Abstract

Sabrina Hoppe, LMU München
Protestantische Netzwerke in der frühen Bundesrepublik – eine neue Kartierung des
Protestantismus nach 1945
Der hier vorgeschlagenen Präsentation liegt eine Forschungsarbeit (Promotion) zugrunde, die den
Protestantismus in den ethischen Debatten der BRD erforscht. Sie konzentriert sich dabei auf
protestantische Neugründungen im Bereich der kirchlichen Industrie-und Sozialarbeit sowie wie auf
das Engagement des Protestantismus in der öffentlichen Diskussion sozialethischer Themen
(Eigentum, Mitbestimmung) in der Bundesrepublik. Aus der Perspektive der Historischen
Netzwerkforschung werden Kontinuitäten, Neuansätze und Verschiebungen in öffentlichen Foren
des Protestantismus (Kirchentag, Akademien etc.) identifiziert und öffentliche Voten analysiert.
Protestantische Akteure in der BRD– sowohl sogenannte Laien als auch Theologinnen und Theologen
- verorteten sich gleichermaßen in ihrer Bezugnahme auf die Institution der EKD, als auch
hinsichtlich ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit, sowie hinsichtlich ihres Berufes und ihres Standes
in der Nachkriegsgesellschaft. Ihre Beteiligung an den Diskursen und Debatten der Bundesrepublik
bildete gleichsam Kristallisationspunkte ihrer Versuche, Gesellschaft zu gestalten und
gesellschaftliche Veränderungen zu prägen. Gleichzeitig vollzog sich in dieser Beteiligung eine
Verständigung der Akteure über ihr eigenes protestantisches Selbstverständnis.
Der Mehrwert der Perspektive der Netzwerkforschung ist es, die hohe individuelle und kontingente
Abhängigkeit der Mitglieder einer solchen Zusammenarbeit, z.B. in einer Arbeitsgruppe es
Kirchentags oder einer Kammer der EKD herausarbeiten zu können: Sie fanden sich nicht nur aus
fachlichen Interessen zusammen, sondern arbeiteten auch deswegen zusammen, weil sie
gemeinsame Lebenswege gegangen waren (Jugendbewegung, Studium, Zusammenarbeit an
Publikationen) Das dabei entstehende Vertrauen und der gegenseitige Austausch schufen eine
Vernetzung von Themen und Erfahrungen, die wiederum in eine spätere Zusammenarbeit einfließen
konnte.
Aus einzelnen protestantischen Akteuren entstanden so protestantische Netzwerke, deren Einfluss
auf die ethischen Debatten in der BRD nicht in einer „protestantischen Mafia“ (Dahrendorf), sondern
vielmehr in einem neu entstehenden Kommunikationszusammenhang bestand. Innerhalb eines
Netzwerks konnten nicht nur fachliche Positionen diskutiert werden, sondern auch Möglichkeiten
zum gemeinsamen Anstoß von gesellschaftlichen Prozessen sondiert werden, was in die Gründung
eines Kreises, wie etwa dem Kronberger Kreis, münden konnte. In den spezifischen Interessen und
Leitmotiven der jeweiligen Netzwerke zeigte sich dabei das, was die Akteure für das dezidiert
„protestantische“ an ihren Positionen hielten.
Die Historische Netzwerkforschung kann somit dazu beitragen, das Selbstverständnis des
Protestantismus in der Bundesrepublik zu erhellen und damit gleichzeitig die Relevanz sozialethischer
protestantischer Überlegungen für die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik
auszuleuchten. Ein solcher Zugang ist innovativ für die wissenschaftliche theologische Arbeit und
eröffnet neue Forschungsperspektiven, die über die Zuschreibung von theologischen Schulen wie
„linksprotestantisch“ und „liberal“ hinausgehen.