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Jahresbericht
Forschung
2015
+ Die Roda als Lernraum +
+ Social Impact +
+ Methoden der Kindercapoeira +
IMPRESSUM
Jahresbericht Forschung 2015
herausgegeben vom Capoeira Halle e. V.
veröffentlicht elektronisch über www.capoeira-halle.de
© 2016 Christian Köhler, Capoeira Halle e. V.
Kontakt: [email protected]
EDITORIAL
Der Forschungsjahresbericht
des Capoeira Halle e. V. soll
einen Überblick über unsere
Bemühungen liefern, den
Mehrwert unserer Vereinsarbeit sichtbar zu machen
und Licht werfen auf die
Nutzeffekte
von
Körperpraktiken wie der Capoeira.
Dieses Jahr haben wir einen
Grundstein gelegt, uns diesem Ziel zu nähern und Menschen dafür gewonnen, mit
uns zusammenzuarbeiten.
Die Konzeption von Projekten wie »Styles United« hat
uns vor neue Aufgaben
gestellt und uns Anlass
gegeben, sozialräumlich zu
denken. Momentan betreuen
wir über den Vereinsbetrieb
neun Kinderkurse im Groß-
raum Halle, mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen. Um den heterogenen
Anforderungen gerecht zu
werden und bei den Kindern,
sowie auch den Erwachsenen angemessene Inhalte
ankommen
zu
lassen,
befinden wir uns in einem
Reflexionsprozess
über
unsere Methoden. Hier-für
überdenken
wir
grundlegende Prinzipien der Capoeira Didaktik und allgemeinen Sportpädagogik. Die wissenschaftlich qualitative Aufarbeitung unterstützt diesen
Prozess und macht es möglich, auch andere an dieser
Arbeit teilhaben zu lassen.
Christian Köhler
Ruben Marschall
Christian Köhler, Abt. Forschung
Amelie Basan
»Capoeira ist alles, was der Mund isst.«
Mestre Pastinha
»Ich mag Kekse.«
Krümelmonster
»Das Spiel ist ein Dialog, ein Austausch
von Fragen und Antworten«
In einer Capoeira-Roda fließen musikalischer und körperlicher Dialog im richtigen
Moment zu listigem Austausch und gekonnter Darbietung ineinander.
Die Roda gibt den Rahmen.
Das Spiel beginnt, das Lernen auch.
SPIEL UND RITUAL
Unsere deutschlandweite Kooperation hat dazu beigetragen, dass ein erstes
kurzes Résumé der möglichen Transferleistung des Rituals der Capoeira
geschrieben wurde. Gemeinsam mit Dayela Valenzuela erarbeitete Christian
Köhler einen kurzen ethnologischen Abriss der »Transformation durch Sport«
am Beispiel der Capoeira-Roda. Im Kern finden wir in der Capoeirapraxis mehr
als Spaß an Bewegung: ein Potenzial zu gesellschaftlicher Veränderung.
Das Erleben von emotional positiven Zuständen erscheint als „Ausgleich“ und „Widerstand“ zu Alltag und Arbeitswelt: wie jede befreiende Versenkung in ein „tiefes Spiel“ (Geertz 1972) und jeder „Orgasmus“ ist ein gutes
Capoeira-Spiel „ein Sieg“ (Orwell 1949:
Kap.II, s.p.). Das Potenzial zu tatsächlicher
Veränd-erung und Widerstand liegt aber eben
gerade nicht in der hedonistischen Betonung
des Er-lebnisses, dem Schwelgen im Wunder
des Moments, sondern im erfolgreichen
Transfer der Strategien auf das weitere Leben
und Integration in die eigene Person.
In der historischen Genese ist die Capoeira
auf eine kleine Zahl bestimmter, marginalisierter Klientelen zugeschnitten, für die
sich das real-politische Potenzial der Praktik
bereits in Sklavenaufständen und im
„Überleben auf der Straße“ bewährt hat. Sie
dient im Kontext der untersuchten Gruppe
nun als „Freizeit“ (Turner 1995:82) dem
„erträglich machen“ der gesellschaftlichen
Umstände. Sie erweitert aber zugleich auch in
einer stark arbeitsgeteilten Welt die Denk-
und
Handlungsmöglichkeiten
um
die
erlernbaren Strategien (ebd.).
Diese können genutzt werden um „Widerstand“ zu leisten und gesellschaftliche
Umstände (zumindest für sich) zu ändern:
tanzend und gelassen durchs Leben zu
gehen. Der transformative Prozess verspricht
bei der Aneignung unmittelbare Freude durch
das Erlebnis von Communitas und Flow,
sowie mittelbare positive Effekte.
In der Subversivität der „Wahrheit“ der
Körperpraktiken im liminoiden Feld schlummert die Einsicht, nicht alles menschliche
Handeln rationalisieren zu können: Der
Transfer der erleb- und erlernbaren Techniken
auf den Alltag bedarf der Emotionalität der
körperlichen Erfahrung ebenso sehr wie der
Analogienbildung über Verstandesleistung. In
systematisierten Körperpraktiken, Ritualen
und Spielen liegen so Chancen emotionaler
„Aufklärung“
(Köhler
2015:189ff.).
Das
gemeinsame Spiel wird zum Lernfeld für das
Alltagsleben und zu dessen Probebühne.
aus: Köhler, Christian; Valenzuela, Dayela 2016: Transformation durch Sport? Ethnographische
Perspektiven auf spielrituelle Phasen der Capoeira Angola, im Druck
Dayela Valenzuela ist
Ethnologin und GfGFamilienbegleiterin®.
Neben ihren geographischen Schwerpunkten
Deutschland und Brasilien beschäftigt sie sich
vor allem mit Ritualtheorie und Migration. Momentan arbeitet sie
am Lehrstuhl für amerikanische Kulturgeschichte am Amerika-Institut der LMU
München. Außerdem leitet sie Capoeiraturnkurse für Kinder in Kindergärten und
Schulen trainiert Capoeira Angola in der
Münchner Gruppe "Entre Amigos" seit 2001.
Quellen
+ Geertz, Clifford 1972/1987: „Deep Play“:
Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In:
Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen
kultureller Systeme, Frankfurt: Suhrkamp. S. 202-260.
+ Köhler, Christian 2015: Capoeira. Körper, Flow,
Erzählung im afro-brasiliansichen Kampftanz.
Marburg: Tectum.
+ Orwell, George 1949/1994: 1984, Berlin: Ullstein
UNSER ANSATZ IM SOZIALRAUM
Die Idee unserer weiteren Ausrichtung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verschiedener Klientelen ist, diese über Capoeira zu vernetzen. Zur
nachhaltigen Erweiterung von kulturellen Interessen und Kompetenzen hat
sich eine Konzentration auf das Kursgeschehen bewährt.
In den Modulen vermitteln wir Kompetenzen, die soziales Miteinander direkt
adressieren: den Umgang miteinander zwischen Kooperation und Konfrontation. [vgl. 1]. Wir machen (inter-)kulturelle Praktiken anschaulich, indem sie
in den Kursen selbst erlebt werden. Zudem schaffen wir Begegnungsräume,
die Lebenswelten erweitern: örtlich und sozial. Wir nutzen die Niedrigschwelligkeit des Spiels, um emotional zu berühren und zu prägen, sowie
aufzuschließen für alternative Konzepte der Kultur und Lebensführung.
Auf Grundlage der erworbenen Kompetenzen und Interessen wollen wir eine
monatliche Veranstaltung etablieren, bei der das eigene Können angewendet
und dargestellt werden kann. Hiermit bieten wir eine Bühne, sich selbst
auszudrücken [1:77], in einem offenen Treffen, an dem sich alle beteiligen und
sich zwanglos ausprobieren können. Wir wollen künftig verstärkt den
intensiven Erlebnischarakter der Capoeira bei der Roda nutzen. Dieses Event
kann als ganzheitliches Bildungsinstrument betrachtet werden [1:189ff.], die
UNESCO erkannte es 2014 als immaterielles Weltkulturerbe an. Es eröffnet
über das Medium Körper neue Sichtweisen. [2]
Durch die Zusammenführung der Teilnehmer der Kurse mit besonderem
Förderbedarf mit den regulären Vereinsmitgliedern in dieser Veranstaltung,
wollen wir neue Begegnungen und Begeisterung ermöglichen. Wir planen
also eine zentrale, nachhaltige Veranstaltung zu etablieren, die den
Teilnehmern als auch allen Außenstehenden die Möglichkeit bietet,
teilnehmend Kultur zu erleben und zu machen.
(Antrag für ein nachhaltiges 4. Förderungsjahr des Programms Künste öffnen Welten der BKJ)
[1] Köhler, C. 2015 Capoeira, Tectum [2] Downey, G. 2005 Learning Capoeira, Oxford
Die Beziehung zum Kursleiter prägt den Kurs.
Wir begeben uns auf die Ebene der Kinder.
Spaß gehört dazu. Unser spielerisches
Konzept motiviert.
Capoeira ist Kommunikation. Unsere Projekte bauen Brücken zwischen Menschen. Wir wollen
nachhaltig verändern und Kinder und Jugendliche, sowie Erwachsene stark machen für ihr Leben.
Die soziale Lage in den durch unsere Förderprojekte bedienten Einsatzorten ist
sehr durchwachsen. Bildungsferne, einkommenschwache Haushalte stehen aber
klar im Vordergrund. Topografisch gibt es Barrieren. Wir streben daher an, eine
offene, monatlich stattfindende zentrale Veranstaltung zu etablieren, um
nachhaltige Vernetzung durch das Wecken von Interesse bei Kindern und Eltern zu
garantieren.
Wir orientieren uns dabei an dem Vorbild der populären Kultur der Capoeira in
Brasilien. Dort ist das Modell weit verbreitet [1:113] und gewährleistet die Möglichkeit der Partizipation auch ohne finanzielle Infrastruktur. Derzeit erreichen wir
über Projektarbeit ca. 50 Kinder regelmäßig. Wir wollen diese Zahl perspektivisch
erhöhen. Von der Zusammenführung der Teilnehmer mit den regulären Mitgliedern des Vereins in der geplanten Veranstaltung können alle profitieren. Im niedrigschwelligen Angebot des Events kann Kultur nachhaltig erlebt werden.
KONFERENZ KINDERCAPOEIRA
Als Vernetzungstreffen für Lehrer und Event für unsere jüngsten Capoeiristas
war die Kinderwerkstatt im November 2015 ein voller Erfolg.
Der methodische Austausch über Unterrichtsgestaltung, pädagogische Grundgedanken und die Erfahrung gleicher Grundansätze waren inspirierend für
alle zwölf Teilnehmer. Im Verlauf der künftigen Treffen möchten wir weiter
tragfähige Konzepte entwickeln und unsere theoretischen Erkenntnisse praktisch umsetzen.
An dieser Stelle ist praxisbezogene Forschung von besonderer Wichtigkeit.
Qualitative Arbeit auf grass root Level gewährleistet, die zu hören, die von den
Lernprozessen betroffen sind und künftig die Capoeira weitertragen werden.
Hier gilt es darauf zu achten, Werte nachhaltig, aber spielerisch zu vermitteln.
Diesem Ziel widmen wir unsere weitere Arbeit.
Austausch auf allen Ebenen. Das Seminar lieferte Einsichten in Methoden, sowie das
pädagogische Grundkonzept und befasste sich mit Weiterentwicklung des Projekts.
»Schlag das Kind nicht,
denn das Kind wächst«
Zeile aus einem Capoeiralied
»Es war wieder wunderschön, unheimlic8h viel Austausch, Input und ganz viel positive und
harmonische Energie. Das Wochenende hat mir soviel gebracht und ich konnte so
unglaublich viel mitnehmen. Wahnsinn.« (Teilnehmer der Konferenz)
ÜBERBLICK
Nicht erst seit Anerkennung als Weltkulturerbe der UNESCO im Jahr 2014 ist
die Capoeira ein globales Phänomen: die Körperpraktik, die vermutlich als
Kampf oder Spiel auf den Straßen Bahias entstand, nutzen heute weltweit
Gruppen unterschiedlichster Herkunft, Altersstruktur und Ausrichtung um
spielerisch gemeinsam zu lernen und sich individuell weiterzuentwickeln.
Die persönliche Transformation und die gesellschaftliche Wirkung zeigen
sich vor allem im Bereich Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Das
gemeinsame Spiel wird zum ganzheitlichen Lernfeld für das Leben und zu
dessen Probebühne, sowie zu einem generationenübergreifenden
Begegnungsraum. Capoeira als pädagogisches Medium vereint musikalische, sportliche und zwischenmenschliche Aspekte und eröffnet im Rahmen
der brasilianischen Kultur eine Möglichkeit der eigenen kreativen Entfaltung. Hier besteht praktischer Forschungsbedarf und die Möglichkeit
gängige Ritual- und Spieltheorie sinnvoll zu ergänzen.