KÖRPER-ÖFFNUNGEN Call for Papers für die Sektionsveranstaltung „Soziologie des Körpers und des Sports“ 38. Kongress der DGS, Universität Bamberg 2016 Sophie Merit Müller, M.A. (JGU Mainz, [email protected]) Dipl.-Soz. Tobias Boll (JGU Mainz, [email protected]) Gesellschaft ereignet sich körperlich: Körper sind Träger kulturellen Wissens, über die der Vollzug gesellschaftlicher Alltagswirklichkeit prozessiert wird. Dies gilt auch für Prozesse sozialer Schließung und gesellschaftlicher Ordnungsbildung: So werden körperliche Merkmale zu ‚Aufhängern‘ für die Kategorisierung des gesellschaftlichen Personals, soziale Differenzierung wird an Körpern markiert und naturalisiert (Hirschauer 2014) und Praktiken des Umgangs mit dem Körper werden zu Akten sozialer Distinktion (Bourdieu 1982). Die Frage nach Offenheit und Geschlossenheit von Gesellschaft lässt sich jedoch auch auf ganz materieller (und dabei nicht weniger sozialer) Ebene stellen: Wie organisieren Gesellschaften die körperlichen Grenzen ihrer Mitglieder? Der Körper der Biologie und der Medizin, aber auch der unserer Alltagserfahrung scheint eine recht klar definierte Außengrenze zu haben: die Haut. Allerdings sind Körper zugleich mit Öffnungen ‚versehen‘, die auf verschiedene Weise Unterschiedliches hinein oder heraus lassen. Um den Umgang mit Körperöffnungen haben sich vielfältige rituelle und regulative Praktiken sowie Semiotiken etabliert: Sie werden anstands-, hygiene- oder schamhalber verdeckt, aber auch offen gehalten. Ausflüsse und Entäußerungen werden kontrolliert, entschuldigt, evoziert oder dramatisiert. Daneben gibt es Praktiken, die Öffnungen und Schließungen des Körpers erzeugen: Sanitäter legen z.B. mit der Nadel einen „Zugang“ zu einem Patientenkörper, der später chirurgisch geöffnet wird. Darüber hinaus werden Körpergrenzen verhandelt. Es kann eine kategorische oder graduelle Frage sein, ob Warzen oder Haare, aber auch z.B. Tattoos, Implantate oder bestimmte Gefühle zum Körper gehören oder nicht. In einer Vielzahl von Kontexten werden so die materiellen, aber auch die ästhetischen, moralischen und physiologischen (leistungs- und belastungsbezogenen) Grenzen von Körpern und Körperlichkeit verschoben und gefestigt. Dies bedarf einer permanenten komplexen sozialen Organisation (Elias 1976; Foucault 1988). Solche Praktiken operieren vor dem Hintergrund je spezifischer Körperkonzepte. Ob Körper vornehmlich als physikalische Schwungmasse, gestaltbare Oberfläche, Hindernis, Resonanzraum oder Container von Individuen relevant sind, bestimmt auch die jeweiligen Vorstellungen davon, wo die Konturen und ‚Sollbruchstellen‘ von Körpern verlaufen (sollen). Auch in der Soziologie bilden Annahmen über die Abgeschlossenheit oder Offenheit von Körpern – mal mehr, mal weniger explizit – die Grundierung vieler Fragestellungen und Theorien, beispielsweise, wenn es um Intersubjektivität geht. Die Leibphänomenologie betont, dass der lebendige menschliche Körper von grundsätzlicher Weltoffenheit gekennzeichnet ist (Merleau-Ponty 1966), und damit in einer besonderen Umweltbeziehung steht (Plessner 1981). Elias (1986) hat die Vorstellung eines homo clausus scharf kritisiert und stattdessen Menschen als offene, stets verflochtene Prozesse entworfen. Goffmans interaktionistischer Ansatz schließlich fasst die Offenheit des Körpers im Sinne seiner kommunikativen Öffentlichkeit als „Display“ (Goffman 1959). An soziologischen Allgemeinsetzungen der Haut als impermeable ‚Hülle’ des Körpers und an der Idee des menschlichen Körpers als abgeschlossene Einheit ist aus verschiedenen Richtungen Kritik geübt worden (z.B. schon Bentley 1941). Derzeit werfen insbesondere die Praxistheorien, die Actor Network Theory, am New Materialism orientierte Ansätze sowie diskurstheoretische und feministische Debatten verstärkt die Frage nach der sozialen, diskursiv-materiellen Konstitution von Körpergrenzen auf, häufig informiert (und irritiert) durch die Auseinandersetzung mit empirischen Fällen. Dabei wer1 den Körperkonzepte entgrenzt und aufgeweicht; Körper werden konzeptionell und in theoretischer Metaphorik auf verschiedene Zuständlichkeiten ausgeweitet. Hier trifft man auf „leaky bodies“ (Shildrick 1997), „volatile bodies“ (Grosz 1994), „hard“ und „soft bodies“ (Keck 2011), auf „Cyborgs“ (Haraway 1991), „corporeal transgression“ (Williams&Bendelow 2000) oder körperliche Figurationen, die in praktischen Grenzziehungen entstehen (Barad 2003). Die konzeptuell als unklar, schwammig, fluide, (semi)permeabel gesetzten Körpergrenzen werden auch empirisch zur Disposition gestellt und es wird z.B. untersucht, wie Körper im Fluss fortlaufender Inkorporationen und Exkorporationen zusammengehalten werden (Law&Mol 2004). Hier tut sich eine Vielzahl von Fragemöglichkeiten auf, denen die Sektionsveranstaltung nachgehen will: In welchen sozialen Praktiken, Diskursen, Kontexten wird der Status von Körpern als offen, unabgeschlossen, verteilt oder (ab)geschlossen relevant und wie wird dies dar- und hergestellt? Wie werden Körper geöffnet oder dissoziiert bzw. zusammengehalten, ‚erhärtet’ oder auch in ihren Grenzen bewacht? Welche Rolle spielen bestimmte Körperöffnungen in verschiedenen Kontexten? Wie werden vorgefundene Öffnungen semiotisch behandelt? Welche Institutionen setzen Öffnungs- und Schließungsimperative, sodass z.B. Babynasen gereinigt werden müssen und im Seminar die Augen nicht zufallen dürfen? Welche Schließungen liegen in z.B. medizinisch-chirurgischen Öffnungen von Körpern? Welche Arbeiten wenden Gesellschaften dafür auf, Körper (wieder) zu schließen, vom Kappen der Nabelschnur über Wundversorgung bis hin zu ‚Ganzheitlichkeit‘ fördernden Meditations- und Bewegungstrainings? Wie wird der Status dessen bestimmt, was in Körper hinein und aus ihnen heraus geht, und wie hängt dies mit der Herstellung eines ‚Innen‘ und ‚Außen‘ zusammen? So können z.B. Stimmungen, Seheindrücke, Bewegungsmuster, Stoffe und andere (Fremd-)Körper auf unterschiedliche Weise in Körper eingehen, eingeführt werden, eindringen, und dabei verschieden gerahmt sein (z.B. Fett als Nährstoff oder aber Schadstoff). Wie wird umgekehrt das Zugehörigkeitsverhältnis unterschiedlicher körperlicher Ablösungen (z.B. Kind, Zahn, Fäkalien, Kunstwerk) markiert? Was für ein Artefakt ist die Haut? Wie wird ihr Status als (mal geschlossene, mal durchlässige) Kontur des Körpers praktisch bewerkstelligt? Welche Rolle spielen Formen der ‚Berührung‘, von der taktilen Abtastung bis zur emotionalen ‚Angefasstheit‘? Wie hängt diese Grenzarbeit mit der Instandhaltung von Personen zusammen? Wie werden sie ‚unberührbar‘ gemacht, mit einer ‚dicken Haut‘ versehen, die Ungewolltes zurückhält (z.B. die Ausdrucks- und Affektkontrolle von Soldatenkörpern)? Wie werden Körper umgekehrt für ‚Impulse‘, ‚Energieströme‘ o.ä. durchlässig gemacht, etwa im Tanz, Yoga oder bei der Akkupunktur? Wie werden ontologische Grenzen zwischen Körper und Nicht-Körper über verschiedene Entitäten und Materialitäten hinweg markiert oder nivelliert – vom widerspenstigen Finger eines Pianisten über das selbstverständlich gehandhabte Smartphone, den (noch nicht) verspeisten Apfel bis hin zum digitalen Foto? Wie werden körperliche Belastungsgrenzen in unterschiedlichen Praktiken konstituiert, ausgetestet, abgesteckt? Wie bringen Körperkonzepte (formbar, trainingsbedürftig, krankheitsanfällig), Praktiken (Dehnen, Trainieren), Objekte (Krücken) oder einverleibte Stoffe (Drogen) Körper (gezielt) an ‚ihre‘ Grenzen und lassen sie darüber hinausgehen? Welche theoretischen Konsequenzen hat es schließlich, Körperlichkeit jenseits anthropologisch-biologischer Grenzziehungen zu denken und jene zum Gegenstand zu machen? Wir bitten um Beiträge, die sich mit Be- und Entgrenzungen, Öffnungen und Schließungen von Körpern vor dem Hintergrund konzeptueller Überlegungen und anhand empirischen Materials beschäftigen. Vortragsangebote (20 Minuten) von maximal einer Seite Länge und eine Kurzbiographie bis zum 31.03.2016 an [email protected] und [email protected]. 2 Literatur Barad, K. (2003): Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Journal of Women in Culture and Society 28 (3),801-831. Bentley, A. F. (1941): The human skin: Philosophy’s last line of defense, in: Philosophy of science, 8 (1), 1-19. Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Elias, N. (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1988): Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer. Goffman, E. (1959): The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City (NY): Anchor. Grosz, E. (1994): Volatile Bodies: Towards a Corporeal Feminism. Bloomington: Indiana University Press. Haraway, D. (1991): A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in: D. Haraway (Hg.): Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature (S. 149-181). New York: Routledge. Hirschauer, S. (2014): Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (3), 170-191. Keck, A. (2011): Weiche Körper und schlechte Masken: Zur Verwerfung der hard bodies in Drei Engel für Charlie, in: R. Poole, F. Selmayr, S. Wegener (Hg.): Hard Bodies (S. 114-138). Wien u.a.: LIT Verlag. Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Mol, A., & Law, J. (2004): Embodied Action, Enacted Bodies: The Example of Hypoglycaemia, in: Body & Society 10 (2-3), 43-62. Plessner, H. (1981): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Shildrick, M. (1997): Leaky bodies and boundaries: Feminism, postmodernism and (bio)ethics. New York: Routledge. Williams, S. J., & Bendelow, G. A. (2000): ‘Recalcitrant bodies’? Children, cancer and the transgression of corporeal boundaries, in: Health, 4 (1), 51-71. 3
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