PREIS DEUTSCHLAND 4,70 € 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 15.01.16 09:12 Die Woche der Wahrheit • Folgen die Wähler dem Kurs der Kanzlerin? DIE ZEIT im Taschenformat. Jetzt für Ihr Smartphone! www.zeit.de/apps 10. MÄRZ 2016 No 12 15.01.16 09:11 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 Freundschaft, Rausch und Rettung Was Benjamin von Stuckrad-Barre und Udo Lindenberg aneinander fesselt Ein Doppelinterview, Seite 43 • Warum hat die AfD auch im bürgerlichen Lager so viel Erfolg? • Kann die EU ausgerechnet der türkischen Regierung trauen? Die Liebe wird pragmatischer Und das liegt vor allem an den Frauen • Wird den Schleusern endlich das Handwerk gelegt? Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT Die Vermächtnis-Studie, Seite 29 TERRORISMUS KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Und jetzt Libyen Großes Finale Der »Islamische Staat« rückt in Nordafrika weiter vor. Das betrifft wieder einmal Europa VON GERO VON R ANDOW E s gibt zwei Arten schlechter Nach‑ richten in diesen Zeiten. Die einen sind nur die traurige Bestätigung dafür, wie bösartig es vielerorts zu‑ geht. Wir haben uns beinahe an sie gewöhnt. Die anderen, schlimme‑ ren, sind Ankündigungen kommenden Unheils. Die Nachricht von der terroristischen Attacke im Südosten Tunesiens gehört zur zweiten Sorte. Am Montagmorgen stürmte eine Kampfkom‑ panie über die libysche Grenze ins Land, be‑ schoss Militäreinrichtungen in der Grenzstadt Ben Guerdane und patrouillierte eine Zeit lang im Stadtzentrum. Sie wurde zurückgeschlagen, wenn auch die Kämpfe noch am Dienstag nicht ganz zu Ende waren. Mindestens 55 Menschen starben. Es wird vermutet, dass die Angreifer dem »Islamischen Staat« (IS) angehörten. Libyen also. Als gäbe es nicht schon genügend Regionen der Dringlichkeit. Aber wir müssen hinsehen, denn das Land dient dem IS mittler‑ weile nicht nur als Rückzugsort, sondern auch als Aufmarschgebiet für neuerliche Attacken. Libyen droht zum Ausgangspunkt einer neuen Massenflucht zu werden Ein alarmierender Befund, auch für uns in Europa. Vom nordafrikanischen Libyen aus will der IS expandieren, südwärts in den Tschad und nach Niger, westwärts nach Tunesien und Alge‑ rien und nicht zuletzt nach Norden, nach Euro‑ pa; Tripolis oder auch Ben Guerdane liegen nur 500 Kilometer von Italien entfernt. Der Kalifat‑ faschismus rückt uns näher. Außerdem droht, wenn Nordafrika ein zweites Syrien werden sollte, eine weitere Massenflucht, und zwar dies‑ mal nicht über die Türkei, sondern über Italien. Noch während die Schüsse durch die Straßen des tunesischen Grenzorts hallten, berichtete die New York T imes über Washingtoner Pläne für ein massives militärisches Eingreifen in Libyen. Mitte Februar hatten amerikanische Kampf flugzeuge bereits eine libysche IS-Basis nahe der tunesischen Grenze angegriffen. Es mehren sich die Berichte über amerikanische, britische, fran‑ zösische sowie italienische Spezialkräfte, die auf libyschem Boden die Gegner des IS unterstützen. Eskaliert dieser Krieg jetzt? Noch zögern die Amerikaner und ihre Ver‑ bündeten, denn sie haben auf libyschem Gebiet keinen Partner. Der Staat ist zerfallen, es exi stieren zwei konkurrierende Regierungen, und die Bemühungen der UN, sie zusammenzu bringen, fruchten bislang wenig. Derzeit hätte in den Augen der Libyer niemand die Legitimität, das Ausland um ein militärisches Eingreifen zu bitten. Die Zwickmühle: Jede Intervention ehe‑ maliger Kolonialmächte gäbe dem IS politischen Kredit im Lande – sie aufzuschieben wiederum bedeutete, den Terroristen Zeit zu gewähren, sich in Libyen tiefer zu verschanzen. Was immer also getan oder nicht getan wird, es ist schlecht. Die Kunst wird darin bestehen, die weniger schlechte Wahl zu treffen. Eindeutig indes ist dies: Tunesien schwebt in Gefahr. Das kleine Land kann sich aus eigener Kraft nicht dauerhaft gegen den IS verteidigen. Zumal die meisten IS-Kämpfer in den libyschen Lagern Tunesier sind, etliche von ihnen mit syri‑ scher Kampferfahrung. In Ben Guerdane bei‑ spielsweise wurde beobachtet, dass die Angreifer jeden Winkel der Stadt kannten. Was treibt sie an? Enttäuschung. Tunesiens Revolution, Fanal des Arabischen Frühlings, war eine Sache des Volkes, aber dessen Elend hat sie nicht gelindert. So geht es fast immer in Revolu‑ tionen: Die Armen bringen die meisten Opfer, doch die Früchte können sie nicht essen, denn die sind politischer und nicht sozialer Natur. Tunesien ist das freieste Land der arabischen Welt geworden, die Ungerechtigkeiten dauern indessen fort. Aus dieser Spannung speist sich die Anziehungskraft des IS. Mit militärischen Mitteln allein ist er daher nicht zu besiegen. Ob es zu einer internationalen Intervention in Libyen kommen wird, ist ungewiss. Sie darf aber nur unternommen werden, wenn Tunesien davor bewahrt wird, von ausweichenden ISTruppen überrannt zu werden. Bisher schützt es sich nur mittels eines porösen Sandwalls und mit Truppen von begrenzter Schlagkraft. Auslän dische Mächte, wenn sie denn in Libyen inter venierten, stünden daher in der politischen und moralischen Pflicht, den Tunesiern zuvor sämt liche Mittel zur Verfügung zu stellen, ihre Grenze zu sichern – Kampftruppen eingeschlossen. Über Grenzsicherung wird dieser Tage viel geredet. In Wahrheit ist damit meist gemeint, Fliehende auszusperren. Im Fall von Libyen und Tunesien hingegen steht tatsächlich die Sicher‑ heit auf dem Spiel – auch unsere. www.zeit.de/audio Der Weltmeister im Brettspiel Go tritt gegen einen Computer an. Hat der Mensch noch eine Chance? VON STEFAN SCHMITT Ü die Informatiker. AlphaGo ist eine lernfähige Maschine, ein sich fortlaufend selbst verbessern‑ der Spielanalytiker. (Und in Anbetracht dessen würde auch ein Sieg Lees nur bedeuten, dass die Niederlage der Menschen aufgeschoben wäre.) • Missverständnis Nummer zwei wird auch uns Go-Laien unterlaufen: Schon weil wir das Spiel selbst nicht kennen, stellen wir es uns als eine Art asiatisches Superschach vor. Und hat nicht schon im Jahr 1997 der Supercomputer Deep Blue den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow ge‑ schlagen? Trug nicht der Deep-Blue-Nachfolger Watson 2011 den Sieg im Fernsehquiz Jeopardy davon? Und werden nicht die Rechner immer stärker? Nun, AlphaGo ist prinzipiell anders und arbeitet mit einer dem Gehirn entlehnten Tech‑ nik, sogenannten neuronalen Netzen. Die finden Muster im Wust großer Datenmengen, etwa kluge Spielstrategien in den Protokollen Aber tausender Partien. Solche Technik ist sehr flexibel und da erfolgreich, wo schiere Rechenkraft nicht genügt, etwa in der automatischen Bilderkennung und bei Übersetzungen. • Das dritte Missverständnis entsteht schnell bei der Aufzählung der technischen Zutaten: Rechen power plus neuronale Netze plus Maschinenlernen gleich Go-Gott – klar? Eben nicht, selbst Fachleute verstehen nicht mehr im Detail, was die Software da tut. Zwar lassen sich Input und Output vergleichen. Wie aus dem einen aber das andere wird, ist nicht im Detail vorgegeben. Eher arrangiert der Programmierer ein Suchen und Finden der Maschine. In den ersten Jahrzehnten unserer Koexistenz konnten wir auf die Computer herabblicken wie auf Fachidioten: Spezialisten mit klar umrisse‑ Auf dem Weg zur intelligenten Maschine nem Aufgabenbereich, angewiesen auf konkrete ist Go ein größerer Meilenstein als Schach Befehle. Jetzt kommen die Generalisten. Der Begriff »künstliche Intelligenz« (kurz: KI) Schauen wir indes nur auf das Spielerische, über‑ sehen wir leicht das grundlegend Neue am ist mit Versprechen überladen und durch Ent Showdown Lee gegen AlphaGo. Denn er birgt täuschungen beschädigt worden, weshalb er hier auch erst am Schluss auftauchen soll. Aber selbst drei Missverständnisse. • Eines für die Millionen Go-Fans weltweit: Schon wer ihm gegenüber skeptisch bleibt, wird ein weil sie ihr Spiel so gut kennen, haben viele von sehen, dass Go auf dem Weg hin zu einer KI ihnen auf einen Sieg Lee Sedols gewettet, der für einen wichtigeren Meilenstein darstellt als etwa ihresgleichen unerreichbar gut ist. Es mangelt Schach. So wenig reine Analyse hilft, so wichtig ihnen wohl am Vorstellungsvermögen, AlphaGo ist für die Spieler Intuition. Und nun nimmt die könne besser sein als ihr Meister. Im Herbst schlug Technik diese Hürde mit ihren eigenen Mitteln. Da erwächst nicht nur dem Homo ludens die Software zum ersten Mal einen menschlichen Profispieler. Warum soll sie nur fünf Monate Konkurrenz, sondern dem Homo sapiens. später den besten aller Profis besiegen? Nun, weil sie trainieren kann. Machine learning nennen das www.zeit.de/audio ber dieses Finale werden wir noch lange sprechen. Weil Mensch und Maschine in fünf Partien ihre Kräfte messen. In Seoul tritt als Vertreter der Menschheit der 33-jährige Koreaner Lee Sedol an, amtierender Weltmeister im Go, dem asiatischen Brettspiel. Go? Alle, die davon noch nie gehört haben, sollten sich vorstellen, dass nur wasch‑ echte Genies hier Spitzenniveau erreichen. Gegen Lee spielt eine Software. Sie heißt AlphaGo und hat im vergangenen Herbst schon den Europa‑ meister geschlagen – 5 : 0. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage: Hat der Mensch gegen den Computer noch eine Chance? Ist es möglich, dass auch Lee nach dem letzten Match am kommenden Dienstag den Spieltisch als Verlierer verlässt? Mehr als das! Es ist wahrscheinlich. Droht also die nächste narzisstische Kränkung in jener langen Reihe von Demütigungen, wel‑ che die Wissenschaft dem Menschen beibringt? Na ja. Man könnte sagen, hier steht der nächste Triumph der Technik bevor, die doch stets menschlicher Kreativität entspringt. Und woher kommt die Kreativität? Der Mensch sei »nur da ganz Mensch, wo er spielt«, behauptete Friedrich Schiller. Unsere Spezies habe ihre einzigartigen Fähigkeiten maßgeblich beim Spielen ausgeprägt, meinte der Kulturhistoriker Johan Huizinga und erfand dafür den Begriff des »Homo ludens«, des spielenden Menschen. Doch was fangen wir mit diesen Fähigkeiten an? Wir bauen uns einen übermächtigen Spielkameraden. Den Dichtern auf den Versen Mit deutscher Lyrik um die Welt reisen 96 Seiten Reise-Magazin PROMINENT IGNORIERT Ray Tomlinson Seit der Erfindung der Post ärgert man sich über Mahnbriefe, seit der Erfindung des Telefons über das Klingeln im Morgengrauen, seit der Erfindung der E-Mail über den Werbemüll. Doch auch der reiten‑ de Bote vermeldete oft Uner‑ wünschtes. Deshalb sollten wir uns vor dem eben verstorbenen Ame‑ rikaner Ray Tomlinson, der vor 45 Jahren die E-Mail, diese komfor‑ table Kommunikationsform, er‑ fand, dankbar verneigen. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Tine Acke für DIE ZEIT; Plainpicture; Helmut Newton Estate; Cerejido/EPA/dpa Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DKR 47,00/FIN 7,30/NOR 61,00/E 5,90/ Kanaren 6,10/F 5,90/NL 5,10/ A 4,80/CHF 7.30/I 5,90/GR 6,50/ B 5,10/P 5,90/L 5,10/HUF 1990,00 o N 12 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 12 4 190745 104708
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