Caravaggio und die Renaissance Autor(en): Wagner, Hugo Objekttyp: Article Zeitschrift: Du : kulturelle Monatsschrift Band (Jahr): 21 (1961) Heft 5: Meister borgen bei Meistern PDF erstellt am: 10.04.2016 Persistenter Link: http://dx.doi.org/10.5169/seals-293813 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Die Auffindung Vertrages über seine Mailänder Von alters her sind dem Maler zwei Quel¬ anerkennt und sie in ihren vielfältigen len der Inspiration: die Natur, an der er Daseinsformen selber teilhat, in der er sein eigen Leben Giovanni Pietro Bellori, Bibliothekar der Lehrzeit bei Simone Peterzano, der sich - und die Kunst, in Königin Christine von Schweden, fügt auf einem Gemälde als Schüler Tizians welcher vorangegangene oder zeitge¬ nössische Maler dem Leben bereits einen seiner 1672 erschienenen Biographie des bezeichnet, führte zwangsläufig zu Ver¬ Meisters eine Anekdote ein, welche Ca- gleichen von Caravaggios Bildern mit bleibenden Ausdruck gegeben haben. 'ravaggios Ablehnung der vergangenen und zeitgenössischen Kunst und seine Arbeiten seiner unmittelbaren Vorläufer alleinige Berufung auf die Natur illu¬ strieren soll. Danach hat der Maler, als in eingeordnet weiss Die Beziehungen zu diesen beiden Wel¬ ten der Lebenserfahrung und Lebens¬ erfüllung können verschiedener Art sein. Sie reichen auf der einen Seite von der nachzuahmen sucht. man ihm die berühmtesten Statuen des getreuen Nachahmung eines gewählten Phidias und Glykon zeigte - es handelte Ausschnittes der sichtbaren Welt bis zur sich gewiss um ungerechtfertigte Zu- vollständigen Abstraktion von der Natur schreibungen und ihren Erscheinungsformen. Ande¬ pe gewiesen, um - auf eine Menschengrup¬ des und Zeitgenossen in der Lombardei und Venetien. Ist es doch üblich geworden, die Entwicklung eines Künstlers aus der Welt seines Herkommens bis zu seiner völligen Selbständigkeit zu verfolgen und daher die Kraft seines Genius abzuleiten. So vermag es denn nichtzu überraschen, - aus wenn in Werken Caravaggios ge¬ damitanzudeuten, dass ihm die Natur Vorbild genug sei. Ja, zur staltetes Bild, eine bestimmte Wirkung Bekräftigung rief er eine Zigeunerin her¬ gewisse Analogien zu Gemälden Peter- rerseits mag ein Künstler ein vor ihm sei¬ nen verschiedenen Schaffensperioden - für bindend bei, die eben vorüberging, führte sie in zanos und der Campi, zu Lotto und Sa- erachten, weil sie ihm wie die Offenba¬ seine Herberge und stellte sie dar, wie voldo gefunden worden sind. Vor allem rung einer höheren Natur erscheinen, er kann ein älteres Kunstwerk als Heraus¬ sie einem Jüngling aus der Hand dessen ist es die auf das Stoffliche gerichtete, Zukunft voraussagt. In dieser Erzählung liegt der verächtliche Vorwurf der Zeit, von satten Farben getragene und opake Caravaggio habe den bis dahin gültigen gängern verbindet und als Oberitaliener Schönheitsbegriff - der längst zu einer Manier entartet war- missachtet und der kennzeichnet. Was er jedoch des Lichtes, einen Farbklang forderung erleben, auf die er eine neue, seinem Wesen entsprechende Antwort zu geben sich gezwungen fühlt, schliess¬ lich hat er bisweilen alles früher Ge¬ Malweise, die ihn den genannten Vor¬ ist entscheidend - - und dies von seinem ersten Natur, das heisst nach damaliger Auf¬ Lehrer mitbekommen, was er in Kirchen fassung allem Gemeinen, Tür und Tor seiner näheren Heimat gesehen, geht geöffnet. Der um elf Jahre jüngere Pous¬ nicht über das hinaus, was man als meinsame Muttersprache, als künstle¬ Temperament des Künstlers bedingt. sin wagt gar den Ausspruch, Caravaggio sei in die Welt gekommen, um die Malerei Die Epoche selbst, welcher er angehört, zu zerstören. Noch Jacob Burckhardt ta¬ ten Gegend zuordnen lässt, bezeichnen weist zur Natur sowohl wie zur Kunst delt dessen Freude, «dem Beschauer zu könnte. Peterzano und die Campi, die vergangener Zeiten ein mehr oder we¬ niger einheitliches Verhältnis auf. Be¬ beweisen, dass es bei all den heiligen ihre kunsthistorische Auferstehung in örtlichen Nahezu Caravaggio verdanken, waren im besten Fall tüchtige Hand¬ schaffene verleugnet und mit dem Bann¬ fluch belegt: Brûlez le Louvre! Diese recht verschiedenartige Einstellung ist meist nicht allein durch das persönliche sonders fesselnd der Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz so ordinär zugegangen sei wie auf den Gas¬ Gegenwart Be¬ sen dersüdlichen Städte gegen Ende des - je mehr wir uns nähern - erscheint diese ziehung da, wo ein Maler oder Bildhauer zur allgemeinen Einstellung seiner Zeit 16. Jahrhunderts». im Widerspruch steht. Das trifft in hohem Masse auf Michelangelo Merisi (1573 bis als sein Werk Landstädtchen Caravaggio in der Lombardei stammt und danach meist auch benannt wird. Caravaggio gilt als Vater des Naturalis¬ säubert - - von fremden allmählich reiner Zutaten ge¬ in Erschei¬ nung trat. Es hat sich dabei immer deut¬ licher erwiesen, dass selbst er, der wie kein zweiter Maler vor oder nach ihm die nerhalb der europäischen Kunst, welche Kunst in neue Bahnen gelenkt hat, dass selbst er nicht nur der Natur, sondern die Natur als ihre alleinige Lehrmeisterin auch mus, als Begründer jener Richtung 28 in¬ den rischen Dialekt, der sich einer bestimm¬ unseren Tagen allein ihrer zeitlichen und werker. Darüber kann selbst eine ver¬ Eine gerechtere Beurteilung Cara¬ vaggios setzte erstvorfünfzig Jahren ein, 1610) zu, der aus dem ge¬ grossen Gestaltungen der gleichende Stilgeschichte nicht hinweg¬ täuschen, die, Handwerkliches aufwer¬ tend, einer allgemeinen Geschmacks¬ richtung nur zu oft den Genius opfert. Die Beziehungen Caravaggios zur Ma¬ lerei Oberitaliens können nicht als künst¬ lerische Auseinandersetzung im eigent¬ lichen Sinne gelten. Zum höheren Bil¬ dungserlebnis wurde ihm erst, was er in Venedig, in Parma und Rom an Zeugen s 19 y X Michelangelo da Caravaggio (1573-1610): Salome. 116x140 cm. Um 1610. Madrid 4 *r m /. Tizian (14777-1576): Salome mit dem Haupt des Johannes. Galerie Doria Pamphili, Rom 29 einer grossen Vergangenheit gesehen hat. Darüber nun freilich schweigen sich seine frühen Biographen aus, sofern wir von jenem Wort absehen, das Bellori - in Zusammenhang mit Caravaggios «Be¬ rufung des Matthäus» in Rom - dem er¬ sten Princeps der dortigen Akademie Neapel aufbewahrt wird: die «Zinga- rella». Auch in der «Ruhe auf der Flucht» ist das fremde Vorbild ganz in Caravaggios eigene M' )Wr- Vorstellungswelt umgeformt. Die Neigung des Hauptes, die langgliedrigen Hände der Maria und ihre innige Verbindung mit dem Kind von San Luca, Federico Zuccari, in den sind von einer Gegenwärtigkeit und zu¬ Mund legt: «lo non ci vedo altro, che il pensiero di Giorgione.» Um so deutlicher gleich von einer Intensität der Empfin¬ dung, die über Correggio hinausweisen. geben hierüber die Bilder Auskunft. Wir greifen im folgenden drei Beispiele heraus. Obschon Caravaggio angeblich Als drittes mag ein venezianisches Bei¬ spiel stehen. Nicht nur Bellori zufolge, auch auf Grund verschiedener Reminis¬ die Antike und Raffael verachtet, konnte zenzen muss angenommen werden, dass er an dessen letztem Werk, der «Trans¬ Caravaggio sich in Venedig aufgehalten figuration», nicht vorbeisehen. Noch Nietzsche, in seiner «Geburt der Tragödie hatte, bevor er nach Rom gekommen war. Tizians «Salome» aber, die für seine aus dem Geiste der Musik», war vom späte Gestaltung des gleichen Motivs v<* s *mm^ m r SM- höchsten Symbolwert des Bildes durch¬ vorbildhaft wirkte, hat er vermutlich in drungen. Die untere Hälfte des Gemäldes hat, vor allem durch die neue Lichtbe¬ Rom gesehen. Die «Salome» Caravag¬ gios, die sich heute im Palacio de Oriente handlung, die schwarzen Schatten, die in Madrid grellen Beleuchtungseffekte recht ei¬ gentlich Schule gemacht. Doch erweist Figur der Protagonistin fast wörtlich an Michelangelo da Caravaggio (1573-1610): Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. das nahezu ein Jahrhundert zuvor ent¬ 130x160 cm. Gal. Doria Pamphili, Rom. sich bei näherem Zusehen, dass Cara¬ standene Werk des Venezianers, führt an¬ Gegenüberliegende Seite: Ausschnitt vaggio weit mehr als die Carracci und dererseits aber wiederum über das Vor¬ Giuseppe D'Arpino, die das Erbe Raffaels und Michelangeloszuverwalten meinten, bild hinaus, Nicht nur durch die Ein¬ beziehung des Henkers und der ver¬ die Bedeutung der «Transfiguration» steinernden Herodias, allein schon durch er¬ befindet, hält sich zwar in der kannt hat. Die Lichtwirkungen innerhalb der Apostelgruppe, die Betonung der die Veränderung im Ausdruck der Affekte und das Schreckhafte des Au¬ gischen Seite hin um. Tizians junge Kö¬ nigstochter bleibt vom Tod des Täufers genblicks haben seine «Berufung des Matthäus» entscheidend mitbestimmt. Sa¬ unberührt. Ihrer Schönheit bewusst, legt sie fast kosend den Arm um die Sil¬ «Transfiguration» während der Entrükkung des Heilandes in vollster Auflösung ovals verschliesst das Antlitz der ande¬ ren Salome einen grenzenlosen Schmerz, Lichtstrahl, der ins Dunkel bricht. fen, welch Opfer gefordert wurde. Nicht nur Raffael wurde dem jungen Caravaggio zum Bildungserlebnis. Glei¬ führen, die Caravaggios Verhältnis zu die Augen scheinen plötzlich zu begrei¬ Es Messen sich weitere Beispiele den Meistern der Renaissance aufzeigen nach Rom in Parma hatte studieren kön¬ ihnen dem Jugendbild Caravaggios, der Jo¬ seph ist von Maria und Kind abgetrennt und hält einem geigenspielenden Engel das Notenblatt hin. Dieser Himmelsbote, der dem Betrachter den Rücken zukehrt, in einzelnen Formen an die - über die Erzeugnisse seiner un¬ mittelbaren Vorgänger und Zeitgenossen hinweg - auf eine seinem Wesen ge¬ Be¬ achtet, gewinnt dadurch eine neue klärung. Er kannte die grossen Meister Gestalten der Domkuppel von Parma, die Akademiker deren Erbe vernutzten ohne dass sich eine bestimmte Figur als und missbrauchten. Dies ist das Revo¬ Vorbild definieren liesse. Andererseits lutionäre in Caravaggios Malerei, dass er sich nicht eine der Zeit entsprechende sind die in sich geschlossene Gruppe mit dem Knaben, der sich ganz ihrem Um- Manier- maniera-anzueignen sucht. riss einfügt, die Haltung der Maria mit dem einzigen Rhythmus der Nacken¬ weiss sich primär der Natur verpflichtet, zu der er ein nahes, ja stoffliches Verhält¬ linie, die im entspannt niederhängenden Arm ihre Fortsetzung findet, einem Bilde formschaffende Kraft Kunst nicht denk¬ ¦ tjt-Vi X •¦*<•¦ Jjx' wtjkä Er¬ der Renaissance sehr wohl. Was er ver¬ achtet hat, war die Art und Weise, wie ¦ âWé* w hauptung der frühen Biographen. Cara¬ vaggio habe die Kunst der Alten ver¬ jugendlichen erinnert in seinem Gehaben sowohl wie M und zugleich belegen, wie er sich mit messe Art auseinandersetzt. Die A * .rtkM an¬ cherweise bedeutsam für ihn war An¬ tonio Correggio, den er auf seiner Reise in - • berschale. Trotz des ähnlichen Gesichts¬ begriffen ist, findet bei Caravaggio Halt durch das Erscheinen Christi und den «Ruhe auf der Flucht», nachweisen. x lome deutet er den Vorgang nach dertra- Was aber in der unteren Bildhälfte der nen. Dessen Wirkung lässt sich vor allem f* X JtrX 4 a CC JT ^B Er nis bezeugt. Das Mass aber, ohne dessen Correggios entnommen, das sich bis 1607 im Besitz des Don Ranuccio Farnese be¬ bar ist, erwächst ihm aus der unmittel¬ baren Begegnung mit den hohen Bildern Correggio (um 1494-1534) Madonna, ge¬ nannt «La Zingarella». Um 1517. Museo fand und heute im Museo Nazionale in der Renaissance. Nazionale, Neapel 30 : *\ w w y s. y *£Tt3i *& JP;-_ y ¦' Niccolò Tornioli (tätig zwischen 1622 und CARAVAGGIO UND SEINE 1652): Die Astronomen. 148x218,5 cm. NACHFOLGE Galleria Spada, Rom Die Wirkung Caravaggios lässt sich im 17.Jahrhundert über den halben Kon¬ *K tinent hin verfolgen. Den grossen Ma¬ lern wie Ribera und Velazquez, de la Tour und Elsheimer, Rubens und Rem¬ brandt, die Caravaggios Werk wesentlich mitgeformt haben, stehteine Vielzahl klei¬ nerer Künstler gegenüber, die im all¬ gemeinen sich bei Werken ihrer Vor¬ gänger oder Zeitgenossen eher infor¬ mieren als mit ihnen auseinandersetzen. So versucht etwa ein Maler wie der Luc¬ chese Pietro Testa (1611-1650) einzelne Elemente und damit auch die Stilmittel Caravaggios und des um 21 Jahre jün¬ geren Poussin in einem Bilde zu ver¬ einen. In seiner «Allegorie des Kinder¬ mordes» variiert die sich bückende Hauptfigur den Schergen aus Caravag¬ gios «Enthauptung des Johannes» in Malta, wobei abzuklären bliebe, ob Testa jenes Bild aus eigener Anschauung ge¬ Michelangelo da Caravaggio (1573-1610): Narziss. Galleria Nazionale, Rom 32 kannt oder bereits auf die «Verarbei¬ tung» eines anderen Künstlers zurück- tâJ C T*"" ~ •-» ^K Pietro Testa (1611-1650): Der Kinder¬ *\V^ mord. 123x173 cm. Galleria Spada, Rom Michelangelo da Caravaggio (1573-1610): Enthauptung des Johannes. 1608. 351 x 520 cm. La Valletta (Kathedrale), Malta greifen konnte. Durch die Isolierung der Figur wirkt die Handlung noch grau¬ samer und gewalttätiger, und die süssliche Erscheinung in den Wolken bleibt wirkungslos trotz des erhobenen Armes der Agnes. Die Engelputten wie auch die Hintergrundszene der Flucht nach Ägyp¬ - die Heilige Familie setzt im Boot über einen Fluss - weisen auf Poussin, dessen Fluchtbild (heute Galerie Liech¬ ten tenstein) Testa gesehen haben muss. Anleihen ähnlicher Art gibt auch das zweite Beispiel zu erkennen. «Die Astro¬ nomen» werden dem Niccolò Tornioli (vor 1622 bis etwa 1652) aus Siena zuge¬ schrieben, der vorübergehend Hofmaler des Kardinals Ceva war. Die gedrängte Versammlung, um eine Himmelskugel gruppiert, lässt sich bei näherem Zu¬ sehen entziffern als Pasticcioaus Raffaels «Schule von Athen» und Caravaggios «Narziss»; der Kopf der Profilfigur rechts ist wörtlich übernommen. So kommt ein wissenschaftlicher «Kongress» zu¬ stande, der wohl eine Mittelfigur, aber keine Mitte hat. % H.W. 33 Giulio Romano (1499-1546): Merkur vor Jupiter, Juno und Neptun. Feder und Se¬ pia laviert, mit Bleistift rastriert. Musée v" r Bonnat, Bayonne " S*k Ë \ rC'rh. amimi Jr-mï* < r j V - Wê* j-jt§. :'-d > Merkur vor Jupiter, Juno und Neptun. Pseudoantikes Relief aus der Sammlung ^~. Angeloni, Rom (verschollen). Stich von Pietro Santi Bartoli (1635-1700) in »^ Amiranda Romanorum Antiquitatum. Rom 1693 x st k WrWiWi % * $<^r -Jf. \4* Sé \ I r* f lki ff'. 1 '¦:•¦¦* X? ktk >. V «c Vincenzo Pacetti (1746-1820): Merkur wägt vor Jupiter, Juno und Apollo die Schicksale Achills und Hektors. 1775-80. Relief in der Villa Borghese, Rom 34
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