Liebe Pfarrer und Pfarrerinnen der Landeskirche Oldenburg, lieber Bischof Jansen! … und wenn das Ende nicht selig ist, heißt die Überschrift der Tagung. Ein spannendes Thema. Einer der sicherlich vieles dazu sagen könnte, wäre Heinrich Heine gewesen: In diesem Vortrag möchte ich Ihnen einen Überblick über Palliative Care geben, den ich in fast 20 Jahren Erfahrung damit gewonnen habe. Dies möchte ich aus einer transaktionsanalytischen Haltung und Blick machen – nicht ohne zum Schluss ein Fazit zu ziehen und Impulse für Begleitung Sterbender zu setzen. Doch ein Ergebnis will ich schon vorwegnehmen, um den Ton zu intonieren, der meine Arbeit in diesem Feld zunehmend durchdringt: Meine Erfahrung ist, dass die meisten Fragen, Probleme und __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Schwierigkeiten in diesem Arbeitsfeld nicht nur struktureller oder organisatorischer Art sind. Nein, es sind Fragen der Kommunikation und der Beziehungsaufnahme zwischen unterschiedlichen Generationen. Ich verstehe zunehmend, warum früher die Koryphäen immer wieder die Kurzfassung einer Definition formulierten: „Palliative Care ist Kommunikation“. Ich fürchte, die Kommunikation rund um dieses Thema ist so kritisch, weil die Menschen, die Sterbende begleiten oft noch mitten im Leben stehen, sich aber denen zuwenden, die ihr Lebensende mehr oder weniger deutlich vor Augen haben. Hier treffen also zwei Einstellungen und Gefühlswelten aufeinander, die viel mehr „Wirkungen –auch unbewusste! – zeigen, als wir zunächst glauben oder erahnen. Natürlich sehnen nicht alle hochbetagten Menschen den Tod herbei – aber viele fühlen sich ihm nahe, beschäftigen sich oder liebäugeln gar mit ihm. Und natürlich sind nicht alle Begleiterinnen mittleren Alters immer nur sorgenfrei und lebensfroh zukunftsoffen. Aber eben doch sehr viele. Es begegnen sich unterschiedliche Lebensorte. Dieser Graben ist in der Kommunikation wahrzunehmen, auszuloten, ernst zu nehmen und schließlich zu überbrücken. Umso mehr, weil Sterben und Tod in der Altenhilfe näher rücken. Die Tendenzen gehen in Richtung eines häufigeren, komplexen und anspruchsvolleren Sterbens bei einer kürzeren und pflegeintensiveren Verweildauer der häufig multimorbiden und verwirrten Bewohner in einem Altenheim. Das war früher anders: Menschen konnten ihren Lebensabend im Altenheim verbringen und gestalten. Heute, leben die Menschen lange zu Hause. Bis es nicht mehr geht. Daher wird die Verweildauer in manchen Altenheimen bei Neuzugängen statistisch mit unter 4 Monaten erfasst. Die Sterberate in der stationären Altenpflege steigt. Gestorben ist im Heim schon immer worden. Aber nicht so intensiv und so häufig. Das ist einer der __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Gründe warum die gute alte Sterbebegleitung durch die engagierte Diakonisse nicht vergleichbar ist mit dem, was heute als Palliative Care in der Alten-und Krankenhilfe zu leisten ist. Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Palliativstationen und Hospize klagen über den schnellen Wechsel der Gäste und Patienten, die oftmals nur 1-2 Tage dort liegen um zu sterben. Dabei stehen die Lebensqualität, die Würde und die Autonomie der Bewohner auf dem Spiel. Das ist kein böser Wille. „Es ist Teil einer massiven Abwehrbewegung der Gesellschaft gegen Alter, Gebrechlichkeit und Tod.“ (F.Kittelberger) Den Menschen wird heute ihr „sterben dürfen in Würde“ genommen. Ich merke diese Veränderung sehr stark in meinem Beruf. Wenn früher Supervision gebucht wurde, dann ging es mehr um die Fragen nach Teamentwicklungen, Dienstplangestaltung etc. Heute, werde ich vornehmlich gebucht, damit sich die Begleitenden entlasten können. In der Supervision dürfen sie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung zeigen. Das „nicht mehr aushalten können“ und das „Entscheidungen nicht mehr tragen können“ bei den Ärzten. Das nicht mehr „fassen können“ und Ohnmacht bei den Pflegenden. Sowohl Ärzte als auch Pflegende haben Angst um Ihre Würde, die sie zwangsläufig verlieren, wenn Sie so arbeiten, wie es von Institutionen von Ihnen verlangt wird. Und hier ist Palliative Care im Sinne von Kommunikation und Ethik die gebotene Antwort. Der Begriff Palliative Care wurde erstmalig Ende der 70er Jahre von dem kanadischen Arzt Balfour eingesetzt um die Arbeit der Ehrenamtlichkeit der Hospizarbeit mit der Professionalität der Palliativmedizin zusammenzubringen. Erst 2002 wurde der Begriff etabliert durch die WHO. Palliativmedizin dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur. Es geht also nicht um eine Verlängerung der Überlebenszeit sondern Wünsche, Ziele und das Befinden der Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung. In der palliativen Begleitung geht es um: Radikale Patienten- und Bewohnerorientierung Ein ganzheitliches Konzept („total pain“) als Grundlage eines Versorgungskonzeptes Eine umfassende Schmerzerfassung, Schmerztherapie und Symptomkontrolle auf Grundlage des umfassenden Verständnis von total pain Kontinuierlich umfassende, interprofessionelle Betreuung Unterstützung der Bewohner bzw. Patienten sowie ihrer Angehörigen und Zugehörigen durch ein interdisziplinäres Team Einbindung von Ehrenamtlichen bzw. bürgerlichen Engagement als „fünfte Profession“ Die Integration von Trauerarbeit in das Versorgungskonzept Ich bin zu diesem Vortrag eingeladen worden, um über die Begleitung von Sterbenden aus einem transaktionsanalytischen Blickwinkel zu sprechen. Lassen Sie mich in wenigen Worten beschreiben, was Transaktionsanalyse ist: Die TA entstammt der Tiefen- und humanistischen Psychologie und folgt auch diesem Menschenbild. Sie eignet sich hervorragend um Selbst- und Sozialkompetenzen zu reflektieren und zu entwickeln. Ziel der TA ist, sich in einer rasant veränderlichen Umwelt angemessen verhalten zu können und eine offene und direkte Kommunikation zu anderen – auch in schwierigen Situationen zu ermöglichen. Dazu nutzt sie verschiedene Modelle. Die Betonung dieser Methode liegt auf dem trans-aktionalem. Damit wird ein dialogisches Prinzip für __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] maßgeblich erklärt: „Der Mensch wird am DU zum ICH, “ formulierte Martin Buber 1928 in seinem kleinen und sehr feinen Büchlein ICH und DU. Der Mensch wird nicht als Einzelperson gedacht, sondern stets in Bezug zum anderen und damit als soziales Wesen definiert. Diesen Bezug verliert er auch nicht im Sterben. Es ist unsere Aufgabe den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, sondern Sterbenden eine andere Form des Kontaktes anzubieten. Damit sie an dieser letzten und schwersten Herausforderung des Lebens wachsen können und auch dann noch neue Erfahrungen sammeln dürfen. Und wir auch als Begleitende. Das ist die Aufgabe einer gelungenen Sterbebegleitung. Die TA bietet ein Konzept dazu. Das Konzept der Autonomie. Autonomie wird hier gedacht als selbstbestimmte Verbundenheit zu sich selbst und zu der Welt. Eine autonome Person ist eine primär selbstbestimmte Person und zeichnet sich durch drei Fähigkeiten aus: Die Fähigkeit einer wachen Bewusstheit. Wer diese wache Bewusstheit hat, ist in Kontakt mit seinen eigenen Körperempfindungen und mit äußeren Dingen: „Bewusstheit ist die Fähigkeit, auf unverwechselbar eigene Art eine Kaffeekanne zu sehen und die Vögel singen zu hören und nicht so, wie es einem beigebracht wurde.“ (Berne 1967, 244 ff.) Bewusstheit zeichnet sich also durch eine sinnliche Offenheit für Wahrnehmungen im Hier und Jetzt aus und ist nicht gefärbt durch frühere Erfahrungen. Eine ungehemmte Intensität unserer Empfindungen und Gefühle ohne die Bewertung: schlecht oder gut. Eine Person, die über diese Bewusstheit - oder man könnte auch sagen der achtsamen Haltung – verfügt, sieht die vielfältigen, im jeweiligen Augenblick gegebenen Möglichkeiten, das Leben sinn- und zugleich genussvoll alleine und mit anderen zu gestalten. Der Begriff, der mit dieser Haltung korrespondiert, ist der Begriff der Lebensqualität. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Einer Frau, der das sehr im Sterben gelungen ist war Frau M. Sie ist vor 4 Jahren in einem Hamburger Hospiz gestorben. Sie hatte ALS. Eine schwere Muskelerkrankung, die langsam und quälend den ganzen Körper lähmt, bis auch die Lunge betroffen ist und der Mensch erstickt. Frau M. wusste darum. „Wissen Sie was das Highlight meines Tages ist?“ fragte sie mich. Ich war neugierig, kannte ich sie doch als gelähmte Frau, der das sprechen zunehmend schwerer viel. „ Mittags bekomme ich immer einen Tropfen Salatsoße auf die Zunge.“ Da freue ich mich den ganzen Abend und den Morgen schon drauf. Frau M. konnte ihrem Leben damit einen Sinn abgewinnen. Oder der 14 jährige Jackie, der vor 9 Jahren an Leukämie verstarb. Mein Meister in Bezug auf Sinn, Demut und Bewusstheit. „Ich kann gut gehen. Ich habe in meinem Leben mehr erlebt als so mancher 40jähriger. Mehr geht eigentlich nicht.“ Wache Bewusstheit1 heißt das Leben sinnvoll und zugleich genussvoll alleine und mit anderen zu gestalten. Einen Sinn zu erleben und damit auch Spiritualität zu entdecken. In wacher Bewusstheit und hoher Intensität das Leben der anderen neugierig zu betrachten und zu bewerten kann auch bei dem Begleiter zu ganz neuen Impulsen führen. Die Fähigkeit2 zur Spontanität meint den lebendigen und unmittelbaren Selbstausdruck. Der spontane Mensch reagiert auf die Welt direkt, ohne Teile der Realität auszublenden. Flexibel und nicht musterhaft auf etwas zu reagieren. Spontanität definiert sich nicht zu allererst über die einengenden und hemmenden Grenzen, so wie wir es aus unserem „normalem“ Sprachgebrauch kennen. Spontanität findet im transaktionsanalytischen Zusammenhang auch im Dialog statt. Es bedeutet die Freiheit zu haben als JEMAND zu leben und damit die Umwelt auf seine eigene Art und Weise zu be- und erleben. Vielleicht lässt sich das am besten übersetzen mit der eigenen 1 2 Vgl. auch:Behrens, C. (2015), Hilfe für Helfer, Schlütersche, S. 98ff. zitiert nach: Schlegel, L. (2007), Handwörterbuch der TA, Herder, S.160 __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] „Würde“. Der Züricher Theologe Robert Leuenberger3 hat einmal gesagt: „Die inhumane Behandlung eines Sterbenden beginnt in Wahrheit weder damit, dass sein Leben künstlich verlängert wird, noch erhält ein Sterbender den Todesstoß dadurch, dass man ihm die Zufuhr wichtiger Stoffe verweigert. Beides geschieht aber da, wo dem Kranken – vielleicht Monate vor der Sterbestunde – die innere Gemeinschaft entzogen wird.“ Den Sterbenden allein zu lassen, ihn nicht mehr zu sehen und ihn nicht mehr als lebendigen Menschen wahrzunehmen. Das ist inhumanes Sterben. Das Schicksal vieler hochbetagten im Altenheim. Das Schicksal vieler Patienten im Krankenhaus. Einen Menschen darin erlaubnisgebend zu unterstützen neue Wege am Ende des Lebens zu gehen, den eigenen Wert und die Würde zu erkennen und ein letztes Mal oder ein erstes Mal ein JEMAND zu werden, trägt zu einer gelungenen Sterbebegleitung bei. Als ich die bettlägerige Frau B. besuche ist sie ganz still. Als ich sie frage, ob sie ihre Gedanken mitteilen möchte, lächelt sie und sagt: „ja, ich muß das jemanden sagen!“ „Wissen Sie mein ganzes Leben habe ich mich um meinen Mann, um die Kinder, Nachbarn, Eltern und so weiter gekümmert. Ich habe nur funktioniert. Ob es schlecht oder gut war weiß ich nicht. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe auch nichts gefühlt. Eigentlich gab es mich gar nicht. Und jetzt, wo ich sterbe werde ich zum Menschen. Ich weiß, dass meine Familie traurig ist. Ich bin es nicht. Jetzt geht es um mich und um niemanden anderen. Vor dem Sterben zum Leben. Und es gibt noch etwas: ich genieße die Traurigkeit der anderen, das macht mich lebendig. Ich spüre meine Lebendigkeit, obwohl meinen Körper die Metastasen beherrschen. Trotzdem fühlt es sich gut an. Hoffentlich habe ich noch eine kleine Weile, bis der Herrgott mich holt.“ Frau B. konnte aus ihre Muster hinter sich lassen und flexibel auf ihre 3 Leutenberger, R. (1973) Der Tod. Schicksal und Aufgaben. Zürich. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Krankheit reagieren. Sie hat nicht nur funktioniert und alles fühlen ausgeschaltet – das war das frühere Muster. Die dritte Fähigkeit nennt die Transaktionsanalyse Intimität: Intimität kennzeichnet den emotionalen Gehalt einer vorbehaltlos aufrichtigen Begegnung. Das heißt, dass sich Menschen ihre Gefühle und Wünsche offen mitteilen. Die ausgedrückten Gefühle sind echt - verborgene Motive oder Psychospiele gibt es nicht. Intimität kennzeichnet die Beziehung zwischen zwei Menschen, die von jeder Art von Eigennutz frei ist und mit der nichts erreicht werden soll. Nach Berne ist es „beglückenste Form mitmenschlichen Umgang, nach der im Grund genommen jeder Sehnsucht habe, sie sich aber selten erfülle. „Diese Sehnsucht gipfelt in der Begegnung zwischen dem wirklichen Selbst des einen mit dem wirklichen Selbst des anderen.“ Einen wahrhaft intimen Moment und auch eine der schönsten Begleitung, die ich hatte war die mit einer älteren, blinden Dame. Ich mochte sie sehr. Am Ende ihres Lebens saß ich am Vormittag an Ihrem Bett, wir sprachen und wir schwiegen. Irgendwann legte ich ihr einen kleinen Kupferengel in die Hand. Sie nahm den Engel und fasste ihn an beiden Flügeln an und führte ihn zum Mund und sagte: „Da kommt ja gar nix raus...“ Sie hatte ihn mit einer Schnabeltasse verwechselt. Ich war so perplex, dass ich wirklich lachen musste, weil es so witzig war. Sie stimmte mit ein und wir lachten Tränen. Zum Schluss sagte sie mir, dass das schön ist am Ende des Lebens nochmal so herzhaft zu lachen. Und dann weinten wir Tränen. Sie sehen Autonomie als transaktionsanalytischer Begriff ist weit mehr als ein Gesetz, das ich selbst erlassen habe und Unabhängigkeit von anderen bewirkt. Autonom sein bedeutet, selbstbestimmt zu handeln – bewusst wahrzunehmen, Vertrauen in sich und andere zu haben und solide und vernünftige Entscheidungen zu treffen um das eigene Potenzial an inneren und äußeren Möglichkeiten auszuschöpfen. Das __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] hört im Sterben nicht auf. Autonomie heißt nicht Freiheit von etwas, sondern Freiheit für etwas. Wenn ein Mensch die drei Fähigkeiten Bewusstheit, Spontanität und Intimität nutzt oder zurück erlangt, gibt es auch im Sterben noch viel zu entdecken. Auf beiden Seiten! In diesem Kontext ist auch der von Berne eingeführte Begriff der „Physis“ (Körperenergie/innewohnende Wachstumskraft) relevant. Wo bleibt diese Wachstumsenergie am Lebensende? Nimmt sie ab? Aus der Sicht einer palliativ-erfahrenen Transaktionsanalytikerin nehme ich sehr wohl den Rückgang einer rein körperlichen Energie beim schwerstkranken in der Finalphase wahr; auch bisweilen die Abkehr von der eigenen Körperlichkeit bis hin zu oftmals beschriebenen Körperbildstörungen. Dies muss aber nicht auf Kosten der Lebensqualität gehen, wie Studien von Borasio (Uni München)4 zeigen: in der letzten Lebensphase kann die Lebenszufriedenheit trotz schwerer Krankheit sogar noch zunehmen. Das geschieht durch neue Gewichtungen in den als relevant erleben Lebensfeldern wie „Familienzusammenhalt“ und „Spiritualität“. Es scheint Wachstumskräfte im Menschen zu geben, die von eine Körperschwächung nicht unbedingt beeinflusst werde. Ich glaube, daß diese Wachstumsenergie bis an das Lebensende vorhanden ist. Oft kommt es auch vor das Patienten nicht mehr sprechen können oder wollen. Die Emotionalität und das Sprechen finden dann über Bilder, Metaphern oder Allegorien statt. (Bilder des Todes, Der Sensenmann, der große schwarze Vogel, die grüne Wiese etc. Eine warme, weiche Frau hat mich geholt.“) Bei Finalpatienten, die unter hohen Dosen schmerzlindernden Medikamenten stehen, drückt sich diese Ebene auch oft über körperliche Reaktionen aus (Bsp. das leise 4 Borasio,G.,Biechele,I., Frör,P.:et al: Who should assess the patient´s spiritual care needs? A randomized study, Poster beim Kongress the European Association of Palliative Care, 2005. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Summen, noch einmal die Füße auf den Boden stellen, kämpfen um an ein Fenster zu kommen und hinauszublicken). Ein schönes Beispiel dafür ist die Bilderreihe, die uns freundlicherweise von Monika Müller zur Verfügung gestellt wurde: „Nach innen wachsen“5 beschreibt das Gefühlsleben eines Bäckers aus Bonn, der seinen Weg mit Bildern dokumentiert hat. Das erste Bild kommentiert er mit: „da braut sich was zusammen“, beim zweiten Bild ist ihm der Zaun ganz wichtig, „damit die Hunde nicht an die Bäume pinkeln“. Bild 3 hat er nach einem Traum gemalt: Ein Würfel der auf dem Meer treibt: Es seien auch Würfelaugen auf eine Seite gewesen „leider nicht die Glückszahl 6“. Auf die Frage, was es mit der Glückzahl auf sich habe, sagte er: „Ja, wissen sie es denn nicht: Wenn man eine 6 hat, darf noch einmal, mit der 5 ist die Runde vorbei. Bild 4 lässt er unkommentiert und geht auch nicht in Kontakt. Bild 5 erinnert an Lebensstationen, so eine Reise in seiner Jugend nach Istanbul. Bild 6: ihm geht es zunehmend schlechter. Zu dem Bild sagt er nur: „so steht der Mensch vor seinem Schöpfer.“ Bild 7: Das Sprechen wir immer mühseliger „zur Blume im Inneren führen 4 Wege.“ Bild 8: spricht für sich. Spiritualität in der Palliativversorgung hat die Aufgabe, für diese positive Kraft, für diese Lebensenergie der Physis einen Raum zu eröffnen, in dem sich Menschen im besten Fall mit ihrer Realität aussöhnen und zur Annahme ihrer Krankheit finden können. Die Annahme der Krankheit und die Aussöhnung mit der Realität münden auch in spirituellen Fragen nach dem Warum, nach der Seele, nach Liebe, Schuld, Vergebung und dem Selbst. Diese Frage stellen sich die Begleiter/innen im Kontakt mit ihren Patienten ebenso. Beide spüren, dass diese Fragen die letzten und wichtigsten Fragen der menschlichen Existenz sind. Für den, der sich vom irdischen Leben 5 Müller, M., Nach innen wachsen, Pallia Med Verlag Bonn . __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] verabschiedet, bedeutet dieses Fragen sehr oft, dass er über die Wahrheit seines Lebens nachdenkt. Auch wenn diese Fragen vorher in seinem Leben schon da waren, erlaubt es ihm der nahe Tod, darüber zu sprechen. Die Fragen, die Angst und die Verzweiflung dürfen nicht ignoriert werden, sondern erfordern Sensibilität und Schutz vonseiten der Begleiter/innen. Spirituelle Begleitung bedeutet in der Situation krisenhafter Ereignisse nicht das Vorgeben von Antworten, sondern ein Sich-Einlassen auf eine Suchbewegung des Sterbenden nach Antworten, die auch den eigenen Bezugsrahmen verändern. In der Transaktionsanalyse meint der „Bezugsrahmen“ die Wahrnehmung der Realität eines Menschen. Diese wird bestimmt durch das eigene Selbstverständnis, das Verständnis der Anderen und der Welt. Sozusagen die Ausgestaltung des Wahrnehmungsapparates. Eine Bezugsrahmenveränderung findet statt, wenn wir uns auf die Suche nach Möglichkeiten machen, unterstützend – nicht sinngebend – tätig zu sein: Victor E. Frankl6 schreibt dazu: „Wir müssen lernen und die verzweifelten Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer drauf ankommt, was wir im Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich: was das Leben von uns erwartet.“ „Ich habe mein ganzes Leben an Gott geglaubt. Was wird passieren, wenn ich auf einmal vor Buddha stehe?“. „Gott ist Liebe. Buddha stelle ich mir als lächelndes Wesen vor. So sehen immer die Bilder aus. (..)Wenn ich mir vorstelle in ein Lächeln hinein zu sterben, geht´s wieder.“ Liebe Pfarrerinnen und Pfarrer, ich habe ihnen hier nicht ein Auszug von „Schöner sterben“ vorgestellt. Das gibt es nicht. Loslassen vom Leben ist schwer und nicht schön. Und manchmal schlimm. Was ist denn…..wenn das Ende nicht selig ist? 6 Frankl, V.E.: Ärztliche Seelsorge, 1995, S. 125. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Spirituelle Begleitung im Sinne von Palliative Care heißt nicht dem Patienten zu helfen alles in einem positiven Licht zu sehen und dabei heilend zu wirken. Es heißt auch, dem Patienten dabei zu helfen die Verletzungen weiter auszuhalten, als bleibender Schmerz, als ein Stück Scheitern – weil Aussöhnung nicht gelungen und auch jetzt nicht mehr möglich ist. Es ist kein Versöhnungsideal oder gar Vollkommenheit anzustreben, sondern Bewusstheit, Entscheidung aus der neuen Situation heraus und eine letzte Verantwortlichkeit. Diese Erfahrung von Ohnmacht und Verzweiflung, wenn das Ringen um Sinnen nicht gelingen will, gehört zum Alltag. Mystikerinnen7 und Mystiker wussten schon vor langer Zeit um die Zusammengehörigkeit der biblischen Schwesternpaare Lea-Rahel und Martha-Maria. Sie sahen das Leben in der Spannung zwischen den Polen einer Vita activa und einer Vita contemplativa und sah beide als existenziell und wesentlich an. „Wenn aktive Möglichkeit der Sinnfindung8 erschöpft ist, gilt es loszulassen und innere Sinnleere zulassen zu können. Zum Loslassen gehört auch aufgeben, Ohnmacht eingestehen, Leere zulassen. Es geht um die konstruktive Aufgabe, sich die Ohnmacht einzugestehen, Demut entwickeln, unwissend wie lange der Weg ist und ob die Kräfte ausreichen. Und da ist es gut, jemanden an seiner Seite zu haben.“ Palliative Begleitung heißt: die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der spirituellen Bedürfnisse und Nöte von Patienten mit gleicher Gewichtung wie die Beachtung der körperlichen, psychischen oder sozialen Patientennöte. Im Konzept einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des kranken Menschen ist die Wahrnehmung spiritueller Nöte unverzichtbar. Es geht um die 7 8 Behrens, C., Spiritualität in der Palliativmedizin, in: Kayser H.(Hrsg.) Kursbuch Medizin, S. 435ff. Held,P.: Systemische Begleitung von Sinnstiftungsprozessen, in: Institutsschrift 6,2003. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected] Eröffnung von anderen Wirklichkeiten, in denen Gesundheit und Krankheit in einem anderen Bezugssystem zugänglich werden. Die spirituellen Kräfte sind am stärksten verankert und bis zuletzt wirksame Fähigkeiten im Menschen. Dazu gehören die inneren Bilder und Werte, die Spiritualität und die Religion. Eine bis zuletzt beim Sterben vorhandene und ansprechbare Ressource, die beim Leben und beim Sterben hilft. Eine Medizin die diese andersartige Realität auszublenden versucht, muss sich den Vorwurf aussetzen defizitär zu sein. Was hätte Heinrich Heine gebraucht, um leichter sterben zu können? Ich hätte ihm gewünscht, eine Begleitung zu haben, der das Ringen nicht fremd ist. Eine Begleitung, die da ist und die Intimität der letzten Momente des Lebens nicht scheut. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. __________________________________________________________________________________ CB Bildung & Beratung|Grundstr.17|20257 Hamburg| 040/891440|www.c-behrens.de|[email protected]
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