SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Philosophie
Der Studienkompass (1/11)
Von Julian Nida-Rümelin
Sendung: Montag, 28. März 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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Ansage:
Mit dem Thema: Der Studienkompass, Teil 1: Philosophie. Heute startet in der SWR2
Aula eine Reihe, gedacht für Noch-Schüler und -Schülerinnen, die kurz vor dem Abi
stehen oder es schon hinter sich haben und die sich dann fragen: Was nun? Was
soll ich, wenn es auf die Uni geht, studieren?
Wir wollen bei der Beantwortung der komplexen Frage helfen. 11 Aula-Autoren und
Autorinnen geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen muss,
um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann und wie
das Studium aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer: Chemie, Mathematik,
Germanistik, Medienwissenschaft oder, wie heute, um Philosophie.
Alle Vorträge sind übrigens schon ab dem 15. April online erhältlich. Infos dazu
finden Sie auf unserer Homepage swr2.de/studienkompass
Den Auftakt macht heute Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der LMU
München mit Schwerpunkt Ethik.
Julian Nida-Rümelin:
Persönlicher Werdegang
Vielleicht sollte ich zunächst erzählen, wie ich zur Philosophie gekommen bin. Ich
habe nicht genau gewusst, was ich später beruflich machen werde, wollte lange Zeit
wie mein Vater Bildhauer, also Künstler werden. Ich habe mich dann davon
überzeugen lassen, dass das zu unsicher ist. Denn auch wenn man begabt ist, ist es
schwierig, daraus einen Beruf zu machen.
Dann habe ich mir überlegt: Was sind eigentlich deine besonderen Begabungen,
Fähigkeiten und Interessen? In welchen Bereichen fällt das zusammen, wo divergiert
es? Ich habe bis heute ein großes Interesse an Mathematik und offenkundig auch
eine gewisse Begabung. Aber Mathematik wollte ich nicht zum Beruf machen.
Abstraktes Denken fällt mir leicht, Auswendiglernen eher schwer. Was bleibt dann
noch übrig? Weil ich unentschieden war, habe ich mich entschlossen, ein
Doppelstudium zu beginnen, nämlich Philosophie und Physik. Physik auf Diplom und
ein Magister-Studium in Philosophie an der Universität München. Ich habe mir
gedacht, es wird sich dann schon zeigen. Ich hatte mich innerlich darauf eingestellt,
dass man aus dem Philosophie-Studium keinen Beruf machen kann, allenfalls
Professor an der Universität – aber wer wird schon Professor? So hatte ich mich
darauf eingestellt: Philosophie studierst du aus Interesse und Physik mit Mathematik
im Nebenfach ist die Grundlage für deinen künftigen Beruf. Ich hatte auch schon
konkrete Vorbereitungen getroffen: Nach der Diplom-Vorprüfung war ich in den USA
und habe mich erkundigt, wie das mit Physikalischer Ozeanographie ist. Das hätte
mich sehr interessiert; es gibt dort ein großes Ozeanographisches Institut – das
Scripps Institute. Dann kam aber alles ganz anders, weil ich den damals sehr und
auch heute noch bekannten Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller in seinen
Vorlesungen und Seminaren erlebt habe. Als ich mich vorsichtig erkundigte, ob denn
ein Abschluss bei ihm denkbar wäre, hat er mir erstaunlicherweise zugesichert, er
würde sogar einen Abschluss in Gestalt einer Doktorarbeit, einer Promotion,
akzeptieren. Das war damals noch möglich, ohne vorangegangen Abschluss in der
Philosophie.
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Das habe ich für mich als eine Art Weichenstellung genommen und gesagt: Das ist
jetzt eine große Chance, ich lasse alles andere liegen und stehen und konzentriere
mich in Zukunft ganz auf die Philosophie. Stegmüller hat meine Doktorarbeit bis zum
Abschluss betreut. Danach hatte ich eine Assistentenstelle, allerdings nicht im
philosophischen Fach, sondern ursprünglich in der Politikwissenschaft, aber mit dem
Schwerpunkt "Politische Philosophie". In Philosophie habe ich mich dann habilitiert,
also eine Art zweite, umfassendere Doktorarbeit geschrieben. Und nach einer
Gastprofessur in den USA erhielt ich einen Ruf an die Universität Tübingen, und zwar
auf einen Lehrstuhl für "Ethik in den Biowissenschaften". Und obwohl ich gar nicht
Biologie studiert hatte, hatte ich dann sogar Prüfungsrecht im biologischen Fach. Das
war eine sehr interessante Erfahrung. Zwei Jahre später allerdings habe ich mich
entschieden, nach Göttingen auf einen Lehrstuhl für Philosophie zu gehen. Den habe
ich zehn Jahre inngehabt. Nach einer Unterbrechung in der Kulturpolitik bin ich mit
der Philosophie nach München gewechselt. Übrigens auch dort zunächst in der
Sozialwissenschaftlichen Fakultät für "Politische Theorie". Und seit 2009 bin ich in
der Philosophischen Fakultät.
Das ist sicher keine typische Entwicklung. Man kann nicht damit rechnen,
Philosophie-Professor oder -Professorin zu werden, wenn man Philosophie studiert.
Es gibt in ganz Deutschland eben nur wenige Stellen. Aber Wissenschaft ist immer
eine Option, wenn man ein Fach studiert hat. Und das gilt natürlich auch für die
Philosophie.
Geschichte des Fachs Philosophie
Ich möchte zunächst etwas zur Geschichte dieses Fachs sagen. Man versteht die
Philosophie, wie sie heute in der Universität etabliert ist, einfach besser, wenn man
ihre Entwicklung im Blick hat. Man kann sagen, die Philosophie gehört zu den
ältesten Fächern überhaupt. Neben Medizin, Theologie und Recht ist die Philosophie
das vierte Fach, das von jeher in Europa eine Rolle spielte. Wir werden gleich sehen,
dass aus diesem Fach fast die gesamte moderne Wissenschaft hervorgegangen ist.
Das erklärt sich folgendermaßen: Neben diesen mehr auf einen Beruf und eine
Praxis orientierten Disziplinen wie Medizin, Kenntnisse des Rechts oder in der Antike
auch Rhetorik, war die Philosophie zunächst kein Beruf, sondern eine Praxis des
Nachdenkens. Es gab Philosophen in der griechischen und römischen Antike. Die
hatten nicht Philosophie studiert, sondern die machten sich Gedanken über
philosophische Fragen, z.B. über die Frage: Was ist ein gelungenes Leben? Oder: In
welchem Verhältnis stehen Gerechtigkeit und Glückseligkeit? Oder besser: Kann
jemand ungerecht sein und trotzdem ein gelungenes Leben leben? Das ist eine
Frage, die Platon beschäftigt hat und er kam zu dem Ergebnis: Das geht nicht. Wer
ungerecht ist, kann gar nicht ein gutes Leben leben.
Platon und sein Lehrer Sokrates
Die ganze antike Philosophie war sehr stark auf die Frage ausgerichtet: Wie soll ich
leben? Wie soll ich mit anderen Menschen umgehen? Wie sollen wir gemeinsam in
der Polis, in dem Stadtstaat, miteinander auskommen? Also politische Philosophie.
Das ist ursprünglich noch eine Einheit. Der bedeutendste Repräsentant dieser Phase
der Philosophie ist zweifellos Platon, für den alles eine Einheit darstellt. Also z.B.
Fragen der Bedeutung: Was macht überhaupt die Bedeutung eines sprachlichen
Ausdrucks aus? Fragen der Pädagogik: In welcher Weise sollen wir uns bilden?
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Fragen der Gerechtigkeit: Wie muss die Stadt geordnet sein, damit sie als gerechte
Stadt gelten kann? Fragen der Lebenspraxis. Auch Fragen der Metaphysik: Wie kann
man die Realität verstehen? Liegt der Realität in Wirklichkeit etwas ganz anderes,
Tieferes zugrunde? Platon war der Meinung: Ja; das was wir als Realität
wahrnehmen, sind nur Erscheinungen. Dahinter steht eine Welt der Formen und
Strukturen. Das wird meistens falsch ins Deutsche mit "Ideen" übersetzt. Mit Ideen
hat das gar nichts zu tun. Vielmehr also Formen, Strukturen – so ähnlich wie in der
Physik heute mit mathematischen Mitteln bestimmte Erklärungen vorgenommen
werden. Dann ist gewissermaßen die tiefere Struktur der Welt mathematisch
erfassbar. Aber das sehen wir nicht; dazu brauchen wir eine Tiefenanalyse. Platon
war dieser Auffassung. Insofern ist er Anhänger der Ideenlehre. Das war eine
umfassende Auseinandersetzung mit Fragen der Welt, aber vor allem auch der
menschlichen Angelegenheiten.
Vor Platon und seinem Lehrer Sokrates – man spricht von Vorsokratik – haben sich
die Philosophen in erster Linie mit naturwissenschaftlichen Themen befasst: Was ist
der Kosmos? Aus was besteht die Materie? Sind die Dinge veränderlich oder, wenn
man genau hinschaut, eigentlich nicht veränderlich? Es ist fast eine Vorform
moderner Naturwissenschaft, die dort im Mittelpunkt stand. Aber das ändert sich mit
Sokrates und Platon. Auf einmal sind die menschlichen Angelegenheiten im
Mittelpunkt, und nicht mehr so sehr der Kosmos und die Materie und die Natur.
Aristoteles und die Einteilung der Philosophie in Disziplinen
Bei Aristoteles tritt dann zum ersten Mal das Fach auseinander und zerlegt sich in
unterschiedliche Disziplinen. Aristoteles hatte eine sehr weitreichende These, die bis
heute diskutiert wird. Die lautet, dass es praktische Themen gibt: Themen des
Handelns, der Kooperation, auch Themen der Gerechtigkeit in der Stadt. Und dann
gibt es auf der anderen Seite Fragen, die man eher mit den Mitteln der
Naturwissenschaft, der Mathematik klären kann. Die Gegenstände, die man da
behandelt, sind unveränderlich. Die verändern sich nicht mit der Kultur und dem
Menschen. Weil sie unveränderlich sind, kann man da besonders genau sein.
Während im Bereich des theoretischen Wissens mathematische Exaktheit sinnvoll
ist, so wie Platon das generell für die Philosophie gefordert hat, ist das für die
praktischen Bereiche nicht sinnvoll. Da kann man nur umrisshaft erkennen, wie die
Dinge nun wirklich sind. Und entsprechend muss man mit dem Bewusstsein an diese
Themen herangehen, dass man keine absolute Genauigkeit erreichen kann. Sondern
man kann aus der Lebenserfahrung, aus der Erfahrung, die man selbst mit der Praxis
hat, eine bestimmte Einschätzung entwickeln.
Und so tritt bei Aristoteles das Fach Philosophie schon in unterschiedlichen
Disziplinen auf: Logik, Physik, Mathematik – das sind die theoretischen Disziplinen.
Während auf der anderen Seite Disziplinen wie Politik, Ethik, Ökonomik auf die
veränderlichen Dinge gerichtet sind, wo wir das mathematische Exaktheitsideal nicht
realisieren können. Damit haben Sie gewissermaßen schon sechs Einzeldisziplinen –
alles unter dem Dach der Philosophie.
Epikureismus und Stoa
Nach dem ersten großen Höhepunkt des philosophischen Faches in der griechischen
Klassik – das ist das 4. Jahrhundert vor Christi Geburt – geht es in eine Art Gleitflug
und am Ende, über viele Jahrhunderte, vielleicht sogar in einen Sinkflug über. Das
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heißt die Philosophie wird zunächst sehr gelehrsam, sehr scholastisch. Es gibt viele
Debatten, es gibt Schulbildungen, es gibt eine Menge Literatur. Die von Platon
gegründete Akademie überdauert fast 1000 Jahre. Das ist ein großer Zeitraum. Es
entstehen die Philosophenschulen des Epikureismus. Da geht es in erster Linie um
das gute Leben, das angenehme Leben. Plädoyer ist: Rückzug aus der
Vielbeschäftigtheit des öffentlichen Lebens. Manche haben diese Philosophie als
"Gartenphilosophie" verspottet: Zusammensetzen mit Freunden, auf seine
Gesundheit achten, Diät halten. Epikur selbst war offenbar von schwacher
Gesundheit.
Auf der anderen Seite die Stoa. Das ist die zweite große Philosophenschule des
Hellenismus und dann auch der römischen Antike. Da geht es darum, dass der
einzelne Mensch sich als Teil einer kosmischen Ordnung empfinden sollte, sich
selbst nicht so wichtig nehmen sollte. Marc Aurel, römischer Kaiser und zugleich ein
bedeutender stoischer Philosoph, versucht in den "Selbstbetrachtungen" diese
Bescheidenheit als Kaiser des Römischen Imperiums zu realisieren. Er macht sich
auch immer wieder Vorwürfe, dass er nicht bescheiden genug ist. Und als Antipode
dazu ein freigelassener Sklave, nämlich Epiktet, der mit seinen sehr harten
Forderungen an Selbstbeherrschung, Selbstkontrolle und Disziplinierung eine ganz
wichtige Rolle gespielt hat für das Ethos, für die moralischen Haltungen in der
römischen Antike. Epiktet – ein freigelassener Sklave, der nach Marc Aurel, dem
Kaiser, der zweitbedeutendste stoische Philosoph der römischen Antike war.
Leider sind uns von den wichtigsten Vertretern der stoischen Philosophie nur
Rudimente überliefert. Manchmal haben wir Glück gehabt: Der stoische griechische
Philosoph Panaitios ist selbst kaum überliefert, aber durch Cicero präsent, der selber
erfreulicherweise gleich zugibt, dass er ein Plagiat verfasst (ich karikiere jetzt etwas):
Was ich jetzt hier zu Papier bringe, ist ja nichts anderes, als was Panaitios auch
schon mal aufgeschrieben hat. – Nur können wir das nicht mehr überprüfen, weil wir
Panaitios nicht vor uns haben.
Cicero
Cicero, selbst ein Rhetoriker, ein großer Politiker, Anwalt, ein glänzender
Debattenredner, eine faszinierende Persönlichkeit. Cicero versucht, die Römische
Republik zu verteidigen. Er ist beides: Politiker, Anwalt (wenn man den Ausdruck da
schon verwenden will), Parlamentarier, Konsul einerseits. Und auf der anderen Seite
ein bedeutender Philosoph der römischen Antike. Also Philosophie bei Cicero z.B.
auch in der These – das ist das Eigentliche, was uns dann die besonders erfüllenden
Augenblicke im Leben ermöglicht: Philosophie ist auch immer Rückzug, und sei es
nur zeeitweise. Auch Cicero zieht sich dann zurück und schreibt sehr viel in sehr
kurzer Zeit und versucht, durch Reflexion seinem Leben eine Richtung zu geben und
sich zu orientieren. Er schreibt an seinen Sohn, ermahnt ihn mit philosophischen
Ausführungen, was das richtige Leben angeht. Also eine Verbindung von Politik und
Philosophie, die in der Antike durchaus verbreitet war. Das gilt ja auch für Platon, der
sich selbst – man weiß nicht genau, wie – als Politikberater versucht hat. Allerdings
mit mäßigem Erfolg. Das ist offenbar ziemlich schiefgegangen. Und wenn die
Legende stimmt, ist Platon sogar als Sklave verkauft worden. Das ist ihm also
insgesamt nicht so gut bekommen.
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Mittelalter und Renaissance
Ich habe vorher vom Gleitflug und vom Sinkflug gesprochen; das ist natürlich eine
Einschätzungsfrage. Aber mir scheint, dass die Philosophie immer dann in ihrer
Geschichte in schwierige Fahrwasser gerät, wenn sie nicht mehr autonom ist, nicht
mehr eigenständig; wenn sie in Abhängigkeit gerät. Und das war das ganze
Mittelalter der Fall. Nach der Christianisierung des Römischen Imperiums wird die
Philosophie eine Hilfswissenschaft, äußerst kritisch beäugt vonseiten der Kleriker,
denn da könnte ja ein zu eigenständiger Geist entstehen. Immer mal wieder auch mit
Häresieverdacht und Häresieurteilen. Und die Philosophie wird zweifellos in der
Renaissance, in der italienischen Frührenaissance und dann in den Jahrzehnten und
Jahrhunderten darauf, zum Nucleus einer neuen, von klerikalem und politischem,
fürstlichem Einfluss befreiten Wissenschaft. Das philosophische Nachdenken auch in
Anknüpfung an die Antike – deswegen heißt das ja auch Renaissance – ist ein ganz
wesentliches Element dieses Aufblühens, das im späten Mittelalter und in der Frühen
Neuzeit anhebt.
19. Jahrhundert
Ich will noch eine letzte Station nennen, weil das nicht uninteressant ist: Im 19.
Jahrhundert entsteht in Deutschland eine wissenschaftliche Dynamik, die weltweit
viel Bewunderung hervorgerufen hat. Und die hängt eng mit der Philosophie als Fach
zusammen. Es war Immanuel Kant, der in seiner Philosophie die These vertrat, dass
das Nachdenken über diese Fragen ein Nachdenken ist, das nur gelingen kann,
wenn man – um ihn jetzt zu zitieren – "aus selbstverschuldeter Unmündigkeit
herausfindet", wenn man sich ein eigenständiges Urteil bildet. Und das heißt, dass
der Fürst oder der Klerus hier keine Rolle spielen dürfen. Im philosophischen Fach
an den Universitäten, was eigentlich nur noch ein Hilfsfach war – um die drei
traditionellen Fakultäten Jurisprudenz, Medizin und Theologie herum – darf es keine
Vorschriften geben, darf es keine Zensur geben.
Das wird dann bei den Schülern Kants – oder wenn man so will Kindern und Enkeln
– am Ende zu einem machtvollen Programm, nämlich die Philosophie zum Nucleus
wissenschaftlicher Autonomie zu machen: das Selbstdenken, das Selbstforschen, die
Verbindung von Lehre und Forschung an den Universitäten. Es geht um
Wahrheitssuche. Die Studierenden sollen einbezogen werden in diese
Wahrheitssuche; das ist das große Programm.
Wilhelm von Humboldt steht da gewissermaßen als derjenige, der versucht, diese
hochgespannten philosophischen Ideen in die Praxis umzusetzen. Da entstehen die
Reformuniversitäten im frühen 19. Jahrhundert, gestützt auf Ideen des deutschen
Idealismus – Fichte, Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt selbst und viele andere.
Und aus diesem neuen Fach, wenn man so will, wird innerhalb von wenigen
Jahrzehnten die Philosophie zum Kernfach der neuen modernen Universität, und es
spalten sich die vielen Einzelwissenschaften ab, wie wir sie heute kennen,
Naturwissenschaften vorneweg. Die Physik, die vorher Naturphilosophie war, wird zu
einer eigenständigen Disziplin. Die Geisteswissenschaften und schließlich auch die
Sozialwissenschaften oder die Psychologie, das erfolgt erst um die
Jahrhundertwende, ursprünglich auch als Teil der Philosophie. Da ging es um
Philosophie der Gefühle und das wird auf einmal ein eigenständiges empirisches
Fach, nämlich die Psychologie.
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Philosophie heute
Entsprechend stellt sich heute die Philosophie auf. Man könnte selbstkritisch ans
Fach gerichtet sagen: Es ist nur noch eine Residual-, eine Restwissenschaft, die
übriggeblieben ist, nachdem ihre wichtigsten Bereiche ausgewandert sind. Die ganze
Frage seit der Vorsokratik – was ist die Natur und was gibt es dort? – ist heute
Aufgabe der Physik. Woher stammt der Kosmos? Wie entwickelt er sich? – Aufgabe
der Physik.
Oder Anthropologie: Was ist der Mensch? Die Frage ist zum großen Teil heute eher
in den Neurowissenschaften angesiedelt oder in der biologischen Anthropologie.
Oder Fragen nach der Gerechtigkeit: Das ist natürlich auch eine Frage, die vor allem
die Rechtswissenschaft und die Rechtsphilosophie im Fach Jurisprudenz beschäftigt.
Auch das ist weitgehend ausgewandert.
Oder die Frage der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken, die Sprachphilosophie
ist zu wesentlichen Teilen heute Linguistik – Sprachwissenschaft geworden. Sogar
die Computerwissenschaft beruht eigentlich auf der philosophischen Logik, einer
Logik, die die Philosophen entwickelt haben. Auf dieser Grundlage konnte man die
Computerwissenschaft aufbauen.
Das heißt im Fach bleiben, wenn man's spöttisch formuliert, die unlösbaren Fragen.
Und alles, was gut lösbar ist mit wohletablierten Methoden, das emanzipiert sich zu
einer Einzelwissenschaft. Typischerweise distanzieren sich diese neuen
Einzelwissenschaften oft sehr deutlich von der Mutterwissenschaft und wollen damit
nichts mehr zu tun haben. Das dauert ein paar Jahrzehnte wie z.B. in der Ökonomie,
ursprünglich ein Kind der utilitaristischen Ethik in der schottischen Aufklärung – John
Stuart Mill, Jeremy Bentham. Unterdessen hat die Ökonomie ein Grundlagenproblem
und sucht wieder den Anschluss an die Philosophie. Viele ÖkonomieNobelpreisträger – Amartya Sen, John Harsanyi und andere – sind sogar zugleich
Philosophen und Ökonomen. Sen hat sogar einen Doppellehrstuhl für Philosophie
und für Ökonomie an der Harvard-Universität inne.
Das
ist
das zweite
Merkmal
der
heutigen
Philosophie:
Sie
ist
Integrationswissenschaft. Sie ist Mutterwissenschaft, nicht alles ist bei ihr geblieben;
die Kinder sind ausgewandert, wenn man so will. Aber sie hält Kontakt zu den
Kindern. Das heißt sie versucht, die Wissenschaft als Ganze zusammenzuhalten,
macht sich Gedanken über das wissenschaftliche Weltbild. In der
Wissenschaftstheorie überlegt man: Was ist ein vernünftiges wissenschaftliches
Argument? Das heißt sie bleibt dran, aber darf auch nicht übergriffig werden. Mütter
von erwachsenen Kindern wissen: Sie dürfen nicht den erwachsene Kindern
erzählen, was sie tun sollen. Sonst wird's schwierig. Und das hat die Philosophie
zeitweise gemacht. Sie hat versucht, Vorschriften zu machen. Das ist ihr nicht gut
bekommen, auch nicht in der Wissenschaftstheorie. Sie ist unterdessen
zurückhaltender; sie schaut sich an, wie das in den Einzelwissenschaften tatsächlich
läuft.
Drittens ist sie Orientierungswissenschaft. Sie gibt Orientierung – auch praktische
Orientierung, z.B. in der Ethik, in der politischen Philosophie und anderen
Disziplinen. Sie erörtert normative Fragen. Und schließlich gilt sie üblicherweise als
eine der Geisteswissenschaften. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil sie weder
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historisch noch philologisch ist, um diese beiden Hauptgruppen der
Geisteswissenschaften zu nennen. Und sie hat enge Beziehungen zur
Naturwissenschaft und zur Sozialwissenschaft; also ist diese Bezeichnung am
ehesten irreführend.
Heute zerfällt die Philosophie selbst in Unterdisziplinen, die zum Teil sehr alt sind wie
z.B. die Logik oder die Ethik. Es sind neue Disziplinen hinzugetreten wie z.B. die
Wissenschaftstheorie. Auch die Entwicklung der Rationalitätstheorie – also was
macht eigentlich Rationalität aus? Das ist unterdessen praktisch eine eigenständige
Disziplin geworden. Das sind eigene Forschungs- und Wissenschaftsbereiche mit
eigenen Journalen, eigenen Instituten. Das heißt, das hat sich zum Teil auch schon
verselbständigt. Das ist nicht mehr so eng an der philosophischen Mutter dran. Logik
z.B. wird heute ganz überwiegend von Mathematikern betrieben und nicht mehr von
Philosophen.
Fähigkeiten, Begabungen, Interessen
Das sagt schon etwas auf über die Fähigkeiten, die man mitbringen sollte in diesem
Fach. Welche Fähigkeiten, Begabungen und Interessen sollte man haben? Und
welche Fähigkeiten werden gefördert? Das ist nicht unbedingt genau dasselbe. Ich
würde sagen: Niemand sollte ein Philosophie-Studium aufnehmen, der sich
schwertut im systematischen logischen Denken. Deswegen ist es durchaus sinnvoll
mal zu sehen: Kann ich Deutsch? Also habe ich ein Sprachgefühl? Kann ich mich
klar ausdrücken? Wie ist mein Umgang mit der Grammatik? Aber auch die Frage:
Wie war das in der Mathematik? Wenn man sich in der Mathematik sehr
schwergetan hat, ist die Philosophie eigentlich nicht das beste Fach, schon
deswegen nicht, weil Logik eine wichtige Rolle spielt. Und die ist relativ nahe an der
Mathematik dran. Es kommen dort auch Formeln vor. Manche Philosophie-Studenten
bekommen einen Schreck, wenn sie in der Logik-Vorlesung auf einmal Formeln an
der Tafel sehen; das haben sie dann nicht erwartet. Doch das gehört eben dazu.
Urteilskraft. Das ist etwas, das die Philosophie voraussetzt, aber vor allem entwickelt.
Das heißt in Auseinandersetzung mit Texten seit der Antike bis in die Gegenwart wird
die eigene Urteilskraft geschärft. Es wird überlegt: Ist das ein gutes Argument oder
ein schlechtes Argument, das hier Aristoteles, Kant, Nietzsche oder sonst wer
vorbringt. Man kann so weit gehen und sagen: Die moderne Philosophie ist vor allem
die Disziplin, die gedankliche, begriffliche Klarheit zum Ziel hat. Das heißt sie schaut
sich an, wie argumentiert wird und überprüft: Ist das plausibel? Ist das vernünftig in
der Wissenschaftstheorie? In der Logik? In der Rationalitätstheorie? In der Ethik? Wir
schauen in der Ethik nicht einfach, was die Leute so meinen und wir beschreiben das
nicht, sondern wir überlegen uns: Was wären vernünftige Kriterien? Wie kann man
abwägen? Das lernt man dann in diesem Fach.
Und man muss bereit sein, viel zu lesen. Es gibt eine immense philosophische
Literatur, die man natürlich nicht vollständig kennen kann, sondern nur in kleinen
Ausschnitten. Man muss ein Gespür dafür haben, was wichtig und was weniger
wichtig ist. Da helfen einem die Lehrenden in der Philosophie zunächst. Aber
irgendwann muss man seinen eigenen Weg finden und sagen: Das interessiert mich!
Da möchte ich in die Tiefe gehen. Das scheint mir wichtig zu sein. – Oder das scheint
mir weniger wichtig zu sein.
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Berufliche Perspektiven
Wie sind die beruflichen Perspektiven? Ich kann da eigentlich keine Antwort geben,
weil es keine verlässlichen Statistiken in Deutschland geben. Ich kann nur so ein
Bauchgefühl sagen: Das Bauchgefühl besagt: Wir haben eine Reihe von Disziplinen
– Fächern, die man studieren kann, in denen der Zusammenhang zwischen dem
Studieninhalt und dem Studienabschluss und dem dann ausgeübten Beruf relativ
lose ist. Wenn ich Deutsch und Geschichte Lehramt studiere, dann ist das ein klarer
Bezug auf das spätere Fach, das ich dann unterrichte. Ich kann dann nicht
Mathematik und Physik unterrichten. Dagegen wenn ich Germanistik MasterAbschluss mache oder Anglistik oder was auch immer, dann kann ich normalerweise
nicht Lehrer werden. Zwar gibt es Ausnahmen, aber das ist dann eigentlich der
falsche Weg. Sondern dann muss ich mich in einem eher unspezifischen Bereich
zurechtfinden, zu dem z.B. Verlage gehören, Erwachsenenbildungseinrichtungen.
Natürlich auch die Wissenschaft, aber das ist immer nur für einen sehr kleinen Teil
der Absolventen. Auch Politikberatung u.U., Marketing-Abteilungen von
Unternehmen. Philosophen haben vor allem in den USA, aber zunehmend auch bei
uns einen guten Ruf, was ihre Denkfähigkeit angeht. Gerade in den USA werden sie
oft eingesetzt für Systemanalyse oder für Unternehmensberatung. Diesen Trend gibt
es auch schon in Deutschland.
In diesem unspezifischen Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften, weiß man
nie genau, was man nachher als Beruf macht, denn nur ein kleiner Teil der
Absolventen können in ihrem Fach auf spezifische Berufe zurückgreifen. Die große
Mehrheit muss sich anderweitig orientieren. Da kommt es besonders darauf an, dass
ich eine besondere Qualifikation mitbringe, die sich unterscheidet von derjenigen
vieler anderer. Deswegen empfehle ich allen, die Philosophie zum Schwerpunkt
machen, sich zusätzliche Interessengebiete anzueignen – sei es während des
Studiums, z.B. in Gestalt ungewöhnlicher Doppelstudiengänge oder Hauptfach/Nebenfach-Kombinationen – also z.B. Philosophie und Informatik, Philosophie und
Physik, Philosophie und eine Kulturwissenschaft – Assyriologie oder was auch
immer. Ungewöhnliche Kombinationen wo man sagt: Aha, das ist interessant und
das setzt voraus, dass die Person da offenbar ein besonderes Engagement
mitbringt. Das besondere Engagement ist auch immer ein Vorteil auf dem
Arbeitsmarkt. Dann sind die beruflichen Perspektiven in der Philosophie nicht
schlechter; ich würde sogar sagen tendenziell besser als in anderen großen und
meistens sehr viel größeren geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern wie etwa
Germanistik, Anglistik oder Romanistik und vielem anderen.
Deswegen empfehle ich: Wenn man Philosophie zum Schwerpunkt seines Studiums
macht, genau überlegt: Was sind meine zusätzlichen Fähigkeiten, die ich erwerben
will in der nächsten Zeit? Das kann sich z.B. auch durch Auslandsaufenthalte
manifestieren. Wenn Sie Interesse haben für japanische Kultur und vielleicht in
Japan studiert haben oder sich mit japanischer Kultur, Sprache und Geschichte
auseinandergesetzt haben plus Philosophie – dann haben Sie schon wieder eine
besondere Qualifikation, die Sie möglicherweise in den Beruf führt.
Und das letzte ist: Je nachdem, wie Ihre Schwerpunkte sind, müssen Sie mit
Sprachkenntnissen aufwarten können. Wenn Sie Antike Philosophie machen, geht
es nicht ohne Altgriechisch. Wenn Sie das in der Schule nicht gelernt haben, kann
man das Graecum in einem Jahr an der Universität nachholen. Das ist nicht ganz
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einfach, aber es ist möglich. Oder Latein. Oder französische oder italienische
Philosophie. Sehr viele Schriften sind heute auf Englisch. Sie müssen unbedingt des
Englischen so weit mächtig sein oder werden im Laufe Ihres Studiums, dass Sie
problemlos englischsprachige philosophische Literatur lesen können. Das sind
Voraussetzungen, die einfach nötig sind:
Als Schlusssatz: Philosophie zum Hauptfach seines Studiums zu wählen, zeugt von
Mut, aber nicht unbedingt von Übermut. Das hängt davon ab, ob Sie die Geduld
haben, die Konsequenz haben, sich ein Qualifikationsprofil zu erarbeiten, mit dem
Sie dann auch gute Chancen haben.
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Zum Autor:
Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen in Deutschland. Er
lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München. Julian NidaRümelin ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel sowie gefragter Kommentator zu
ethisch, politischen und zeitgenössischen Themen. 2013 stieß er die Debatte zum
Akademisierungswahn an. Julian Nida-Rümelin hält Vorträge und Reden und berät
Führungskräfte in philosophisch-ethischen Fragestellungen.
Bücher (Auswahl):
- Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung.
Edition Körber-Stiftung. 2014.
- Philosophie einer humanen Bildung. Edition Körber-Stiftung. 2013.
- Verantwortung. Reclam-Verlag. 2011
Internetseite:
www.julian.nida-ruemelin.de
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