„Verhalten: auffällig?“

Ulrich Hecker: Akzent ►Grundschulzeitschrift 262-63,
„Verhalten: auffällig?“
Das war der Titel des Heftes 120 von „Grundschule aktuell“, der Zeitschrift des Grundschulverbandes. „Die Not ist riesengroß“ hatte DIE ZEIT schon 2010 getitelt und damit einen Nerv getroffen.
„Psychisch auffällige Kinder stellen die schwierigste Herausforderung für ein gemeinsames Lernen
mit anderen dar. Ihre Zahl wächst rapide“, resümierte die Hamburger Wochenzeitung. Und Angela
Ehlers, heute Projektleiterin Inklusive Beschulung der Hamburger Schulbehörde, wurde mit den
Worten zitiert: „Wenn es nicht gelingt, die Schulen im Umgang mit diesen Schülern besser zu unterstützen, fahren wir die Idee der Inklusion an die Wand.“
Dieses heikle Problem als Themenschwerpunkt in der
Mitgliederzeitschrift des Grundschulverbandes?
Kein leichtes Unterfangen. Schon bei den Illustrationen ergaben sich Probleme: Fotos veröffentlichen,
die Kinder als „verhaltensauffällig“ zeigen – das ging
nicht. Wie also das Thema illustrieren?
Der Rückgriff auf Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ bot sich an. Im Editorial der Zeitschrift heißt es
dazu:
„Lässt sich dieser Klassiker heute nicht als ein Panoptikum der Verhaltensauffälligkeiten betrachten? Der Zappel-Philipp (Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität), Hans Guck-in-die-Luft als
sein verträumter Gegenpol (Aufmerksamkeitsstörung mit deutlich reduzierter Aufmerksamkeit),
das pyromanische Paulinchen, der essgestörte Suppen-Kaspar, der Daumen lutschende Konrad,
der durch kleinkindhaftes Benehmen aus dem Rahmen fällt. Und was sie davon haben, kann man
drastisch sehen.
Doch ein genauer Blick zeigt: ‚In all diesen Geschichten sind die Kinder ganz normal agierende,
trotzige, sich selbst und ihre Widerstandskraft ausprobierende Kinder‘, schreibt Elke Heidenreich*,
und fährt fort: ‚Die Fehlzünder sind die Erwachsenen, und vielleicht haben sich deshalb so viele Pädagogen immer wieder so erbittert gegen den Struwwelpeter gewandt.“‘
Wahrscheinlich auch, weil ihr Ideal vom „artigen Kind“, das nur mit Strenge zu erreichen ist, bei
Hoffmann ordentlich ins Wanken gerät.
„Wenn die Kinder artig sind…“, so beginnt das Buch. Artig sein! Das ist wohl das Wichtigste, was
man Kindern abverlangt: den Erwachsenen nicht lästig sein, sich nach ihren Vorstellungen richten.
Vielleicht ist der Struwwelpeter bei Kindern noch immer so beliebt, weil sie früher wie heute wiedererkennen, wie sich Erwachsene ihnen gegenüber verhalten: Sie sind abwesend, sie ermahnen,
sie ertragen hilflos Aggressionsausbrüche, sie verbieten und drohen, sie lamentieren, sie sind
sprachlos und blicken stumm – kurz: Niemand spricht mit Kindern und keine/r sieht ihre Bedürfnisse.
Die Einsamkeit der Kinder in den Stuben und die Tatsache, dass Eltern im Struwwelpeter fast ausnahmslos durch Abwesenheit glänzen, passen gerade nicht ins Muster der dem Buch oft unterstellten puren Abschreckungsmoral. „Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh aus und Du bleibst
da“, auch Paulinchen „war allein zu Haus". Im Zappel-Philipp, der einzigen Erzählung, in der die
Familie zusammen ist, herrscht von Anfang an eine bedrückende Atmosphäre: Der Vater spricht
„in ernstem Ton“ und die Mutter? Sie „blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum“.
Die Geschichten von den Struwwelkindern zeigen sämtlich Erwachsene, die nicht da sind, die abwesend sind oder sich hinter ihre gepanzerten Wahrheiten zurückziehen. „Bindung“ ist das Schlüsselwort für den Umgang mit Kindern, deren Verhalten auffällig ist: Da sein. Echt sein. Kinder wirklich wahrnehmen. Versuchen, ihr Verhalten zu verstehen. Verbindlich sein.
„Für alle Kinder stellt der Erwerb sozialer Fähigkeiten und emotionaler Kompetenzen eine wichtige
Entwicklungsaufgabe dar, schreibt Oldenburger Erziehungswissenschaftler Clemens Hillenbrand im
Heft und fährt fort: »Durch kompetentes Sozialverhalten gelingt in positiver Weise der Kontakt zu
Gleichaltrigen, die Lösung von Konfliktsituationen, die Beachtung sozialer Normen und Regeln sowie die sozial angemessene Durchsetzung eigener Interessen und Bedürfnisse. Umgekehrt führen
fehlende soziale Fähigkeiten zur sozialen Ablehnung und im Extremfall bis zu belastenden Verhaltensauffälligkeiten.“
Die Beiträge des Heftes wurden von Grund- und Sonderpädagoginnen und -pädagogen verfasst.
Wir sehen das als Beispiel für das ebenso nützliche wie notwendige Gespräch zwischen Grundund Sonderpädagogik, zu dem der Grundschulverband aktiv beitragen wird.
* Elke Heidenreich, in: Heinrich Hoffmann, Der Struwwelpeter. Vorgestellt von Elke Heidenreich,
Berlin 2009: Aufbau Verlag
Das Heft ist erhältlich:
Online über www.grundschulverband.de,
telefonisch unter 069/776006.