Die Singularität der Massenmedien Björn Pötters März, 2016 Zweifle an allem mindestens einmal, und sei es der Satz: "Zwei mal zwei ist vier!" * *Georg Christoph Lichtenberg Wenn von den Medien die Rede ist, dann denkt man in der Regel an Pluralität. Genauer an ein Sammelsurium von Meinungen einzelner Journalisten und Autoren, die zumeist politisch eingefärbt sind. Das gilt vor allem für Kommentare, Texte oder Skripte, die über reine Fakten und nüchterne Berichterstattung hinausgehen. Außerhalb gewöhnlicher News wie Tagesschau oder Tageszeitung gibt es natürlich Formate, die intensiver einer Thematik nachgehen und so das Verständnis und die Nachhaltigkeit beim Rezipienten fördern. Bücher sind dicke Briefe an Freunde sagte einst Peter Sloterdijk, und so ein dicker Brief zeigt Wirkung und stellt geradezu einen intimen Kontakt zur Gedankenwelt des Autors her. Jeder Literaturfan wird leicht feststellen, dass Konstruktionen von literarischer Wirklichkeit äußerst pluralistisch sind, ob Sachbuch, Wissenschaftsliteratur oder Belletristik – kein anderes Medium ist in der Lage, innere Werte so zu generieren, dass sie vom „User“ erst offengelegt und entdeckt werden müssen. Eine kritische Reflexion des Textes und die Interpretation des immanenten Werkes zeigen, dass dem Leser eigene Freiheit und das ästhetische Urteil zugesprochen wird. Auch diese Aspekte gelten meiner Empfindung nach nicht nur für schöngeistige Literatur, denn Kultur‐ und Geisteswissenschaften verorten keine messbaren Größen wie es Physiker tun, sondern konstruieren intersubjektive und intertextuelle Werte. Das Subjekt wird gewürdigt, ästhetische Ansprüche werden erhoben und das vermeintliche Objekt, der Gegenstand des Interesses, erhält die Menschlichkeit, die ihm zusteht. Schelling sagte im Zeitalter des deutschen Idealismus, dass jede Philosophie auf der Freiheit des Menschen beruhen muss. Er fügte hinzu: Die Leute ohne ästhetischen Sinn sind Buchstabenphilosophen. Ich greife genau diese beiden unsterblichen Gedanken auf, denn sie sollen auch heute ein Plädoyer für zwei ganz wichtige Dinge auf unserem Planeten sein: Freiheit und Kunst. Beides wird angegriffen – doch das ist ein anderes Thema. Beide sind ein Garant für Pluralität und letzteres ist ein Wahrheitsgenerator, der im Gegensatz zur Politik ganz legitim lügen darf. Wie ist das jetzt mit den Massenmedien? Warum wähle ich in der Überschrift einen so radikalen provokanten Begriff wie den der Singularität? Nun, er soll als Gegenthese eine dialektische Haltung forcieren und darauf aufmerksam machen, dass, systemtheoretisch gesprochen, Massenmedien nur funktionieren, da sie einen Überschuss an Kommunikationsmöglichkeiten systemintern durch Selbstorganisation und eigene Realitätskonstruktionen kontrollieren.1 Singularität ist quasi als Antithese zur Pluralität die Ordnung im Gegensatz zum Chaos. Massenmedien ohne Ordnung gibt es nicht, denn sie könnten niemals massentauglich sein. Sie brauchen die Substanz, die es ermöglicht, anschlussfähige Kommunikation im gesellschaftlichen Diskurs herzustellen. Natürlich finden Irritationen statt, doch das öffentliche System muss sich zwangsläufig regulieren, ganz im Gegensatz zur privaten Kommunikation, wo Luhmann Wahrheit vermutet. Sicher macht jeder die Erfahrung, dass es entscheidend ist, ob man mit seiner besten Freundin ganz privat ein Thema ausdiskutiert oder in der Öffentlichkeit eine breite 1 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. VS Verlag: Wiesbaden 2004. S. 11. Masse überzeugen möchte und sei es nur die Frau von der Tankstelle, der man den Fetisch des Bargeldes im Smalltalk nahebringen möchte. Eine Erfahrung, die mir manchmal widerfährt, ist die Irritation mit darauffolgendem Kommunikationsabbruch bei fremden Personen: Der gute Freund toleriert in der Regel viel eher Meinungen und versucht mit aller Kraft, die Kommunikation anschlussfähig zu halten. Dieser aktive Prozess, mal mehr mal weniger automatisch, erfordert Anstrengung, die Unbekannte nicht immer auf sich nehmen wollen oder können. Gesichtslose Massenmedien ringen sicher um diese Anschlussfähigkeit, denn nicht zuletzt möchten sie sich auch gut verkaufen oder zumindest eine Sparte bedienen und im Idealfall vergrößern. Öffentlich‐ rechtliche Formate sind für alle da, da muss es Mechanismen geben, die dem Chaos eine Regulation verpassen, die irgendwie um Normalität ringen. Verrückter geht es dagegen im Internet zu. Eine Zunahme von nichtlinearen Dynamiken und Instabilitäten ist eindeutig zu verzeichnen.2 Das Sender‐Empfänger‐Model, das nach dem Begriff des Massenmediums fast immer eine einseitige Beziehung unterhält, bekommt im digitalen Netz eine interaktive Würdigung. Das führt zwangsläufig zu mehr Pluralität und Chaos, ergo zu mehr Freiheit und prinzipiell auch zu einem lockereren Kunstbegriff, der inzwischen das Computerspiel einbezieht und damit dem Rezipienten eine völlig neue Dynamik ermöglicht, die man auf traditionellen Kunstveranstaltungen vergeblich sucht. Dadurch zeigt sich, dass Interaktivität als Trend nicht nur in der Medienwelt der Buchstaben angekommen ist, sondern auch in der Kunst, die gerne als zweitrangige Freizeitbeschäftigung um Anerkennung kämpfen muss. Diese Trennung von Kunst und übrigem Leben ist ein Irrtum.3 Die Schaffenswelt, ob nun künstlicher oder natürlicher „Paradiese“4, ist strukturell mindestens so gekoppelt, wie der Mensch mit seiner Umwelt. Bei Baudelaire steht der Mensch mit seiner individuellen Freiheit und der reinen Wahrheit zwischen dem natürlichen und dem künstlichen Paradies, zwischen der geistigen und materiellen Welt, zwischen Bürgertum und Gott und zwischen Virtualität und Realität. Dualismus treibt sich in dieser Zwischenwelt im Leib‐ Seele‐Problem auf die Spitze – vielleicht nur zu überwinden durch Liebe – wahre Liebe. Was ist das denn mit der Wahrheit? Ist das Gegenteil von Wahrheit das Falsche oder die Lüge oder vielleicht gar die Simulation? Simulieren Prostituierte nicht? Simuliert Sid Meier nicht unsere ganze Menschheitsgeschichte in einem Kunstwerk?5 Sagt man nicht, Künstler lügen, um die Wahrheit zu offenbaren? Nun, das Verhältnis der Künste zur Natur ist da sicher interessant, und ein großes Thema schließt sich daran an, wie es denn zwischen Kunst und Religion aussieht.6 Denn die drei großen Leitmedien implizieren die Medien selbst, neben Religion und Geld.7 Aber vorher noch einmal zurück zur Kunst. Die traditionelle Kunstphilosophie geht wohl schon davon aus, dass der Rezipient eines Werkes die Freiheit besitzt, dieses subjektiv zu interpretieren – gewissermaßen an ein Band der Intersubjektivität gebunden. Scheitert die das Bewusstsein lockernde Kunstkommunikation im Diskurs, zum Beispiel im Falle einer völlig absurden Deutung, wird 2 Vgl. Bühl: Sozialer Wandel im Ungleichgewicht: Zyklen, Fluktuationen, Katastrophen, Stuttgart 1990, S. 207. Vgl. Williams: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1983. 4 Siehe auch die Notizen zu meinem Referat über die künstlichen Paradiese von Baudelaire: http://www.surfspots.net/Notizen_zum_Referat_Baudelaire.pdf 5 Zur Narration des Computerspiels: Pötters: Trolle und Flammen – Geschichten vom virtuellen Schlachtfeld. www.webspots.at 6 Siehe auch zum Verhältnis von theologischer Ästhetik und deutschem Idealismus: http://www.theomag.de/50/bp1.htm und Strukturelle Kopplungen zwischen Kunst und Religion: http://www.surfspots.net/luhmann.pdf 7 Vgl. Hörisch, Jochen: Gott, Geld, Medien. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2004. 3 jene subjektive Erfahrung in der Regel verworfen und von der Regulation der intersubjektiven Masse irritiert und anschließend angegliedert. Völlig verrückt wollen die wenigsten sein. Auch Chaos ist nicht jedem lieb – als geradezu pathologisch auch in Siegmund Freuds Psychoanalyse im analen Charakter zu finden – das zwanghaft ordnungsliebende penible Subjekt, das in seiner Ausprägung genauso aus der trügerischen Normalität herausfällt, wie der Chaot, der Wahnsinnige. Wagt man den Vergleich zu Singularität und Pluralität, nimmt man noch getrost das „Es“ und das „Über‐Ich“ hinzu, könnte die Idee kommen, dass jede Person im Spannungsfeld steht und dass das die Person geradezu selbst auszeichnet. Ist nicht das Unbewusste und die Natur der Triebe unbeherrschbares Chaos, das wir laut Freud mit den „Über‐Werten“ der Kultur zu beherrschen vermögen. Ist Nietzsches „Übermensch“ nicht der ewig Übende, Sloterdijks sich immer im Wandel befindlicher Mensch.8 Und ist dieses Üben und „Über“ nicht der Gegenpol, die Anti‐These zum Chaos – das System, die Singularität und die Ordnung? Michel Foucault hat das kulturanalytisch sehr ausführlich auf den Punkt gebracht. Allein die Titel seiner Hauptwerke Die Ordnung der Dinge, Archäologie des Wissens, Überwachen und Strafen sowie Sexualität und Wahrheit zeigen das umfangreiche Denken des französischen Philosophen und offenbaren geordnete und strukturelle Systeme, nicht zuletzt völlig determiniert durch Kittlers Aufschreibesysteme. Wir determinieren die Dinge, die uns dann determinieren. „Einmal in Kommunikation verstrickt, gelangt man nicht mehr ins Paradies der einfachen Seele zurück.“ hat Luhmann gesagt. Auch vertrat er die Ansicht, dass Erkenntnis nur möglich sei, da sie keinen Zugang zur Realität hat. Wäre dann Erkenntnis rein virtuell? Menschen sterben – Kommunikation bleibt. Das Immaterielle bleibt – der Körper vergeht – kann denn die Seele auch vergehen? Die Massenmedien stehen auf der Seite der Singularität. Sie sind nicht sonderlich beseelt und darüber hinaus noch sehr kurzlebig, zumindest was ihre Inhalte betrifft. Die alten Griechen um Platon und Aristoteles sind lebendiger denn je, haben gar mehr als zwei Jahrtausende überlebt. Heilige monotheistische Schriften sind zweifelsohne sehr alt, doch verstehen viele, sie umzudeuten, anzupassen, modern zu interpretieren oder als große Hilfe zu nutzen. Bücher, ihrer der Materialität weit überlegenen virtuellen Rolle, haben dennoch die physische Aura, die Walter Benjamin ihnen damals zugesprochen hat. Die technische Reproduktion des Kunstwerkes ist längst auf den Datenautobahnen angekommen, genau wie Massenmedien, die, wie ich finde, trotz aller Definition eines sendereinseitigen Verbreitungscharakters, Interaktion als völlig neues Phänomen erhalten. Ergo hilft das Internet durchaus, den singulären Charakter ins sprichwörtliche Chaos zu stürzen. Natürlich wird das nicht passieren, alleine deshalb, weil Daniele Gansers9 zweite Supermacht (die öffentliche Meinung) Stabilität benötigt, sonst hat sie keine Macht, kann nicht viel ausrichten, denn es braucht den Konsens über eine Grundsubstanz ohne den Kultur und Diskurs gar nicht möglich wären. Das wäre zu allererst die Sprache – wohl der Code, dem wir die genuine Fähigkeit des Denkens zuordnen. Bildmedien hingegen sind zwar universeller, ohne Sprache im Kontext der Massenmedien vielleicht als emotionaler Verstärker zu sehen – doch Wahrheiten können sie nur schwerlich vermitteln – sie sind, so könnte man es vielleicht mit McLuhan sagen, störungsanfälliger: The medium is the message. Eine Bewusstwerdung des Mediums, genauer der Technik, erfolgt genau dann, wenn Störungen auftreten: Rauschen im Radio oder der berühmte Pixelfehler beim Computerspiel. Was wird dann eigentlich gestört? Genau – wahrscheinlich die Ordnung. Also sind „Bild‐Zeitung“ und Fernsehnews im Grunde genommen schon durch die Form, durch bildliche 8 Vgl. Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2009. Daniele Ganser: "Medienkompetenz ‐ Wie funktioniert Kriegspropaganda?" https://www.youtube.com/watch?v=NxdzxGUDFd0 9 Verstärker, einer höheren Singularität unterworfen, als reine Sprache und Schrift. Wer Text liest, macht sich sein „eigenes Bild“. Auch in Luhmanns Systemtheorie geht es um die Form in Abgrenzung zum Medium selbst, Medientheoretiker hingegen können gar so weit gehen, dass sie annehmen, technische Standards übernehmen die Macht über die Kommunikation und die Subjekte unterwerfen sich dieser. Doch bleibt nicht immer eine autonome Bedeutungssphäre übrig? Ist das dann der sogenannte inflationär gebräuchliche Begriff Diskurs? Mit Hartmut Winkler darf man dann getrost fragen, ob es eine Ökonomie der Diskurse, parallel zum Umlauf der Waren, gibt.10 Und wenn das so ist (wie das sein könnte, kann man nachlesen), wo genau verläuft die Grenze zwischen Medien und Wirtschaft? Winkler zieht diese hypothetisch beim Begehren, denn das kann in der Sphäre der Medien unabhängig vom Geld realisiert werden, und ebenso in der Sphäre der Ökonomie abhängig von der Deutungsmacht der Realität – einfach gesprochen: Wünsche äußern sich materiell wie immateriell, bzw. real und virtuell. Meinem Wunsch nach Romantik kann ich mit einer Raubkopie der Twilight‐Saga™ nachgehen, ein luxuriöses Statussymbol wie einen Sportwagen hingegen muss ich wohl käuflich erwerben, wobei ich Geschwindigkeit, quietschende Reifen und Unmengen Sprit begehre. Beide Beispiele zeigen Aspekte einer Totalisierung, wobei der kostenfreie digitale Download, wenn er denn zweifelsfrei legal wäre, schon kommunistisch anmutet, aber als eine Art „symbolisches Probehandeln“ verstanden werden kann (gefallen die Filme, kann ich sie immer noch im Mediamarkt erwerben), hingegen der Sportwagen dem Handeln aus der Sphäre des Geldes entspricht.11 Das totale (vielleicht auch fatale) des Geldes ist wahrscheinlich die Tatsache, dass es nicht über die eine Seite verfügt, über die semantische Seite der Medien, sondern, wiederum mit Jochen Hörisch gesprochen als Medium lediglich semiotisch fungiert, als quantitative Zahl, die nicht objektiv, noch real ist, sondern intersubjektiv (alle haben sich darauf geeinigt) lediglich dazu führt, dass ich mir reale Waren kaufen kann. Diese Einigung könnte auch die Substanz des öffentlichen Diskurses sein. Mit der Begrifflichkeit von Singularität erklärt sich darüber hinaus noch Folgendes: Um Komplexität überhaupt zu gewährleisten, muss es zwangsläufig viele Singularitäten geben, die dann wiederum den subjektiven Eindruck des Chaos hervorrufen können. Als Literaturwissenschaftler vermutet man das am ehesten in der Intertextualität von Literatur, einer Vernetzung zwischen unterschiedlichen Werken, die jeweils eine geschlossene Singularität darstellen. Jeder Text ist „inter“ – ja, man könnte sogar den Grad der Intertextualität quantitativ erfassen, man könnte, um mit Derrida unromantisch zu sprechen, vielleicht Kommunikation generell dekonstruieren. Das gefällt mir nicht sonderlich. Genau wie Luhmanns Supertheorie nicht gefällt, aber durchaus nützlich sein mag. Mein persönlicher Liebling ist die Chaostheorie mit all ihren Konsequenzen. Sie wettert gegen philosophischen Determinismus, Hirnforschung und „Neuro‐ Wahnsinn“. Sie steht hier bei mir ganz besonders für Pluralität und Meinungsfreiheit, ja Freiheit überhaupt. Das Chaos soll nicht regieren. Wer möchte schon Anarchie? Doch im wissenschaftlichen Sinne sollte sich diese Frage nicht stellen – ist das Chaos nicht die Gegenkraft zu einem Zuviel, zu einem Zuviel an Ordnung, System und Organisation? In einer unüberschaubaren Welt, die sich der Aufmerksamkeitsspanne des Individuums entzieht, sind wir freilich auf Singularitäten angewiesen. Auf die kleinen Ursachen mit großen Wirkungen, auf die ordnungsstiftenden Punkte, die wir zu einem hyperkomplexen „Gestell“ vernetzten. Doch wie so oft gibt es zwei Seiten einer Medaille, wie so oft ist es ambivalent und wenn man etwas sagt, wird auch all das gesagt, was nicht gesagt wird. Singularitäten dürfen nicht weg – doch jede einzelne sollte mindestens einmal angezweifelt werden. 10 Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2004. 11 Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2004. S. 48/49.
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