Markuspassion Karfreitag, 25.03.2016, 15 Uhr, Stadtkirche St

Markuspassion
Karfreitag, 25.03.2016, 15 Uhr, Stadtkirche St. Rochus, Zirndorf
Eine Passion und nicht von Bach? Von Reinhard Keiser? Nie gehört! Damit
dürften viele Musikliebhaber nicht alleine stehen. Und in der Tat ist Reinhard
Keiser – 1674 geboren, also gut zehn Jahre vor Johann Sebastian Bach – heute nur
Wenigen ein Begriff. Im Alter von 11 Jahren wurde er Thomas-Schüler in Leipzig,
also etwa vier Jahrzehnte, bevor Bach dort seine Tätigkeit als Thomas-Kantor
begann. Die meiste Zeit seines Lebens wirkte Keiser am damals berühmtesten
Opernhaus Deutschlands, nämlich im Hamburg. Dort an der Oper am
Gänsemarkt, dessen Leitung er mehrere Jahre inne hatte, lernte er auch andere
berühmte Komponisten-Kollegen kennen: keine Geringeren als Georg Friedrich
Händel, Georg Philip Telemann, Johann Adolph Hasse und auch ein gewisser
Johann Mattheson führten hier ihre eigenen Opern auf und wirkten auch als Sänger
oder leitende Instrumentalisten mit. Diese geballte Komponisten-Elite der
Barockzeit begeisterte die bessergestellt Oberschicht Hamburgs. Weniger begeistert
war man in kirchlichen Kreisen, da diese durch die neue Musikgattung "Oper"
Sitten und Moral gefährdet sahen. Sie befürchteten, dass die Aufführungen "… zur
Beförderung der Wollust und dem Verderb der guten Sitten …" beitrügen. Da die vorsichtig
lavierenden Hamburger Ratsherren es sich nicht mit den mächtigen kirchlichen
Institutionen verderben wollten, ließen sie vor der Einführung eines regelmäßigen
Opernbetriebs ein juristisches und theologisches Gutachten anfertigen. Die
beauftragten Fakultäten kamen zu dem Beschluss, dass der Opernbesuch zulässig
sei und den Akteuren nicht das Abendmahl vorenthalten werden dürfe. Allerdings
wurden Aufführungen an Sonn- und Feiertagen untersagt.
Der eben erwähnte Mattheson hat der Nachwelt als Musiktheoretiker wichtigere
Werke hinterlassen als mit seinem musikalischen Œuvre. Zeit seines Lebens hatte
er viele bedeutende Komponisten persönlich kennen gelernt, unter anderen die
oben Genannten, aber auch Johann Sebastian Bach und dessen Söhne. In einer
seiner Abhandlungen über bedeutende Komponisten, schrieb Mattheson knapp
und prägnant, dass nach seiner Einschätzung Reinhard Keiser "… der größeste OpernComponist von der Welt …" sei. Ergänzend kann man noch sagen: einer der
Produktivsten, denn über 100 Opern und Singspiele sind aus seiner Feder
verzeichnet, die meisten von ihnen wurden im Hamburger Opernhaus
uraufgeführt. In seinen letzten zehn Lebensjahren war Keiser Nachfolger von
Mattheson als Kantor am alten Hamburger Dom (seit der Reformation
protestantisch). Von da an widmete er sich – wenig überraschend – fast
ausschließlich der Kirchenmusik.
Aber irgendwann zwischen den ganzen Opern entsteht plötzlich eine Passion, die
Johann Sebastian Bach so beeindruckte, dass er sie wenigstens dreimal selbst
aufführte: das erste Mal gegen 1713 in Weimar und zwei weitere Male in Leipzig
(1726 und 1745). Dass Bach diese Passion für ein Meisterwerk hielt, mag man
daran erkennen, dass er sie nicht nur in seinen früheren Jahren aufführte, sondern
auch noch wenige Jahre vor seinem Tod. Mit keinem anderen Werk eines
Zeitgenossen hat er sich so langfristig und intensiv auseinandergesetzt. Den
Usancen der damaligen Zeit entsprechend, bearbeitete Bach bei seinen
Aufführungen in Weimar und Leipzig das Original, um sie den jeweiligen aktuellen
Gegebenheiten anzupassen, zum Bespiel hinsichtlich der Solisten und
Instrumentalisten oder auch, um die Komposition mit eigenen Chorälen zu
ergänzen.
Für die Aufführung schreibt Keiser eine relativ schlanke Instrumentierung vor:
jeweils zwei Violinen, Violen, Oboen, eine umfangreiche Continuo-Gruppe mit
Orgel, Cello, Kontrabass und zwei Fagotten, dazu vier Gesangssolisten und ein
vierstimmiger Chor. Die Vokalpartien Petrus, Judas, Hohepriester, Pilatus,
Hauptmann, Magd und Kriegsknecht sind den Gesangssolisten zugeordnet, hinzu
kommen traditionell die Stimmen für Jesus durch den Bass und für den Erzähler
bzw. Evangelisten in Form von Rezitativen durch den Tenor. Die aufgewühlte
Volkesstimme wird durch den Chor repräsentiert (z.B. "Kreuzige ihn!"). Dazu
kommen kontemplative Arien, Chöre und Choräle (mehrstimmige Kirchenlieder),
die das dramatische Geschehen – beginnend mit der Ölberg-Szene bis zur
Grablegung – kommentieren und seine Bedeutung für den Zuhörer noch
plastischer illustrieren.
Sicherlich handelt es sich bei der Markus-Passion um eine ganz hervorragende
Komposition, die zu Recht einen hohen künstlerischen Rang einnimmt. Die
Ausgewogenheit zwischen den Arien, Chören, Chorälen und Rezitativen ist
bewundernswert. Auch die Verteilung der zehn Arien über das gesamte Werk zeigt
ein dramaturgisches Geschick: jeweils drei übernehmen der Sopran, Alt und Tenor.
Ganz im Zentrum steht die zehnte Arie, die dem Bass zugedacht ist. Auch die
abwechslungsreiche instrumentale Begleitung der Arien zeugt von einer großen
kompositorischen Meisterschaft. Alle Sätze der Passion sind bei Keiser deutlich
knapper angelegt als die der Bach-Passionen. Dadurch entsteht ein Werk, das in
seiner Dynamik den dramatischen Spannungsbogen dauerhaft beibehält, was
Keisers Meisterschaft als hervorragender Opernkomponist zu verdanken ist.
Bach hat für seine eigenen Passionen sicherlich Anleihen bei Keiser genommen. Er
dürfte von ihm gelernt haben und seine eigene kompositorische Weiterentwicklung
dürfte von ihm beeinflusst worden sein, bis hin zu seinen großen Meisterwerken,
der Johannes-Passion (Uraufführung 1724) und der Matthäus-Passion
(Uraufführung 1727). Schon der strukturelle Aufbau – die Aneinanderreihung von
Rezitativen, Arien, Chören und Chorälen – weist Ähnlichkeiten bei beiden
Komponisten auf. Auch die Betonung des dramatischen Passionsgeschehens durch
den raschen Wechsel von Rezitativen, Chören und Arien hat Bach zum Vorbild für
seine eigenen Passionskompositionen genommen. Deutliche Unterschiede sind
allerdings bei der Gestaltung der Arien und Choralsätze zu bemerken: während
Bach in der Regel alle Stilmittel der barocken Farbpracht einsetzt, verwendet Keiser
eine eher schlichte Harmonik, die vermutlich auch dem damaligen Hamburger
Zeitgeist geschuldet war, wonach sich eine Passion eher asketisch darstellen muss
und nicht mit einem musikalischen Genuss verbunden sein darf. Dies kontrastiert
allerdings mit der sehr ideenreichen und klanglichen Farbigkeit der überaus
abwechslungsreich begleitenden Instrumente.
Und noch einmal zurück zum Anfang: die Markus-Passion von Reinhard Keiser?
Bedauerlicherweise können wir uns in dieser Hinsicht nicht ganz sicher sein. Das
Autograph der Markus-Passion ist nämlich verschollen und auch die von Bach
verwendeten Abschriften lassen auf keine eindeutige Autorenschaft schließen. Nur
durch diese Abschriften ist uns die Markus-Passion überhaupt erhalten. Die
zahlreichen Unterschiede in den einzelnen Abschriften erschweren es
außerordentlich, ein exaktes Entstehungsjahr der Passion zu benennen, vermutet
wird die Zeit zwischen 1700 und 1710. Zudem beeinträchtigen sie stellenweise aber
auch eine klare Differenzierung zwischen Keisers Original und den Ergänzungen
anderer Komponisten. Bach war jedenfalls der Meinung, eine Komposition Keisers
vor sich zu haben. Ein gedrucktes Libretto der Markus-Passion verzeichnet zwei
Namen: Reinhard Keiser und Friedrich Nicolaus Bruhns (ein Onkel des
berühmteren Komponisten und Orgel-Virtuosen Nicolaus Bruhns). Leider lässt die
Aufschrift den heutigen Leser rätseln, ob einer der Genannten der Komponist der
Markus-Passion und der andere der Dirigent einer Aufführung ist und wenn ja:
wem kam bei dieser Aufführung welche Rolle zu? Und um die Sachlage noch mehr
zu komplizieren: auch Gottfried Keiser, der Vater von Reinhard Keiser, von dem
Mattheson schreibt, dass er "…auch ein guter Componist …" gewesen sei, wird
zuweilen als Schöpfer der Markus-Passion vermutet. Bei aller berechtigten Skepsis
bleibt nur Eines gesichert: es gibt keine eindeutigen Belege, die gegen eine
Autorenschaft von Reinhard Keiser zeugen, aber auch keine, die dafür sprechen.
Und so lange die Musikwissenschaft diese Zweifel durch weitere Forschungen oder
Fundstücke nicht beheben kann, dürfte die Markus-Passion bis auf Weiteres mit
dem Namen Reinhard Keiser verbunden bleiben.
Klaus Klingen