DFG Projekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit’ und ‚Liebe’ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (Wi2142/5-1), HU Berlin
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZTG) der HU Berlin
Sektion Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Konferenz
Prekarisierung Unbound?
Zum gegenwärtigen Stand der Prekarisierungsforschung
aus interdisziplinärer Perspektive
2./3. März 2017, Humboldt-Universität zu Berlin
Prekarisierung, Prekarität und Prekärsein bilden Schlüsselbegriffe der Zeitdiagnostik, der Gesellschafts-, Kapitalismus- und zunehmend auch der Wissenschaftskritik. Prekarisierung, Prekarität und
Prekariat sind schillernde Begriffe, denn die Fragen, was genau prekär geworden ist, welche sozialen Folgen aus Prekarisierung erwachsen, wo Prekarität beginnt und aufhört und ob es ein ‚Prekariat’ gibt, werden in sozial- und kulturwissenschaftlichen Stellungnahmen vielfältig bearbeitet (Motakef
2015): Die Deutungsangebote reichen von der These einer sozialpolitisch forcierten Prekarisierung
von Erwerbsarbeit (Dörre/Castel 2009), die die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses zu Grunde
hat, über die Prekarisierung von Arbeits-, Lebens- und Geschlechterverhältnissen (Aulenbacher
2009) sowie der Argumentation, das Prekariat bilde eine neue globale und gefährliche Klasse
(Standing 2011). Angesichts einer fundamentalen Ausbreitung von Unsicherheit wird gar eine Prekarisierungsgesellschaft (Marchart 2013a) konstatiert. Weit ist auch der Begriff des Prekärseins
(Butler 2010) gefasst, womit die grundlegende Verwundbarkeit körperlich-sozialen Lebens beschrieben wird.
Zentrale Impulse der Debatte stammen von Robert Castel (2000) und Pierre Bourdieu (1997, 2004).
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die These einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch
den Abbau sozialstaatlicher Leistungen, finanzmarktpolitischer Transformationen sowie der Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen. Im Anschluss an Durkheims Anomietheorie sehen Castel und Bourdieu in Prekarisierungsprozessen eine Gefahr für die soziale Kohäsion von Gesellschaften, weil Prekarisierungsprozesse politisch-kollektive und biografische Gestaltungspotentiale verhindere und auch die soziale Einbindung in soziale Netzwerke schwinde.
Aus geschlechtersoziologischer Perspektive wurde insbesondere Castels Studie Androzentrismus
vorgeworfen, da Prekarisierung erst dann als relevant erscheint, wenn männliche Industriearbeit
unsicher wird und somit die bereits früher schon unsicheren Beschäftigungsverhältnisse von Frauen
und Migrant_innen aus dem Blick geraten (Aulenbacher 2009, Jungwirth/Scherschel 2010). Zudem
wird ein auf Erwerbsarbeit reduzierter Arbeitsbegriff fortgeschrieben, womit Ungleichheiten in der
Sorge- und Hausarbeit (Wimbauer 2012) aus dem Blick geraten. Der Deutung von Prekarisierungsprozessen als Gefahr unterstellen geschlechter- und queertheoretische Ansätze eine Logik der Immunisierung (Lorey 2012) und betonen die Ambivalenzen von Prekarisierungsprozessen. Schließlich wird mit dem Prekärwerden männlicher Normalarbeit auch das männliche Ernährermodell brüchig – und damit ungleiche und einschränkende Geschlechter- und Sexualnormen. Eine Vervielfältigung von Lebens- und Familienformen zeichnet sich ab (Alleinerziehende, Familienernährerinnen,
sogenannte Regenbogenfamilien etc.). Empirische Studien zu sozialen Netzwerken verweisen auf
eine Restrukturierung, jedoch keine Auflösung sozialer Netzwerke (Marquardsen 2012). Postoperaistische Ansätze und ihnen nahe stehende globale Protestbewegungen hinterfragen die These
eines Brüchigwerdens von Handlungsfähigkeit und betonen mit Begriffen wie der Multitude (Virno
2005) und der Sorgegemeinschaft (Precarias a la deriva 2011) Möglichkeiten des Entstehens von
alternativen Formen von Arbeit und Leben sowie neuen kollektiven Räumen. Wie kann darüber hinaus die Anschlussfähigkeiten repressiver Protestbewegungen, wie etwa PEGIDA, prekarisierungstheoretisch gedeutet werden (Wimbauer/Motakef/Teschlade 2015)?
Auch Medien sind zentrale Orte der Produktion von Deutungen des Prekären. In fiktionalen wie nonfiktionalen Medienangeboten werden Deutungsmuster und Repräsentationen des Prekären (re-)produziert und ausgehandelt. Lifestyle TV-Formate stellen häufig prekäre Lebenswelten ins Zentrum,
die eine moralische Bewertung erfahren und in denen sich neue vergeschlechtlichten Bedeutungen
von Klasse rekonstruieren lassen (McRobbie 2010). Zudem finden sowohl in gegenwärtigen Medienberichterstattungen, TV- und Internetserien sowie im politischen Theater Themen wie Flucht, Armut und Obdachlosigkeit eine große Aufmerksamkeit, wobei gerade in letzterem häufig subjektive
Erfahrungen den Ausgangspunkt bilden. Digitale Medien und soziale Netzwerke ermöglichen alternative Öffentlichkeiten der Aushandlung und des Protests.
Entwicklungspolitische- und regionalwissenschaftliche Initiativen hinterfragen den Fokus der Prekarisierungsdebatte auf den Globalen Norden und zeigen, dass gerade im Ländervergleich die Gleichzeitigkeiten von Prekarisierungs- und Formalisierungsprozessen berücksichtigt werden müssen
(Sproll/Wehr 2014). In postkolonialen Ansätzen werden die These einer umfassenden Prekarisierung in Ländern des globalen Norden kritisch diskutiert und Überlegungen zum Vergleich von Prekarität und Subalternität angestellt (Castro Varela/Dhawan 2009). Grenzregime, Fluchtdynamiken
und (Post-)Migration im globalen Norden konfrontieren die Prekarisierungsforschung schließlich mit
Fragen der Teilhabe, Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaftskonzepten und fordern ihre häufig eurozentrische Orientierung heraus.
Prekarisierungsprozesse lassen sich auch auf einer epistemologischen und ontologischen Ebene
verorten, da die umfassenden Entsicherungsprozesse auch die sozial- und kulturwissenschaftlichen
Instrumente zur Wahrnehmung und Beschreibung von Welt herausfordern – sind diese doch noch
häufig in einem fordistischen (Dölling/Völker 2008) und eurozentrischen Vokabular gefasst. Intensiv
wird diskutiert, wie postsouveräne Handlungs- und Anerkennungsverhältnisse formuliert werden
können, die nicht von autonomen Subjekten ausgehen, sondern das grundlegende Prekär- und
Verwiesensein auf andere zur Grundlage nehmen (Butler/Athanasiou 2014). Wie kann das prekäre
Soziale beschrieben werden?
Die Tagung möchte möglichst breit aktuelle Forschungen im Themenfeld „Prekarisierung“
versammeln. Erwünscht sind theoretische und / oder empirische – qualitative und / oder
quantitative – Beiträge aus verschiedenen Disziplinen.
Nachfolgend werden einige Themenbereiche benannt, die in verschiedenen Panels behandelt werden sollen (die aber auch um weitere anschlussfähige Themen ergänzt werden
können).
Hierfür erbitten wir abstracts (maximal eine Seite) an alle vier Organisator_innen.
Deadline: 15. September 2016
Organisation:
Dr. Mona Motakef, Prof. Dr. Christine Wimbauer, Prof. Dr. Johannes Giesecke
Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin
Dr. Gabi Jähnert
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterforschung, Humboldt Universität zu Bberlin
[email protected]
[email protected]
[email protected]
[email protected]
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1. Prekarisierung und Soziale Ungleichheiten
In diesem Panel stehen aktuelle Forschungen zu Prekarisierung und sozialen Ungleichheiten im
Zentrum. Mögliche Fragen sind: Haben sich Ungleichheiten des fordistischen Ernährermodells verringert, und/oder sind mit dem Leitbildwandel zum aktivierenden Sozialstaat neue Ungleichheiten
entstanden? Welche Deutungen von Ungleichheiten liegen der Prekarisierungsforschung zugrunde? In welchem Verhältnis stehen Konzepte wie ‚prekär’ und ‚ungerecht’ sowie ‚prekär’ und ‚arm’?
Werden gegenwärtige soziale Ungleichheiten mit dem Vokabular und den Instrumenten der Ungleichheitsforschung und/oder der Prekarisierungsforschung noch angemessen abgebildet? In welchem Verhältnis stehen Prekarisierungsforschung und Sozialstrukturanalyse?
2. Theorien der Prekarisierung
Mögliche Fragen lauten hier: Welche Vorzüge und Fallstricke halten theoretische Angebote zu Prekarisierung bereit, wie etwa Durkheims Anomietheorie, Hegemonietheorien, die Diskurs- und Gouvernementalitätsforschung sowie Theorien der Anerkennung? Welche weiteren gesellschafts-, sozial- und kulturtheoretischen Ansätzen erscheinen vielversprechend, um Prekarisierungsprozesse zu
analysieren? Wie kann dabei die Ambivalenz der Prozesse berücksichtig, wie die Reichweite von
Prekarisierung bestimmt werden: Stellt Prekarisierung ein globales Phänomen dar? Falls ja, worin
bestehen Spezifika und wie können sie konzeptionell gefasst werden? Wie kann Prekarisierung im
Rahmen einer global Sociology erweitert werden? Was würde dies für im Westen situierte theoretische Konzepte wie etwa Anomie, Hegemonie, Gouvernementalität und Anerkennung bedeuten?
3. Prekarisierung von Arbeit
In diesem Panel stehen Fragen nach der Prekarisierung von (Erwerbs-)Arbeit im Zentrum. Mögliche
Fragen sind: Was sind Ursachen, wie ist das Ausmaß von Prekarität in der Erwerbssphäre? Welche
subjektiven Deutungs- und Handlungsmuster entwickeln prekär Beschäftigte? Ausgehend von einem weiten Arbeitsbegriff ist weiter nach Veränderungen in der Haus- und Sorgearbeit zu fragen,
etwa durch Rassifizierungen und neue Vergeschlechtlichungen. Mit welchen Konzepten können die
globalen Ungleichheiten in der Haus- und Sorgearbeit beschrieben werden? Wie wird Selbstsorge
durch Prekarisierungsprozesse herausgefordert? Welche Auswirkungen haben Prekarisierungsprozesse auf die körperliche und seelische Gesundheit von Beschäftigten? Welche Gruppen (Alleinerziehende, Menschen auf der Flucht) und Berufsbranchen sind warum besonders gefährdet? Welche
(politischen) Handlungsnotwendigkeiten lassen sich hieraus ableiten?
4. Prekarisierung von Geschlecht, von Lebens- und Familienformen
In diesem Panel ist zu fragen, was nach dem männlichen Ernährermodell kommt. Etwa: Wird für
Männlichkeitskonstruktionen die Orientierung an Erwerbsarbeit brüchig, wenn immer weniger Männer eine männliche Ernährerrolle realisieren können? Bedeutet die Prekarisierung des Ernährermodells ein Aufweichen der heteronormativen Ordnung, die bislang auf die Privilegierung der nur Heterosexuellen vorbehaltenen Ehe gerichtet war? Wie erfahren und bewältigen Alleinerziehende ihre
oft prekäre Lebenslage? Welche Bedeutung haben Paarbeziehungen und Freundschaften in Prekarisierungsprozessen und welche alternativen Familienkonzepte werden notwendig?
5. Repräsentation des Prekären in Medien und Protestformen
Hier werden mediale Diskurse, Narrationen und Repräsentationen des Prekären verhandelt. Etwa:
Welches Wissen wird über prekäre Lebensverhältnisse in Medien und Protestformen vermittelt?
Welche Narrative des Prekären bringen Protestbewegungen hervor? Wird das Prekäre anders in
Szene gesetzt als Armut? Wie wird Herkunft, Geschlecht, ‚Race’, ‚Körperlichkeit’ und Alter inszeniert? Was wissen wir über Rezeption und Aneignungen der Repräsentationen des Prekären? Welche gesellschaftlichen Bedeutungen und welche sozialen Funktionen haben die Repräsentationen?
6. Prekäre Gemeinschaften – neue Kollektive?
Mögliche Fragen diesen Panels lauten: Welche Politiken resultieren aus Prekarisierungsprozessen?
Was lässt sich aus der Prekarisierungsperspektive über antifeministische und rassistische Diskurse
zeigen (etwa PEGIDA)? Wo gerät die Prekarisierungsperspektive an ihre Grenzen? Wie ist es progressiven Protestbewegungen gelungen, mit Prekarität und Prekärsein zu mobilisieren? Welche
Vorzüge und Grenzen weisen postoperaistische Begriffe wie Multitude und Sorgemeinschaft auf?
Wie ist möglich, Solidarität nach der Subjektkritik zu denken?
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Literatur
Aulenbacher, Brigitte (2009): "Die soziale Frage neu gestellt - Gesellschaftsanalysen der Prekarisierungs- und
Geschlechterforschung". In: Robert Castel/Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn
des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 65-77.
Bourdieu, Pierre (2004): "Prekarität ist überall". In: Pierre Bourdieu (Hg.), Gegenfeuer, Konstanz: UVK, S. 107-113.
Bourdieu, Pierre et al. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft., Konstanz: UVK
Verlagsgesellschaft.
Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M./New York: Campus.
Butler, Judith und Athena Athanasiou (2014): Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich: diaphanes.
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK.
Castel, Robert und Klaus Dörre (Hg.) (2009): Prekarität, Abstieg und Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Frankfurt a.M./New York: Campus.
Castro Varela, María do Mar und Nikita Dhawan (2009): "Prekarität und Subalternität - Zusammenhänge und Differenzen". In: Sønke
Gau/Katharina Schlieben (Hg.), Work to do! Selbstorganisation in prekären Arbeitsbedingungen, Nürnberg: Verlag für
moderne Kunst, S. 119-124.
Dölling, Irene und Susanne Völker (2008): "Prekäre Verhältnisse, erschöpfte Geschlechterarrangements - eine praxeologische
Perspektive auf Strategien sozialer Kohäsion". In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 3+4 (26), S. 57-71.
Jungwirth, Ingrid und Karin Scherschel (2010): "Ungleich prekär - zum Verhältnis von Arbeit, Migration und Geschlecht". In:
Alexandra Manske/Katharina Pühl (Hg.), Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretische
Bestimmungen, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 110-132.
Lorey, Isabell (2012): Die Regierung des Prekären, Wien: Turia + Kant.
Marchart, Oliver (2013): Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung.
Bielefeld: transcript.
Marquardsen, Kai (2012): Aktivierung und soziale Netzwerke. Die Dynamik sozialer Beziehungen unter dem Druck der
Erwerbslosigkeit, Wiesbaden: VS.
McRobbie, Angela (2010): Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden: VS.
Motakef, Mona (2015): Prekarisierung, Bielefeld: transcript.
Precarias a la deriva (2011): 'Was ist dein Streik?' Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, Wien: Turia + Kant.
Sproll, Martina und Ingrid Wehr (2014) (Hg.): Capitalist Peripheries: Perspectives on Precarisation from the Global South and North.
Journal für Entwicklungspolitik (JEP) – 30 (4) 2014 Wien.
Standing, Guy (2011): The Precariat. The New Dangerous Class, London: Bloomsbury.
Virno, Paolo (2005): Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien: Turia + Kant.
Wimbauer, Christine (2012): Wenn Arbeit Liebe ersetzt. Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit, Frankfurt
a.M./New York: Campus.
Wimbauer, Christine, Mona Motakef und Julia Teschlade (2015): "Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun
Prekarisierungstheoretische Überlegungen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung". In:
Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.), (Anti-)Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer
Auseinandersetzungen, Bielefeld: transcript, S. 41-57.
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