Und jetzt Libyen Großes Finale

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10. MÄRZ 2016 No 12
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Freundschaft,
Rausch und Rettung
Was Benjamin von
Stuckrad-Barre
und Udo Lindenberg
aneinander fesselt
Ein Doppelinterview, Seite 43
• Warum hat die AfD auch
im bürgerlichen Lager so viel Erfolg?
• Kann die EU ausgerechnet
der türkischen Regierung trauen?
Die Liebe
wird pragmatischer
Und das liegt vor
allem an den Frauen
• Wird den Schleusern
endlich das Handwerk gelegt?
Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT
Die Vermächtnis-Studie, Seite 29
TERRORISMUS
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Und jetzt Libyen
Großes Finale
Der »Islamische Staat« rückt in Nordafrika weiter vor.
Das betrifft wieder einmal Europa VON GERO VON R ANDOW
E
s gibt zwei Arten schlechter Nach‑
richten in diesen Zeiten. Die einen
sind nur die traurige Bestätigung
dafür, wie bösartig es vielerorts zu‑
geht. Wir haben uns beinahe an sie
gewöhnt. Die anderen, schlimme‑
ren, sind Ankündigungen kommenden Unheils.
Die Nachricht von der terroristischen Attacke
im Südosten Tunesiens gehört zur zweiten Sorte.
Am Montagmorgen stürmte eine Kampfkom‑
panie über die libysche Grenze ins Land, be‑
schoss Militäreinrichtungen in der Grenzstadt
Ben Guerdane und patrouillierte eine Zeit lang
im Stadtzentrum. Sie wurde zurückgeschlagen,
wenn auch die Kämpfe noch am Dienstag nicht
ganz zu Ende waren. Mindestens 55 Menschen
starben. Es wird vermutet, dass die Angreifer
dem »Islamischen Staat« (IS) angehörten.
Libyen also. Als gäbe es nicht schon genügend
Regionen der Dringlichkeit. Aber wir müssen
hinsehen, denn das Land dient dem IS mittler‑
weile nicht nur als Rückzugsort, sondern auch
als Aufmarschgebiet für neuerliche Attacken.
Libyen droht zum Ausgangspunkt
einer neuen Massenflucht zu werden
Ein alarmierender Befund, auch für uns in­
Europa. Vom nordafrikanischen Libyen aus will
der IS expandieren, südwärts in den Tschad und
nach Niger, westwärts nach Tunesien und Alge‑
rien und nicht zuletzt nach Norden, nach Euro‑
pa; Tripolis oder auch Ben Guerdane liegen nur
500 Kilometer von Italien entfernt. Der Kalifat‑
faschismus rückt uns näher. Außerdem droht,
wenn Nordafrika ein zweites Syrien werden­
sollte, eine weitere Massenflucht, und zwar dies‑
mal nicht über die Türkei, sondern über Italien.
Noch während die Schüsse durch die Straßen
des tunesischen Grenzorts hallten, berichtete die
New York T
­ imes über Washingtoner Pläne für
ein massives militärisches Eingreifen in Libyen.­
Mitte Fe­bru­ar hatten amerikanische Kampf­
flugzeuge bereits eine libysche IS-Basis nahe der­
tunesischen Grenze angegriffen. Es mehren sich
die Berichte über amerikanische, britische, fran‑
zösische sowie italienische Spezialkräfte, die auf
libyschem Boden die Gegner des IS unter­stützen.
Eskaliert dieser Krieg jetzt?
Noch zögern die Amerikaner und ihre Ver‑
bündeten, denn sie haben auf libyschem Gebiet
keinen Partner. Der Staat ist zerfallen, es exi­
stieren zwei konkurrierende Regierungen, und
die Bemühungen der UN, sie zusammenzu­
bringen, fruchten bislang wenig. Derzeit hätte in
den Augen der Libyer niemand die Legitimität,
das Ausland um ein militärisches Eingreifen zu
bitten. Die Zwickmühle: Jede Intervention ehe‑
maliger Kolonialmächte gäbe dem IS politischen
Kredit im Lande – sie aufzuschieben wiederum
bedeutete, den Terroristen Zeit zu gewähren,
sich in Libyen tiefer zu verschanzen.
Was immer also getan oder nicht getan wird,
es ist schlecht. Die Kunst wird darin bestehen,
die weniger schlechte Wahl zu treffen.
Eindeutig indes ist dies: Tunesien schwebt in
Gefahr. Das kleine Land kann sich aus eigener
Kraft nicht dauerhaft gegen den IS verteidigen.
Zumal die meisten IS-Kämpfer in den libyschen
Lagern Tunesier sind, etliche von ihnen mit syri‑
scher Kampferfahrung. In Ben Guerdane bei‑
spielsweise wurde beobachtet, dass die Angreifer
jeden Winkel der Stadt kannten.
Was treibt sie an? Enttäuschung. Tunesiens
Revolution, Fanal des Arabischen Frühlings, war
eine Sache des Volkes, aber dessen Elend hat sie
nicht gelindert. So geht es fast immer in Revolu‑
tionen: Die Armen bringen die meisten Opfer,
doch die Früchte können sie nicht essen, denn
die sind politischer und nicht sozialer Natur.
Tunesien ist das freieste Land der arabischen
Welt geworden, die Ungerechtigkeiten dauern
indessen fort. Aus dieser Spannung speist sich
die Anziehungskraft des IS. Mit militärischen
Mitteln allein ist er daher nicht zu besiegen.
Ob es zu einer internationalen Intervention
in Libyen kommen wird, ist ungewiss. Sie darf
aber nur unternommen werden, wenn Tunesien
davor bewahrt wird, von ausweichenden ISTruppen überrannt zu werden. Bisher schützt es
sich nur mittels eines porösen Sandwalls und mit
Truppen von begrenzter Schlagkraft. Auslän­
dische Mächte, wenn sie denn in Libyen inter­
venierten, stünden daher in der politischen und
moralischen Pflicht, den Tunesiern zuvor sämt­
liche Mittel zur Verfügung zu stellen, ihre ­Grenze
zu sichern – Kampftruppen eingeschlossen.
Über Grenzsicherung wird dieser Tage viel
geredet. In Wahrheit ist damit meist gemeint,
Fliehende auszusperren. Im Fall von Libyen und
Tunesien hingegen steht tatsächlich die Sicher‑
heit auf dem Spiel – auch unsere.
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Der Weltmeister im Brettspiel Go tritt gegen einen Computer an.
Hat der Mensch noch eine Chance? VON STEFAN SCHMITT
Ü
die Informatiker. AlphaGo ist eine lernfähige­
Maschine, ein sich fortlaufend selbst verbessern‑
der Spielanalytiker. (Und in Anbetracht dessen
würde auch ein Sieg Lees nur bedeuten, dass die
Niederlage der Menschen aufgeschoben wäre.)
• Missverständnis Nummer zwei wird auch uns
Go-Laien unterlaufen: Schon weil wir das Spiel
selbst nicht kennen, stellen wir es uns als eine Art
asiatisches Superschach vor. Und hat nicht schon
im Jahr 1997 der Supercomputer Deep Blue den
damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow ge‑
schlagen? Trug nicht der Deep-Blue-Nachfolger
Watson 2011 den Sieg im Fernsehquiz Jeopardy
davon? Und werden nicht die Rechner immer
stärker? Nun, AlphaGo ist prinzipiell anders und
arbeitet mit einer dem Gehirn entlehnten Tech‑
nik, sogenannten neuronalen Netzen. Die finden
Muster im Wust großer Datenmengen, etwa­
kluge Spielstrategien in den Protokollen Aber­
tausender Partien. Solche Technik ist sehr flexibel
und da erfolgreich, wo schiere Rechenkraft nicht
genügt, etwa in der automatischen Bilderkennung
und bei Übersetzungen.
• Das dritte Missverständnis entsteht schnell
bei der Aufzählung der technischen Zutaten:­
Rechen­
power plus neuronale Netze plus
Maschi­nen­lernen gleich Go-Gott – klar? Eben
nicht, selbst Fachleute verstehen nicht mehr im
Detail, was die Software da tut. Zwar lassen sich
Input und Output vergleichen. Wie aus dem
einen aber das andere wird, ist nicht im Detail
vor­gegeben. Eher arrangiert der Programmierer
ein Suchen und Finden der Maschine.
In den ersten Jahrzehnten unserer Koexistenz
konnten wir auf die Computer herabblicken wie
auf Fachidioten: Spezialisten mit klar umrisse‑
Auf dem Weg zur intelligenten Maschine
nem Aufgabenbereich, angewiesen auf konkrete
ist Go ein größerer Meilenstein als Schach
Befehle. Jetzt kommen die Generalisten.
Der Begriff »künstliche Intelligenz« (kurz: KI)
Schauen wir indes nur auf das Spielerische, über‑
sehen wir leicht das grundlegend Neue am ist mit Versprechen überladen und durch Ent­
Showdown Lee gegen AlphaGo. Denn er birgt täuschungen beschädigt worden, weshalb er hier
auch erst am Schluss auftauchen soll. Aber selbst
drei Missverständnisse.
• Eines für die Millionen Go-Fans weltweit: Schon wer ihm gegenüber skeptisch bleibt, wird ein­
weil sie ihr Spiel so gut kennen, haben viele von sehen, dass Go auf dem Weg hin zu einer KI­
ihnen auf einen Sieg Lee Sedols gewettet, der für einen wichtigeren Meilenstein darstellt als etwa
ihresgleichen unerreichbar gut ist. Es mangelt­ Schach. So wenig reine Analyse hilft, so wichtig
ihnen wohl am Vorstellungsvermögen, AlphaGo ist für die Spieler Intuition. Und nun nimmt die
könne besser sein als ihr Meister. Im Herbst schlug Technik diese Hürde mit ihren eigenen Mitteln.
Da erwächst nicht nur dem Homo ludens
die Software zum ersten Mal einen menschlichen
Profispieler. Warum soll sie nur fünf Monate­ Konkurrenz, sondern dem Homo sapiens.
später den besten aller Profis besiegen? Nun, weil
sie trainieren kann. Machine learning nennen das
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ber dieses Finale werden wir noch
lange sprechen. Weil Mensch und
Maschine in fünf Partien ihre
Kräfte messen. In Seoul tritt als
Vertreter der Menschheit der
33-jährige Koreaner Lee Sedol an,
amtierender Weltmeister im Go, dem asiatischen
Brettspiel. Go? Alle, die davon noch nie gehört
haben, sollten sich vorstellen, dass nur wasch‑
echte Genies hier Spitzenniveau erreichen. Gegen
Lee spielt eine Software. Sie heißt AlphaGo und
hat im vergangenen Herbst schon den Europa‑
meister geschlagen – 5 : 0.
Es geht um nichts Geringeres als um die­
Frage: Hat der Mensch gegen den Computer
noch eine Chance? Ist es möglich, dass auch Lee
nach dem letzten Match am kommenden­
Dienstag den Spieltisch als Verlierer verlässt?
Mehr als das! Es ist wahrscheinlich.
Droht also die nächste narzisstische Kränkung
in jener langen Reihe von Demütigungen, wel‑
che die Wissenschaft dem Menschen beibringt?
Na ja. Man könnte sagen, hier steht der nächste
Triumph der Technik bevor, die doch stets
menschlicher Kreativität entspringt. Und woher
kommt die Kreativität? Der Mensch sei »nur da
ganz Mensch, wo er spielt«, behauptete Friedrich
Schiller. Unsere Spezies habe ihre einzigartigen
Fähigkeiten maßgeblich beim Spielen ausgeprägt,
meinte der Kulturhistoriker Johan Huizinga und
erfand dafür den Begriff des »Homo ludens«, des
spielenden Menschen. Doch was fangen wir mit
diesen Fähigkeiten an? Wir bauen uns einen
übermächtigen Spielkameraden.
Den Dichtern
auf den Versen
Mit deutscher Lyrik
um die Welt reisen
96 Seiten Reise-Magazin
PROMINENT IGNORIERT
Ray Tomlinson
Seit der Erfindung der Post ärgert
man sich über Mahnbriefe, seit der
Erfindung des Telefons über das
Klingeln im Morgengrauen, seit
der Erfindung der E-Mail über den
Werbemüll. Doch auch der reiten‑
de Bote vermeldete oft Uner‑
wünschtes. Deshalb sollten wir uns
vor dem eben verstorbenen Ame‑
rikaner Ray Tomlinson, der vor 45
Jahren die E-Mail, diese komfor‑
table Kommunikationsform, er‑
fand, dankbar verneigen. GRN.
Kleine Fotos (v. o.): Tine Acke für DIE ZEIT; Plainpicture; Helmut Newton Estate; Cerejido/EPA/dpa
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