zukunft jetzt | Nr. 1/2016 | Gesichter der Flucht

Foto: O. Szekely
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Aus eigener Erfahrung
Julijana Sokcevic betreut unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
In den 90er-Jahren war Julijana Sokcevic Bürgerkriegsflüchtling. Die Kroatin hat auch
deswegen ein Gespür für die Gefühle von Menschen, die aus einem kriegsgeschüttelten
Land kommen. „Ich bin glücklich, dass ich dabei bin“, sagt die 42-Jährige. Dass sie nun
helfen kann und Menschen in Not unterstützen.
„Die Problematik nach außen tragen, die Öffentlichkeit informieren und aufklären“, sieht
sie als die wichtigste Aufgabe der vielen freiwilligen und professionellen Helfer. Immer
wieder vermitteln, dass die Flüchtlinge keine Bedrohung sind. Im letzten Sommer ist
sie als Flüchtlingsbetreuerin in einer Frankfurter Turnhalle eingestiegen, hat als pädagogische Fachkraft vor allem Deutschunterricht gegeben, als die ersten minderjährigen
Ausländer in der Stadt eintrafen. Außerdem war sie am Aufbau eines strukturierten Systems beteiligt. „Professionalisierung muss stattfinden“, sagt Julijana Sokcevic überzeugt.
Inzwischen arbeitet die Soziologin und Politikwissenschaftlerin, die ihren Bachelor mit
den Schwerpunkten Migration und Integration gemacht hat, für das Deutsche Rote Kreuz.
Ist Leiterin Betreuung in einer Schule, in der ausschließlich unbegleitete Minderjährige
untergebracht sind.
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Foto: F.Jaenicke
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Musik ohne Grenzen
Der Syrische Flüchtlingschor „Zuflucht“ und Cornelia Lanz
Immer wieder singen sie „Janna“, das arabische Paradieslied. Ihren Auftritt in „Die
Anstalt“ im ZDF haben Millionen Menschen verfolgt. Seitdem sind sie in der gesamten Republik gefragt. „Das hat Wellen geschlagen und Bewegung in die Politik gebracht“, sagt
die Sängerin Cornelia Lanz. Sie hat das Projekt Syrischer Flüchtlingschor „Zuflucht“ 2014
initiiert. Am Anfang hat sie dafür sogar vier Monate im Flüchtlingsheim im Kloster Oggelsbeuren (Kreis Biberach) gewohnt – gemeinsam Singen, Kochen, Essen. Das Team wächst.
Geflohene Autoren, Schauspieler, Sänger aus Afghanistan und Irak sind inzwischen dabei.
„Wir machen Oper mit Flüchtlingen“, erzählt Cornelia Lanz. Nach „Cosi fan tutte“ folgt nun
„Zaide. Eine Flucht“ nach Mozarts Fragment. Eine Friedensoper mit geflohenen Künstlern,
die Flucht aus dem eigenen Land thematisiert. In beide Richtungen, auch aus Deutschland
in die arabische Kultur. Eine „Herzensangelegenheit“ sind Chor und Oper für die 34-Jährige geworden. Durch den in Stuttgart gegründeten Verein „Zuflucht Kultur e.V.“ steht
das Projekt auf festen Füßen. Viele Künstler der ersten Stunde sind gut integriert, bei
den Einladungskonzerten wird neben dem Paradieslied oft auch Beethovens Ode an die
Freude angestimmt.
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Foto: O. Szekely
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Kaum gebraucht
Polizeichefin Antje van der Heide ist vorbereitet
Ja, sie könnte das alte Bild von der Polizei als Freund und Helfer bemühen. Antje van der
Heide sieht sich und ihre Leute vornehmlich als Unterstützer. „Wir müssen uns auf die
Bedürfnisse der Menschen einlassen, die zu uns kommen“, sagt die 46-jährige Leiterin
der Polizeidirektion Hochtaunus. Annäherung ist ihr Stichwort, den Menschen, die aus
Diktaturen kommen, eine positive Erfahrung mit Polizei bieten.
In ihrem Bereich gibt es zwei große Notaufnahmelager mit 1 000 Flüchtlingen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. „Da kann die Stimmung schnell kippen“, so van der
Heide. Sie und ihre Kollegen seien daher regelmäßig vor Ort und bieten Gespräche an.
Konfliktsituationen sollen möglichst vermieden werden. Die Polizei ist gut vernetzt mit
allen beteiligten Behörden. Die Polizeichefin ist „überrascht, wie wenig wir gebraucht
werden“. Subjektive Ängste in der Bevölkerung, vor allem im Umfeld der Aufnahmeeinrichtungen, nimmt sie aber genauso ernst und will ihre Polizei auf „alle Eventualitäten
vorbereiten, vom Brand bis zu Anfeindungen aus der Bevölkerung.“
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Foto: O. Szekely
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Eine lange Zeit
Sina Delavaran wartet auf die Entscheidung zu seinem Asylantrag
„Was ist meine Schuld?“ Sina Delavaran stellt die gleiche Frage immer wieder. Sich und
anderen. Dass er aus einem Kriegsland stammt? Dass er Afghane ist, der auch im Iran nie
wirklich gelitten war? Dass er auf abenteuerlichen Wegen nach und quer durch Europa geflüchtet ist? Dass ihn die selbsternannten Wächter der Islamischen Revolution eingekerkert und geschlagen haben? Dass er in seiner neuen Welt zum Christentum konvertierte?
Sina ist 37 und seit 27 Jahren auf der Flucht. Die Hoffnung auf ein besseres Leben wird er
nie aufgeben. Auch wenn er wieder nur geduldet und nicht wirklich anerkannt ist. Nicht
arbeiten darf, nach zwei Jahren in Deutschland immer noch ein Fremder in fremdem Land
ist. Immerhin, einen Deutschkurs hat ihm die Caritas finanziert. Die Johannes-Gemeinde
in Oberursel mit der theologischen Hochschule hat ihm erst Kirchenasyl gewährt, später
hat er dort ein Zimmer bekommen, hat sich taufen lassen. Sina Delavaran hilft, wo er
kann, bietet Dolmetscher-Dienste im Kirchentreff an. Er ist immer noch einer von ihnen.
Wer bist du, was willst du, warum bist du hier? Er stellt diese Fragen und würde sie so
gerne auch mal selbst hören.
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Foto: O. Szekely
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Unermüdlicher Einsatz
Sandra Anker organisiert einen Treff für Flüchtlinge
„Refugees welcome“ steht am Eingang des schlichten Gebäudes. In vier Sprachen werden
die Ankömmlinge mit dem Satz „Ein Ort des Friedens und Respekts“ begrüßt. Als viele
Flüchtlinge in die Kleinstadt Oberursel geschickt wurden, reagierte die katholische Gemeindereferentin Sandra Anker schnell. Im Pfarrheim Liebfrauen wurde der „Willkommens-Treff“ eingerichtet, in der Nachbargemeinde St. Hedwig eine Kleiderbörse. An fünf
Tagen in der Woche ist beides geöffnet, der Andrang ist groß. Ehrenamtliche Helfer stemmen das mit viel persönlichem Einsatz.
Das von Sandra Anker mitentwickelte Netzwerk Flüchtlingshilfe funktioniert, 46 Trägergruppen sind aktiv. Unter dem Kreuz im Gemeinderaum lernen junge Muslima mit Kopftuch Deutsch, die Stimmung ist freundlich. „Hier ist jeder willkommen“, sagt Sandra
Anker, lächelnd – trotz zwölf Stunden Arbeit an sieben Tagen in der Woche. „Wir brauchen
solche Orte jenseits der Unterkünfte in Sporthallen.“ Zwei Themen motivieren die 47-Jährige bei ihrem unermüdlichen Einsatz: Ihr Glaube und das damit verbundene „wertvolle
Menschenbild“ und ihre Familiengeschichte. Vater und Mutter kamen als Flüchtlinge in
ihre neue Heimat, aus Ostpreußen und aus dem Sudetenland. „Das prägt.“
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Foto: © Bundespolizei
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Mit den Augen eines Kindes
Die Zeichnung eines syrischen Mädchens
Ein Bild von Krieg und Frieden, das mehr erzählt als tausend Worte. Gemalt von einem
etwa achtjährigen Mädchen, das mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet ist. In ein Land,
wo es hofft, eine neue Heimat zu finden. Mit einer Polizei, die Schutz verheißt statt Schrecken und Tod.
Das Bild des namenlosen Mädchens steht nicht nur für das Kind, das es gemalt hat, für ein
Gesicht der großen Flucht. Es ist ein Symbol für das Leid tausender Flüchtlingskinder. Ein
Polizist aus Duderstadt hat es in der Clearing-Stelle Passau von dem Kind geschenkt bekommen, auch sein Name ist hier nicht wichtig. Es hat ihn und seine Kollegen der Bundespolizei „berührt“ und „sprachlos“ gemacht, das ist wichtig.
Auf Twitter veröffentlicht, machte es in den sozialen Netzwerken in Windeseile zigtausendfach die Runde. Und die meisten Empfänger ließ es für kurze Momente genauso sprachlos
und betroffen zurück wie die Polizisten in Passau. Vielleicht auch verständnisvoller.
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Foto: O. Szekely
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Eine improvisierte Praxis
Notärztin Barbara Müllerleile hilft in einem Notaufnahmelager
„Mir hat's die Füße weggezogen.“ So beschreibt Barbara Müllerleile (65) ihren ersten Moment in einem Notaufnahmelager. Bis zu 600 Menschen in zwei miteinander verbundenen
Sporthallen, Feldbett an Feldbett gereiht, keinerlei Privatsphäre. Auch nicht im notdürftig
eingerichteten Arztraum mit zwei Pritschen, getrennt nur durch eine improvisierte spanische Wand, dazu Medikamente in Kisten und Plastikwannen.
In dieser improvisierten Praxis empfängt die Medizinerin, die sonst als Notärztin an der
Bergstraße unterwegs ist, ihre Patienten. Menschen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, oft
Frauen mit kleinen Kindern, die kein Deutsch oder Englisch sprechen. Immer muss ein
Dolmetscher dabei sein, die Kommunikation verläuft auf einfachster Ebene.
Barbara Müllerleile macht das ehrenamtlich. Schreibt sich für zwei Stunden pro Woche
in den Dienstplan ein, manchmal auch zweimal die Woche. Ihre Motivation? „Die Menschen
brauchen Zuwendung, irgendwer muss doch helfen. Jeder kann im Rahmen seiner Möglichkeiten helfen, ich kann halt Medizin.“ Barbara Müllerleile bekennt sich zur Wir-schaffen-das-Fraktion. „Deutschland ist ein reiches Land, das können wir uns leisten.“
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Foto: Ragnar Schmuck
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Paten und Geldgeber
Martin Keune und die Berliner Flüchtlingspaten
„Unser Engagement wächst uns erfreulich über den Kopf“, sagt Martin Keune. Einen humanen Weg, Angehörige von syrischen Flüchtlingen nach Deutschland zu holen, hatten er
und seine Mitstreiter im Frühjahr 2015 gesucht und dabei eine Nische aufgetan. Die Berliner Ausländerbehörde genehmigt den Nachzug von engen Familienmitgliedern, wenn sie
einen Verpflichtungsgeber haben, der eine Verpflichtungserklärung unterschreibt.
Menschen wie Martin Keune übernehmen die Kosten für deren Lebensunterhalt, eine unwiderrufliche Verpflichtung auf Lebenszeit. „Keiner mit Verstand würde das unterschreiben“, so der 56-jährige Werbefachmann, der für zwei Syrer unterschrieben hat. Daher der
Verein der Flüchtlingspaten. Über ihn werden die Verpflichtungsgeber finanziert.
Rund 1 200 Paten wurden bundesweit gewonnen, sie spenden monatlich mindestens 10
Euro, rund 31 000 Euro fließen so in die Vereinskasse. Bis Jahresende 2015 wird der Verein
64 Angehörige von Flüchtlingen ins Land geholt haben, sie dürfen sofort einer Arbeit nachgehen. Auch dabei unterstützen die Flüchtlingspaten, sie vermitteln Deutschkurse und
haben ein medizinisches Netzwerk aufgebaut.
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Foto: O. Szekely
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Bildung gegen Isolation
Timur Beygo ist „Teacher on the road“
Timur Beygos Philosophie ist klar: Der Zugang zu Bildung muss frei und umsonst sein.
Sein Motto, sein politisches Verständnis, seine Linie, seit er kurz nach dem Abitur erstmals
als Nachhilfelehrer aktiv war. Ohne Bezahlung. Jetzt ist er seit 14 Monaten für die
„Teachers on the road“ unterwegs, gibt Flüchtlingen Deutschunterricht, ehrenamtlich wie
all die anderen Teacher auch. Allein in Frankfurt und Offenbach sind es inzwischen 250
Mitstreiter, jeden Tag werden rund 200 Flüchtlinge unterrichtet.
Timur Beygo (38) kümmert sich auch um die Organisation, fast täglich ist er deswegen im
Frankfurter IG-Metall-Haus zu finden, einem wichtigen Stützpunkt der Initiative im „Netzwerk konkrete Solidarität“. Ziel der Sprachkurse ist es, die Isolation der Flüchtlinge zu
durchbrechen, gesellschaftliche Teilhabe durch regelmäßigen Deutschunterricht zu ermöglichen. „Jeder kann kommen, wir sind offen für alle, nehmen alle“, sagt der Philosophie- und Mathematikstudent mit türkischen Wurzeln. Als sein Vater nach Deutschland
kam, durfte er nicht studieren, was er wollte. Das hat Timo sensibilisiert und politisiert.
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Foto: Ragnar Schmuck
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Eine neue Heimat
Sibylle Ott-Kohm hat Rezwan Rahimy aus Afghanistan aufgenommen
Es ist eine Geschichte von Glück und Zufall. Dass Rezwan Rahimy (20) aus dem afghanischen Baghlan im richtigen Moment auf Sibylle Ott-Kohm gestoßen ist. Zehn Nächte
hatte der junge Mann im Freien geschlafen, weil das Erstaufnahmelager für Flüchtlinge
in Berlin völlig überlaufen war.
Die Klavierlehrerin Ott-Kohm (56) und ihr Mann nahmen Rezwan auf in ihre Vier-ZimmerWohnung in Schöneberg. „Es ist doch genug Platz nach dem Auszug der erwachsenen
Kinder“, sagt Sibylle Ott-Kohm. „Jeder muss ein bisschen teilen, dann ist das auch eine
Chance für Deutschland.“ Rezwan hat in seiner Heimat Taliban-Attacken und bei seiner
sechswöchigen Flucht eine Schießerei an der pakistanisch-iranischen Grenze überlebt.
In Berlin fühlt er sich sicher.
Sein wichtigstes Papier, die „Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens“,
trägt er als Kopie immer bei sich. Auf einen erfolgreichen Asylantrag hofft auch Sibylle
Ott-Kohm. „Rezwan ist eine Bereicherung, er kann gerne bei uns bleiben“, sagt sie. Cello
spielen würde er gern – und Zahnarzt werden. Sibylle und Matthias Ott-Kohm möchten
ihm helfen, sich diesen Traum zu erfüllen.
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