All die schönen Bücher

Praxis | Verkaufsargumente
All die schönen Bücher ...
gesichtet von Ellen Pomikalko
Ellen Pomikalko
Kritikerin
Sacha Batthyany,
Und was hat das mit
mir zu tun?, Kiepenheuer & Witsch
Könnte das Leben seiner
Vorfahren Einfluss auf
sein eigenes haben? Er
forscht seiner Familie nach. Seine Großtante stand unter dem Verdacht, an der
Erschießung von Juden beteiligt gewesen
zu sein. Das kann er nicht bestätigen, wohl
aber, dass seine Großmutter sich lebenslang Vorwürfe gemacht hat, jüdischen
Nachbarn nicht geholfen zu haben. Er reist
zu Überlebenden und fährt mit seinem
Vater bis nach Sibirien, wo der Großvater zehn Jahre lang im Gulag war. Das
schreckliche Jahrhundert wird in dieser
Geschichte einer einst berühmten ungarischen Familie wieder lebendig. Der 1973
Geborene spricht aus, was alle beschweigen
– auch wenn Krieg und Diktatur der Familie
zugesetzt haben, ist sie nicht unschuldig
geblieben. Aber auf die Gewissensfrage,
ob er, der Nachgeborene, in einer ähnlichen
Situation Juden verstecken würde, antwortet er klar „Nein“. Einem Gewaltregime
begegnen nur wenige mit einem Selbstopfer.
Das ist die Tragik, die hier zur Sprache
kommt. (255 S., 19,99 Euro)
Karen Duve, Macht,
Galiani Berlin
Ein Tendenzroman.
2031 haben Frauen die
Macht übernommen,
einer sperrt seine Ehefrau, eine Ministerin,
70
in schalldichtem Keller ein und zwingt
sie, ihn als „Gebieter“ zu achten. Damit
nicht genug, wird uns auch die Zukunft als
traurige neue Welt gezeigt, die trotz technischer Neuerungen kurz vor dem Kollaps
steht, weil es große gewaltbereite, von der
Polizei nicht mehr beherrschbare Gruppen gibt. Wir bekommen viele Argumente
gegen Fleischessen und das „durch und
durch feminisierte Gesellschaftssystem“
geboten, wobei das erste ernst, das zweite
natürlich ironisch gemeint ist. Überhaupt
purzeln hier die Angriffsziele durcheinander, es ist ein SF-Krimi mit Seitenhieben
auf männliche Allmachtsphantasien. Sehr
ausführlich ausgesponnen, jede Assoziation ergreifend, mit etwas zu heißer Nadel
gestrickt. (414 S., 22,70 Euro)
Melanie Sumner,
Eine Therapie für Aristoteles, DuMont
Ziemlich skurril und
sophisticated. Ich-Erzählerin Aris(toteles) ist
zwölfeinhalb und für ihr
Alter sehr gebildet, ihr achtjähriger Bruder
Max ebenso. Ihre Mutter ist Anglistikdozentin, Vater Joe lange tot. Aris möchte
den arbeitslosen Freund und Helfer Penn,
der ebenfalls recht gebildet ist, gern mit
Mutter verheiraten, aber das Leben ist eben
tückisch. Der Roman, den Aris nach Anleitung eines Ratgebers schreibt, deckt sich
mit der Realität dieses Romans, sodass die
Geschehnisse auf beiden Ebenen die Handlung beflügeln. Na, Handlung kann man es
nicht gerade nennen, denn da entwickelt
sich fast nichts, es sei denn, wir nehmen den
täglichen Prozess in Aris’ Alltag für Entwicklung. Den etwas exaltierten Existenzen
konnte ich eigentlich kein größeres Interesse abringen, bis mir die Figuren dann
doch ans Herz gingen. Aris hat auf ihren
einen Schuh „Gott ist“ geschrieben, auf den
andern „Gott ist nicht“. Zwischen diesen
Ansichten schwankt die ideelle Debatte
auch. Aris meint zu ihrem Roman: „Ich
BuchMarkt April 2016
beleuchte die Realität und transzendiere
sie gleichzeitig.“ So hält es eben auch Frau
Sumner. (344 S., 19,99 Euro)
Elke Heidenreich, Alles
kein Zufall, Hanser
In den „Kurzen Geschichten“ kommt ein
Teil eigener Geschichte
zum Vorschein. Mutter
kühl, Vater Frauenheld.
Erfahrungen, auch von Freunden, in Sachen Liebe. Prägende und lustige Erlebnisse in aller Welt. Immer mit Clou und
/oder komisch. Sie ist 70 und überblickt
ihren Horizont. Anekdoten aus Tatsachen,
meist ohne Kommentar. Von ihrer Arbeit
ist kaum die Rede, eine Autobiografie mit
Reflexion (Wer bin ich gewesen?) wäre
schön zu lesen, denn sie ist ehrlich und
klug. Von solchen Charakteren kann man
Mut gewinnen, mit sich selbst und dem Leben zurechtzukommen. Sicher war sie in
jungen Jahren optimistischer als jetzt, ein
bisschen Wehmut schimmert auch durch,
aber Aufgeben kommt nicht in Frage. Natürlich ist der Weg das Ziel – ihr Weg war
sehr abwechslungsreich. (238 S., 19,90 Euro)
Vesna Goldsworthy,
Gorsky, Deuticke
Die Literaturprofessorin hat Parallelen zum
Großen Gatsby von
Fitzgerald gesehen, als
sie im heutigen London
(wo sie auch lebt) den eleganten russischen Oligarchen durch einen jungen
Buchhändler (der wie sie aus Serbien
stammt) vorstellen und bis zu seinem
tragischen Ende begleiten lässt. Die
Emigranten sind entwurzelt, und das
große Geld verhilft keinem zum Liebesglück. Der Aufbau einer Bibliothek, womit der Erzähler zu Anfang beauftragt
wird, hält die Geschichte zusammen, bis
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Pas op,
Boekenwurm!
Niederländische Literatur
bei Wagenbach
zwei Morde den finalen Fanfarenstoß
zum Zusammenbruch aller Gewissheiten bilden. Es liest sich ein bisschen wie
aus dem 19. Jahrhundert, aber da Vergleichbares in London kürzlich vorkam
(der Polonium-Mord!), ist die Tragödie
wohl zeitlos, zumal der russische Oligarch aus Liebe ins Verderben lief: Liebe ist immer zeitlos. (205 S. 19,90 Euro)
Kit de Waal,
Mein Name ist Leon,
Rowohlt Polaris
Wie ein Neunjähriger
es verkraftet, dass seine
drogen- und sexsüchtige Mutter zum Sozialfall wird und er sich mehr als sie um den
gerade geborenen Bruder kümmert, wird
realistisch erzählt. Im Mileu einfacher
Leute sind die Sozialarbeiterinnen und
Pflegemütter mal keine Schreckschrauben,
sodass Leon mit seinem Kummer fertig
werden kann. In einer Kleingartenkolonie
lernt er halbseidene Typen kennen, die
aber gar nicht halten, was man zuerst vermutet hat, genauso, wie seine neue Freiheit
per Fahrrad nicht im erwarteten Unfall
mündet. Es kann alles gut gehen. So liest
man voller Spannung eine eigentlich
traurige Familiengeschichte, die auf unspektakuläre Weise den Trost bereit hält,
dass Elend auch mal ein Ende hat. Dabei
werden alle Figuren in ihrem konkreten
Umfeld sehr lebensecht in Szene gesetzt
– der Roman ist auch ein Stück englischer
Sozialgeschichte der Achtziger‚ in dem
sogar das Rassenproblem eine Rolle spielt.
Es gibt keine Sentimentalität, gerade das
(381 S., 14.99 Euro)
geht zu Herzen. Paul Veyne, Palmyra,
C.H. Beck
Der französische Althistoriker hat sich
schon früher mit der
mythischen syrischen
Handelsmetropole be-
schäftigt, deren Tempel kürzlich vom IS
geschleift wurden und in einem Bildteil
vorgestellt werden. Vor allem die Enthauptung des 82-jährigen Archäologen
Khaled al-Asaad hat ihn bewogen, uns die
Oasenstadt, die nach vier Jahrtausenden
ihrer Existenz 200 n. Chr. zum Römischen
Imperium gehörte, in allen Facetten zu
zeigen. Dort wurde Griechisch und Aramäisch, beides internationale Sprachen,
gesprochen, die Kaufleute zogen mit ihren
Karawanen durch die Wüste in die ganze
Welt, die Stadt war multikulturell besiedelt, über 50 Götter sind belegt, der Hauptgott war Baal, den die Griechen unter dem
Namen Zeus kannten. Sein Tempel ist 32
n. Chr. geweiht und 2015 zerstört worden.
Alles, was wir über das Leben in jener
Zeit wissen, wird hier vermittelt. Was die
Barbaren antrieb, die steinernen Zeugnisse und ihren Hüter zu ermorden, ist nicht
nachvollziehbar. (124 S., 17,95 Euro)
Düzen Tekkal,
Deutschland ist
bedroht, Berlin
In Deutschland geboren und von Kind an
lernsüchtig, hat sie alle
herkunftsbedingten
Hemmnisse überwunden und möchte
nun angesichts der Flüchtlingsmassen
und deren herkunftsbedingten Hemmnissen, dass wir ihnen demokratische Werte
vermitteln, bevor sie den Werbern des IS
zum Opfer fallen. Ihre eigene Entwicklung
als jesidische Kurdin zeigt uns, wie man
sich in Deutschland integriert, und Fallbeispiele mahnen, dass Versäumnisse wie
bei den ersten Gastarbeitern heute nicht
mehr vorkommen dürfen. Sie setzt ihren
Eltern ein Denkmal, nennt antidemokratisches Gedankengut muslimisch geprägter
Ankömmlinge beim Namen und fordert
Mut zur Gegenwehr, mehr Flexibilität,
mehr Lehrer mit Migrationshintergrund
und ein Einwanderungsgesetz. „Einwanderung muss gelehrt und gelernt werden.
Das ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft.“
(222 S., 16,99 Euro)
BuchMarkt April 2016
71
Wytske Versteeg
Boy
Cees Nooteboom
Turbulenzen
WAT 755, 240 Seiten
WAT 756, 112 Seiten
Marcel Möring
Modellfliegen
Anna Enquist
Die Eisträger
WAT 757, 128 Seiten
WAT 758, 144 Seiten
Harry Mulisch
Schwarzes Licht
Andreas Burnier
Knabenzeit
WAT 760, 144 Seiten
WAT 759, 112 Seiten
SNEL
L
LEZEN!
LEZ
EZEN!
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