Anderson .Paak: Leichtfüßig Der aufregendste Newcomer der US-Musikszene ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 10960 | 9. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ FREITAG, 4. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Die neue Anti-Drogen-Partei GRÜNE Strenger als die CDU: Während die Union zum Fall Beck weitgehend schweigt, gehen grüne Politiker eifrig auf Distanz zu ihrem Parteifreund, der wohl mit Crystal Meth erwischt wurde ▶ SEITE 3, 14 CHINA Vor dem Volks- kongress: Wie die Partei mal wieder versucht, Kapital und Kommunismus zu verbinden ▶ SEITE 4 „Es ist immer bedauerlich, wenn jemand Drogen zu sich nimmt“ GRÜNEN-FRAKTIONSCHEF ANTON HOFREITER IN DEN „TAGESTHEMEN“ „Schnell die Konsequenzen gezogen, das ist bei der Schwere der Vorwürfe auch angemessen“ GRÜNEN-PARTEICHEF CEM ÖZDEMIR BEI N24 „Individuelles Fehlverhalten eines Bundestagsabgeordneten“ FLUCHT Das Trauma reist mit: geflüchtete Frauen und sexuelle Gewalt ▶ SEITE 5 OLIVER HILDENBRAND, GRÜNEN-LANDESCHEF IN BADEN-WÜRTTEMBERG „Crystal Meth ist eine harte und gefährliche Droge und sie ist verboten. Das hat mit liberaler Drogenpolitik nichts zu tun“ „Es ist ja schon ein schweres Fehlverhalten“ BADEN-WÜRTTEMBERGS MINISTERPRÄSIDENT WINFRIED KRETSCHMANN IM ZDF GRÜNEN-FRAKTIONSCHEFIN KATRIN GÖRING-ECKARDT IN DER BILD-ZEITUNG BERLIN Wenige Zu- schauer trotz großer Erfolge: Warum Hipster nicht zu Hertha gehen ▶ SEITE 23 Fotos: dpa, Archiv (oben) VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Margot Käßmann, ehemals Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat sich erschüttert über die Vorwürfe gegen Volker Beck, ehemals nichtraucherpolitischer Sprecher der Grünen, gezeigt: „Ich verstehe das alles gar nicht“, sagte sie der Nachrichtenagentur verboten. „Okay, Crystal Meth ist kein Schokoladenpudding. Und ich kenne das alles ja aus eigener leidvoller Erfahrung. Aber bei mir waren es auch 1,54 Gramm. Mit 0,6 kann man doch noch prima Auto fahren. Erst recht in Köln. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.674 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Wahrscheinlich sind Abgeordnete so, wie das politische Geschäft organisiert ist, als Moralhelden sogar besonders wenig brauchbar. Wie Schauspieler oder Börsenmakler stehen sie unter enormem Druck. Das fördert in der Regel eher unerfreuliche als angenehme Eigenschaften. Wer auf dieser Bühne dauerhaft mitspie- len will, braucht Ellenbogen, Narzissmus, gute Nerven. Und: Politik macht anfällig für Sucht, vor allem nach öffentlicher Aufmerksamkeit. Andererseits haben Parlamentarier eine besondere Pflicht zur Gesetzestreue. Denn sie selbst machen die Gesetze. Daher sollten sie sich auch bitte daran halten. Dass sich der Grüne Volker Beck in seiner dürren Erklärung rühmt, stets eine liberale Drogenpolitik vertreten zu haben, ist keine kluge Taktik – jedenfalls, wenn es wirklich um Crystal Meth geht. Er setzt eher auf rabiate Vorwärtsverteidigung als auf Gesten der Zerknirschung. Aber für Urteile ist es zu früh. Wir wissen nicht, ob Beck gelegentlich harte Drogen nimmt oder ob er abhängig ist. Wir wissen nicht, ob er regelmäßig ein kriminelles Milieu finanziert hat oder nur mal etwas ausprobieren wollte. Bei Drogenmissbrauch kommt es aber genau darauf an. Manche Grüne sind ziemlich schnell auf Distanz zu Beck gegangen. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident im Parlamentarier machen die Gesetze. Daher sollten sie sich auch daran halten Wahlkampf, sieht ein „schweres Fehlverhalten“ – das, wie er betont, keineswegs typisch für die Grünen sei. Offenbar hat Kretschmann das Desaster des letzten Bundestagswahlkampfs vor A ugen, als die Partei lange keine brauchbare Haltung zu den Pädophilie-Vorwürfen fand. Also lieber sofort auf Distanz gehen – und ja die Assoziationskette Pädosex–Drogen–Grüne–Berlin vermeiden, die in Schwarzwalddörfern womöglich für Verstörung sorgen könnte. Diese Vorsicht wirkt wenig souverän. Sie unterschätzt die Fähigkeit der Gesellschaft zu Differenzierung und Selbstaufklärung. Und sie hat angesichts der vagen Faktenlage etwas Übereiltes. Apfel: NPD nicht ernst nehmen Sorge um Waffenruhe VERBOTSVERFAHREN Ex-Chef bezeichnet rechtsextreme Partei als „Popanz“ KARLSRUHE dpa | Die NPD ist nach Darstellung ihres früheren Bundesvorsitzenden Holger Apfel ein „Popanz, der nicht ernst zu nehmen ist“. Ihre Schlagkraft sei in der Öffentlichkeit immer überschätzt worden, sagte Apfel am Donnerstag in der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Verbot. Die Partei inszeniere bewusst Tabubrüche, um eine größtmög- liche Aufmerksamkeit zu erzielen. Teile der Partei befänden sich allerdings immer noch in der Gedankenwelt des Nationalsozialismus. Aus Sicht von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) kommt es vor allem darauf an, die Bedrohungslage in den neuen Bundesländern deutlich zu machen. „Wenn dies gelingt, dann, denke ich, werden wir auch in Karlsruhe eine positive Entscheidung bekommen“, sagte Mäurer. Darunter verstehe er ein Verbot der NPD. Über den bisherigen Verlauf der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe sei er erleichtert. Die große Sorge sei gewesen, ob wirklich alle V-Leute aus den Gremien der NPD abgezogen worden seien. ▶ Der Tag SEITE 2 SYRIEN Mahnungen an Moskau und Damaskus AMIENS afp/dpa | Frankreich und Großbritannien haben Russland aufgerufen, Angriffe gegen gemäßigte Rebellen in Syrien zu stoppen. Alle Konfliktparteien „einschließlich Russlands und des syrischen Regimes“ müssten solche Attacken „sofort einstellen“, erklärten Frankreichs Staatschef François Hollande und der britische Premier David Cameron bei ei- nem Treffen. Auch Angriffe auf Zivilisten und Krankenhäuser und der Vormarsch auf Aleppo müssten aufhören. Über die Waffenruhe in Syrien beraten am Freitag die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens in Paris. Russlands Präsident Putin will außerdem mit Merkel, Hollande und Cameron telefonieren. ▶ Ausland SEITE 11 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN KAMPF GEGEN AI DS, TUBERKULOSE UN D MALARIA UN KRAUTVERN ICHTER EU erhöht Finanzhilfen Glyphosat bleibt in EU wohl erlaubt BRÜSSEL | Die EU-Kommission Will Asyl begrenzen: Österreichs Außenminister Kurz Foto: ap Junger mit alten Ansichten Derzeit ist der junge Mann omnipräsent. Sebastian Kurz, 29, eilt durch die Balkanländer, fungiert in Wien als Gastgeber einer Antiflüchtlingskonferenz und erscheint fast täglich in den deutschen Medien. Österreichs Außenminister, der nach seiner Ernennung vor allem ob seines geringen Alters Schlagzeilen machte, profiliert sich gerade als Scharfmacher gegen Asylsuchende. Die Öffnung der Grenzen im Sommer 2015 und das „Durchwinken“ der Flüchtlinge nach Mittel europa sei ein „schwerer Fehler“ gewesen, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Dieser Fehler müsse nun schnellstens korrigiert werden. Sein Lieblingsfeind ist die griechische Linksregierung, die er für den Flüchtlingsstrom über die Westbalkanroute verantwortlich macht. Jugend schützt nicht vor konservativen Ansichten. Vor allem, wenn man in der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Karriere machen will. Dass Kurz als Chef der Jungen ÖVP im Wiener Wahlkampf 2010 im schwarzen „Geilomobil“ unterwegs war und die Stimmen der Erstwähler durch die Verteilung von Kondomen zu gewinnen versuchte, hatte ihm eine Zeitlang den Ruf des „Jungen Wilden“ eingetragen. Als er vor vier Jahren als Staatssekretär für Inte gration in die Regierung aufstieg, erntete er anfangs Applaus von den NGOs, die ihm dankbar waren, dass er das im Innenministerium angesiedelte „Fremdenwesen“ nicht ausschließlich unter dem Sicherheitsaspekt betrachtete. Allein, außer der Forcierung des Spracherwerbs kamen von ihm kaum Impulse. Kurz’ hohe Beliebtheitswerte machten den Wiener Jurastudenten, der sein Studium zugunsten der politischen Karriere unterbrochen hat, bald zur Zukunftshoffnung und Kanzlerreserve der ÖVP. Dass ihm vor zwei Jahren das Außenamt übertragen wurde, zeigt, welches Vertrauen die Partei bereits in seine Fähigkeiten und Popularität setzte. Kurz hat seither gezeigt, dass er nicht nur schnell das diplomatische Vokabular und die entsprechenden Formulierungen verinnerlichen konnte, sondern auch das Handwerk der Parteipolitik gelernt hat. In den vergangenen Jahren hat er ganze Seilschaften aus der Jungen ÖVP auf wichtige Posten gehievt. RALF LEONHARD Der Tag FREITAG, 4. MÄRZ 2016 wird ihre finanzielle Unterstützung für den weltweiten Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria um 100 Millionen Euro erhöhen. Sie werde für den Zeitraum 2017 bis 2019 insgesamt 470 Millionen Euro dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria zur Verfügung stellen, kündigte EU-Entwicklungskommissarin Neven Mimca in Brüssel an. Im Zeitraum 2014 bis 2016 lag die Unterstützung bei 370 Millionen Euro. „Eine der Lektionen, die wir aus der Ebola-Epidemie in West- afrika gelernt haben, ist, dass wir unbedingt die Gesundheitssysteme in den Entwicklungsländern stärken müssen, damit ansteckende Krankheiten unter Kontrolle gebracht und gehalten werden können“, erklärte Mimca am Donnerstag vor einem Treffen mit dem Geschäftsführer des Globalen Fonds, Mark Dybul. Der Globale Fonds ist in 140 Ländern tätig und hat sich zum Ziel gesetzt, Aids, Tuberkulose und Malaria bis 2030 zu besiegen. Für den Zeitraum 2017 bis 2019 will er 13 Milliarden Dollar (11,9 Milliarden Euro) für seine Arbeit zusammenbringen. (afp) BRÜSSEL | Trotz heftiger Pro- teste von Umweltschützern werden die EU-Staaten die Verwendung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat Insidern zufolge weiter billigen. Experten der Mitgliedsländer dürften der Genehmigung des Mittels für weitere 15 Jahre Anfang der Woche grünes Licht erteilen, sagten zwei EU-Vertreter gestern. Grüne und Greenpeace warfen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten vor, die Interessen der Agrarindustrie mehr im Blick zu haben als den Schutz von Bevölkerung und Natur. (rtr) L AUT ODER LEISE? HÄFTLI NG I N FRAN KREICH Etablierte Musiker, frische Jungbands, Pop-Diskurse sowie Interviews mit SängerInnen und Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik Konzerte Kritiken Klänge www.taz.de Rechtschreibfehler verhilft zur Flucht AVIGNON | Ein Rechtschreibfeh- ler hat einem Häftling in Frankreich die Flucht ermöglicht. Weil in einem Gefängnisdokument ein Nachname falsch geschrieben wurde, erhielt ein wegen eines Raubüberfalls zu zehn Jahren Haft verurteilter 34-Jähriger irrtümlich einen Freigang – und nutzte die Gelegenheit zum Untertauchen. Der zwei Wochen später wieder gefasste Mann entging am Mittwochabend aber einer Verurteilung wegen seiner Flucht: Aus strafrechtlicher Sicht habe er sich nichts zuschulden kommen lassen. (afp) Völkische Ideologie der NPD gerügt NPD Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe prüft die Vorstellungen einer rein deutschen „Volksgemeinschaft“ als wesentliches Argument für ein Verbot der Partei. Das Urteil wird für den Sommer erwartet AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH Die NPD steht mit ihrer Vorstellung einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft im Widerspruch zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“. Das zeichnete sich am dritten Tag des NPD-Verbotsverfahrens am Bundesverfassungsgericht ab. Der Bundesrat hatte 2013 beantragt, die NPD zu verbieten. Das wichtigste Argument rich- tete sich gegen die NPD-Konzeption, dass Volksherrschaft eine „Volksgemeinschaft“ voraussetze. Die Menschenwürde sei bei der NPD kein Wert an sich, sondern verwirkliche sich vor allem in der Volksgemeinschaft. Wie die NSDAP habe die NPD einen „rassisch geprägten“ Begriff der Volksgemeinschaft, so der Rechtsvertreter des Bundesrats, Christoph Möllers. Die NPD wolle letztlich alle Nichtdeutschen aus Deutschland vertreiben. Selbst bereits eingebürgerte Migranten hätten kein sicheres Bleiberecht in Deutschland. Doch die NPD hatte gemerkt, dass es den Richtern auf diesen Punkt ankommt und versuchte jeweils verfassungsrechtlich korrekt zu antworten. „Auch wenn die NPD sich durchgesetzt hat, können Ausländer im Einzelfall nach Ermessen eingebürgert werden“, erklärte der NPDVorsitzende Frank Franz. Auch „Natürlich deutsch“: NPD-Wahlkampf im Februar 2015 in Hamburg Foto: Markus Scholz/dpa „Gedankengut des Dritten Reichs“ RECHTSEXTREME bert Landau, „allein mir fehlt der Glaube.“ Präsident Andreas Voßkuhle sah eine „Spannungslage“ zwischen Programm und Karlsruher Äußerungen der NPD. Richter Ulrich Maidowski verwies auf das NPD-Parteiprogramm, in dem Überfremdung „mit oder ohne Einbürgerung“ abgelehnt werde. Vorgehalten wurde der NPD auch, dass sie Deutsche und Ausländer in Schulen trennen wolle. Außerdem sollen Deutsche und Ausländer getrennte Sozialversicherungssysteme erhalten. Das Karlsruher Verfahren läuft nach Beendigung der dreitägigen mündlichen Verhandlung auf ein Verbot hinaus. Am ersten Tag war die NPD mit dem Antrag gescheitert, den Verbotsantrag wegen Verfahrenshindernissen abzubrechen. Sie konnte weder belegen, dass ihre Verteidigungsstrategie vom Staat ausspioniert wurde, noch dass die Belege für ihre Verfassungswidrigkeit von V-Leuten stammen. Am zweiten Tag zeigte sich, dass Karlsruhe als Voraussetzung für ein V erbot nicht verlangen wird, dass die NPD eine „konkrete Gefahr“ für die Demokratie sein muss. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird erst im Sommer gerechnet. Präsident Voßkuhle räumte der NPD noch eine sechswöchige Frist ein, um neue Argumente vorzubringen. Er reagierte damit auf die Kritik, die NPD habe sich nicht richtig auf den P rozess vorbereiten können. THEMA DES TAGES bisher vollzogene Einbürgerungen würden nicht rückgängig gemacht, ergänzte der NPDChefideologe Jürgen Gansel. „Alle deutschen Staatsbürger haben gleiche Rechte“, betonte Franz, „und zur Volksgemeinschaft gehören alle deutschen Staatsbürger“ – also auch die eingebürgerten, nicht nur die Abstammungsdeutschen. Die Richter zeigten sich aber skeptisch. „Die Botschaft höre ich wohl“, sagte Richter Her- „Ein Popanz“, der „Tabubrüche inszeniert“: Ex-NPD-Chef Holger Apfel zieht über seine früheren Parteifreunde her KARLSRUHE taz | Holger Apfel ist aufgeregt. Eigentlich will der verstoßene frühere NPDChef am Donnerstag gar nichts sagen. Dann aber holt er doch gegen seine ehemalige Partei aus. Ein „Schattendasein“ führe diese. Sie habe sich immer größer gemacht, als sie sei. „Die NPD ist ein Popanz, nicht ernstzunehmen.“ Apfels Auftritt in der NPDVerbotsverhandlung wurde mit Spannung erwartet – die Neonazi-Partei tat es mit Sorge. Der heutige Kneipenwirt auf Mallorca war eine von fünf geladenen Auskunftspersonen von der NPD. Apfel belastet seine frühere Partei. „Teile der NPD befinden sich in der politischen Ge- dankenwelt des Dritten Reichs“, sagt er. Die Partei habe „bewusst Tabubrüche inszeniert“. Er habe versucht, die NPD in Richtung der österreichischen FPÖ zu reformieren. „Es war nai ves Wunschdenken.“ Als er sich vom rechtsterroristischen NSU distanzierte oder den Holocaust einräumte, habe es in der Partei Widerstand gegeben, so Apfel. Schon zuvor hatten Rechtsextremismusexperten der NPD verfassungsfeindliche Ziele attestiert. Uneins aber waren sie, ob es deshalb auch ein Verbot braucht. Der Dresdner Politikprofessor Steffen Kailitz nannte das propagierte „Rückführungsprogramm“ von Migranten bereits einen „derarti- gen Grundwiderspruch zum demokratischen System, dass die NPD verboten gehört“. Sein Berufskollege Eckhard Jesse widersprach: „Die Partei spielt nicht die geringste Rolle.“ Vertreter der Bundesländer betonen am Donnerstag dagegen die Gefährlichkeit der NPD. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wirft der Partei in seiner Anhörung „geistige Brandstiftung“ in der Asyldebatte vor. „Sie heizt eine ausländerfeindliche Stimmung an und stellt das tolerante Zusammenleben aller Menschen infrage.“ Auch habe die NPD in der rechtsextremen Szene weiter die führende Rolle inne. Sein Amtskollege Lorenz Caf- fier (CDU) aus MecklenburgVorpommern verweist auf Lübtheen, Anklam oder Jamel – Regionen in seinem Land, in dem die NPD schon heute „Dominanzansprüche erhebe“ und diese als „Modellregionen“ preise. „Dort wird die Demokratie nachhaltig beeinträchtigt.“ Die Karlsruher Richter halten den Ministern Verfassungsschutzberichte entgegen: Von sinkenden Mitgliederzahlen der NPD ist dort die Rede, von leeren Kassen und Wahlmisserfolgen. Caffier kontert: „Wehret den Anfängen.“ Und Sylvia Bretschneider (SPD), Landtagspräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, verweist auf das Auftreten der NPD im Parlament: Mehr als 1.200 Ordnungsrufe kassierte diese dort seit ihrem Einzug 2006, habe Mitabgeordnete bedroht. Sicherheitskontrollen hätten verschärft werden müssen, weil NPD-Leute einen Schlagstock und Messer in den Landtag brachten. Die NPD verlangt, ihre Gefährlichkeit vor dem Gericht erst einmal nachzuweisen. Jeder Bürgermeister, der sich von seiner Partei bedroht fühle, „soll hier antanzen und das beweisen“, fordert NPD-Anwalt Michael Andrejewski. Seine Partei hatte dem Gericht zuvor bereits einen 561-seitigen Schriftsatz präsentiert, mit dem sie die Vorwürfe des Bundesrats ausräumen will. KONRAD LITSCHKO Schwerpunkt Volker Beck AUS BERLIN ANNA LEHMANN „Die Kriminalisierung von DrogenkonsumentInnen muss beendet werden.“ So steht es im Wahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 2013. Aktuell hat die Partei Gelegenheit, dieser Forderung Nachdruck zu verleihen. Einer ihrer prominentesten Bundestagsabgeordneten, Volker Beck, hat am Mittwoch alle parlamentarischen Ämter aufgegeben, nachdem ihn die Berliner Polizei in der Nacht zuvor mit 0,6 Gramm einer laut Staatsanwaltschaft „betäubungsmittelsuspekten“ Substanz erwischt hat. Laut Bild-Zeitung handelt es sich um Crystal Meth. Doch in ihren Reaktionen ziehen grüne Spitzenpolitiker nun nicht etwa das Parteiprogramm, sondern das Gesetzbuch aus der Tasche. Was andere grüne Parteifreunde sehr befremdet. Der Bundesvorsitzende Cem Özdemir begrüßte Becks Rückzug. Dieser habe schnell die Konsequenzen gezogen, sagte Özdemir dem Sender N24. „Das ist bei der Schwere der Vorwürfe auch angemessen.“ Die Grünen in Rheinland-Pfalz gingen ebenfalls auf Distanz: „Crystal Meth hat mit liberaler Drogenpolitik nichts zu tun. Wir lehnen den Konsum und die Weitergabe strikt ab. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass Volker Beck Crystal Meth besessen und konsumiert haben soll, dann wäre dies ein menschliches Drama und ihm müsste die Hilfe und Therapie angeboten werden, die er nun benötigt“, teilt der Landesverband auf taz-Anfrage mit. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann warf Beck im ZDF-Morgenmagazin „schweres Fehlverhalten“ vor, von dem er hoffe, „dass das nicht auf alle übertragen wird.“ Seit wann ist Drogenkon- sum ansteckend? Aber offenbar geht es dem wahlkämpfenden Kretschmann wie einer schwangeren Mutter zehn Tage vor dem Termin: Alle misslichen äußeren Faktoren könnten zur Bedrohung werden. Kretschmann kämpft um sein Amt. Die Grünen in Baden-Württemberg liegen laut einer aktuellen ARD-Umfrage 4 Prozentpunkte vor der CDU. Der Vorsitzende der badenwürttembergischen Grünen, Oliver Hildenbrand, sagte der taz, es gebe keine Verbindung des Falls Beck zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und RheinlandPfalz. „Wenn es sich bewahrheitet, dann handelt es sich um das individuelle Fehlverhalten eines Bundestagsabgeordneten.“ Dahinter stecke auch eine menschliche Dimension. „Die Wähler und auch die politischen Mitbewerber wissen, dass das wahlkampfmäßige Ausschlachten nicht angemessen wäre.“ Persönliches Schicksal Auch die Spitzenkandidatin der Grünen in Sachsen-Anhalt, Claudia Dalbert, sieht sich in ihrem Anlauf die Fünfprozenthürde in den Magdeburger Landtag zu nehmen, unbehindert: „Ich gehe nicht davon aus, dass der Fall den Wahlkampf beeinflussen wird“, sagte sie der taz. Wenn es sich um Crystal Meth handeln sollte, dann wäre dies vor allem ein tragisches persönliches Schicksal. Moralisch stellt sich auch der baden-württembergische Grünen-Chef Hildenbrand an die Seite Volker Becks: „Gerade auch im Lichte seiner politischen Verdienste hat Volker Beck einen fairen und respektvollen Umgang verdient.“ Politisch hält er jedoch Kretschmann die Treue: „Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten sollten, dann wäre FREITAG, 4. MÄRZ 2016 03 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Der Grünen-Politiker wurde mit Drogen erwischt. Wahlkämpfer seiner Partei distanzieren sich, die Konkurrenz hält sich zurück das ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und ein rechtliches Fehlverhalten. Da habe ich keinen Dissens zu Winfried Kretschmann.“ Die politische Konkurrenz kann sich zurücklehnen und der Geißelung Becks durch die Grünen zuschauen. „Man muss zwischen politischem Schlagabtausch und Persönlichem unterscheiden. Danach kann man Volker Beck privat nur alles Gute wünschen“, meint der Bundesvorsitzende der Jungen Union Paul Ziemiak gegenüber der taz. „Wer Parteifreunde wie #Kretschmann hat, braucht eigentlich keine Feinde und keine #CDU und Co mehr“, zwitschert der Bundestagsabgeordnete der Linken Niema Movassat. Andere Grüne haben daher kein Verständnis für die scharfen Töne der grünen Realos Özdemir und Kretschmann gegenüber dem streitbaren Linken Beck. Die Reaktionen seien überhaupt nicht angemessen und strategisch unklug. Damit schließe man sich der Lawand-Order-Politik der Konservativen an, heißt es in Parteikreisen. „Winfried und Cem hätten sich auch sanfter distanzieren können“, meint ein anderer Bundestagsabgeordneter. Persönlich vorgetragene Kritik am grünen Spitzenkandidatin verbietet sich natürlich kurz vor den Landtagswahlen. Die Grüne Jugend stellte sich demonstrativ hinter Volker Beck: „Dass sich durch die gesellschaftliche Ächtung von illegalisierten Substanzen einer der besten Bundespolitiker dazu gezwungen sieht, seine Ämter niederzulegen, zeigt, wie wichtig der Kampf für eine liberale Drogenpolitik und für die Entkriminalisierung von Drogenkonsum ist“, geht Bundessprecherin Jamila Schäfer in die Offensive. Mitarbeit: Hannah Weiner Die Angst der Grünen vor der Ansteckung REAKTIONEN Insbesondere grüne Realos distanzieren sich scharf von Volker Beck. Sie treibt die Sorge um die Chancen bei den anstehenden Landtagswahlen. Andere haben kein Verständnis für die schrillen Töne: Damit schließe man sich der Lawand-Order-Politik der Union an Crystal Meth hat mit liberaler Drogenpolitik nichts zu tun LANDESVERBAND DER GRÜNEN RHEINLAND-PFALZ Höher, schneller, weiter Crystal Meth ist weder die schlimmste Droge der Welt noch so harmlos wie Schokolade – aber ungeheuer beliebt TREIBSTOFF BERLIN taz | Jede Droge hat ihr eigenes Image – und das von Crystal Meth ist besonders schillernd. Für die einen, also die Bild-Zeitung ist es die „Hitler-Droge“, weil die Substanz Methamphetamin zu Beginn des Zweiten Weltkrieges an Soldaten verteilt wurde, als handele es sich dabei um Bonbons. „Panzer-Schokolade“ und „Stuka-Tabletten“ nannte man das Produkt, das unter der Bezeichnung „Pervitin“ zunächst frei erhältlich war und erst in den 1940er Jahren rezeptpflichtig wurde. Aus den Apotheken verschwand das mit Speed vergleichbare, aufputschende und das Selbstbewusstsein stärkende Mittel erst 1988. Für andere ist die illegale Droge das Symbol für eine der besten amerikanischen ActionSerien ever – „Breaking Bad“. Um seine Familie ernähren zu können, stellt der an Krebs erkrankte Chemielehrer Walter White Crystal Meth her; die Herstellungszutaten bekommt er in der Apotheke – Ephedrine, die in Husten- und Schnupfenmitteln enthalten sind, werden mit Jodwasserstoff reduziert. Banaler ist nur die Produktion des auch als K.-o.-Droge bekanntem GHB, Liquid Ecstasy, das man aus Felgenreiniger herstellen kann. Ähnlich dem GHB wirkt Crystal Meth allerdings auch sexuell ausgesprochen stimulierend (weit über den aphrodiasierenden Effekt von Cannabis hinaus), weshalb die Droge insbesondere in den urbanen schwulen Szenen von London bis Berlin beliebt ist. „Tina“ wird Crystal dort genannt und gerne injiziert, insbesondere im Rahmen von privat und digital organisierten Sex-Orgien, die manchmal mehrere Tage dauern. Berüchtigt ist Crystal Meth in schwulen Zusammenhängen vor allem, weil sich viele Männer unter dem Einfluss der Droge mit HIV oder Hepatitis C infizieren – die künstlich verstärkte Hypergeilheit überlagert allzu häufig das Bewusstsein für Safer Sex. Alles ist einfach schön Ein Gramm Crystal Meth kostet, kauft man es bei einem Dealer in Berlin, zwischen 100 und 150 Euro. Konsumiert man diese Menge im Rahmen einer Orgie, reicht das nach Auskunft eines Konsumenten, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, für höchstens eine Nacht. „In Berlin konsumieren das unglaublich viele Leute. Wenn man das nimmt, ist einfach alles schön. Man kann seine Arbeit schneller machen, man hat mehr Ideen. Und man verliert das Zeitgefühl“, berichtet er. Wenn man als Konsument so aussehen möchte wie auf den berüchtigten „Meth-Head“-Bildern, die aus Präventionsgründen verbreitet werden, muss man die Droge allerdings in großen Mengen und über einen längeren Zeitraum nehmen. Und so wie es Menschen gibt, die diese Substanz relativ gut vertragen und nicht sofort abhängig werden, gibt es andere, die schon nach dem ersten Konsum in die Falle gehen: Der Absturz beim Runterkommen von Meth ist gehörig, „dunkler als ein dunkles Loch“, das Verlangen nach erneuter Aufhellung entsprechend groß. Ein Kreislauf setzt sich in Gang, an dessen Ende nicht nur die Zähne, sondern auch die Seele ruiniert sind. So schillernd das Image von Crystal Meth ist, so verschieden sind auch die Anwendungsmethoden. Junge Mütter nehmen Crystal Meth, um nach der Schwangerschaft schneller abnehmen zu können. Abgang: Volker Beck hat all seine Ämter abgegeben, will sein Bundestagsmandat aber behalten Foto: picture alliance Berufstätige schnupfen es, um länger und effizienter arbeiten zu können – praktisch sowohl für hochbezahlte „Leistungsträger“ als auch für Prekäre mit drei Jobs. Höher, schneller, weiter. Andere nehmen es am Wochenende, um zwei Tage hintereinander Fun im Club zu haben. Oder ewig dauernden, tierisch geilen Sex – an dessen Ende allerdings biochemisch bedingt meist kein kosmischer Orgasmus wartet, sondern bloß wundgescheuerte Geschlechtsorgane. Sex, Crime, Tod einerseits, die Banali tät einer Funktionsdroge anderseits – all das verbindet sich mit dem Begriff Crystal Meth. Und doch ist die Beliebtheit der Substanz gar nicht so verwunderlich, verspricht sie doch die Erfüllung all dessen, was gesellschaftlich als erstrebenswert gilt. Leistungsfähigkeit und erfolgreich sollen wir sein – und zugleich unglaublich viel Spaß haben. Erst dann gilt ein Leben als gelungen. MARTIN REICHERT
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