierfür zerstört worden ist.
Vorrangig sollte es darum gehen, zumindest die wesentlichen empirischen Voraussetzungen für die Entwicklung moralischen Denkens und Handelns einzusehen, um dafür zu sorgen,
dass diese Bedingungen besser erfüllt werden können. Wie psychologische Untersuchungen
von Gareis zeigen, weisen 64 Prozent von Kindern, die später straffällig wurden, bereits im 1.,
2., 3. und 4. Lebensjahr deutliche Merkmale einer frühkindlichen Vernachlässigung auf. Er
schreibt: "Mangelhafte frühkindliche Sozialisation (also frühkindliche Deprivation) ist nach
meinen Untersuchungen von grundlegender Bedeutung und Ursächlichkeit für spätere Straffälligkeit. Frühkindlich deprivierte Kinder sind unter den straffällig gewordenen Jugendlichen
statistisch signifikant überrepräsentiert."484 Der Kriminologe Kaiser fand bei Untersuchungen
in deutschen Haftanstalten heraus, dass nur 5 Prozent der Insassen mit zumindest einer festen
Bezugsperson aufgewachsen waren. 50 Prozent hatten allein bis zu ihrem 14. Lebensjahr
mehr als 5 Bezugspersonen.485
482
Vgl. Roth, Gerhard. Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt/Main. 1997. S. 197f.
Roth (1997) S. 306 f.
484
Vgl. Gareis (1978) S. 37.
485
Kaiser (1978) S. 44.
483
240
Nach Bowlby wird ein Kind gegenüber anderen Menschen umso gleichgültiger, desto vollständiger die Deprivation in den ersten Lebensjahren erlebt wurde. Bowlbys Beobachtungen
an hochgradig vernachlässigten Kindern, an Kindern, die keine ausreichende Zuwendung der
Eltern erlebt haben, zeigen, dass es zu keiner stabilen Persönlichkeits- und Gewissensbildung
kommt, ihr Verhalten impulsiv und ungesteuert wirkt und sie häufig unfähig sind, weiter gesteckte längerfristige Ziele zu verfolgen, weil sie Opfer ihrer augenblicklichen Gefühle sind.
Für solche Kinder sind alle Wünsche gleich, und auf alle muss sofort reagiert werden. Ihre
Fähigkeit zur Selbstkontrolle fehlt entweder ganz oder ist nur schwach ausgebildet, jeder neue
Impuls treibt sie in eine neue Richtung. Aber ohne diese Fähigkeit kann der Mensch einen
erfolgreichen Weg durch unsere Welt nicht finden. So gesehen sind diese Kinder stets unfertige und unfähige Persönlichkeiten, die nicht aus ihren Erfahrungen lernen können, und infolgedessen ihre eigenen größten Feinde.486
Über die emotionale Beziehung zu einer festen Bezugsperson verinnerlicht das Subjekt das
Gefühl der sozialen Verbundenheit mit dem andern und somit auch das Gefühl der moralischen Verpflichtung andern gegenüber affirmativ. Die für ein moralisches Verhalten notwendige Motivation lässt sich dadurch erklären, dass die Moralität eines Subjektes im Zusammenhang mit einem emotionalen Verbundenheitsgefühl mit andern entwickelt wird487 (siehe
bereits Humes Gefühle der Sympathie und des Mitgefühls). Das Gefühl der moralischen Verpflichtung bildet sich in Bezug auf das familiäre Umfeld am stärksten aus, was natürlich und
letztlich auch sinnvoll erscheint. Diese und ähnliche Untersuchungen zeigen, dass es mit
Blick auf die Realisierung von Moral letztendlich wenig Sinn macht, ausschließlich abstrakt
über moralische Prinzipien zu diskutieren, wenn die Basis für ein soziales Bewusstsein und
Verhalten bei benachteiligten Menschen erst gar nicht entstehen konnte.488
3.1.2 Wünsche
Da unbefriedigte Bedürfnisse Unbehagen (negative Gefühle) und befriedigte Bedürfnisse
Wohlbehagen (positive Gefühle) auslösen, haben alle Lebewesen in der Regel den Wunsch,
ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Wünsche richten sich auf bestimmte Handlungsoptionen,
ohne notwendig bereits einen konkreten Handlungsinhalt zu generieren. Beispielsweise kann
ich Hunger haben und daraufhin den Wunsch verspüren, etwas zu essen, ohne bereits festzulegen, was ich essen möchte. Dieser unspezifische Wunsch kann sich dahingehend konkretisieren, Obst, einen Apfel essen zu wollen. Alle Lebewesen sind von ihrer neurologischen Seite her durch den Selbsterhaltungstrieb evolutionsbiologisch so eingerichtet, dass sie Wohlbefinden anstreben und Schmerzen vermeiden möchten. Mit Hilfe raumzeitlicher und kategorialer Ordnungsmuster können wir Menschen (und auch die meisten anderen Lebewesen auf
dieser Erde auch) Erfahrung bilden. Erfahrung sammeln heißt im Kontext von Gefühlen nicht
mehr und nicht weniger, als dass wir wissen, welches positive oder negative Gefühl mit welchem Zustand unseres Körpers korreliert, welches Gefühl Hunger, welches Gefühl Durst oder
etwa welches Gefühl Müdigkeit signalisiert und durch welche Handlungen diese Wünsche in
unserem Naturhorizont im Rahmen unseres Handlungshorizonts befriedigt werden können.
Während wir unsere Gefühle selbst durch Verstand und Vernunft nicht korrigieren, sondern allenfalls abblocken, unterdrücken, abschwächen können, scheint es durchaus möglich,
auf Gefühlen basierende Wünsche durch Verstand und Vernunft zu modifizieren. Wenn ich
etwa das Gefühl des Hungers verspüre, kann ich die sich darauf richtende Motivation, eine
Handlung vorzunehmen, nämlich etwas zu essen - etwa wegen einer Diät oder einer wichtigen
Arbeit - unterdrücken, aber ich kann durch Verstand und Vernunft nicht das Gefühl selbst
beseitigen oder modifizieren. Und damit das Hungergefühl nicht handlungsinitiierend wirkt,
486
Bowlby( 2005) S. 51.
Ignatius (2009) S. 99.
488
Ignatius (2009) S. 98.
487
241
muss ich es fortwährend (solange das Gefühl besteht) durch Verstand (und Vernunft) unter
Kontrolle behalten. Auf Gefühlen basierende Wünsche sind hingegen durch Verstand und
Vernunft abänderbar. Wenn ich Hunger habe, kann ich meiner Gesundheit wegen durchaus zu
Obst anstatt einer Bratwurst oder Kartoffelchips greifen. Wir haben allerdings öfters den gefühlsbasierten Wunsch zu kalorienhaltiger Nahrung zu greifen, weil unser Gehirn sehr viel
Energie verbraucht, weil wir in den vielen Jahrtausenden unserer Entwicklungsgeschichte
eigentlich ganz überwiegend in Mangelsituationen gelebt haben, kalorienhaltige Nahrung
(Fleisch) eher die Ausnahme, als die Regel gewesen ist und unser Körper uns vor diesem evolutionsgeschichtlichen Hintergrund für kalorienhaltige Nahrung durch besonders angenehme
Gefühle belohnt und wir dieses angenehme Belohnungsgefühl der Sattheit natürlich möglichst
oft wiederholen möchten.
Dass unser Handeln - auch unser verstandes- und vernunftorientiertes Handeln - auf Wünschen basiert, bedeutet nach der hier vertretenen Auffassung keinesfalls, dass unser Handeln
gegenüber rationalen Gründen immun wäre, dass gefühlsbasiertes Handeln gar nicht auf rationale Gründe reagieren kann, sondern es besagt nur, dass die rationalen Gründe in irgendeiner
Hinsicht mit meinen Wünschen kohärieren müssen, dass keine unüberwindbare Kluft zwischen meinen Gefühlen, zwischen meiner persönlichen Erfahrung und rationalen Gründen
liegen darf. Das eigentliche Problem besteht also nicht in der schroffen Gegensätzlichkeit von
Emotionalität und Rationalität, sondern in der Art der Verbindung von Emotionalität und Rationalität (dies macht wesentlich den Streit zwischen Kant und Hume, Korsgaard und Williams aus). Auch durch Humeaner wird mitnichten rationales Argumentieren (vor allem nicht
im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation im Zusammenhang mit individuellem und kollektivem
Nutzen vor dem Hintergrund des Nutzenprinzips) ausgeschlossen, sondern dieses rationale
Argumentieren bleibt lediglich stets an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, nämlich vor
allem an die, dass es die Gefühle, Wünsche, Interessen des empirischen Handlungsakteurs
betrifft. Kants KI als Gegenbeispiel erfüllt keine dieser Bedingungen, denn weder spricht er
eben die Gefühle, Wünsche, Interessen des empirischen Handlungsakteurs an, noch findet er
in der Praxis nennenswerte Verbreitung, noch wird seine Übertretung mit Sanktionen belegt.
Wie Emotionalität und Rationalität angemessen normativ ansprechbar sind, wurde im Zusammenhang mit dem Nutzenprinzip bereits mehrfach erwähnt und soll im Rahmen dieses
Kapitels noch ausführlicher dargelegt werden.
Bei Naturerkenntnis arbeiten Empfindung, Verstand und Vernunft zusammen, ebenso wie
bei Moralerkenntnis Gefühl, Verstand und Vernunft (auch) zusammenarbeiten sollten. Es
scheint mir ratsam, Parallelen zwischen Naturerkenntnis und Moralerkenntnis zu suchen, weil
sich Empfindung und Gefühl, Verstand sowie Vernunft phylogenetisch wie ontogenetisch auf
verschiedene kognitive Entwicklungsstadien des Menschen beziehen (und damit evolutionsbiologisch hinterfragbar sind). In der Naturerkenntnis werden Empfindungen durch Verstand
(und Vernunft) verglichen, geordnet, hierarchisiert, in der Naturerkenntnis sind Empfindungen, die Ausgangsbasis, die Materie, auf die sich alle Verstandes- und Vernunfttätigkeit bezieht und rückführbar sein muss. Naturbegriffe ohne Anschauung (Empfindung) sind leer,
Anschauung (Empfindung) ohne Naturbegriffe sind blind. Die Empfindung wird durch Verstand und Vernunft abstrahiert und generalisiert, bleibt aber (im Hintergrund) als kognitive
Basis immer vorhanden. In der Moralerkenntnis werden Gefühle durch Verstand (und Vernunft) verglichen, geordnet, hierarchisiert. In der Moralerkenntnis bilden Gefühle die Ausgangsbasis, die Materie, auf die sich alle Verstandes- und Vernunfttätigkeit bezieht und rückführbar sein muss. Moralbegriffe ohne Anschauung (Gefühle) sind leer, Anschauung (Gefühle) ohne Moralbegriffe sind blind. Vom Gefühl wird durch Verstand und Vernunft abstrahiert,
aber es bleibt (im Hintergrund) immer vorhanden.
Vernunft kann immer nur der Endpunkt, aber niemals Ausgangspunkt unserer Natururteile
oder Moralurteile sein. Vernunft bildet eine kognitive Instanz, die ohne Bezug auf Empfin242
dungen oder Gefühle nach meiner Einschätzung (im Gegensatz zu Kant) völlig leer (inhaltlich
gehaltlos) bleibt. Nur Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche verschaffen uns überhaupt erst einen Standpunkt, der durch Erfahrung (Verstand) stabilisiert oder modifiziert und durch Erkenntnis (Vernunft) verifiziert oder falsifiziert werden kann. Eine zu 100 Prozent aus Gefühlsgründen getroffene Entscheidung hat den geringsten kognitiven Status, wirkt aus rationaler Sicht gewissermaßen 'blind'. Eine zu 100 Prozent verstandesbasierte Entscheidung scheint
gar nicht möglich, weil die Verstandesebene die Gefühlsebene voraussetzt (sie mit einschließt), weil ohne Gefühle gar kein Standpunkt generiert werden kann, der eine (sinnvolle)
Erfahrung darüber erlaubt, was gut oder schlecht für mich ist. Eine zu 100 Prozent vernunftbasierte Entscheidung dürfte schon gar nicht möglich sein, weil sie die Verstandesebene voraussetzt, denn wenn ich nicht weiß, was mir gut oder schlecht bekommt, kann ich erst recht
nicht darüber urteilen, was gut oder schlecht für alle Menschen sein sollte und die Verstandesebene setzt natürlich selbst wiederum die Gefühlsebene voraus.
Die entscheidende rationalistische moraltheoretische Forderung bei Kant und vielen seiner
Anhänger liegt offenbar darin, eine Handlung allein aus Vernunftgründen auszuführen, was
gar nicht möglich scheint, da Vernunftgründe aus der Beobachterperspektive entstehen, vom
'moral point of view' gefällt werden, Handlungsentscheidungen hingegen auf der Ich-Perspektive, der Akteursperspektive, die durch Gefühle, Wünsche, Interessen überhaupt erst konstituiert wird. Eine Handlungsentscheidung treffen wir im Alltag in der Regel oft nur aus Gefühlsgründen (Wohlbefinden), seltener in Verbindung mit Verstandesgründen und wohl noch
seltener im Zusammenhang mit Vernunftgründen. Insofern scheinen mir der einseitige Humesche emotivistische und der eindimensionale Kantische rationalistische Rigorismus beidermaßen unzutreffend. Eine Handlungsentscheidung kann sich zu 30 Prozent aus emotionalen,
zu 40 Prozent aus verstandes- und zu 30 Prozent aus vernunftbasierten Gründen zusammensetzen: Wenn ich etwa fettarme Wurst kaufe, so kann dies zu 30 Prozent dem emotionalen
Wunsch entsprechen, mich wohl zu fühlen, zu 40 Prozent dem verstandesbasierten Wunsch,
für meinen Partner attraktiv zu bleiben, weil er keine übergewichtigen Personen mag und zu
30 Prozent meinem vernunftbasierten Wunsch, gesund zu bleiben und deshalb meine Cholesterinwerte nicht zu erhöhen. Selbstverständlich kann sich die Zusammensetzung einer solchen
Handlungsentscheidung mit Änderung der Lebensumstände oder Stimmungslagen verändern.
Wir werden an solchen Entscheidungen festhalten, die sich in unserer Erfahrung bewährt haben, die uns helfen, unsere Bedürfnisse, Wünsche, Interessen zu befriedigen. Wenn ich (bereits in meiner Kindheit und Jugend) feststellen muss, dass ich mit unmoralischem Verhalten
(etwa Gewalt) mehr erreichen kann, als mit moralischem Verhalten (etwa Gewaltlosigkeit),
werde ich entsprechende Verhaltensmuster oft auch als Erwachsener zeigen.
Kann es überhaupt eine sinnvolle (intersubjektiv gültige) moralische Norm geben, die nicht
direkt oder indirekt im (positiven oder negativen) Zusammenhang mit den Bedürfnissen,
Wünschen und Interessen aller Menschen steht? Vernunft bildet nach meiner Einschätzung
nur eine kognitive und keine voluntative Instanz. Insofern scheint die Frage, ob mich (reine)
Vernunft zum Handeln motivieren kann, falsch gestellt. Die (richtige) Frage müsste vielmehr
lauten, ob ich mich dazu entscheiden (motivieren) kann, eine Handlung an vernünftigen Kriterien auszurichten? Diese Frage dürften selbst Neohumeaner wie Williams bejahen. Deshalb
trifft die vorwiegend aus Kantischer Sicht immer wieder gerne geäußerte Kritik nur sehr bedingt zu, es könne nach Hume ein an Gründen orientiertes Handeln gar nicht geben; Hume
identifiziere die Zwecke einer Person mit dem, was die Person am meisten will, und bestimme
die Natur des Menschen dahingehend, dass dieser stets das tue, was er in der jeweiligen Situation am meisten wolle, so dass sich seine Zwecke in seinem Verhalten offenbarten. Wenn
aber Personen stets das täten, was ihren Zwecken jeweils am meisten entspricht, seien die
Forderungen der instrumentellen Vernunft Naturgesetze und gerade keine Normen. Dass eine
Person das macht, was sie am meisten will, scheint trivialerweise völlig rational, aber was
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eine Person am meisten will, unterliegt eben nicht nur Naturkausalität, sondern auch Rationalität, denn anders wäre das von Hume geforderte allgemeine Nutzendenken gar nicht erklärbar. Warum sonst sollte eine Person etwa in der Lage sein, für einen Hauskauf Geld zu sparen, anstatt das Geld für (kalorienreiche) Nahrungsmittel und Getränke auszugeben?
Der Streit zwischen Humeanern und Kantianern beruht eigentlich weniger auf dem Problem, ob vernünftige Gründe unser Handeln (maßgeblich) beeinflussen können, denn sonst
wäre jeder Rechtsstaat, jede allgemeine Nutzenerwägung unmöglich, sondern darauf, ob eine
(reine) vernunftbasierte Motivation unabhängig von unseren Bedürfnissen, Wünschen, Interessen möglich erscheint, ob allein vernunftbasierte moralische Gründe bereits eine hinreichende Verpflichtung darstellen können, moralisch zu handeln? Dies dürfte durch meine
transzendentale Analyse und die hier angedeutete moderne psychologische Forschung zu verneinen sein. Auf mich wirkt es unrealistisch, Handlungsentscheidungen allein von (rein) vernünftigen Gründen abhängig zu machen, weil das entscheidende Kennzeichen des vernunftbasierten Standpunkts, des MPOV gerade seine Akteursneutralität bildet, das Handlungssubjekt
als Handlungsakteur jedoch schon seines Überlebens willen seine Bedürfnisbefriedigung anstreben und deshalb sein Handeln rationalerweise auf seine persönlichen Bedürfnisse, Gefühle, Wünsche, Interesse beziehen muss, ohne dadurch von diesen (kognitiv oder voluntativ)
zwangsläufig beherrscht zu werden. Nicht zuletzt auch wegen des Problems der Zurechenbarkeit und Verantwortbarkeit von Handlungen sollte davon ausgegangen werden, dass verstandesbasierte und vernunftbasierte Gründe emotionale Gründe maßgeblich beeinflussen, dass
vernunftbasierte und verstandesbasierte Gründe emotionale Gründe - als handlungsentscheidende Gründe - in den Hintergrund drängen, aber niemals völlig neutralisieren können.
3.1.3 Interessen
Der Besitz von Interessen setzt zunächst voraus, ein Bewusstsein von den eigenen Bedürfnissen zu haben, eine Vorstellung davon, was positive und was negative Gefühle in einem
selbst auslösen. Interessen liegt insofern zwar eine emotivistische Basis zugrunde, aber sie
beruhen zudem auf Erfahrung. Interessen erfordern gegenüber Wünschen die Rationalisierungsstufe des Verstandes. Interessen sind sozusagen aufgeklärte, verstetigte Wünsche. Jeder
Mensch hat das Interesse solche Lebensbedingungen herzustellen oder zu befördern, in denen
er seine Bedürfnisse möglichst regelmäßig und zuverlässig befriedigen kann. Gefühle, Bedürfnisse und Interessen lassen sich natürlich nur durch raumzeitliche und kategoriale Ordnungsvorstellungen bestimmen. Um eine relativ klare Vorstellung von seinen (kurzfristigen)
Interessen zu haben, benötigt ein Lebewesen zumindest Verstand, um seine langfristigen Interessen (hinreichend) beurteilen zu können, außerdem noch Vernunft. Auch wenn Interessen
immer noch eine emotivistische Basis in Wünschen und Bedürfnissen haben, so lässt doch der
emotivistische Anteil gegenüber Bedürfnissen und Wünschen nach und der rationale Anteil
wird größer. Ohne Rationalität könnten wir zwar jederzeit Bedürfnisse und Wünsche haben,
aber niemals Handlungen zur Realisierung unserer Interessen planen.
Da vor allem höherentwickelte Lebewesen wie wir Menschen aus Erfahrung wissen, dass
sie bestimmte wiederkehrende Bedürfnisse und sich darauf beziehende Wünsche besitzen,
haben sie auch ein Interesse daran, unter solchen Bedingungen zu leben, in denen diese Bedürfnisse möglichst einfach und stetig zu befriedigen sind. Ein entscheidender Unterschied
zwischen (modernem) Menschen und dem Tier liegt darin, dass er diese seine Bedürfnisse
befriedigenden Lebensbedingungen weitaus stärker gestalten kann, als jedes Tier. Interessen
entwickelt ein Handlungsakteur dann, wenn er sich überlegt, wie er seine Bedürfnisse und
Wünsche (am ehesten) befriedigen kann. Wenn ich mich gesund ernähren möchte, werde ich
Interesse dafür entwickeln, wie Lebensmittel angebaut, wie sie vermarktet werden und wie
ich sie möglichst schonend verarbeiten kann. Interessen setzen einen Bedürfnishorizont, Naturhorizont und Handlungshorizont voraus.
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Nun gibt es Interessen, die nur wenige Menschen haben (Nacktbaden) und Interessen, die
viele Menschen (Fernsehen) haben. Hier geht es um die Abgleichung solcher Interessen, die
alle Menschen (rationalerweise) in einer Gesellschaft zwangsläufig haben, weil sie und insofern sie ihre Bedürfnisse (optimal) befriedigen möchten. Notwendige (natürliche) Interessen
richten sich ganz grundlegend und ganz allgemein auf Nahrung, Kleidung, Unterkunft als
Schutz vor Regen und Kälte, aber auch auf Geselligkeit und Partnerschaft. Wir versuchen
durch Verstand und Vernunft, durch sammeln von Erfahrung, durch Hypothesenbildung den
Gegenstandsbereich und den Rahmen an Handlungsoptionen strukturell zu erfassen, der uns
die Befriedigung dieser grundlegenden Bedürfnisse ermöglicht und entsprechende Handlungsstrategien zu entwickeln.
Mit der Artikulation von Interessen haben wir jenes emotivistische und rationale Abstraktionsniveau erreicht, von dem ausgehend es erst sinnvoll erscheint, von solchen moralischen
Vorstellungen zu sprechen, die in (der Vereinbarung von) moralischen Verhaltensvorschriften
münden könnten. Denn einem jeden Menschen, der überhaupt nur Interessen artikulieren
kann, darf unterstellt werden, dass er (notwendig) ein Interesse daran hat, seine Bedürfnisse
(optimal) zu befriedigen und deshalb etwa von anderen Menschen nicht angegriffen oder verletzt zu werden, sondern mit anderen Menschen zu kooperieren. Faktisch hängt der Grad an
Moralität des Verhaltens eines Handlungsakteurs davon ab, inwieweit er hierdurch seine Bedürfnisse besser oder schlechter befriedigen kann und es erscheint durchweg irrational, entgegen eigener Interessen, der Aussicht auf eigene Bedürfnisbefriedigung zu handeln. Kant
geht offenbar von einer Moralität aus, die völlig unabhängig von individuellen Interessen
besteht. Das scheint vom Standpunkt wissenschaftlicher Moralität in gewisser Hinsicht ab
einem bestimmten Abstraktionsniveau legitim, aber keinesfalls vom Standpunkt eines Menschen der sich im Alltag jederzeit behaupten muss.
Aus dieser Alltagssicht überspringt Kant gleich zwei moralische Abstraktionsstufen, nämlich die von Emotionalität zum Verstand einerseits und vom Verstand zur Vernunft andererseits. Der auf Hume und Kant zurückgehende Streit zischen emotionalen Motiven und rationalen Gründen belastet die moraltheoretische Diskussion bis auf den heutigen Tag. Es wird
eine der Hauptaufgaben nachfolgender Abschnitte dieses Kapitel sein herauszufinden, inwieweit hier zwangsläufig oder doch nur eine künstlich verschärfte Diskrepanz besteht. Wenn es
Gründe für moralisches Handeln gibt, die für jeden Handlungsakteur immer auch Motive für
moralisches Handeln mit sich führen, kann diese Diskrepanz zwischen Kantianern und Humeanern wohl überwunden werden. Ein zureichendes Handlungsmotiv bildet nach Hume theoretisch und faktisch immer die eigene Bedürfnisbefriedigung, mithin das essentielle Interesse
an Schmerzvermeidung und Lustvermehrung, das Interesse am eigenen Nutzen. Sofern moralische Gründe (etwa Kants Konsensprinzip) innerhalb des durch die eigene Bedürfnisbefriedigung gezogenen Grenzen moralischer Motivation (etwa Humes Nutzenprinzip) liegen, könnten moralische Motivation und moralische Gründe Schnittmengen bilden. Gründe würden
dann im Rahmen der Beförderung des Nutzens jedes einzelnen Menschen liegen.
Alle Theorien, die Moral - im Gegensatz zum hier vorgestellten Kontraktualismus - nicht
aus dem Eigeninteresse des Menschen herleiten, stehen vor dem großen Problem, den Kontext
von moralischer Motivation und moralischen Gründen wenigstens erklären und natürlich erst
recht begründen zu müssen. Darin liegt kein rein psychologisches Problem, denn wenn es
eine moralische Pflicht gäbe, die Schwiegermutter einen Monat nach der Heirat zu verprügeln
und wir das wegen einer biologisch eingebauten Hemmschwelle nicht könnten, wäre eine
solche Vorschrift vollkommen sinnlos. Es geht in der Moral - auch in der wissenschaftlichen
Moraltheorie - nicht allein darum, intersubjektiv gültige Normen zu begründen, sondern auch
ihre Realisierungschancen zu bestimmen - die Hindernisse, die ihrer Verwirklichung im Weg
stehen können zu erkennen, zu beschreiben und Lösungen zu ihrer Beseitigung aufzuzeigen.
In unsere Handlungsmotive fließen in der Regel nicht nur Gefühle, sondern auch prudentielle
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verstandesbasierte und vernunftorientierte Überlegungen um so mehr ein, je stärker sie unserem Vorteil dienen.489 Dieser moraltheoretische Befund deckt sich phänomenologisch auch
mit unserem Engagement etwa für Menschenrechte: Ist es nicht so, dass wir uns um so stärker
über Menschenrechtsverletzungen empören, je mehr wir davon selbst (potenziell) betroffen
sein könnten (Verschleppung und Folterung eines vermeintlichen Terroristen in Europa), wohingegen uns Menschenrechtsverletzungen in anderen Kulturkreisen oder Kontinenten (Vertreibung, Ermordung, Hungertod zehntausender Menschen in Afrika) relativ wenig beunruhigen, oft gleichgültig lassen?
Der hier entwickelte Kontraktualismus soll weitestgehend möglich voraussetzungsfrei auf
nachprüfbaren empirischen Tatsachen und nicht auf kaum nachvollziehbaren Annahmen über
die (vermeintliche) hedonistische (Hume) oder idealistische (Kant) Bestimmung des Menschen beruhen. Die dabei zu überwindenden Abstraktionsstufen in der Argumentation lassen
sich wie folgt kurz skizzieren:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Menschen haben Bedürfnisse. (Tatsache)
Ohne Befriedigung dieser Bedürfnisse können sie nicht überleben. (Tatsache)
Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist nur durch Kooperation möglich. (Tatsache)
Kooperation ist nur durch Regeln möglich. (Tatsache)
Kooperationsregeln sind nur dann dauerhaft tragfähig, wenn sie von den Kooperationspartnern anerkannt werden, mithin als (weitgehend) gerecht angesehen werden. (Tatsache)
Menschen müssen ihres Überlebens willen (weitgehend) gerechten Kooperationsregeln folgen. (Tatsache)
Gerechte Kooperationsregeln entstehen durch Konsens. (Tatsache)
Durch Konsens geschaffene gerechte Kooperationsregeln würden etwa fordern, dass jedermann seine Versprechen halten soll. (Tatsache)
An Kooperation interessierte Menschen sollten ihre Versprechen halten. (Tatsache)
3.2 Individualistischer Kontraktualismus
Anthropologische Voraussetzung der hier entwickelten Moraltheorie sind Wünsche, Bedürfnisse, Interessen und ein darauf gerichtetes rational orientiertes (prudentielles und vernunftbasiertes) Wollen, diese Wünsche, Bedürfnisse, Interessen optimal zu befriedigen. Dem
hier favorisierten konstruktivistischen Ansatz entsprechen am ehesten Moraltheorien des
kontraktualistischen Typs, weil sie die Konstitution moralischer Normen aus dem Blickwinkel
des einzelnen Handlungsakteurs und somit eine nahezu lückenlose Genese unserer Moralvorstellungen angefangen von unserer Sinnlichkeit, über unseren Verstand bis hin zu unserer
Vernunft gestatten. Ganz in diesem Sinne der hierarchischen Entwicklung moralischer Vorstellungen gemäß unserer kognitiven Leistungen sind zwei Grundformen des Kontraktualismus zu unterscheiden, nämlich der prudentielle oder individualistische und der vernunftbasierte oder universalistische. Der hier entwickelte individualistische und universalistische
Kontraktualismus steht auf dem Boden des Humeschen Grundprinzips der Lustvermehrung
und Schmerzvermeidung. Auf die individualistische Ebene gehören in erster Linie die (engli-
489
In einer Gesellschaft, in der moralkonformes Verhalten nahezu ausnahmslos belohnt und moralwidriges Verhalten fast immer bestraft würden, wären wohl nahezu alle Menschen motiviert, moralisch zu
handeln. Insofern verstärkt eine unmoralische Gesellschaft auch noch unmoralisches Verhalten ebenso
wie eine moralische Gesellschaft moralisches Verhalten fördert. Diese Einschätzung darf allerdings
keinesfalls als Plädoyer für einen Überwachungsstaat gründlich missverstanden werden.
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schen) Empiristen, vor allem Hobbes, Locke, aber auch Hume,490 Bentham und Mill werden
dazu gerechnet, die (kontraktualistische) Moralvorschriften in utilitaristischer Manier nur insoweit begründen, als sie unmittelbar im (reziproken) Interesse eines jeden Menschen liegen.
Hier wird meist eine Rechts-, aber kaum eine Ethikbegründung vorgenommen, oft fehlt eine
scharfe Trennung (im Sinne Kants) von Recht und Ethik.
Während Hobbes und Locke ausgewiesene Kontraktualisten sind, bleibt eine solche Zuschreibung bezüglich Hume zumindest umstritten. Humes Moraltheorie wird gelegentlich
kontraktualistisch interpretiert,491 aber die Vertragstheorie bildet vor allem eine Gerechtigkeitsvorstellung. Sie dient dazu, einen im Interesse aller Bürger liegenden Staat zu konstruieren und bestehende Staaten an diesem Maßstab zu messen, aber sie darf in keinem Fall als
empirische Tatsache missverstanden werden. Insofern wirkt sie in Humes empiristischer
Staatstheorie ein wenig störend und mir scheint, Hume habe den gerechtigkeitsgenerierenden
Sinn der kontraktualistischen Argumentationsfigur gar nicht begriffen, sondern eben nur als
(durchaus anzweifelbare) empirische Tatsache fehlinterpretiert. Insofern kann Hume sicher
keine elaborierte individualistische kontraktualistische Staatskonzeption im Sinne von Hobbes
oder Locke und schon gar keine universalistische kontraktualistische Staatskonzeption im
Sinne Kants zugerechnet werden. Gleichwohl halte ich es für nicht nur statthaft, sondern sogar für geboten, emotivistisch fundierte utilitaristische Moralvorstellungen auf eine kontraktualistische Argumentationsfigur zu projizieren, um damit über Humes eigene Ambitionen
hinausgehend einerseits Genese unserer Moralvorstellungen von Gefühl über Verstand bis hin
zu Vernunft im konstruktivistische Sinne zu demonstrieren und andererseits einen direkten
Vergleich zur Leistungsfähigkeit der Kantischen Vertragstheorie zu ermöglichen, die als rationalistische Gerechtigkeitstheorie dem universalistischen Kontraktualismus angehört.
Die entscheidende Frage lautet hier zunächst, inwieweit sich Moral auf prudentielles (egoistisches) I