taz.die tageszeitung

Anderson .Paak: Leichtfüßig
Der aufregendste Newcomer der US-Musikszene ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 10960 | 9. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
FREITAG, 4. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Die neue Anti-Drogen-Partei
GRÜNE Strenger als die CDU: Während die Union zum Fall Beck weitgehend schweigt, gehen grüne
Politiker eifrig auf Distanz zu ihrem Parteifreund, der wohl mit Crystal Meth erwischt wurde ▶ SEITE 3, 14
CHINA Vor dem Volks-
kongress: Wie die Partei
mal wieder versucht, Kapital und Kommunismus
zu verbinden ▶ SEITE 4
„Es ist immer bedauerlich, wenn jemand
Drogen zu sich nimmt“
GRÜNEN-FRAKTIONSCHEF ANTON HOFREITER
IN DEN „TAGESTHEMEN“
„Schnell die Konsequenzen
gezogen, das ist bei der Schwere
der Vorwürfe auch angemessen“
GRÜNEN-PARTEICHEF CEM ÖZDEMIR BEI N24
„Individuelles Fehlverhalten
eines Bundestagsabgeordneten“
FLUCHT Das Trauma
reist mit: geflüchtete
Frauen und sexuelle
Gewalt ▶ SEITE 5
OLIVER HILDENBRAND, GRÜNEN-LANDESCHEF
IN BADEN-WÜRTTEMBERG
„Crystal Meth ist eine
harte und gefährliche
Droge und sie ist verboten.
Das hat mit liberaler
Drogenpolitik nichts
zu tun“
„Es ist ja schon
ein schweres
Fehlverhalten“
BADEN-WÜRTTEMBERGS
MINISTERPRÄSIDENT
WINFRIED KRETSCHMANN IM ZDF
GRÜNEN-FRAKTIONSCHEFIN
KATRIN GÖRING-ECKARDT IN DER BILD-ZEITUNG
BERLIN Wenige Zu-
schauer trotz großer
Erfolge: Warum Hipster
nicht zu Hertha gehen
▶ SEITE 23
Fotos: dpa, Archiv (oben)
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Margot Käßmann, ehemals
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland,
hat sich erschüttert über die
Vorwürfe gegen Volker Beck,
ehemals nichtraucherpolitischer Sprecher der Grünen,
gezeigt: „Ich verstehe das alles gar nicht“, sagte sie der
Nachrichtenagentur verboten.
„Okay, Crystal Meth ist kein
Schokoladenpudding. Und
ich kenne das alles ja aus
eigener leidvoller Erfahrung.
Aber bei mir waren es auch
1,54 Gramm. Mit 0,6 kann
man doch noch prima Auto
fahren.
Erst recht in Köln.
TAZ MUSS SEI N
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 15.674 GenossInnen, die
in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80
[email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94
[email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0
fax 030 | 251 51 30, [email protected]
taz.die tageszeitung
Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de
twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
50609
4 190254 801600
Fotos: Christian Thiel, mago (2)
KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ÜBER DIE REAKTIONEN AUF DEN FALL VOLKER BECK
Rette sich, wer kann
P
arlamentarier müssen weder leuch­
tende Vorbilder sein noch einen moralisch besonders anspruchsvollen
Lebenswandel vorweisen können. Das ist
eine Erwartung, der etwas Vordemokratisches anhaftet. In diesem Weltbild ist der
oder die Abgeordnete Repräsen­tantIn einer tadellosen staatlichen Autorität, der
Obrigkeit.
Wahrscheinlich sind Abgeordnete so,
wie das politische Geschäft organisiert
ist, als Moralhelden sogar besonders
wenig brauchbar. Wie Schauspieler oder
Börsenmakler stehen sie unter enormem
Druck. Das fördert in der Regel eher unerfreuliche als angenehme Eigenschaften.
Wer auf dieser Bühne dauerhaft mitspie-
len will, braucht Ellenbogen, Narzissmus,
gute Nerven. Und: Politik macht anfällig für Sucht, vor allem nach öffentlicher
Aufmerksamkeit.
Andererseits haben Parlamentarier
eine besondere Pflicht zur Gesetzestreue.
Denn sie selbst machen die Gesetze. Daher sollten sie sich auch bitte daran halten.
Dass sich der Grüne Volker Beck in seiner dürren Erklärung rühmt, stets eine
liberale Drogenpolitik vertreten zu haben, ist keine kluge Taktik – jedenfalls,
wenn es wirklich um Crystal Meth geht.
Er setzt eher auf rabiate Vorwärtsverteidigung als auf Gesten der Zerknirschung.
Aber für Urteile ist es zu früh.
Wir wissen nicht, ob Beck gelegentlich
harte Drogen nimmt oder ob er abhängig ist. Wir wissen nicht, ob er regelmäßig ein kriminelles Milieu finanziert hat
oder nur mal etwas ausprobieren wollte.
Bei Drogenmissbrauch kommt es aber
genau darauf an.
Manche Grüne sind ziemlich schnell
auf Distanz zu Beck gegangen. Winfried
Kretschmann, Ministerpräsident im
Parlamentarier machen
die Gesetze. Daher sollten
sie sich auch daran halten
Wahlkampf, sieht ein „schweres Fehlverhalten“ – das, wie er betont, keineswegs typisch für die Grünen sei. Offenbar
hat Kretschmann das Desaster des letzten Bundestagswahlkampfs vor A
­ ugen,
als die Partei lange keine brauchbare
Haltung zu den Pädophilie-Vorwürfen
fand. Also lieber sofort auf Distanz gehen – und ja die Assoziationskette Pädosex–Drogen–Grüne–Berlin vermeiden,
die in Schwarzwalddörfern womöglich
für Verstörung sorgen könnte.
Diese Vorsicht wirkt wenig souverän.
Sie unterschätzt die Fähigkeit der Gesellschaft zu Differenzierung und Selbstaufklärung. Und sie hat angesichts der vagen
Faktenlage etwas Übereiltes.
Apfel: NPD nicht ernst nehmen Sorge um Waffenruhe
VERBOTSVERFAHREN
Ex-Chef bezeichnet rechtsextreme Partei als „Popanz“
KARLSRUHE dpa | Die NPD ist
nach Darstellung ihres früheren
Bundesvorsitzenden Holger Apfel ein „Popanz, der nicht ernst
zu nehmen ist“. Ihre Schlagkraft
sei in der Öffentlichkeit immer
überschätzt worden, sagte Apfel
am Donnerstag in der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Verbot. Die
Partei inszeniere bewusst Tabubrüche, um eine größtmög-
liche Aufmerksamkeit zu erzielen. Teile der Partei befänden
sich allerdings immer noch in
der Gedankenwelt des Nationalsozialismus.
Aus Sicht von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer
(SPD) kommt es vor allem darauf an, die Bedrohungslage in
den neuen Bundesländern deutlich zu machen. „Wenn dies gelingt, dann, denke ich, werden
wir auch in Karlsruhe eine positive Entscheidung bekommen“, sagte Mäurer. Darunter verstehe er ein Verbot der
NPD. Über den bisherigen Verlauf der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe sei er erleichtert. Die große Sorge sei gewesen, ob wirklich alle V-Leute aus
den Gremien der NPD abgezogen worden seien.
▶ Der Tag SEITE 2
SYRIEN
Mahnungen an Moskau und Damaskus
AMIENS afp/dpa | Frankreich
und Großbritannien haben
Russland aufgerufen, Angriffe
gegen gemäßigte Rebellen in
Syrien zu stoppen. Alle Konfliktparteien „einschließlich
Russlands und des syrischen
Regimes“ müssten solche Attacken „sofort einstellen“, erklärten Frankreichs Staatschef François Hollande und der britische
Premier David Cameron bei ei-
nem Treffen. Auch Angriffe auf
Zivilisten und Krankenhäuser
und der Vormarsch auf Aleppo
müssten aufhören. Über die
Waffenruhe in Syrien beraten
am Freitag die Außenminister
Deutschlands, Frankreichs und
Großbritanniens in Paris. Russlands Präsident Putin will außerdem mit Merkel, Hollande
und Cameron telefonieren.
▶ Ausland SEITE 11
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
KAMPF GEGEN AI DS, TUBERKULOSE UN D MALARIA
UN KRAUTVERN ICHTER
EU erhöht Finanzhilfen
Glyphosat bleibt
in EU wohl erlaubt
BRÜSSEL | Die EU-Kommission
Will Asyl begrenzen: Österreichs
Außenminister Kurz Foto: ap
Junger mit
alten Ansichten
Derzeit ist der junge Mann omnipräsent. Sebastian Kurz, 29,
eilt durch die Balkanländer,
fungiert in Wien als Gastgeber
einer Antiflüchtlingskonferenz
und erscheint fast täglich in den
deutschen Medien. Österreichs
Außenminister, der nach seiner Ernennung vor allem ob
seines geringen Alters Schlagzeilen machte, profiliert sich
gerade als Scharfmacher gegen
Asylsuchende. Die Öffnung der
Grenzen im Sommer 2015 und
das „Durchwinken“ der Flüchtlinge nach Mittel­
europa sei
ein „schwerer Fehler“ gewesen,
sagte er der Süddeutschen Zeitung. Dieser Fehler müsse nun
schnellstens korrigiert werden.
Sein Lieblingsfeind ist die griechische Linksregierung, die er
für den Flüchtlingsstrom über
die Westbalkanroute verantwortlich macht.
Jugend schützt nicht vor konservativen Ansichten. Vor allem,
wenn man in der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Karriere machen will. Dass Kurz als
Chef der Jungen ÖVP im Wiener
Wahlkampf 2010 im schwarzen
„Geilomobil“ unterwegs war
und die Stimmen der Erstwähler
durch die Verteilung von Kondomen zu gewinnen versuchte,
hatte ihm eine Zeitlang den Ruf
des „Jungen Wilden“ eingetragen. Als er vor vier Jahren als
Staatssekretär für Inte­
gration
in die Regierung aufstieg, erntete er anfangs Applaus von den
NGOs, die ihm dankbar waren,
dass er das im Innenministerium angesiedelte „Fremdenwesen“ nicht ausschließlich
unter dem Sicherheitsaspekt
betrachtete. Allein, außer der
Forcierung des Spracherwerbs
kamen von ihm kaum Impulse.
Kurz’ hohe Beliebtheitswerte
machten den Wiener Jurastudenten, der sein Studium zugunsten der politischen Karriere unterbrochen hat, bald zur
Zukunftshoffnung und Kanzlerreserve der ÖVP. Dass ihm
vor zwei Jahren das Außenamt
übertragen wurde, zeigt, welches Vertrauen die Partei bereits
in seine Fähigkeiten und Popularität setzte.
Kurz hat seither gezeigt, dass
er nicht nur schnell das diplomatische Vokabular und die entsprechenden Formulierungen
verinnerlichen konnte, sondern
auch das Handwerk der Parteipolitik gelernt hat. In den vergangenen Jahren hat er ganze
Seilschaften aus der Jungen ÖVP
auf wichtige Posten gehievt.
RALF LEONHARD
Der Tag
FREITAG, 4. MÄRZ 2016
wird ihre finanzielle Unterstützung für den weltweiten Kampf
gegen Aids, Tuberkulose und
Malaria um 100 Millionen Euro
erhöhen. Sie werde für den Zeitraum 2017 bis 2019 insgesamt
470 Millionen Euro dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Tuberkulose und Malaria
zur Verfügung stellen, kündigte
EU-Entwicklungskommissarin
Neven Mimca in Brüssel an. Im
Zeitraum 2014 bis 2016 lag die
Unterstützung bei 370 Millionen Euro.
„Eine der Lektionen, die wir
aus der Ebola-Epidemie in West-
afrika gelernt haben, ist, dass
wir unbedingt die Gesundheitssysteme in den Entwicklungsländern stärken müssen, damit
ansteckende Krankheiten unter
Kontrolle gebracht und gehalten
werden können“, erklärte Mimca
am Donnerstag vor einem Treffen mit dem Geschäftsführer
des Globalen Fonds, Mark Dybul. Der Globale Fonds ist in 140
Ländern tätig und hat sich zum
Ziel gesetzt, Aids, Tuberkulose
und Malaria bis 2030 zu besiegen. Für den Zeitraum 2017 bis
2019 will er 13 Milliarden Dollar
(11,9 Milliarden Euro) für seine
Arbeit zusammenbringen. (afp)
BRÜSSEL | Trotz heftiger Pro-
teste von Umweltschützern
werden die EU-Staaten die Verwendung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat Insidern zufolge weiter billigen.
Experten der Mitgliedsländer
dürften der Genehmigung des
Mittels für weitere 15 Jahre Anfang der Woche grünes Licht erteilen, sagten zwei EU-Vertreter
gestern. Grüne und Greenpeace
warfen EU-Kommission und
Mitgliedsstaaten vor, die Interessen der Agrarindustrie mehr
im Blick zu haben als den Schutz
von Bevölkerung und Natur. (rtr)
L AUT ODER LEISE?
HÄFTLI NG I N FRAN KREICH
Etablierte Musiker, frische
Jungbands, Pop-Diskurse sowie
Interviews mit SängerInnen und
Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik
Konzerte
Kritiken
Klänge
www.taz.de
Rechtschreibfehler
verhilft zur Flucht
AVIGNON | Ein Rechtschreibfeh-
ler hat einem Häftling in Frankreich die Flucht ermöglicht. Weil
in einem Gefängnisdokument
ein Nachname falsch geschrieben wurde, erhielt ein wegen eines Raubüberfalls zu zehn Jahren Haft verurteilter 34-Jähriger
irrtümlich einen Freigang – und
nutzte die Gelegenheit zum Untertauchen. Der zwei Wochen
später wieder gefasste Mann
entging am Mittwochabend
aber einer Verurteilung wegen
seiner Flucht: Aus strafrechtlicher Sicht habe er sich nichts zuschulden kommen lassen. (afp)
Völkische Ideologie der NPD gerügt
NPD Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe prüft die Vorstellungen einer rein deutschen „Volksgemeinschaft“
als wesentliches Argument für ein Verbot der Partei. Das Urteil wird für den Sommer erwartet
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Die NPD steht mit ihrer Vorstellung einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft im Widerspruch zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“.
Das zeichnete sich am dritten
Tag des NPD-Verbotsverfahrens am Bundesverfassungsgericht ab.
Der Bundesrat hatte 2013 beantragt, die NPD zu verbieten.
Das wichtigste Argument rich-
tete sich gegen die NPD-Konzeption, dass Volksherrschaft
eine „Volksgemeinschaft“ voraussetze. Die Menschenwürde
sei bei der NPD kein Wert an
sich, sondern verwirkliche sich
vor allem in der Volksgemeinschaft. Wie die NSDAP habe die
NPD einen „rassisch geprägten“
Begriff der Volksgemeinschaft,
so der Rechtsvertreter des Bundesrats, Christoph Möllers. Die
NPD wolle letztlich alle Nichtdeutschen aus Deutschland
vertreiben. Selbst bereits eingebürgerte Migranten hätten kein
sicheres Bleiberecht in Deutschland.
Doch die NPD hatte gemerkt,
dass es den Richtern auf diesen
Punkt ankommt und versuchte
jeweils verfassungsrechtlich
korrekt zu antworten. „Auch
wenn die NPD sich durchgesetzt
hat, können Ausländer im Einzelfall nach Ermessen eingebürgert werden“, erklärte der NPDVorsitzende Frank Franz. Auch
„Natürlich deutsch“: NPD-Wahlkampf im Februar 2015 in Hamburg Foto: Markus Scholz/dpa
„Gedankengut des Dritten Reichs“
RECHTSEXTREME
bert Landau, „allein mir fehlt
der Glaube.“ Präsident Andreas
Voßkuhle sah eine „Spannungslage“ zwischen Programm und
Karlsruher Äußerungen der
NPD. Richter Ulrich Maidowski
verwies auf das NPD-Parteiprogramm, in dem Überfremdung
„mit oder ohne Einbürgerung“
abgelehnt werde.
Vorgehalten wurde der NPD
auch, dass sie Deutsche und
Ausländer in Schulen trennen
wolle. Außerdem sollen Deutsche und Ausländer getrennte
Sozialversicherungssysteme
erhalten.
Das Karlsruher Verfahren
läuft nach Beendigung der
dreitägigen mündlichen Verhandlung auf ein Verbot hinaus. Am ersten Tag war die
NPD mit dem Antrag gescheitert, den Verbotsantrag wegen
Verfahrenshindernissen abzubrechen. Sie konnte weder belegen, dass ihre Verteidigungsstrategie vom Staat ausspioniert
wurde, noch dass die Belege für
ihre Verfassungswidrigkeit von
V-Leuten stammen. Am zweiten
Tag zeigte sich, dass Karlsruhe
als Voraussetzung für ein V
­ erbot
nicht verlangen wird, dass die
NPD eine „konkrete Gefahr“ für
die Demokratie sein muss.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird erst
im Sommer gerechnet. Präsident Voßkuhle räumte der
NPD noch eine sechswöchige
Frist ein, um neue Argumente
vorzubringen. Er reagierte damit auf die Kritik, die NPD
habe sich nicht richtig auf
den P
­ rozess vorbereiten
können.
THEMA
DES
TAGES
bisher vollzogene Einbürgerungen würden nicht rückgängig gemacht, ergänzte der NPDChefideologe Jürgen Gansel.
„Alle deutschen Staatsbürger
haben gleiche Rechte“, betonte
Franz, „und zur Volksgemeinschaft gehören alle deutschen
Staatsbürger“ – also auch die
eingebürgerten, nicht nur die
Abstammungsdeutschen.
Die Richter zeigten sich aber
skeptisch. „Die Botschaft höre
ich wohl“, sagte Richter Her-
„Ein Popanz“, der „Tabubrüche inszeniert“: Ex-NPD-Chef Holger Apfel zieht über seine früheren Parteifreunde her
KARLSRUHE taz | Holger Apfel
ist aufgeregt. Eigentlich will
der verstoßene frühere NPDChef am Donnerstag gar nichts
sagen. Dann aber holt er doch
gegen seine ehemalige Partei
aus. Ein „Schattendasein“ führe
diese. Sie habe sich immer größer gemacht, als sie sei. „Die
NPD ist ein Popanz, nicht ernstzunehmen.“
Apfels Auftritt in der NPDVerbotsverhandlung wurde mit
Spannung erwartet – die Neonazi-Partei tat es mit Sorge. Der
heutige Kneipenwirt auf Mallorca war eine von fünf geladenen Auskunftspersonen von der
NPD. Apfel belastet seine frühere Partei. „Teile der NPD befinden sich in der politischen Ge-
dankenwelt des Dritten Reichs“,
sagt er. Die Partei habe „bewusst Tabubrüche inszeniert“.
Er habe versucht, die NPD in
Richtung der österreichischen
FPÖ zu reformieren. „Es war nai­
ves Wunschdenken.“ Als er sich
vom rechtsterroristischen NSU
distanzierte oder den Holocaust
einräumte, habe es in der Partei
Widerstand gegeben, so Apfel.
Schon zuvor hatten Rechtsextremismusexperten der NPD
verfassungsfeindliche Ziele attestiert. Uneins aber waren sie,
ob es deshalb auch ein Verbot braucht. Der Dresdner Politikprofessor Steffen Kailitz
nannte das propagierte „Rückführungsprogramm“ von Migranten bereits einen „derarti-
gen Grundwiderspruch zum demokratischen System, dass die
NPD verboten gehört“. Sein Berufskollege Eckhard Jesse widersprach: „Die Partei spielt nicht
die geringste Rolle.“
Vertreter der Bundesländer
betonen am Donnerstag dagegen die Gefährlichkeit der NPD.
Der bayerische Innenminister
Joachim Herrmann (CSU) wirft
der Partei in seiner Anhörung
„geistige Brandstiftung“ in der
Asyldebatte vor. „Sie heizt eine
ausländerfeindliche Stimmung
an und stellt das tolerante Zusammenleben aller Menschen
infrage.“ Auch habe die NPD
in der rechtsextremen Szene
weiter die führende Rolle inne.
Sein Amtskollege Lorenz Caf-
fier (CDU) aus MecklenburgVorpommern verweist auf Lübtheen, Anklam oder Jamel – Regionen in seinem Land, in dem
die NPD schon heute „Dominanzansprüche erhebe“ und
diese als „Modellregionen“
preise. „Dort wird die Demokratie nachhaltig beeinträchtigt.“
Die Karlsruher Richter halten den Ministern Verfassungsschutzberichte entgegen: Von
sinkenden Mitgliederzahlen der
NPD ist dort die Rede, von leeren
Kassen und Wahlmisserfolgen.
Caffier kontert: „Wehret den Anfängen.“ Und Sylvia Bretschneider (SPD), Landtagspräsidentin
in Mecklenburg-Vorpommern,
verweist auf das Auftreten der
NPD im Parlament: Mehr als
1.200 Ordnungsrufe kassierte
diese dort seit ihrem Einzug
2006, habe Mitabgeordnete
bedroht.
Sicherheitskontrollen hätten verschärft werden
müssen, weil NPD-Leute einen
Schlagstock und Messer in den
Landtag brachten.
Die NPD verlangt, ihre Gefährlichkeit vor dem Gericht
erst einmal nachzuweisen. Jeder Bürgermeister, der sich von
seiner Partei bedroht fühle, „soll
hier antanzen und das beweisen“, fordert NPD-Anwalt Michael Andrejewski. Seine Partei
hatte dem Gericht zuvor bereits
einen 561-seitigen Schriftsatz
präsentiert, mit dem sie die
Vorwürfe des Bundesrats ausräumen will. KONRAD LITSCHKO
Schwerpunkt
Volker Beck
AUS BERLIN ANNA LEHMANN
„Die Kriminalisierung von DrogenkonsumentInnen muss beendet werden.“ So steht es im
Wahlprogramm der Grünen
zur Bundestagswahl 2013. Aktuell hat die Partei Gelegenheit,
dieser Forderung Nachdruck zu
verleihen. Einer ihrer prominentesten Bundestagsabgeordneten, Volker Beck, hat am Mittwoch alle parlamentarischen
Ämter aufgegeben, nachdem
ihn die Berliner Polizei in der
Nacht zuvor mit 0,6 Gramm einer laut Staatsanwaltschaft „betäubungsmittelsuspekten“ Substanz erwischt hat. Laut Bild-Zeitung handelt es sich um Crystal
Meth. Doch in ihren Reaktionen
ziehen grüne Spitzenpolitiker
nun nicht etwa das Parteiprogramm, sondern das Gesetzbuch aus der Tasche. Was andere grüne Parteifreunde sehr
befremdet.
Der Bundesvorsitzende Cem
Özdemir begrüßte Becks Rückzug. Dieser habe schnell die
Konsequenzen gezogen, sagte
Özdemir dem Sender N24. „Das
ist bei der Schwere der Vorwürfe
auch angemessen.“ Die Grünen
in Rheinland-Pfalz gingen ebenfalls auf Distanz: „Crystal Meth
hat mit liberaler Drogenpolitik
nichts zu tun. Wir lehnen den
Konsum und die Weitergabe
strikt ab. Sollte sich der Verdacht
bestätigen, dass Volker Beck
Crystal Meth besessen und konsumiert haben soll, dann wäre
dies ein menschliches Drama
und ihm müsste die Hilfe und
Therapie angeboten werden,
die er nun benötigt“, teilt der
Landesverband auf taz-Anfrage
mit. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann
warf Beck im ZDF-Morgenmagazin „schweres Fehlverhalten“
vor, von dem er hoffe, „dass das
nicht auf alle übertragen wird.“
Seit wann ist Drogenkon-
sum ansteckend? Aber offenbar geht es dem wahlkämpfenden Kretschmann wie einer
schwangeren Mutter zehn Tage
vor dem Termin: Alle misslichen
äußeren Faktoren könnten zur
Bedrohung werden.
Kretschmann kämpft um
sein Amt. Die Grünen in Baden-Württemberg liegen laut
einer aktuellen ARD-Umfrage
4 Prozentpunkte vor der CDU.
Der Vorsitzende der badenwürttembergischen Grünen,
Oliver Hildenbrand, sagte der
taz, es gebe keine Verbindung
des Falls Beck zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg,
Sachsen-Anhalt und RheinlandPfalz. „Wenn es sich bewahrheitet, dann handelt es sich um das
individuelle Fehlverhalten eines
Bundestagsabgeordneten.“ Dahinter stecke auch eine menschliche Dimension. „Die Wähler
und auch die politischen Mitbewerber wissen, dass das wahlkampfmäßige Ausschlachten
nicht angemessen wäre.“
Persönliches Schicksal
Auch die Spitzenkandidatin der
Grünen in Sachsen-Anhalt, Claudia Dalbert, sieht sich in ihrem
Anlauf die Fünfprozenthürde
in den Magdeburger Landtag
zu nehmen, unbehindert: „Ich
gehe nicht davon aus, dass der
Fall den Wahlkampf beeinflussen wird“, sagte sie der taz. Wenn
es sich um Crystal Meth handeln sollte, dann wäre dies vor
allem ein tragisches persönliches Schicksal.
Moralisch stellt sich auch der
baden-württembergische Grünen-Chef Hildenbrand an die
Seite Volker Becks: „Gerade auch
im Lichte seiner politischen Verdienste hat Volker Beck einen
fairen und respektvollen Umgang verdient.“ Politisch hält er
jedoch Kretschmann die Treue:
„Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten sollten, dann wäre
FREITAG, 4. MÄRZ 2016
03
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Der Grünen-Politiker wurde mit Drogen erwischt. Wahlkämpfer
seiner Partei distanzieren sich, die Konkurrenz hält sich zurück
das ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und ein
rechtliches Fehlverhalten. Da
habe ich keinen Dissens zu Winfried Kretschmann.“
Die politische Konkurrenz
kann sich zurücklehnen und
der Geißelung Becks durch die
Grünen zuschauen. „Man muss
zwischen politischem Schlagabtausch und Persönlichem
unterscheiden. Danach kann
man Volker Beck privat nur alles Gute wünschen“, meint der
Bundesvorsitzende der Jungen
Union Paul Ziemiak gegenüber
der taz. „Wer Parteifreunde wie
#Kretschmann hat, braucht eigentlich keine Feinde und keine
#CDU und Co mehr“, zwitschert
der Bundestagsabgeordnete der
Linken Niema Movassat.
Andere Grüne haben daher
kein Verständnis für die scharfen Töne der grünen Realos Özdemir und Kretschmann gegenüber dem streitbaren Linken Beck. Die Reaktionen seien
überhaupt nicht angemessen
und strategisch unklug. Damit schließe man sich der Lawand-Order-Politik der Konservativen an, heißt es in Parteikreisen. „Winfried und Cem hätten
sich auch sanfter distanzieren
können“, meint ein anderer
Bundestagsabgeordneter. Persönlich vorgetragene Kritik am
grünen Spitzenkandidatin verbietet sich natürlich kurz vor
den Landtagswahlen.
Die Grüne Jugend stellte sich
demonstrativ hinter Volker
Beck: „Dass sich durch die gesellschaftliche Ächtung von illegalisierten Substanzen einer der
besten Bundespolitiker dazu gezwungen sieht, seine Ämter niederzulegen, zeigt, wie wichtig
der Kampf für eine liberale Drogenpolitik und für die Entkriminalisierung von Drogenkonsum
ist“, geht Bundessprecherin Jamila Schäfer in die Offensive.
Mitarbeit: Hannah Weiner
Die Angst der
Grünen vor
der Ansteckung
REAKTIONEN Insbesondere
grüne Realos distanzieren
sich scharf von Volker
Beck. Sie treibt die Sorge
um die Chancen bei
den anstehenden
Landtagswahlen.
Andere haben kein
Verständnis für die
schrillen Töne:
Damit schließe
man sich der Lawand-Order-Politik
der Union an
Crystal Meth hat mit
liberaler Drogenpolitik nichts zu tun
LANDESVERBAND DER GRÜNEN
RHEINLAND-PFALZ
Höher, schneller, weiter
Crystal Meth ist weder die schlimmste Droge der Welt noch so
harmlos wie Schokolade – aber ungeheuer beliebt
TREIBSTOFF
BERLIN taz | Jede Droge hat ihr
eigenes Image – und das von
Crystal Meth ist besonders
schillernd. Für die einen, also
die Bild-Zeitung ist es die „Hitler-Droge“, weil die Substanz Methamphetamin zu Beginn des
Zweiten Weltkrieges an Soldaten verteilt wurde, als handele
es sich dabei um Bonbons. „Panzer-Schokolade“ und „Stuka-Tabletten“ nannte man das Produkt, das unter der Bezeichnung
„Pervitin“ zunächst frei erhältlich war und erst in den 1940er
Jahren rezeptpflichtig wurde.
Aus den Apotheken verschwand
das mit Speed vergleichbare,
aufputschende und das Selbstbewusstsein stärkende Mittel
erst 1988.
Für andere ist die illegale
Droge das Symbol für eine der
besten amerikanischen ActionSerien ever – „Breaking Bad“.
Um seine Familie ernähren zu
können, stellt der an Krebs erkrankte Chemielehrer Walter
White Crystal Meth her; die Herstellungszutaten bekommt er in
der Apotheke – Ephedrine, die in
Husten- und Schnupfenmitteln
enthalten sind, werden mit Jodwasserstoff reduziert. Banaler
ist nur die Produktion des auch
als K.-o.-Droge bekanntem GHB,
Liquid Ecstasy, das man aus Felgenreiniger herstellen kann.
Ähnlich dem GHB wirkt Crystal Meth allerdings auch sexuell ausgesprochen stimulierend
(weit über den aphrodiasierenden Effekt von Cannabis hinaus),
weshalb die Droge insbesondere
in den urbanen schwulen Szenen von London bis Berlin beliebt ist. „Tina“ wird Crystal dort
genannt und gerne injiziert,
insbesondere im Rahmen von
privat und digital organisierten Sex-Orgien, die manchmal
mehrere Tage dauern. Berüchtigt ist Crystal Meth in schwulen Zusammenhängen vor allem, weil sich viele Männer unter dem Einfluss der Droge mit
HIV oder Hepatitis C infizieren
– die künstlich verstärkte Hypergeilheit überlagert allzu häufig
das Bewusstsein für Safer Sex.
Alles ist einfach schön
Ein Gramm Crystal Meth kostet, kauft man es bei einem
Dealer in Berlin, zwischen 100
und 150 Euro. Konsumiert man
diese Menge im Rahmen einer
Orgie, reicht das nach Auskunft
eines Konsumenten, der seinen
Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, für höchstens eine
Nacht. „In Berlin konsumieren
das unglaublich viele Leute.
Wenn man das nimmt, ist einfach alles schön. Man kann seine
Arbeit schneller machen, man
hat mehr Ideen. Und man verliert das Zeitgefühl“, berichtet er.
Wenn man als Konsument so
aussehen möchte wie auf den
berüchtigten „Meth-Head“-Bildern, die aus Präventionsgründen verbreitet werden, muss
man die Droge allerdings in
großen Mengen und über einen längeren Zeitraum nehmen. Und so wie es Menschen
gibt, die diese Substanz relativ
gut vertragen und nicht sofort
abhängig werden, gibt es andere, die schon nach dem ersten
Konsum in die Falle gehen: Der
Absturz beim Runterkommen
von Meth ist gehörig, „dunkler
als ein dunkles Loch“, das Verlangen nach erneuter Aufhellung entsprechend groß. Ein
Kreislauf setzt sich in Gang,
an dessen Ende nicht nur
die Zähne, sondern auch
die Seele ruiniert sind.
So schillernd das
Image von Crystal
Meth ist, so verschieden
sind
auch die Anwendungsmethoden. Junge
Mütter nehmen Crystal
Meth, um nach
der Schwangerschaft schneller abnehmen zu können.
Abgang: Volker Beck hat all seine Ämter abgegeben, will sein Bundestagsmandat aber behalten
Foto: picture alliance
Berufstätige schnupfen es, um
länger und effizienter arbeiten
zu können – praktisch sowohl
für hochbezahlte „Leistungsträger“ als auch für Prekäre mit
drei Jobs. Höher, schneller, weiter. Andere nehmen es am Wochenende, um zwei Tage hintereinander Fun im Club zu haben.
Oder ewig dauernden, tierisch
geilen Sex – an dessen Ende
allerdings biochemisch bedingt meist kein kosmischer
Orgasmus wartet, sondern
bloß wundgescheuerte Geschlechtsorgane.
Sex,
Crime,
Tod
einerseits, die Banali­
tät einer Funktionsdroge anderseits – all
das verbindet sich mit
dem Begriff ­
Crystal
Meth. Und doch ist
die Beliebtheit der Substanz
gar nicht so verwunderlich,
verspricht sie doch die Erfüllung all dessen, was gesellschaftlich als erstrebenswert
gilt. Leistungsfähigkeit und
erfolgreich sollen wir sein
– und zugleich unglaublich viel Spaß haben.
Erst dann gilt ein
Leben
als
gelungen.
MARTIN
REICHERT