und wenn das Ende nicht selig ist

Liebe Pfarrer und Pfarrerinnen der Landeskirche Oldenburg, lieber Bischof
Jansen!
… und wenn das Ende nicht selig ist, heißt die Überschrift der Tagung. Ein
spannendes Thema. Einer der sicherlich vieles dazu sagen könnte, wäre
Heinrich Heine gewesen:
In diesem Vortrag möchte ich Ihnen einen Überblick über Palliative
Care geben, den ich in fast 20 Jahren Erfahrung damit gewonnen habe.
Dies möchte ich aus einer transaktionsanalytischen Haltung und Blick
machen – nicht ohne zum Schluss ein Fazit zu ziehen und Impulse für
Begleitung Sterbender zu setzen.
Doch ein Ergebnis will ich schon vorwegnehmen, um den Ton zu
intonieren, der meine Arbeit in diesem Feld zunehmend durchdringt:
Meine Erfahrung ist, dass die meisten Fragen, Probleme und
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Schwierigkeiten in diesem Arbeitsfeld nicht nur struktureller oder
organisatorischer Art sind.
Nein, es sind Fragen der Kommunikation und der
Beziehungsaufnahme zwischen unterschiedlichen Generationen. Ich
verstehe zunehmend, warum früher die Koryphäen immer wieder die
Kurzfassung einer Definition formulierten: „Palliative Care ist
Kommunikation“.
Ich fürchte, die Kommunikation rund um dieses Thema ist so kritisch,
weil die Menschen, die Sterbende begleiten oft noch mitten im Leben
stehen, sich aber denen zuwenden, die ihr Lebensende mehr oder
weniger deutlich vor Augen haben. Hier treffen also zwei Einstellungen
und Gefühlswelten aufeinander, die viel mehr „Wirkungen –auch
unbewusste! – zeigen, als wir zunächst glauben oder erahnen.
Natürlich sehnen nicht alle hochbetagten Menschen den Tod herbei –
aber viele fühlen sich ihm nahe, beschäftigen sich oder liebäugeln gar
mit ihm. Und natürlich sind nicht alle Begleiterinnen mittleren Alters
immer nur sorgenfrei und lebensfroh zukunftsoffen. Aber eben doch
sehr viele. Es begegnen sich unterschiedliche Lebensorte. Dieser
Graben ist in der Kommunikation wahrzunehmen, auszuloten, ernst zu
nehmen und schließlich zu überbrücken.
Umso mehr, weil Sterben und Tod in der Altenhilfe näher rücken. Die
Tendenzen gehen in Richtung eines häufigeren, komplexen und
anspruchsvolleren Sterbens bei einer kürzeren und pflegeintensiveren
Verweildauer der häufig multimorbiden und verwirrten Bewohner in
einem Altenheim. Das war früher anders: Menschen konnten ihren
Lebensabend im Altenheim verbringen und gestalten. Heute, leben die
Menschen lange zu Hause. Bis es nicht mehr geht.
Daher wird die Verweildauer in manchen Altenheimen bei
Neuzugängen statistisch mit unter 4 Monaten erfasst. Die Sterberate
in der stationären Altenpflege steigt. Gestorben ist im Heim schon
immer worden. Aber nicht so intensiv und so häufig. Das ist einer der
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Gründe warum die gute alte Sterbebegleitung durch die engagierte
Diakonisse nicht vergleichbar ist mit dem, was heute als Palliative Care
in der Alten-und Krankenhilfe zu leisten ist.
Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Palliativstationen und
Hospize klagen über den schnellen Wechsel der Gäste und Patienten,
die oftmals nur 1-2 Tage dort liegen um zu sterben. Dabei stehen die
Lebensqualität, die Würde und die Autonomie der Bewohner auf dem
Spiel. Das ist kein böser Wille.
„Es ist Teil einer massiven Abwehrbewegung der Gesellschaft gegen
Alter, Gebrechlichkeit und Tod.“ (F.Kittelberger) Den Menschen wird
heute ihr „sterben dürfen in Würde“ genommen. Ich merke diese
Veränderung sehr stark in meinem Beruf. Wenn früher Supervision
gebucht wurde, dann ging es mehr um die Fragen nach
Teamentwicklungen, Dienstplangestaltung etc. Heute, werde ich
vornehmlich gebucht, damit sich die Begleitenden entlasten können.
In der Supervision dürfen sie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung
zeigen. Das „nicht mehr aushalten können“ und das „Entscheidungen
nicht mehr tragen können“ bei den Ärzten. Das nicht mehr „fassen
können“ und Ohnmacht bei den Pflegenden. Sowohl Ärzte als auch
Pflegende haben Angst um Ihre Würde, die sie zwangsläufig verlieren,
wenn Sie so arbeiten, wie es von Institutionen von Ihnen verlangt wird.
Und hier ist Palliative Care im Sinne von Kommunikation und Ethik die
gebotene Antwort.
Der Begriff Palliative Care wurde erstmalig Ende der 70er Jahre von
dem kanadischen Arzt Balfour eingesetzt um die Arbeit der
Ehrenamtlichkeit der Hospizarbeit mit der Professionalität der
Palliativmedizin zusammenzubringen. Erst 2002 wurde der Begriff
etabliert durch die WHO.
Palliativmedizin dient der Verbesserung der Lebensqualität
von Patienten und ihren Angehörigen, die mit einer
lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies
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geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels
frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und
Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen
physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.
Es geht also nicht um eine Verlängerung der Überlebenszeit sondern
Wünsche, Ziele und das Befinden der Patienten stehen im
Vordergrund der Behandlung. In der palliativen Begleitung geht es um:
 Radikale Patienten- und Bewohnerorientierung
 Ein ganzheitliches Konzept („total pain“) als Grundlage eines
Versorgungskonzeptes
 Eine umfassende Schmerzerfassung, Schmerztherapie und
Symptomkontrolle auf Grundlage des umfassenden
Verständnis von total pain
 Kontinuierlich umfassende, interprofessionelle Betreuung
 Unterstützung der Bewohner bzw. Patienten sowie ihrer
Angehörigen und Zugehörigen durch ein interdisziplinäres
Team
 Einbindung von Ehrenamtlichen bzw. bürgerlichen
Engagement als „fünfte Profession“
 Die Integration von Trauerarbeit in das Versorgungskonzept
Ich bin zu diesem Vortrag eingeladen worden, um über die Begleitung
von Sterbenden aus einem transaktionsanalytischen Blickwinkel zu
sprechen. Lassen Sie mich in wenigen Worten beschreiben, was
Transaktionsanalyse ist:
Die TA entstammt der Tiefen- und humanistischen Psychologie und
folgt auch diesem Menschenbild. Sie eignet sich hervorragend um
Selbst- und Sozialkompetenzen zu reflektieren und zu entwickeln. Ziel
der TA ist, sich in einer rasant veränderlichen Umwelt angemessen
verhalten zu können und eine offene und direkte Kommunikation zu
anderen – auch in schwierigen Situationen zu ermöglichen.
Dazu nutzt sie verschiedene Modelle. Die Betonung dieser Methode
liegt auf dem trans-aktionalem. Damit wird ein dialogisches Prinzip für
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maßgeblich erklärt: „Der Mensch wird am DU zum ICH, “ formulierte
Martin Buber 1928 in seinem kleinen und sehr feinen Büchlein ICH und
DU.
Der Mensch wird nicht als Einzelperson gedacht, sondern stets in
Bezug zum anderen und damit als soziales Wesen definiert. Diesen
Bezug verliert er auch nicht im Sterben. Es ist unsere Aufgabe den
Kontakt nicht abbrechen zu lassen, sondern Sterbenden eine andere
Form des Kontaktes anzubieten. Damit sie an dieser letzten und
schwersten Herausforderung des Lebens wachsen können und auch
dann noch neue Erfahrungen sammeln dürfen. Und wir auch als
Begleitende. Das ist die Aufgabe einer gelungenen Sterbebegleitung.
Die TA bietet ein Konzept dazu. Das Konzept der Autonomie.
Autonomie wird hier gedacht als selbstbestimmte Verbundenheit zu
sich selbst und zu der Welt. Eine autonome Person ist eine primär
selbstbestimmte Person und zeichnet sich durch drei Fähigkeiten aus:
Die
Fähigkeit einer wachen Bewusstheit. Wer diese wache
Bewusstheit hat, ist in Kontakt mit seinen eigenen
Körperempfindungen und mit äußeren Dingen: „Bewusstheit ist die
Fähigkeit, auf unverwechselbar eigene Art eine Kaffeekanne zu
sehen und die Vögel singen zu hören und nicht so, wie es einem
beigebracht wurde.“ (Berne 1967, 244 ff.) Bewusstheit zeichnet sich
also durch eine sinnliche Offenheit für Wahrnehmungen im Hier und
Jetzt aus und ist nicht gefärbt durch frühere Erfahrungen. Eine
ungehemmte Intensität unserer Empfindungen und Gefühle ohne die
Bewertung: schlecht oder gut.
Eine Person, die über diese Bewusstheit - oder man könnte auch sagen
der achtsamen Haltung – verfügt, sieht die vielfältigen, im jeweiligen
Augenblick gegebenen Möglichkeiten, das Leben sinn- und zugleich
genussvoll alleine und mit anderen zu gestalten. Der Begriff, der mit
dieser Haltung korrespondiert, ist der Begriff der Lebensqualität.
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Einer Frau, der das sehr im Sterben gelungen ist war Frau M. Sie ist vor
4 Jahren in einem Hamburger Hospiz gestorben. Sie hatte ALS. Eine
schwere Muskelerkrankung, die langsam und quälend den ganzen
Körper lähmt, bis auch die Lunge betroffen ist und der Mensch
erstickt. Frau M. wusste darum. „Wissen Sie was das Highlight
meines Tages ist?“ fragte sie mich. Ich war neugierig, kannte ich sie
doch als gelähmte Frau, der das sprechen zunehmend schwerer viel.
„ Mittags bekomme ich immer einen Tropfen Salatsoße auf die
Zunge.“ Da freue ich mich den ganzen Abend und den Morgen schon
drauf. Frau M. konnte ihrem Leben damit einen Sinn abgewinnen.
Oder der 14 jährige Jackie, der vor 9 Jahren an Leukämie verstarb.
Mein Meister in Bezug auf Sinn, Demut und Bewusstheit.
„Ich kann gut gehen. Ich habe in meinem Leben mehr erlebt als so
mancher 40jähriger. Mehr geht eigentlich nicht.“ Wache
Bewusstheit1 heißt das Leben sinnvoll und zugleich genussvoll alleine
und mit anderen zu gestalten. Einen Sinn zu erleben und damit auch
Spiritualität zu entdecken. In wacher Bewusstheit und hoher Intensität
das Leben der anderen neugierig zu betrachten und zu bewerten kann
auch bei dem Begleiter zu ganz neuen Impulsen führen.
Die Fähigkeit2 zur Spontanität meint den lebendigen und
unmittelbaren Selbstausdruck. Der spontane Mensch reagiert auf die
Welt direkt, ohne Teile der Realität auszublenden. Flexibel und nicht
musterhaft auf etwas zu reagieren. Spontanität definiert sich nicht zu
allererst über die einengenden und hemmenden Grenzen, so wie wir
es aus unserem „normalem“ Sprachgebrauch kennen. Spontanität
findet im transaktionsanalytischen Zusammenhang auch im Dialog
statt. Es bedeutet die Freiheit zu haben als JEMAND zu leben und
damit die Umwelt auf seine eigene Art und Weise zu be- und erleben.
Vielleicht lässt sich das am besten übersetzen mit der eigenen
1
2
Vgl. auch:Behrens, C. (2015), Hilfe für Helfer, Schlütersche, S. 98ff.
zitiert nach: Schlegel, L. (2007), Handwörterbuch der TA, Herder, S.160
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„Würde“. Der Züricher Theologe Robert Leuenberger3 hat einmal
gesagt: „Die inhumane Behandlung eines Sterbenden beginnt in
Wahrheit weder damit, dass sein Leben künstlich verlängert wird,
noch erhält ein Sterbender den Todesstoß dadurch, dass man ihm die
Zufuhr wichtiger Stoffe verweigert. Beides geschieht aber da, wo
dem Kranken – vielleicht Monate vor der Sterbestunde – die innere
Gemeinschaft entzogen wird.“ Den Sterbenden allein zu lassen, ihn
nicht mehr zu sehen und ihn nicht mehr als lebendigen Menschen
wahrzunehmen. Das ist inhumanes Sterben. Das Schicksal vieler
hochbetagten im Altenheim. Das Schicksal vieler Patienten im
Krankenhaus. Einen Menschen darin erlaubnisgebend zu unterstützen
neue Wege am Ende des Lebens zu gehen, den eigenen Wert und die
Würde zu erkennen und ein letztes Mal oder ein erstes Mal ein
JEMAND zu werden, trägt zu einer gelungenen Sterbebegleitung bei.
Als ich die bettlägerige Frau B. besuche ist sie ganz still. Als ich sie
frage, ob sie ihre Gedanken mitteilen möchte, lächelt sie und sagt:
„ja, ich muß das jemanden sagen!“ „Wissen Sie mein ganzes Leben
habe ich mich um meinen Mann, um die Kinder, Nachbarn, Eltern und
so weiter gekümmert. Ich habe nur funktioniert. Ob es schlecht oder
gut war weiß ich nicht. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe
auch nichts gefühlt. Eigentlich gab es mich gar nicht.
Und jetzt, wo ich sterbe werde ich zum Menschen. Ich weiß, dass
meine Familie traurig ist. Ich bin es nicht. Jetzt geht es um mich und
um niemanden anderen. Vor dem Sterben zum Leben. Und es gibt
noch etwas: ich genieße die Traurigkeit der anderen, das macht mich
lebendig. Ich spüre meine Lebendigkeit, obwohl meinen Körper die
Metastasen beherrschen. Trotzdem fühlt es sich gut an. Hoffentlich
habe ich noch eine kleine Weile, bis der Herrgott mich holt.“ Frau B.
konnte aus ihre Muster hinter sich lassen und flexibel auf ihre
3
Leutenberger, R. (1973) Der Tod. Schicksal und Aufgaben. Zürich.
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Krankheit reagieren. Sie hat nicht nur funktioniert und alles fühlen
ausgeschaltet – das war das frühere Muster.
Die dritte Fähigkeit nennt die Transaktionsanalyse Intimität: Intimität
kennzeichnet den emotionalen Gehalt einer vorbehaltlos aufrichtigen
Begegnung. Das heißt, dass sich Menschen ihre Gefühle und Wünsche
offen mitteilen. Die ausgedrückten Gefühle sind echt - verborgene
Motive oder Psychospiele gibt es nicht.
Intimität kennzeichnet die Beziehung zwischen zwei Menschen, die
von jeder Art von Eigennutz frei ist und mit der nichts erreicht werden
soll. Nach Berne ist es „beglückenste Form mitmenschlichen Umgang,
nach der im Grund genommen jeder Sehnsucht habe, sie sich aber
selten erfülle. „Diese Sehnsucht gipfelt in der Begegnung zwischen
dem wirklichen Selbst des einen mit dem wirklichen Selbst des
anderen.“
Einen wahrhaft intimen Moment und auch eine der schönsten
Begleitung, die ich hatte war die mit einer älteren, blinden Dame. Ich
mochte sie sehr. Am Ende ihres Lebens saß ich am Vormittag an
Ihrem Bett, wir sprachen und wir schwiegen. Irgendwann legte ich
ihr einen kleinen Kupferengel in die Hand. Sie nahm den Engel und
fasste ihn an beiden Flügeln an und führte ihn zum Mund und sagte:
„Da kommt ja gar nix raus...“ Sie hatte ihn mit einer Schnabeltasse
verwechselt. Ich war so perplex, dass ich wirklich lachen musste, weil
es so witzig war. Sie stimmte mit ein und wir lachten Tränen. Zum
Schluss sagte sie mir, dass das schön ist am Ende des Lebens nochmal
so herzhaft zu lachen. Und dann weinten wir Tränen.
Sie sehen Autonomie als transaktionsanalytischer Begriff ist weit mehr
als ein Gesetz, das ich selbst erlassen habe und Unabhängigkeit von
anderen bewirkt. Autonom sein bedeutet, selbstbestimmt zu handeln
– bewusst wahrzunehmen, Vertrauen in sich und andere zu haben und
solide und vernünftige Entscheidungen zu treffen um das eigene
Potenzial an inneren und äußeren Möglichkeiten auszuschöpfen. Das
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hört im Sterben nicht auf. Autonomie heißt nicht Freiheit von etwas,
sondern Freiheit für etwas. Wenn ein Mensch die drei Fähigkeiten
Bewusstheit, Spontanität und Intimität nutzt oder zurück erlangt, gibt
es auch im Sterben noch viel zu entdecken. Auf beiden Seiten!
In diesem Kontext ist auch der von Berne eingeführte Begriff der
„Physis“ (Körperenergie/innewohnende Wachstumskraft) relevant.
Wo bleibt diese Wachstumsenergie am Lebensende? Nimmt sie ab?
Aus der Sicht einer palliativ-erfahrenen Transaktionsanalytikerin
nehme ich sehr wohl den Rückgang einer rein körperlichen Energie
beim schwerstkranken in der Finalphase wahr; auch bisweilen die
Abkehr von der eigenen Körperlichkeit bis hin zu oftmals
beschriebenen Körperbildstörungen.
Dies muss aber nicht auf Kosten der Lebensqualität gehen, wie Studien
von Borasio (Uni München)4 zeigen: in der letzten Lebensphase kann
die Lebenszufriedenheit trotz schwerer Krankheit sogar noch
zunehmen. Das geschieht durch neue Gewichtungen in den als
relevant erleben Lebensfeldern wie „Familienzusammenhalt“ und
„Spiritualität“. Es scheint Wachstumskräfte im Menschen zu geben,
die von eine Körperschwächung nicht unbedingt beeinflusst werde. Ich
glaube, daß diese Wachstumsenergie bis an das Lebensende
vorhanden ist.
Oft kommt es auch vor das Patienten nicht mehr sprechen können
oder wollen. Die Emotionalität und das Sprechen finden dann über
Bilder, Metaphern oder Allegorien statt. (Bilder des Todes, Der
Sensenmann, der große schwarze Vogel, die grüne Wiese etc. Eine
warme, weiche Frau hat mich geholt.“) Bei Finalpatienten, die unter
hohen Dosen schmerzlindernden Medikamenten stehen, drückt sich
diese Ebene auch oft über körperliche Reaktionen aus (Bsp. das leise
4
Borasio,G.,Biechele,I., Frör,P.:et al: Who should assess the patient´s spiritual care needs? A randomized study,
Poster beim Kongress the European Association of Palliative Care, 2005.
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Summen, noch einmal die Füße auf den Boden stellen, kämpfen um an
ein Fenster zu kommen und hinauszublicken).
Ein schönes Beispiel dafür ist die Bilderreihe, die uns freundlicherweise
von Monika Müller zur Verfügung gestellt wurde: „Nach innen
wachsen“5 beschreibt das Gefühlsleben eines Bäckers aus Bonn, der
seinen Weg mit Bildern dokumentiert hat.
Das erste Bild kommentiert er mit: „da braut sich was zusammen“,
beim zweiten Bild ist ihm der Zaun ganz wichtig, „damit die Hunde
nicht an die Bäume pinkeln“. Bild 3 hat er nach einem Traum gemalt:
Ein Würfel der auf dem Meer treibt: Es seien auch Würfelaugen auf
eine Seite gewesen „leider nicht die Glückszahl 6“. Auf die Frage, was
es mit der Glückzahl auf sich habe, sagte er: „Ja, wissen sie es denn
nicht: Wenn man eine 6 hat, darf noch einmal, mit der 5 ist die Runde
vorbei. Bild 4 lässt er unkommentiert und geht auch nicht in Kontakt.
Bild 5 erinnert an Lebensstationen, so eine Reise in seiner Jugend
nach Istanbul. Bild 6: ihm geht es zunehmend schlechter. Zu dem Bild
sagt er nur: „so steht der Mensch vor seinem Schöpfer.“ Bild 7: Das
Sprechen wir immer mühseliger „zur Blume im Inneren führen 4
Wege.“ Bild 8: spricht für sich.
Spiritualität in der Palliativversorgung hat die Aufgabe, für diese
positive Kraft, für diese Lebensenergie der Physis einen Raum zu
eröffnen, in dem sich Menschen im besten Fall mit ihrer Realität
aussöhnen und zur Annahme ihrer Krankheit finden können.
Die Annahme der Krankheit und die Aussöhnung mit der Realität
münden auch in spirituellen Fragen nach dem Warum, nach der Seele,
nach Liebe, Schuld, Vergebung und dem Selbst. Diese Frage stellen sich
die Begleiter/innen im Kontakt mit ihren Patienten ebenso. Beide
spüren, dass diese Fragen die letzten und wichtigsten Fragen der
menschlichen Existenz sind. Für den, der sich vom irdischen Leben
5
Müller, M., Nach innen wachsen, Pallia Med Verlag Bonn
.
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verabschiedet, bedeutet dieses Fragen sehr oft, dass er über die
Wahrheit seines Lebens nachdenkt.
Auch wenn diese Fragen vorher in seinem Leben schon da waren,
erlaubt es ihm der nahe Tod, darüber zu sprechen. Die Fragen, die
Angst und die Verzweiflung dürfen nicht ignoriert werden, sondern
erfordern Sensibilität und Schutz vonseiten der Begleiter/innen.
Spirituelle Begleitung bedeutet in der Situation krisenhafter Ereignisse
nicht das Vorgeben von Antworten, sondern ein Sich-Einlassen auf
eine Suchbewegung des Sterbenden nach Antworten, die auch den
eigenen Bezugsrahmen verändern.
In der Transaktionsanalyse meint der „Bezugsrahmen“ die
Wahrnehmung der Realität eines Menschen. Diese wird bestimmt
durch das eigene Selbstverständnis, das Verständnis der Anderen und
der Welt. Sozusagen die Ausgestaltung des Wahrnehmungsapparates.
Eine Bezugsrahmenveränderung findet statt, wenn wir uns auf die
Suche nach Möglichkeiten machen, unterstützend – nicht sinngebend
– tätig zu sein: Victor E. Frankl6 schreibt dazu: „Wir müssen lernen und
die verzweifelten Menschen lehren, dass es eigentlich nie und
nimmer drauf ankommt, was wir im Leben noch zu erwarten haben,
vielmehr lediglich: was das Leben von uns erwartet.“
„Ich habe mein ganzes Leben an Gott geglaubt. Was wird passieren,
wenn ich auf einmal vor Buddha stehe?“. „Gott ist Liebe. Buddha
stelle ich mir als lächelndes Wesen vor. So sehen immer die Bilder
aus. (..)Wenn ich mir vorstelle in ein Lächeln hinein zu sterben, geht´s
wieder.“
Liebe Pfarrerinnen und Pfarrer, ich habe ihnen hier nicht ein Auszug
von „Schöner sterben“ vorgestellt. Das gibt es nicht. Loslassen vom
Leben ist schwer und nicht schön. Und manchmal schlimm. Was ist
denn…..wenn das Ende nicht selig ist?
6
Frankl, V.E.: Ärztliche Seelsorge, 1995, S. 125.
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Spirituelle Begleitung im Sinne von Palliative Care heißt nicht dem
Patienten zu helfen alles in einem positiven Licht zu sehen und dabei
heilend zu wirken. Es heißt auch, dem Patienten dabei zu helfen die
Verletzungen weiter auszuhalten, als bleibender Schmerz, als ein Stück
Scheitern – weil Aussöhnung nicht gelungen und auch jetzt nicht mehr
möglich ist. Es ist kein Versöhnungsideal oder gar Vollkommenheit
anzustreben, sondern Bewusstheit, Entscheidung aus der neuen
Situation heraus und eine letzte Verantwortlichkeit. Diese Erfahrung
von Ohnmacht und Verzweiflung, wenn das Ringen um Sinnen nicht
gelingen will, gehört zum Alltag.
Mystikerinnen7 und Mystiker wussten schon vor langer Zeit um die
Zusammengehörigkeit der biblischen Schwesternpaare Lea-Rahel und
Martha-Maria. Sie sahen das Leben in der Spannung zwischen den
Polen einer Vita activa und einer Vita contemplativa und sah beide als
existenziell und wesentlich an. „Wenn aktive Möglichkeit der
Sinnfindung8 erschöpft ist, gilt es loszulassen und innere Sinnleere
zulassen zu können. Zum Loslassen gehört auch aufgeben, Ohnmacht
eingestehen, Leere zulassen. Es geht um die konstruktive Aufgabe, sich
die Ohnmacht einzugestehen, Demut entwickeln, unwissend wie lange
der Weg ist und ob die Kräfte ausreichen. Und da ist es gut, jemanden
an seiner Seite zu haben.“
Palliative Begleitung heißt: die Wahrnehmung und das
Ernstnehmen der spirituellen Bedürfnisse und Nöte von Patienten
mit gleicher Gewichtung wie die Beachtung der körperlichen,
psychischen oder sozialen Patientennöte. Im Konzept einer
ganzheitlichen Betrachtungsweise des kranken Menschen ist die
Wahrnehmung spiritueller Nöte unverzichtbar. Es geht um die
7
8
Behrens, C., Spiritualität in der Palliativmedizin, in: Kayser H.(Hrsg.) Kursbuch Medizin, S. 435ff.
Held,P.: Systemische Begleitung von Sinnstiftungsprozessen, in: Institutsschrift 6,2003.
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Eröffnung von anderen Wirklichkeiten, in denen Gesundheit und
Krankheit in einem anderen Bezugssystem zugänglich werden.
Die spirituellen Kräfte sind am stärksten verankert und bis zuletzt
wirksame Fähigkeiten im Menschen. Dazu gehören die inneren
Bilder und Werte, die Spiritualität und die Religion. Eine bis zuletzt
beim Sterben vorhandene und ansprechbare Ressource, die beim
Leben und beim Sterben hilft. Eine Medizin die diese andersartige
Realität auszublenden versucht, muss sich den Vorwurf aussetzen
defizitär zu sein.
Was hätte Heinrich Heine gebraucht, um leichter sterben zu
können? Ich hätte ihm gewünscht, eine Begleitung zu haben, der
das Ringen nicht fremd ist. Eine Begleitung, die da ist und die
Intimität der letzten Momente des Lebens nicht scheut.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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