Arbeitsbücher Wirtschaftsrecht Arbeitsrecht I

KOKEMOOR · KREISSL
ABW!R
Arbeitsbücher Wirtschaftsrecht
Arbeitsrecht I
Individualarbeitsrecht
5. Auflage
Arbeitsrecht I
Individualarbeitsrecht
Prof. Dr. Axel Kokemoor
Hochschule Fulda
Prof. Dr. Stephan Kreissl
Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach
5., überarbeitete Auflage, 2015
3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.
5. Auflage, 2015
ISBN 978-3-415-05494-3
E-ISBN 978-3-415-05563-6
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4
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
A.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I.
II.
Sinn und Zweck des Arbeitsbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hinweise zur Fallbearbeitung im Arbeitsrecht . . . . . . . . . .
9
10
B.
Prüfung von Ansprüchen aus einem bestehenden
Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I.
Prüfung der Begründung eines Arbeitsverhältnisses . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Bestehen eines Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . .
a) Einstieg in die Fallbearbeitung . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Anfechtung eines Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . .
a) Einstieg in die Fallbearbeitung . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers . . . . . . . . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Vergütung erbrachter Arbeit . . . . . . . . . . . . . . .
a) Einstieg in die Fallbearbeitung . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Vergütung trotz unterbliebener Arbeit . . . . . . . . .
a) Einstieg in die Fallbearbeitung . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers. . . . . . . . . . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ersatzansprüche des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . .
1. Vertragliche Schadensersatzansprüche . . . . . . . . .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Anspruch auf Schadensersatz wegen Benachteiligung
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Deliktische Schadensersatzansprüche . . . . . . . . .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
III.
IV.
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5
Inhaltsverzeichnis
V.
4. Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen und Verlusten
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers . . . . . . . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Prüfungsabläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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52
C.
Überprüfung der Wirksamkeit einer Kündigung . . . . . . . . .
55
I.
Wirksamkeit der Kündigung . . . . . . . . . . . .
1. Ordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Außerordentliche Kündigung . . . . . . . . .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Kündigung besonders geschützter Personen .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsabläufe. . . . . . . . . . . . . . . .
4. Änderungskündigung . . . . . . . . . . . . . .
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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77
Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund
anderer Rechtsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
II.
D.
I.
II.
6
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Überprüfung eines Aufhebungsvertrages . . . . . . . . . . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Überprüfung der Wirksamkeit einer Befristung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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91
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94
Inhaltsverzeichnis
E.
I.
II.
Prüfung von Ansprüchen aus Anlass der Beendigung eines
Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
IV.
Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Prüfungsablauf: Ansprüche des Arbeitnehmers bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Prüfungsablauf: Ansprüche des Arbeitgebers bei Beendigung
des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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102
104
F.
Glossar/Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
G.
Fallfinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
III.
.
99
.
99
7
Inhaltsverzeichnis
8
I. Sinn und Zweck des Arbeitsbuchs
A. Einleitung
I.
Sinn und Zweck des Arbeitsbuchs
Das vorliegende Arbeitsbuch will Studierenden durch Prüfungsschemata für
die gängigsten Klausurkonstellationen einen Fahrplan zur Bearbeitung arbeitsrechtlicher Fälle an die Hand geben. Auf die Vermittlung theoretischen
Wissens wird daher bewusst weitgehend verzichtet; die erforderlichen
Kenntnisse werden vielmehr im Rahmen des Prüfungsablaufs angesprochen.
Vorlesungen und Lehrbücher können und sollen insofern nicht ersetzt, sondern im Hinblick auf die Klausurvorbereitung ergänzt werden. Die Darstellung der verschiedenen Prüfungsabläufe wird angereichert durch – überwiegend der höchstrichterlichen Rechtsprechung entnommene – Übungsfälle
und ein Glossar, sodass die Benutzer sowohl die Möglichkeit haben, sich über
in den Übersichten auftretende Begriffe kurz zu informieren, als auch das einzelne Schema in einem darauf zugeschnittenen Fall direkt anzuwenden.
1
Die Konzeption des Buches ermöglicht verschiedene Arten seiner Benutzung.
Mit dem konsequenten Durcharbeiten können Sie sich ein umfassendes Wissen über die gängigen rechtlichen Probleme verschaffen, die im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen auftreten können. Um dies zu gewährleisten,
folgt der Aufbau zum einen dem chronologischen Ablauf eines Arbeitsverhältnisses und behandelt die auftretenden Rechtsfragen in zeitlicher Reihenfolge von der Begründung (Kap. B. I) über die Ausübung (Kap. B. II – V) bis
zur Beendigung (Kap. C, D und E) des Arbeitsverhältnisses.
2
Sie sollten zunächst die zitierten Normen nachlesen und – besonders wichtig im Arbeitsrecht, das in weiten Teilen auf nicht kodifiziertem „Richterrecht“ beruht – sich die einschlägigen Rechtsprechungsgrundsätze vergegenwärtigen. Die im Glossar erklärten Begriffe können als Einstieg dienen, das
materielle Wissen zu aktivieren. Dann gilt es, den Prüfungsablauf nachzuvollziehen und in einem zweiten Schritt die Rechtsanwendung anhand des
Übungsfalles zu erproben. Erfahrungsgemäß ist es dabei durchaus sinnvoll,
die eigene Lösung vollständig auszuformulieren und diese mit dem vorliegenden, ebenfalls in Form eines Rechtsgutachtens verfassten Lösungsvorschlag zu vergleichen. Bitte machen Sie sich dabei klar, dass die Jurisprudenz eine Argumentationswissenschaft ist – „der Weg ist das Ziel“. Die
Qualität der Rechtsanwendung hängt daher nicht davon ab, ob Sie im Ergebnis dem Lösungsvorschlag (bewusst nicht: Musterlösung) besonders nahekommen, sondern ob Sie alle aufgeworfenen Probleme gesehen, diskutiert
und vertretbar bewertet haben.
3
Das Buch ist ferner auch punktuell einsetzbar. Sie können sowohl gezielt Begriffe nachschlagen als auch den Prüfungsablauf eines bestimmten, in der
Vorlesung vermittelten oder einem Lehrbuch entnommenen Anspruchs an-
4
9
A. Einleitung
hand des einschlägigen Schemas nachvollziehen. Schließlich kann anhand
der Prüfungsabläufe die Bearbeitung von – auch anderen als den beispielhaft
aufgeführten – arbeitsrechtlichen Fällen geübt werden.
5
Die Prüfungsschemata enthalten die notwendigen Prüfungsschritte umfassend. Ein stereotypes Abarbeiten der einzelnen Prüfungsschritte sollten Sie
vermeiden und immer den Falltext im Auge behalten. Auch die dargestellte
Prüfungsreihenfolge ist nicht zwingend, soweit nicht aus dem Gesetz oder logisch eine bestimmte Abfolge vorgegeben ist.
II. Hinweise zur Fallbearbeitung im Arbeitsrecht
6
Die Erfahrung zeigt, dass Studierende in Rechtsfächern relativ wenig Probleme damit haben, sich die theoretischen Grundlagen für die Lösung einzelner
Rechtsprobleme anzueignen. Die Anwendung des Erlernten auf die in den
Klausuren geforderte Bearbeitung konkreter juristischer Fälle fällt ihnen dennoch oftmals nicht leicht. Das ist auch im Arbeitsrecht nicht anders.
7
Leicht in Vergessenheit gerät, dass das Arbeitsrecht zum Privatrecht zählt. Die
Arbeitsrechtsklausur ist daher als zivilrechtliche Klausur einzuordnen und
prinzipiell wie eine solche zu lösen.
8
Gewisse Abweichungen vom zivilrechtlichen Anspruchsaufbau ergeben sich
bei den Fällen, die die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zum Gegenstand haben: Hier ist zumeist die Rechtswirksamkeit einer Kündigung, einer
Befristung oder eines Aufhebungsvertrags zu überprüfen. Der fristgerechten
Erhebung einer Klage kann dabei zentrale Bedeutung zukommen, weil das
Kündigungsschutzgesetz und das Teilzeit- und Befristungsgesetz bei nicht
fristgerechter Klage die Wirksamkeit des Kündigungs- oder Befristungsgrundes fingieren (vgl. §§ 7, 13 Abs. 1 Satz 2, 23 Abs. 1 Satz 2, 3 KSchG, § 17
Satz 1, 2 TzBfG).
9
Bestehen Widersprüche zwischen arbeitsvertraglichen und kollektivvertraglichen oder gesetzlichen Regelungen, empfiehlt es sich oftmals, die Prüfung
mit den arbeitsvertraglichen Vereinbarungen zu beginnen. Zu der jeweiligen
konkreten Sachfrage kann sodann geklärt werden, ob die arbeitsvertragliche
Regelung mit höherrangigem Recht (insbes. in Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen oder Gesetzen) übereinstimmt.
10
Auch im Arbeitsrecht muss grundsätzlich der Gutachtenstil zugrunde gelegt
werden. Die Ursache für eine schlechte Bewertung einer Klausur liegt allerdings häufig in der falschen Gewichtung der Probleme. Wird Unproblematisches lang und breit erörtert, hat dies nahezu zwingend zur Folge, dass für die
eigentlichen Probleme die Zeit fehlt! Um dieser Gefahr entgegenzutreten,
können Sie sich bei unproblematischen oder nebensächlichen Punkten ausnahmsweise des Urteilsstils bedienen.
10
I. Prüfung der Begründung eines Arbeitsverhältnisses
B. Prüfung von Ansprüchen aus einem bestehenden
Arbeitsverhältnis
I.
Prüfung der Begründung eines Arbeitsverhältnisses
1. Einführung
Die Frage nach dem Bestehen eines Arbeitsverhältnisses stellt sich insbesondere im Hinblick auf zwei Fallgestaltungen. In der ersten – enorm praxisrelevanten – Gruppe liegt ein (Dienst-)Vertrag relativ unproblematisch vor; fraglich ist allerdings, ob es sich bei diesem rechtlich um einen Arbeitsvertrag
handelt. Nur auf Arbeitsverträge findet das Arbeitsrecht Anwendung. Für
sonstige Dienstverträge und Werkverträge, die mit selbständigen Unternehmerinnen und Unternehmern, Angehörigen freier Berufe sowie freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschlossen werden, gelten nicht die (zumeist
arbeitnehmerschützenden) Regeln des Arbeitsrechts.
11
Die zweite besonders klausurrelevante Fallgruppe betrifft die Frage, ob ein an
sich bestehendes Arbeitsverhältnis durch Anfechtung der zum Vertragsschluss führenden Willenserklärung der Arbeitgeberseite wieder beendet
werden kann. Dies ist insofern von besonderem Interesse, als die Vorschriften
über den Kündigungsschutz einschließlich der Kündigungsverbote auf die
Anfechtung keine Anwendung finden und auch der Betriebsrat vor einer Anfechtung nicht nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG angehört werden muss.
12
2. Bestehen eines Arbeitsverhältnisses
a) Einstieg in die Fallbearbeitung
Wenn im Bearbeitungsvermerk nicht unmittelbar nach dem Bestehen eines
Arbeitsverhältnisses gefragt wird, ergibt sich der Einstieg in die Falllösung
i. d. R. über eine Rechtsnorm, die das Bestehen eines selbständigen Dienstvertrags voraussetzt oder die an das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses anknüpft.
b)
13
Prüfungsablauf
Übersicht 1
14
I. Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags
– §§ 145 ff. BGB, §§ 164 ff. BGB
II. Gerichtet auf die Leistung von Diensten: Abschluss eines Dienstvertrags i. w. S.
– § 611 BGB: Leistung von Diensten gegen Entgelt
– Abgrenzung gegenüber anderen Vertragstypen
(insbes. § 631 BGB – Werkvertrag, § 662 BGB – Auftrag)
11
B. Prüfung von Ansprüchen aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis
III. Unselbständigkeit: Abgrenzung Arbeitnehmer – Selbständiger
– Selbständigkeit oder persönliche Abhängigkeit
Kriterien: § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB
1. Weisungsgebundenheit
– Ort, Zeit, Dauer der Tätigkeit fremdbestimmt
2. Eingliederung in fremde Arbeitsorganisation
– „Rädchen“ im Produktionsgetriebe eines anderen
3. Beurteilungsmaßstab: tatsächliche Vertragsdurchführung
15
16
Der Tatbestand der Vorschrift des § 611 Abs. 1 BGB gibt den Einstieg in die
Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft vor: Der vermeintliche Arbeitnehmer
muss (1.) auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrags (2.) zur Leistung
von Diensten für einen anderen verpflichtet sein. Ob selbständige oder unselbständige Dienste geschuldet werden (3.), ist sodann anhand der Kriterien
des § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB festzustellen.
Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags
Prüfungspunkt I ist in den hier relevant werdenden Fallgestaltungen zumeist
unproblematisch und bedarf dann keiner besonderen Ausführungen. Diese
sind aber erforderlich, wenn Dienste auch auf öffentlich-rechtlicher Grundlage (z. B. durch Beamte oder Strafgefangene) oder in Erfüllung familienrechtlicher Pflichten (§§ 1353 Abs. 1 Satz 2, 1619 BGB) erbracht worden sein könnten. Führt ein Tatbestand (z. B. §§ 134, 138 BGB) zur Nichtigkeit des
Arbeitsvertrags, kann die Lehre vom faktischen (oder: fehlerhaften) Arbeitsverhältnis zum Tragen kommen. Wurde das Arbeitsverhältnis in diesen Fällen bereits in Vollzug gesetzt und stehen keine elementaren Interessen entgegen (wie z. B. der Patientenschutz bei einem erschlichenen Arbeitsverhältnis
eines Nichtarztes als Arzt), wird es für die Vergangenheit so behandelt, als ob
der Arbeitsvertrag fehlerfrei zustande gekommen wäre; für die Zukunft kann
sich jede Partei durch einseitige Erklärung davon lösen. Sie sollten sich merken, dass die Vorschriften, nach denen der wesentliche Inhalt eines Arbeitsoder Berufsausbildungsvertrags schriftlich niederzulegen ist (§ 2 Abs. 1
NachwG, § 11 BBiG) keine Formvorschriften i. S. d. § 125 BGB sind. Sie dienen dem Arbeitnehmerschutz bzw. dem Schutz der Auszubildenden und wirken nur deklaratorisch: Ein Verstoß stellt nicht die Wirksamkeit des Vertrags
in Frage. Als Gedächtnisstütze können Sie § 105 Satz 2 GewO neben § 611
Abs. 1 BGB vermerken (reine Paragraphenverweise sind nach vielen Prüfungsordnungen zulässig – um Ihren Gesetzestext nicht zu einem unerlaubten
Hilfsmittel zu machen, sollten Sie die für Sie geltende Rechtslage zuvor klären!).
12
I. Prüfung der Begründung eines Arbeitsverhältnisses
Gerichtet auf die Leistung von Diensten: Abschluss eines
Dienstvertrags i. w. S.
Unter Prüfungspunkt II sind nur dann tiefer gehende Erörterungen erforderlich, wenn anstelle eines Dienstvertrags auch ein anderer Vertragstypus
vereinbart worden sein könnte. Dazu sollten Sie sich als Merkhilfe im Gesetzestext des § 611 Abs. 1 BGB die Worte „Dienste“ und „Vergütung“ unterstreichen (zumindest einfarbige Unterstreichungen sind nach den Prüfungsordnungen zumeist zulässig – auch dazu müssen Sie sich zuvor informieren!).
Hinsichtlich der Vergütung, also des Kriteriums der Entgeltlichkeit der Dienste, unterscheidet sich der Dienstvertrag vom Auftrag nach § 662 BGB; auch
wenn es an einer ausdrücklichen oder konkludenten Vergütungsvereinbarung
fehlt, wird sie allerdings zumeist nach § 612 Abs. 1 BGB vom Gesetz fingiert.
Da nach dem Gesetz Dienste „für einen anderen“ geleistet werden müssen,
können ferner Dienstleistungen ausgeschieden werden, die allein auf vereinsoder gesellschaftsrechtlicher Grundlage (vgl. §§ 58 Nr. 2, 706 Abs. 3 BGB) erfolgen.
Während beim Dienstvertrag die Leistung von „Diensten“ – also die Tätigkeit
als solche – Gegenstand des Vertrags ist, wird beim Werkvertrag gem. § 631
Abs. 2 BGB ein durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg geschuldet. Die Abgrenzung von Dienst- und Werkvertrag kann im Einzelfall
schwierig sein. Dann kann die Frage in der arbeitsrechtlichen Fallbearbeitung
offengelassen werden: Für den Arbeitsvertrag als unselbständigen Dienstvertrag kommt es primär auf die persönliche Abhängigkeit an. Wird sie bejaht, ergibt sich daraus zwangsläufig die Arbeitnehmereigenschaft und dass deshalb
kein Erfolg geschuldet sein kann. Insofern ist es möglich, gegebenenfalls direkt zu Prüfungspunkt III überzugehen.
Unselbständigkeit: Abgrenzung Arbeitnehmer – Selbständiger
Zu prüfen ist die persönliche Abhängigkeit unter Prüfungspunkt III danach,
ob eine unselbständige Tätigkeit nach Weisungen und unter Eingliederung in
die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers vorliegt. Die Prüfung hat anhand
der Kriterien des § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB zu erfolgen (notieren Sie diese Vorschrift neben § 611 Abs. 1 BGB!). Selbständig ist danach, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Unselbständig, d. h. als Arbeitnehmer tätig wird folglich derjenige, für den ein
anderer Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung bestimmt (vgl. § 106 Satz 1
GewO). Weicht die Vertragsdurchführung vom Wortlaut des Vertrags ab, ist
nach der Rechtsprechung darauf abzustellen, wie der Vertrag tatsächlich
praktisch durchgeführt, d. h., wie er „gelebt“ wird.
Eine gute Ergebniskontrolle zu Prüfungspunkt III ermöglicht eine Meinung in
der jüngeren Literatur, die zur Abgrenzung auf die Verteilung der unternehmerischen Risiken und der unternehmerischen Chancen schaut: Typischerweise ist nur selbständig (und mit einem unternehmerischen Risiko belastet),
13
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B. Prüfung von Ansprüchen aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis
wer auch die Chance hat, einen unternehmerischen Gewinn in angemessenem Verhältnis zu den Risiken zu erzielen. Dieser Ansatz führt in den meisten
Fällen zum selben Ergebnis wie die Betrachtung der Rechtsprechung und der
herrschenden Lehre. Als Hilfskriterium zu dem nach h. M. entscheidenden
Merkmal der persönlichen Abhängigkeit kann er ohne Weiteres herangezogen
werden.
3. Anfechtung eines Arbeitsverhältnisses
21
a) Einstieg in die Fallbearbeitung
Sofern nicht unmittelbar nach dem Fortbestehen oder der Beendigung eines
Arbeitsverhältnisses gefragt wird, ergibt sich der Anknüpfungspunkt für die
Lösung einer Anfechtungsklausur zumeist über eine Rechtsnorm, die das
Fortbestehen eines Arbeitsvertrages voraussetzt.
b)
Prüfungsablauf
Übersicht 2
22
Anfechtung eines Arbeitsverhältnisses
I. Abschluss eines Arbeitsvertrags als Unterfall eines Dienstvertrags gem. § 611
Abs. 1 BGB
– §§ 145 ff. BGB, §§ 164 ff. BGB
– Inhalt: § 611 BGB, Leistung von unselbständigen Diensten gegen Entgelt
II. Anfechtung einer zum Arbeitsvertragsschluss führenden Willenserklärung
1. Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB
– Auslegung der Erklärung (§ 133 BGB): Anfechtung oder Kündigung?
– Zugang, § 130 Abs. 1 BGB
– auch mündlich, § 623 BGB ist nicht anwendbar
– Anfechtungsgegner: § 143 Abs. 2 BGB
2. Anfechtungsgrund
a) Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB
aa) Täuschung
aaa) durch positives Tun
– „Täuschung“ = Erregen oder Aufrechterhalten eines Irrtums
– gegeben bei unrichtiger Antwort auf zulässige Frage bei der
Einstellung
bbb) durch Unterlassen
– bei Pflicht zur ungefragten Offenbarung (selten!)
bb) Rechtswidrigkeit der Täuschung (ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal)
nicht gegeben bei unzulässiger Frage („Recht zur Lüge“)
cc) Kausalität der Täuschung („bestimmt worden ist“)
Täuschung muss für den Vertragsschluss mitursächlich gewesen sein
14