Renate Martin-Reichwein - Adolf-Reichwein

Kurz vor Ihrem 82. Geburtstag ist in München Renate MartinReichwein, ältestes der vier Kinder von Rosemarie und Adolf
Reichwein,gestorben.
Renate Reichwein, in Tiefensee bei Berlin geboren, hatte,
altersbedingt, einebewusstereErinnerung andie letztenJahre
ihres Vaters und seinen gewaltsamen Tod durch die Nazis, als
ihreGeschwister.DasmachtesiespäterzueinerZeitzeuginvon
großer Glaubhaftigkeit in ihrer Generation. Zu den familiären
Er-innerungen kamen traumatische Erlebnisse, die ihr schon
als Neunjähriger nicht erspart blieben. Freya von Moltke
beschreibt das im Vorwort zu „Briefe an Freya“ in einer
Schilderung der Ereignisse in Kreisau, als die Familie
Reichwein, ohne Vater und in Berlin ausgebombt, für
einige Monate des Jahres 1945 auf in Schlesien ein
Zuhausegefundenhatte:„TagevormeinerRückkehrhatte
Renate Reichwein wie üblich beim nächsten Bauern, der
gleichzeitigunserHauswirtwar,Milchgeholt.DerHoflag
ganzeinsamvonunsererHaldedurcheinenStreifenWald
getrennt. Renate fand die Küche leer und suchte die
Bäuerin im Haus und im Stall. Dort lag die vierköpfige
Familie erschlagen. Russen auf der Suche nach Kleidern
hattensiealleumgebracht.
Diese Erlebnisse der frühen Kindheit haben ihre Spuren
hinterlassen und haben sie geprägt. Die gelernte
Bibliothekarin hat bis ins Alter ihre Erfahrungen auf
ungezählten
Veranstaltungen in Schulen und bei
1942 mit Vater und Bruder
Gedenkveranstaltungen an junge Menschen weitergegeben. Ihre Präsenz auf den Tagungen des AdolfReichwein-Vereins gab dabei immer wieder Gelegenheit, auch kleine Schlaglichter auf das
Privatleben Adolf Reichweins aus der Sicht eines Kindes zu bekommen, die in der Fachliteratur
nichtzufindensind.
AdolfReichweinhatsichvierTagevorseinemTodineinemberührendenBriefausdemZuchthaus
LehrterStraßevonseinerältestenTochterverabschiedet:
16. 10. 44
Meine liebe Renate!
Es scheint mir gestern gewesen zu sein, daß wir Dich »Knöppchen« riefen; so drängt sich
alles in der Rückschau zusammen. Jetzt nennen wir Dich »unsere Große«, so hast Du Dich
gereckt und zu einem gestrafften Mädchen entwickelt, das weiß, was es will und gerade
seinen Weg geht. Was hast Du aber auch für ein Vorbild an Deiner Mutter! Ohne daß Du es
gemerkt hast, hat sie Dich in allen Deinen Kleinmädchen-Jahren schon mitgeformt, eben
durch ihr tägliches Vorbild und ihre Haltung. Folge ihr weiter so, mein liebes Kind, und es
kann nur zu Deinem Guten sein.
...
Du weißt, wie ich mich immer über Dein Geigenspiel gefreut habe und nie vergaß danach zu
fragen. Denke daran in Göttingen und pflege es eifrig: Auch hier gilt, wie bei allem Lernen,
daß keine Lücken entstehen dürfen. Und tröstlich ist das Sprichwort »Aller Anfang ist
schwer«. Also gilt es den Anfang möglichst tatkräftig und rasch zu überwinden, damit man
frei spielen lernt und zum Genuß der alle Menschen erfreuenden Musik kommt. Es ist mit
allen Aufgaben wie mit dem Schwimmen: Man soll sehen, sich möglichst bald frei zu
schwimmen, um sich ganz der Freude des freien Schwimmens, des Tummelns hinzugeben.
Tüchtig und fleißig sein in der Schule, wird Dir auch das Schulleben zur Freude machen;
und froh sein willst Du doch und sollst Du auch alle Tage. Daß dabei Gymnastik und Sport
nicht zu kurz kommen, dafür wird Mutter schon sorgen. In Göttingen wirst Du auch im
Winter Dich manchmal auf die Bretter stellen können. Das gibt dann Übung und Festigkeit
und Vertrauen in Dein Können. Und wo dieses Vertrauen ist, entwickelt sich auch das
Können und gewinnt Freude an seiner Kunst.
...
Wisse überhaupt, daß Wandern eine unerschöpfliche Quelle der Lebensfreude ist.
Erwandere Dir in jungen Jahren Deutschland, wie ich es getan habe. Man kann gar nicht
früh genug damit anfangen, aber man soll immer sehen, daß man ältere, in allen Dingen
erfahrenere Kameraden bei sich hat, die einen beschützen und führen. Sei auch Du
hilfsbereit, wo immer Du Gelegenheit hast. Denen, die es brauchen, zu helfen und zu geben,
gehört zu den wichtigsten Aufgaben im Leben. Je stärker man ist, je mehr Freude man hat,
je mehr man gelernt, umso mehr kann man helfen.
Ich küsse Dich auf Deinen Weg
Dein Vater
RenateReichweinhatdiesenWegnunvollendet.Wirverabschiedenunsdankbarvoneiner
beeindruckendenPersönlichkeit.UnsereGedankensindbeiihrerFamilieunddendrei
Geschwistern.