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Ernst Woll
Kindheitserlebnisse in den Jahren 1936 bis 1945
in der Ostthüringer Kleinstadt Hohenleuben
Inhalt
1. Prolog
2. Meine Eltern und Großeltern
3. Erzählungen meiner Großmutter
4. Reisen und Zugfahren während meiner Kindheit
5. Besondere Kindheitserlebnisse
6. Das Leben auf dem Lande
7. Meine Spielsachen und meine Fahrräder
8. Meine Volksschulzeit
9. Kindheitserlebnisse mit politischem Hintergrund
10. Erlebnisse im Jungvolk
11. Kinderstreiche
12. So erlebte ich das Kriegsende
13. Epilog
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1. Prolog
Über Ereignisse während meiner Kindheit in den Jahren 1936 bis 1946 will ich
berichten, da die noch lebenden Zeitzeugen jener Epoche immer weniger werden.
Ich kann auf keine Tagebuchaufzeichnungen zurückgreifen, weil ich nur dann etwas
aufschrieb, wenn es während meiner Ausbildung oder im Beruf notwendig war.
Außerdem will ich meine Erlebnisse aus dieser bewegten Zeit mit meinen heutigen
Gedanken verknüpfen. Damit sollen nicht unbedingt Erfahrungen, die jeder selbst
sammeln muss, vermittelt werden. Ich möchte nur Anregungen zum Nachdenken geben.
Meine Erkenntnis im Umgang mit älteren Menschen lehrte mich, dass diese gern, wie
ich heute, von „Früher“, von ihrer Jugend, erzählten. Viele junge Menschen rümpfen
dabei die Nase und meinen: „Das ist doch Schnee von gestern, der uns gar nicht so sehr
berührt“. Auch ich war als junger Mensch nicht frei von solchen Vorurteilen. Heute
denke ich beim Schreiben dieser Erinnerungen sehr oft: „Es wäre gut, wenn ich jetzt
Großeltern oder Eltern fragen könnte. Sie haben über die Geschehnisse, die ich jetzt
mühsam aus meinem Gedächtnis hervorhole, noch genau Bescheid gewusst. Ich habe
bei ihren Erzählungen nicht aufmerksam genug zugehört“. Darum gebe ich meinen
Nachfahren einen einzigen Rat: „ Haltet mehr schriftlich fest“. Was ich damals von den
immer wiederholten Berichten als uninteressant empfand, ist mir im Alter plötzlich
wichtig.
Ich erkannte außerdem, dass von vielen Begebenheiten sehr häufig nur die positiven
Seiten im Gedächtnis bleiben. Deshalb möge auch mein Beitrag als subjektiver Bericht
betrachtet werden.
Ich bin Zeitzeuge unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen und Wirtschaftssysteme:
• Als Kind erlebte ich den Nationalsozialismus mit kapitalistischer Wirtschaft
• In der unmittelbaren Nachkriegszeit erfuhr ich als Jugendlicher einen
Umbruch sowie einen politischen und wirtschaftlichen Neuanfang in der
sowjetischen Besatzungszone
• Die längste Zeit meines Lebens verbrachte ich in der DDR, einem Staat, in
dem ein real existierender Sozialismus mit einer Planwirtschaft aufgebaut
wurde
• Fast am Ende meines Berufslebens und nun als Rentner lernte ich eine
demokratische Ordnung mit einer sozialen Marktwirtschaft kennen.
Die in diesem Rahmen gesammelten Erfahrungen beeinflussten mein Denken und
Handeln bis heute.
2. Meine Eltern und Großeltern
Als erstes will ich das Umfeld, in dem ich als Kind lebte, näher beschreiben.
Ich wuchs in Hohenleuben auf.
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Wir wohnten in der Gartenstraße im kleinen Bauernhaus meiner Großeltern
mütterlicherseits.
Winter 1940
In der Umgebung gab es viele Heckenzäune.
Mein Großvater:
Er war sehr altmodisch und übertrieben sparsam. Z.B. klopfte er krumme Nägel zur
Wiederverwendung gerade, das musste ich als kleiner Bub auch schon üben. Um das
Nageleinschlagen zu lernen durfte ich in eine alte Fußbank und in einen nicht mehr
benötigten Balken nach Herzenslust Nägel einschlagen. Allerdings musste ich sie auch
wieder herausziehen und gerade klopfen.
Er sparte sogar Streichhölzer und hat jeden Tag nur in einem Ofen Feuer angezündet.
Bei allen anderen Feuerstellen wurden die Flammen entweder mit vorhandener Glut
oder mit einem so genannten Fidibus entfacht. Das ist ein Holzspan oder ein gefalteter
Papierstreifen.
Mein Großvater hat während seines langen Lebens Ziegenmilch getrunken und sehr
bescheiden gegessen. Er war bis zu seinem 82. Lebensjahr, als er an Altersschwäche
starb, nie ernsthaft krank. In Hof, Garten und Feld trug er vorwiegend Holzpantoffel,
mit denen er noch als Einundachtzigjähriger zum Obstpflücken. auf eine vier Meter
hohe Leiter stieg.
Mein Opa hatte 10 Geschwister. Seine Eltern bzw. Großeltern bewirtschafteten eine der
3 Windmühlen von Hohenleuben, die sich oberhalb des „Erdberg“ befand. Aus der
Ortschronik erfuhr ich, dass die Windmühle und das dazugehörende Wohnhaus in der
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts abbrannten und nicht wieder aufgebaut wurden. Die
Erbteile meines Großvaters und seiner 10 Geschwister waren nicht groß und fast alle
arbeiteten schon als Jugendliche als Knechte oder Mägde in größeren Bauerngütern.
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Als er 1893 im Alter von 30 Jahren heiratete, hatte er die Hälfte des Geldes, das zum
Kauf eines kleinen Bauernhofes nötig war, während seiner Dienstjahre bei Großbauern
gespart. Den restlichen Anteil brachte meine Großmutter in die Ehe ein.
Im Nachlass meines Großvaters fand ich ein Exemplar der Gesindeordnung vom
23.Januar 1841 und dazu einige handschriftliche Notizen, aus denen hervorging, dass er
sich bei seinen Dienstherrschaften nie eines Vergehens schuldig gemacht hatte. Ihn
begleiteten beste Zeugnisse von Herrschaft zu Herrschaft. Die strengen Bestimmungen,
nach denen er sich stets unterzuordnen hatte, erklären sein Wesen und stets
diszipliniertes Verhalten. Er hatte stets großen Respekt vor Vorgesetzten und der
Obrigkeit. In gewisser Hinsicht erkenne ich darin Parallelen zu meinem Lebenslauf und
meine deshalb, dass Verhaltensweisen nicht nur anerzogen, sondern auch vererbt
werden
Aus dem Text der genannten Ordnung erscheinen mir 2 Aspekte wichtig:
Erstens erforderten die strengen Bestimmungen unbedingten Gehorsam und
Unterordnung. Vier typische Abschnitte aus den Pflichten des Gesindes gegen die
Herrschaft will hier zitieren:
Das Gesinde ist verpflichtet für seine Herrschaft den ganzen Tag zu arbeiten, auch
nach der bestehenden häuslichen Ordnung sich zur Ruhe zu begeben und früh
aufzustehen. Es darf unter dem Vorwande zu verrichtender Arbeit, ohne
Bewilligung der Dienstherrschaft nicht über die Zeit, wo sich die Familie des
Dienstherrn zur Ruhe begibt, aufbleiben.
Das Gesinde hat sich sowohl in als außer dem Hause der Herrschaft eines gesitteten,
anständigen Lebenswandels zu befleißigen. Der Herrschaft steht das Recht der
Aufsicht über die sittliche Aufführung des Gesindes zu; sie darf diesen die
geeigneten Verhaltensregeln vorschreiben und ihr die nötig scheinenden Verweise
erteilen.
Die Herrschaft ist insoweit berechtigt , dem Gesinde unangemessenen Aufwand auf
Kleidungsstücke, Essen und Trinken, Spiel und sonstige Vergnügungen zu
untersagen, und der Dienstbote kann sich dagegen nicht mit der Einrede schützen,
dass es für sein eigenes Geld geschehe.
Reizet das Gesinde die Herrschaft durch ungebührliches Betragen zum Zorn und
wird in solchem von ihr mit Scheltworten oder geringen Tätlichkeiten behandelt, so
kann es dafür keine gerichtliche Genugtuung fordern.“
Zweitens zeigen die gesetzlichen Vorschriften, dass es in Deutschland schon von alters
her gang und gäbe war, alles bis ins letzte Detail festzulegen. Erfolgreiche Fortsetzung
findet diese Methode in den Gesetzen und Verordnungen der BRD sowie in der
gründlichen Umsetzung der Gesetzlichkeiten der EU.
Meine Großeltern erwarben mit dem genannten Hauskauf Webstühle, die in der großen
Stube in Parterre standen. Sie betrieben damit
die damals weit verbreitete
Heimweberei, der jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts die sich ausdehnende
Industrialisierung die Existenzgrundlage nahm. Mein Großvater war davon mit
betroffen und er begann eine Tätigkeit als Weber bzw. Arbeiter in einer Fabrik in der
fünf Kilometer entfernten Nachbarstadt Triebes. Es galt damals als selbstverständlich,
diese Strecke zur und von der Arbeitsstelle per Fußmarsch zu bewältigen. Er wurde mit
dieser Arbeitsaufnahme nach heutiger Definition Fabrikarbeiter und sogenannter
Nebenerwerbslandwirt. Außerdem konnte er Bürger seiner Heimatstadt werden und
erhielt einen Bürgerschein.
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Zum Verhängnis wurde meinem Großvater sein Wunsch, einmal viel Geld zu besitzen.
Er verkaufte in der Inflationszeit einige von seinen Eltern geerbte Grundstücke und
erhielt hierfür nur wertloses Geld. Das war sehr ärgerlich, aber in unserer Familie galt
der Spruch: „Was sagt man zu geschehenen Dingen? – Das Beste".
Für Kleidung stand damals in den meisten Familien nur wenig Geld zur Verfügung und
es wurde bei Neuanschaffungen sehr gespart. Die Männer, auch mein Großvater,
besaßen nur einen „Sonntagsanzug“, den sie zum Kirchgang und bei Festlichkeiten
trugen. Zu hause kam das gute Stück immer gleich wieder in den Kleiderschrank.
Außerdem wurden z.B. keine teuren Oberhemden angeschafft, sondern es musste ein
sogenanntes „Chemisetel“ genügen, das auch mein Großvater trug. Das ist ein
Kleidereinsatz, der auch „Hemdbrust“ genannt wird. Er besteht aus einem Kragen und
einem so großen Hemdteil mit fest angenähten Schlips, damit der vom
Westenausschnitt her freibleibende Brustteil bedeckt wird.
Mein Vater
Er war 1918 als Achtzehnjähriger noch Soldat geworden. Im 2. Weltkrieg hatte er
Glück und arbeitete an der sogenannten Heimatfront in einem kriegswichtigen Betrieb
in Gera.
Mein Vater war als junger Mann in den zwanziger Jahren Motorradsportler und hat an
einigen Rennen, z.B. am Schleizer Dreieck, teilgenommen. Als bemerkenswertestes
Bild ist mir von ihm in Erinnerung, dass er in unserem Hof und Schuppen mit der
Reparatur, dem Bau- und Umbau von Motorrädern beschäftigt war. Das erste Krad, das
ich als Sechsjähriger im Besitz meines Vaters kennen lernte, war eine „5oo er Zündapp“
mit Riemenantrieb. Später spezialisierte er sich vorwiegend auf die Marke DKW. Es
mussten aber immer Maschinen mit mindestens 250 ccm Hubraum sein. Nicht selten
präparierte er die Motoren, damit sie eine höhere Leistung bekamen. Mir ist noch die
Redewendung im Ohr, dass er von „frisierten Motoren“ sprach. Ich wusste schon als
Kind, dass damit das Ausschleifen des Inneren der Zylinder und der Einsatz größerer
Kolben gemeint war, um den Hubraum zu vergrößern.
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Im übrigen half mein Vater gern Bekannten bei der Reparatur sowie dem Auf- und
Zusammenbau von gebrauchten Motorrädern. Diese, seine große Hilfsbereitschaft auch
auf anderen Gebieten, wird noch heute in meinem Heimatort bestätigt und betont.
Stolz präsentierte er sich als Beifahrer, wenn es zur Probefahrt ging:
Hin und wieder unternahmen meine Eltern Motorradausfahrten in die nähre Umgebung
und zu Besuchen der Geschwister meiner Mutter in Gera, Zeitz und Torgau. Noch recht
genau kann ich mich daran erinnern, dass ich als 6 bis 10 Jähriger mitgenommen wurde.
Ich saß auf einem straffen Kissen, das zwischen meinem Vater als Kradfahrer und
meiner Mutter als Beifahrer einen Motorradsattel für Kinder ersetzte. Ich entsinne mich,
dass die damaligen Sitze sehr hart und äußerst unbequem waren.
Für Familien mit einem damals durchschnittlichem Arbeitseinkommen, dazu gehörten
wir, überstieg die Anschaffung eines PKW die finanziellen Möglichkeiten. Selbst das
Motorrad, das mein Vater hatte, konnte er nur unterhalten, weil er viel selbst reparierte
und zum Teil gebrauchte Ersatzteile einbaute. Sehr verlockend war deshalb die Aktion
des Hitlerregime, `dass alle Volksgenossen mit der Ansparung für einem Volkswagen
beginnen können`. Diese kleineren PKW sollten zwischen 2000 und 3000.- Mark kosten
und wären mit den vorgeschlagenen Sparmodellen für viele erschwinglich gewesen. Ich
wollte damals meinen Vater absolut nicht verstehen, dass er diese Methoden
kategorisch ablehnte. Ich habe noch seine Worte im Gedächtnis, dass er sagte: „Der
Staat will das Geld nur zur Finanzierung von Waffen und Krieg und dabei beteilige ich
mich nicht.“ Dieses durfte er nur im vertrauten Familienkreis äußern und auch ich als
Kind wurde angehalten, über solche Sachen mit niemanden zu reden, was ich auch
befolgte. Mein Vater behielt recht.
Meine Mutter:
Zu meiner Mutter, eine geborene Heller, sagte ich Mama. Sie hatte einen festen
christlichen Glauben und führte mit meinem Vater, der kein Kirchgänger war – Atheist
wäre nicht richtig – eine gute Ehe. Meine Mutter versuchte immer in allem
auszugleichen und war der Meinung: „Politik verdirbt den Charakter“. Für sie galt der
Grundsatz, sich möglichst aus Vielem heraus zu halten und tolerant zu sein. In der
Familie - auch mit meinen Großeltern und ihren Geschwistern - gelang es ihr, Harmonie
und Einigkeit zu schaffen und zu erhalten.
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Sehr stark verehrte sie ihre Mutter und war in unserer Kleinstadt, in der sie Zeit ihres
Lebens wohnte, bekannt und sehr beliebt.
1972 hatte sie fünfzigjähriges Konfirmandentreffen in Hohenleuben. In ihrem Nachlass
fand ich die damalige Festzeitung, in der wie üblich von allen eine kleine Charakteristik
in Versform aufgeschrieben worden war. In diesem Rahmen schrieb man über sie:
„Hellers Marie war klug und galant.
Sie war unter uns Schülern mit als die Beste bekannt.
Ihr Leben war nicht immer Sonnenschein,
doch hat sie´s getragen, es musste so sein.
Auch konnte sie dichten und Witze machen,
da mussten wir oft ganz herzlich lachen“.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter eine schöne Singstimme hatte und seit ihrer
Jugend bis ins Alter im Kirchenchor in Hohenleuben mit sang. Dieses Talent habe ich
leider nicht geerbt.
Meine Eltern führten mit den Eltern meiner Mutter einen gemeinsamen Haushalt. In den
8 Jahren, in denen ich dies mit erlebte, sind mir keine Beispiele bekannt geworden,
dass es Streit oder Uneinigkeit gegeben hätte. Wenn ja, so wurde dies zumindest vor
mir als Kind verborgen gehalten.
Großmutter, Mutter und ich als Zehnjähriger vorm Großelternhaus:
Meine Großmutter:
Sie stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater handelte mit Bettwäsche und
Leinen und sie erlernte das Schneiderhandwerk. Sie hat als junges Mädchen bei
Großbauern und Adelsfamilien für die heiratsfähigen Töchter die Aussteuer genäht.
Dabei hatte sie manchmal Familienanschluss. Diese Möglichkeiten waren für sie
gleichzeitig eine Schule für Schicklichkeit, Etikette und vornehmes Benehmen. Über
meine Großmutter will ich in einem besonderen Abschnitt berichten, weil ihre Art, ihr
Wesen und ihre Lebensanschauungen am günstigsten durch ihre Erzählungen zu
beschreiben sind. Hohenleubener, die sie noch kennen lernten, erinnern sich und sagen
mir heute: „Deine Großmutter war eine herzensgute Frau und sie erzählte uns Kindern
immer so schöne, lehrreiche Geschichten“.
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3. Erzählungen meiner Großmutter
Heute weiß ich, dass meine Großmutter meine Erziehung stark beeinflusste. Die Inhalte
der klassischen Märchen, die mir als Kind vorgelesen wurden und die ich später auch
gern las, blieben bei mir weniger haften als die von meiner Oma frei erzählten
Geschichten. Die Gleichnisse, die ich erfuhr, beeinflussten mein Verhalten während
meines gesamten Lebens.
Ich besaß auch einige Märchenbücher. Besonders schätzte ich ein Album, das ich mit
gesammelten Bildern, die als Werbung in Zigarettenschachteln beilagen, selbst
zusammenstellte. Von dieser Art hatte ich auch Sammelbücher zu den Themen:
Olympiade 1936, Tiere und Pflanzen aus Wald und Flur sowie zu weiteren
Wissensgebieten.
Als Schulkind durfte ich meiner Großmutter die Märchen vorlesen und sie förderte
mein Streben der Lehrende zu sein. Von ihr vernahm ich zum ersten Mal den Spruch:
„Lehre, um zu lernen“ , den ich aber erst als Erwachsener richtig verstand.
Meine Großmutter betonte sehr oft, dass im Leben Gesundheit und Zufriedenheit das
Wichtigste sind. Sie sagte: „Wenn man als gesunder Mensch unzufrieden ist sollte man
Kranke besuchen. Erkrankte haben meistens nur einen Wunsch: ´Gesund zu werden`.“
Für alle Unpässlichkeiten hatte ich mir als Vorschulkind eine Bezeichnung ausgedacht,
die als typischer „Kindermund“ in unserer Familie bis heute gern erzählt wird. Ich
wusste, dass Gift und Entzündung etwas schlimmes und gefährliches sind und
bezeichnete deshalb alle Krankheiten als „Giftentzündung“.
Um die Zufriedenheit ging es bei der folgenden Geschichte: „Ein Mann beschwerte sich
bei Gott über das viele Unheil und Unglück, das er im Leben erleiden musste. Der Herr
schickte ihn in einen großen Saal, in dem die Schicksale vieler Menschen dargestellt
waren und erlaubte ihm sich davon eines auszusuchen. Er betrachtete alle sehr genau
und kam an eines, das er sich unbedingt wünschte. Da stellte er fest, es war sein
eigenes“.
Das Thema Sterben und Beerdigung beschäftigte mich als Kind ganz ungemein. Ich war
schon 14 Jahre alt, als ich den ersten Toten, es war mein Großvater, der mit 82 Jahren
starb, sah. Ich war immer sehr in Ängsten, dass einer meiner nächsten Anverwandten
sterben könnte. Irgendwelche Geschichten über dieses Problem hörte ich nicht gern. Ich
mied es auch über den Friedhof zu gehen. Meine Großmutter versuchte mir diese Angst
zu nehmen und als fromme Frau hat sie an ein Fortleben der Seele nach dem Tod
geglaubt. Mir hat sie immer wieder eingeschärft, dass gute, anständige Menschen in den
Himmel kommen und von diesen eine Furcht vorm Ableben unbegründet sei. Wenn ich
nicht artig war, dann kamen mir doch manchmal im nachhinein Zweifel, ob ich auch
wirklich vom lieben Gott in die Kategorie der „Guten“ eingereiht werde.
Sogar eine etwas makabre Geschichte, bei deren Erwähnen es mir immer ein wenig
gruselte, habe ich noch in Erinnerung. Es wurde erzählt, dass in den früheren Jahren die
Bauern schon vorsorglich ihre Holzsärge kauften und auf dem Hausboden abstellten.
Sie dienten einstweilen zum Aufbewahren von getrockneten Lebensmitteln. Es wurde
berichtet: „Vor einigen Wochen war der alte Großvater gestorben und in allen Ehren
beerdigt worden. Der Sarg wurde bereits im Trauerhaus verschlossenen. - Ich hörte
damals vielfach die Meinung älterer Leute, dass sie als Tote nicht zur Schau gestellt,
also nicht öffentlich aufgebahrt werden wollten. - Die Hausbewohner konnten sich
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Wochen nach der Beerdigung einen üblen Geruch einfach nicht erklären, bis sie
merkten, er kam aus einem abgestellten Sarg. In ihm fand man den Leichnam des Opas
und man hatte versehentlich getrocknete Pflaumen beerdigt“.
Für meine Großmutter galt Ehrlichkeit als oberstes Gebot. Sie meinte: Diebe und
Räuber werden nicht geboren, sondern erzogen. Sie erzählte: „ Ein junger Mann stand
vor seiner Hinrichtung auf dem Schafott, und er konnte sein letztes Bekenntnis ablegen.
Er rief in die Menge der neugierigen Zuschauer, dass an seiner Todesstrafe seine Eltern
mitschuldig wären. Er hatte als kleiner Junge gestohlen und sie sagten: `Bring mehr
liebes Söhnchen´. Vom Drang zu diesen schlechten Handlungen konnte er sich selbst
nicht mehr befreien“. Ihr Kernspruch war deshalb auch: „Wehret den Anfängen“.
Meine Oma erzählte mir auch Geschichten in deren Mittelpunkt stand, dass man der
Mutter immer alles, aber auch alles, erzählen und sagen kann. Ich kann es nicht mehr
wörtlich wiedergeben, aber sie schlussfolgerte immer etwa so: „Eine Mutter wird auch
dann ihre schützende Hand über ihr Kind halten, wenn dieses große Fehler gemacht hat
oder in Konflikte geraten ist. Vertrauen schafft man, wenn man im rechten Augenblick
da ist und zuhört und das kann eine Mutter besonders gut.“ Ich empfand es so
wohltuend, dass ich vom Spielen oder der Schule nach Hause kommend meine
Großmutter vorfand, der ich immer gleich Freud und Leid berichten konnte. Diesen
Vorteil vermag ich erst jetzt richtig zu schätzen. Auf diese stets vorhandenen
verständnisvollen Zuwendungen müssen die „Schlüsselkinder“ der Neuzeit verzichten.
Ich erlebte während meiner Kindheit in unserer Familie die Erfüllung der Weisheit des
Spruches: „Geteilte Freude ist doppelte Freude und geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Nach
dieser Erfahrung bin ich bei meinen Kindern und Enkeln immer besorgt um ihr
Wohlergehen. Wenn wir uns treffen oder auch am Telefon frage ich als Erstes: „Was
gibt es Neues?“ Kinder und Enkel kommen mir deshalb meistens zuvor und sagen oft
noch vor der Begrüßung: “Vater oder Opa, es gibt nichts Neues.“
Konservativ war meine Oma - entsprechend der damals üblichen Auffassungen - in der
sexuellen Aufklärung. Wenn ich in diesem Zusammenhang Fragen stellte, antwortete
auch sie ausweichend mit dem Hinweis: „Das verstehst du noch nicht.“ So holte auch
ich mir mein diesbezügliches Wissen heimlich aus den sogenannten „Doktorbüchern“,
die im Kleiderschrank der Eltern versteckt waren.
Ein Aphorismus, den ich oft von meiner Oma hörte, war: „Wer einmal lügt, den glaubt
man nicht, auch wenn er gleich die Wahrheit spricht“. Ich wäre kein richtiger Junge
gewesen, wenn ich nicht auch durch Notlügen manchmal versucht hätte einer
Bestrafung zu entgehen. Erstaunt war ich nur immer wieder, wenn Mutter und auch
Großmutter mich überführten. Daraus zog ich die Lehre: Als Kind, aber besonders im
Alter, wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, sollte man grundsätzlich nicht lügen. Die
Unwahrheit wird dann schnell aufgedeckt, weil man leicht vergisst, wem, was, wie und
wo man etwas gesagt hat, das nicht der Wahrheit entsprach.
Beeindruckt hat mich als Kind eine Geschichte, die mir meine Großmutter mehrmals
erzählte. Sie hat mich so stark beschäftigt, dass ich häufig davon träumte. In
verständlicher Form, nach eigener erfundener Fassung, erzählte meine Oma: „Es war
einmal eine sehr arme Frau, die ihren Mann verloren hatte und mit ihrem kleinen Kind
in einer ärmlichen Wohnung lebte. Auf dem Acker, der zum Haus gehörte, wuchs zu
wenig, so dass sie oft für sich und ihr Kind nicht genügend zu essen hatte. Aber zum
Betteln war sie zu stolz. Als sie eines Tages im Wald Reisig sammelte und darüber
jammerte wie arm sie sei und sich Reichtum wünschte, erschien ein Zwerg, der sie
einlud in eine Höhle zu kommen. Sie willigte ein und im Nu tat sich vor ihr der Berg
auf. Sie nahm ihr Kind, lief hinein und sah unendlich viel Gold, Silber und Diamanten.
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Der Zwerg sagte: `Nimm so viel wie du tragen kannst, aber vergiss dein Bestes nicht´.
Sie raffte zusammen was sie schleppen konnte und eilte zum Ausgang, damit sie nur
alles in Sicherheit bringe. Hier sagte der Zwerg noch einmal: `Aber vergiss dein Bestes
nicht`. Sie war von Habgier besessen und eilte vollbeladen hinaus. Da schloss sich die
Öffnung im Berg und sie merkte mit Erschrecken, dass sie ihr Kind in der Höhle
vergessen hatte. Sie saß neben ihrem neuen Reichtum und rief und schrie, aber ihr Kind
war für ewig verschwunden“. Ermahnend fügte meine Großmutter noch hinzu: „Hier
siehst du, dass dir alle Wohlhabenheit nichts nützt, wenn du hierfür einen lieben
Menschen opfern musst. Habgier ist eine böse Sucht“.
Hinsichtlich der Stellung der Frau in der Familie und ihrer Gleichberechtigung hat sich
in den letzten 60 Jahren ein großer Wandel vollzogen. Folgende von meiner Großmutter
gern erzählte Geschichte stimmt deshalb heute nicht mehr in vollem Umfange: „In einer
Familie mit mehreren Kindern beschwerte sich der Mann darüber, dass er immer zur
Arbeit gehen und schwer schaffen muss. Sie war deshalb mit einem Tausch
einverstanden. Als sie Abends nach ihrer Fabrikarbeit nach Hause kam war sie aber
stark bestürzt: Die kleinen Kinder schrieen, weil sie nicht trockengelegt und hungrig
waren; die Kuh gab schmerzende Laute von sich, sie war nicht gemolken und gefüttert
worden; im Garten war kein Unkraut gejätet; das Essen kochte noch nicht; der
Fußboden in der Wohnung war nicht gesäubert usw. usf.. Schon am übernächsten Tag
war der Mann mit einem Rücktausch einverstanden“.
Heute gibt es in vielen Familien eine sinnvolle Arbeitsteilung, die Frau ist nicht mehr
allein für die Arbeiten im Haushalt verantwortlich.
Während meiner Kindheit sah man z.B. keinen Mann einen Kinderwagen schieben. Sie
schämten sich ob dieser Tätigkeit und sahen sich erst um, dass sie auch nicht beobachtet
werden, wenn sie bei einem steilen Berganstieg ausnahmsweise den Wagen mit
schoben. Außerdem war der Begriff „Alleinerziehender Vater“ unbekannt. Allein die
Tatsache, dass das Babyjahr vom Ehemann in Anspruch genommen werden kann, hätte
Empörung hervorgerufen.
Meine Großmutter legte großen Wert auf ein intaktes Familienleben. Obwohl in der
Stellung der Frau, wie beschrieben, recht konservativ, meinte sie aber, dass gegenseitige
Achtung wichtige Grundpfeiler für eine gute Ehe sind. Sie erzählte, dass ihr Vater als
Tuchhändler während des Wochenmarktes in Hohenleuben einen Verkaufsstand hatte.
Einmal sah er von der Verkaufsbude aus in der Ferne eine sehr hübsche, attraktive,
junge Frau auf den Marktplatz zukommen. Als sie näher kam stellte er mit Befriedigung
fest, es war seine eigene Ehefrau, die er sehr verehrte.
Von ihrem Cousin, der im 19. Jahrhundert in der Garnison in Gera als Soldat diente
wusste meine Großmutter lustige Episoden zu erzählen. Er soll als frisch Vermählter
(und auch später) seine Frau sehr gern gehabt haben. In der Soldatenzeit gab es wenig
Urlaub, aber manchmal 5 Stunden Ausgang. Die Zeit soll er genutzt haben, um von der
Garnison nach seinen 20 Kilometer entfernten Heimatort zu laufen. Dort verbrachte er
eine halbe Stunde bei seiner jungen Frau und eilte dann zurück, um pünktlich wieder die
Kaserne zu erreichen.
Eben dieser Cousin war zur Wache vorm Schloss eingeteilt. Sein Vorgesetzter
unterrichtete ihn, dass er besonders den Fürst, wenn dieser durchs Tor kommt,
vorschriftsmäßig zu grüßen hätte. Der Vetter war ein lustiger Bursche und fragte: „Und
wie erkenne ich den Fürst?“ Der Sergeant sagte: „ Der sieht aus wie der Fleischer
Barthel“. Der Fürst verlässt das Schloss und wird nicht gegrüßt. Zur Rechenschaft
gezogen meint der Soldat: „Ich dachte, es war der Fleischer Barthel“.
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Gern hörte ich meiner Großmutter zu, wenn sie von ihrer Kindheit berichtete. Ihr
Großvater z.B. war im Fürstentum Reuß ein sogenannter Zolleinnehmer. Er besaß an
der Straße und Grenze zwischen Reuß jüngerer und älterer Linie ein Haus,
„Geleitshaus“ genannt, in dem sich die Zollstation befand. Alle vorbeikommenden
Fuhrwerke und auch Fußgänger mussten den Wegezoll bezahlen. Als Kind hatte sie
erlebt, dass auf einem Fuhrwerk Säcke platzten und Bohnenkaffee in Unmengen auf die
Straße rieselte. Alle Familienmitglieder und auch sie haben mit Besen und Schaufel das
wertvolle Gut aufgesammelt, gewaschen und selbst sowie mit Bekannten und
Verwandten verwertet. In der damaligen Zeit war Bohnenkaffee ein Genussmittel im
wahrsten Sinne des Wortes. In armen Familien wurde nur Ersatzkaffee oder selbst
gesammelter Tee getrunken. Der Kaffeeersatz wurde aus gebrannter Gerste hergestellt;
daraus leitet sich der Begriff „Malzkaffee“ ab..
Ähnliche Havarien mit
vorbeikommenden Fuhrwerken erlebte sie mit Rosinen und anderen Lebensmitteln.
Betrügereien gibt es bekanntlich seit Menschengedenken. In der Neuzeit werden die
Leute besonders durch dubiose Haustürgeschäfte, allerlei Gaunereien durch
Telefonanrufe bzw. Computer und vieles andere mehr oft erheblich geschädigt. Meine
Großmutter erzählte ein einfache Geschichte, an die ich mich eigentlich erinnern sollte,
wenn solche Probleme auf mich zukommen. Trotz dieser als Kind schon vernommenen
Warnung zahlte auch ich, besonders seit der deutschen Wiedervereinigung, schon
manches Lehrgeld auf diesem Gebiet. Meine Oma erzählte, dass man früher, vor allem
in abgelegenen Gegenden, sehr vertrauensselig war und gern weitgereiste Menschen
empfing. Ein Handwerksbursche kam in einen Bauernhof, in dem die alte Hausfrau
allein zu hause war. Er nahm in der Küche Platz und bat um ein kühles Glas Wasser,
dass die Bäuerin vom Brunnen im Garten holte. Als sie zurück kam wollte sie natürlich
wissen, was es in der Welt Neues gibt. Er erzählte: „Ach, die Welt wird immer
gefährlicher, denn der `Gigack` hat die ganze Ranzenburg eingenommen.“ Der Mann
hatte es aber recht eilig, weil er meinte, dass er sich vor den Soldatenwerbern in
Sicherheit bringen müsste. So kam die Frau durch die Erzählungen so gar nicht recht
auf ihre Kosten. Als der Handwerksbursche weg war schaute sie in den Ofen, wo sie
den vorbereiteten Gänsebraten noch bräunen wollte. Jetzt merkte sie, dass sie einem
Betrüger auf den Leim gegangen war. Mit der Gigack war der Gänsebraten gemeint,
den der Bursche in seinen Ranzen, die Ranzenburg, verstaut hatte. Er hatte das Weite
gesucht und die Gastfreundschaft arg missbraucht.
Viele Geschichten erzählte meine Großmutter über die Dienstboten bei den Bauern. Die
Knechte und Mägde beurteilten ihre Dienstherrschaft vorwiegend nach der Menge und
Qualität des Essens, das sie bekamen. Durch Mundpropaganda wurde bekannt, in
welchen Stellen es gute und reichliche Mahlzeiten gab. Diese Bauern hatten dann keine
Not mit Personal. Z.B. vernahm ich Episoden vom Friedrich, einem Knecht, der sehr
fleißig arbeitete und bei einem reichen Bauern in Stellung war. Er hatte sich ein
besonders großes Messer gekauft, um viele Zutaten aufs Brot schmieren zu können. Die
Bauersfrau versteckte es. Friedrich meinte dazu: „Ach, mein Messer ist weg, ich wollte
mir sowieso ein größeres kaufen“. Da legte die Bäuerin das Messer lieber wieder auf
den Tisch. Friedrich aß gern Butter und hat auch viel aufgeschmiert –wie wir im Dialekt
sagten-. Der Bauer bedeutete: „Friedrich, iss Quark, der kühlt.“ Der Knecht erwidert:
„Ich esse Butter und wenn ich gleich verbrenn“. Auch beim Fett, das häufig auf den
Tisch kam, hat er tüchtig zugelangt. Die Bauersfrau sagte: „Friedrich, es ist Gänsefett,
es kostet das Pfund ne Mark.“ Er darauf: „ Na, da ist´s auch nicht zu teuer.“ Die Dialoge
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habe ich nicht im ausgesprochenen Dialekt niedergeschrieben, weil sie sonst nur von
„Einheimischen“ verstanden würden.
Auch eine Episode, die Missverständnisse durch den Dialekt erbrachte, ist mir noch im
Ohr: In einer Gerichtsverhandlung, bei der es um einen ungeklärten Diebstahl ging,
fragte der Richter: „Wie sahen die Hosen aus ?“ Der Kläger erwiderte: „Grau, mit
weißen Kringeln unterm Hals“. Der Richter verständnislos: „So sehen doch keine
Hosen aus!“ Durch den Dialekt war es zu dieser Verwechslung gekommen. In meiner
Heimat sind Hasen = Hosen und Hosen heißen Husen.
Als Kind wurde auch mir eingeschärft mich immer, besonders bei fremden Leuten,
anständig zu benehmen. Korridore und Hausklingeln kannte ich damals nur in ganz
vornehmen Häusern. Da kam es schon vor, dass man nach dem Anklopfen und dem
Herein unmittelbar eine speisende Familie im Zimmer antraf. Ich sollte dann, so meinte
meine Großmutter, nur bei ganz guten und engen Verwandten und Bekannten mit am
Tisch zum Essen Platz nehmen. In diesem Zusammenhang erzählte sie: „Ein
schüchterner junger Mann platzte in einen Raum, in dem gerade gegessen wurde. Die
Aufforderung an den Tisch zu kommen und mit zu halten, lehnte er mehrmals ab. Er
blieb ruhig abseits sitzen und wartete. Als nach längerer Zeit kein Angebot mehr
erfolgte und ihn der Appetit fast überwältigte, fragte er: `Was habt ihr vorhin gesagt?`
Berichten will ich noch über eine mir allgemeingültig erscheinende Erfahrung. Die
Lernfähigkeiten der Kinder sind außerordentlich unterschiedlich. Ich hatte unter meinen
Spielgefährten sehr intelligente aber auch solche, die im Wissen nicht weit her waren –
wie wir in unserer Umgangssprache sagten. Alle entwickelten aber in den
Wissensgebieten und Tätigkeiten, für die sie sich besonders interessierten, immer die
vergleichbar besten Fertigkeiten. Es kommt deshalb darauf an die Heranwachsenden
nach diesen Gesichtspunkten zu unterstützen und zu fördern. Von meiner Großmutter
vernahm ich hierzu eine Weisheit fürs Leben. Sie meinte in ihrer einfachen Art: „Jeder
Mensch besitzt auf irgend einem Gebiet Talente und auch praktisch veranlagte
Menschen sind ebenso wertvoll wie studierte. Die Eltern wollen nur oft aus ihren
Kindern mehr machen als wirklich möglich ist. Dabei werden die Nachkommen sogar
manchmal unnötig gequält und überfordert.“ Vom Amtsrichter unseres Ortes erzählte
sie dazu eine Begebenheit. Der Sohn dieses angesehenen Mannes war nur mittelmäßig
begabt und stand immer in der Kritik des Vaters. Die Mutter widersprach dem strengen
Gebieter indem sie im Dialekt sagte: „Was kann das arme Kind dafür, dass es kenen so
klugen Kopf hat wie dem Alten sein Nischel “.
4. Reisen und Zugfahren während meiner Kindheit
Für meine Großeltern waren die Begriffe Urlaub und Ferien fast unbekannt. Ich erinnere
mich nicht, dass sie jemals Urlaub gemacht hätten. Ausflüge, immer verbunden mit
notwendigen Besorgungen, wurden in die nähere Umgebung nur per Pedes
unternommen. Mein Großvater fuhr während seines über achtzigjährigen Lebens nur
ein einziges Mal mit der Eisenbahn. Er besuchte in der 25 Km entfernten größeren Stadt
seine Tochter. Das waren nach seiner Auffassung Entfernungen, die zu Fuß bewältigt
werden konnten. Meine Großmutter verreiste erstmals Mitte der zwanziger Jahre ins
Sudetenland in die Nähe von Karlsbad (ca. 300 Km entfernt) zu einer Tochter, die dort
verheiratet war. In den Folgejahren besuchte sie mehrfach ihre außerhalb wohnenden
Kinder. Sie fuhr sehr gern mit der Eisenbahn und war immer mindestens 30 Minuten
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vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof. Sehr häufig durfte ich sie begleiten und so war ich
schon als Kind recht wendig beim Fahrkartenkauf, dem Heraussuchen von günstigen
Verbindungen, dem Umsteigen usw.. Der Haltepunkt Hohenleuben diente vorwiegend
als Personen- und die Station Loitsch-Hohenleuben als Güterbahnhof.
In den dreißiger und noch in den ersten Kriegsjahren bot die Deutsche Reichsbahn ihren
Kunden einen ausgezeichneten Services. Es gab vor allem genügend Personal für
Auskünfte, Hilfeleistungen etc.. Allerdings gab es auch einen oft übertriebenen, vor
allem personellen Aufwand für zahlreiche Kontrollen. An Durchgängen in den
Bahnhöfen wurden die Fahrkarten kontrolliert, geknipst oder beim Verlassen des
Bahngeländes abgegeben. Für das Betreten der Bahnsteige, z.B. auch nur zum Abholen
von Reisenden, musste ein Bahnsteigkarte, die damals 10 Pfennige kostete, gelöst
werden.
Ich entsinne mich noch an eine außergewöhnliche Serviceleistung am Haltepunkt
Schüptitz, wo mein Onkel tätig war. Von hier aus fuhren die Leute der umliegenden
Dörfer bis zur nächsten größeren Stadt Weida, zur Arbeit oder zum Einkauf. Eine
Müllersfrau, der nachgesagt wurde, dass sie sehr reich sei, machte des öfteren Ausflüge
in die „kleine Metropole“. Weil sie gern mit der Eisenbahn fuhr, wurde sie mit der
Kutsche bis auf den Bahnsteig gebracht. Sie war sehr beleibt und konnte sich nur
langsam und unbeholfen fortbewegen. Mit Mühe sowie der Hilfe des Zugführers
erklomm sie die Stufen des Eisenbahnwagens. Weil sie breiter als dessen Türen war,
wurde sie in „Seithaltung“ hindurchgeschoben.
Besonders ältere Leute stiegen im übrigen an der Station Weida-Altstadt aus und liefen
zur Weiterfahrt bis zum vier km entfernten Weidaer Hauptbahnhof. Sie fürchteten sich,
über die Brücke zwischen diesen Bahnhöfen zu fahren. Es war dies die erste
Stahlkonstruktion für eine Eisenbahnbrücke in Deutschland. Der Ingenieur, der sie
entworfen hatte, soll sich noch vor der Überfahrt des ersten Zuges von der Brücke in
den Tod gestürzt haben.
Mitte der achtziger Jahre wurde eine Umgehungsstrecke gebaut und die baufällig
gewordene Brücke blieb als technisches Denkmal stehen.
Brückenbild aufgenommen 2003
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Für mich als Kind war es immer ein besonderes Erlebnis mit dem Zug von
Hohenleuben bis Weida Hauptbahnhof zu fahren, weil es da durch einige sehr lange
Tunnel ging. Es machte Spaß in der zeitlich begrenzten Dunkelheit allerhand
Schabernack zu treiben und sich zu necken. Als Jüngling hat man dann gern während
dieser Finsternis die Freundin heimlich geküsst. In diesem Zusammenhang erzählten
wir den Witz, dass dabei die Falsche erwischt wurde, die diese Dreistigkeit mit einer
Ohrfeige quittierte.
Überdies liefen wir beim „stromern“ im Triebes- oder Weidatal recht gern auf den
Bahngleisen – auch durch die Tunnel. Die Gefahr, dass uns dabei ein Zug überraschen
könnte, ignorierten wir.
In meiner Kindheit und Jugend hörte ich oft Bemerkungen, dass Hohenleuben die
wirtschaftliche Entwicklung Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts verschlafen habe. Gegen den Bau einer Eisenbahnlinie ganz in der Nähe
des Ortes hatten sich Gemeindevertreter und vor allem Grundbesitzer zur Wehr gesetzt.
Es fehlte an einer Einigung zu den Besitzverhältnissen und dem Verkauf von
Grundstücken an die Bahn. Der ehemalige Marktflecken Hohenleuben, wo Amtsgericht
und einige Verwaltungen für die weitere Umgebung ansässig waren, verlor damit an
ökonomischer und politischer Bedeutung.
Während der Kriegszeit hatte zwar der Transport von kriegswichtigen Gütern und
Soldaten Vorrang, trotzdem verkehrten viele Züge für den privaten Reiseverkehr. Ich
erinnere mich, dass an den Tendern der Lokomotiven groß die Losung stand: „Räder
müssen rollen für den Sieg.“ In den Abteilen der Personenwagen hingen überall
Propagandaplakate. An eines, das überall zu sehen war, kann ich mich noch deutlich
erinnern: Abgebildet war ein gezeichnetes Monstrum, das halb Mensch, halb Tier zu
sein schien, einen Sack auf dem Rücken hatte und Kohlen klaute. Dieser „Kohlenklau“
war das Sinnbild für Sparsamkeit während des Krieges und der Inbegriff für einen
Volksschädling.
In den dreißiger Jahren wurde die Bahnstrecke zwischen Weida und Mehltheuer zum
größten Teil zweigleisig ausgebaut und im Krieg für Militärtransporte genutzt. Wir
Kinder bestaunten die Geschütze, Panzer und Militärfahrzeuge, die auf den Güterwagen
verladen waren. Ich erinnere mich daran, wie die Soldaten in den offenen Türen der
vorbeifahrenden Güterwaggons saßen. Wir winkten ihnen zu und beneideten sie sogar
etwas, weil sie so weit reisen konnten. Über den gefährlichen Zweck dieser Fahrten
haben wir damals nicht nachgedacht.
5. Besondere Kindheitserlebnisse
Eine billige Arbeitskraft war ich für den Milchmann unseres Ortes. Bis Anfang der
vierziger Jahre wurde in meinem Heimatort täglich die Frischmilch auf einem
Pferdewagen in Zwanzig- Liter- Kannen ausgefahren. Die Halteplätze des Fuhrwerkes
lagen, je nach Häuserdichte, in den Straßen und Gassen höchstens 50 bis 80 m
auseinander. Die Kunden brachten die eigenen Milchkrüge mit. Die Milch wurde mit
einem Messbecher an einem langen Stiel aus den großen Kannen geschöpft und in die
Krüge gefüllt. Alles geschah unter freiem Himmel - bei Sonnenschein, Wind und
Regen- mit Messgefäßen, die erst nach Ende der Tour gründlich gereinigt wurden. Nach
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den heutigen hygienischen Bestimmungen würde diese Milchabgabe untersagt. Damals
hörten wir aber nichts von Lebensmittelvergiftungen. Die Bevölkerung wurde hierüber
auch wenig aufgeklärt. Außerdem waren wahrscheinlich die Menschen, besonders wir
Kinder, durch häufige Kontamination mit Schmutzkeimen, aktiv immunisiert. Ich half
beim Milchmann mit, weil ich die Zügel des Pferdes allein halten und das Tier damit
lenken durfte. Mein Kutschieren war aber meist gar nicht nötig, weil der kluge Gaul
Weg und Halteplätze von allein kannte.
Ein Lieblingspferd hatte ich beim Bauern Schilke, dessen Hof sich in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft befand. Im letzten Kriegsjahr 1945, als die Gefangenen
nicht mehr zum Arbeitseinsatz kamen, habe ich mit diesem Tier auf unseren und des
Nachbars Grundstücken die Frühjahrsfeldarbeiten erledigt. Es war ein sehr großes Tier
und ich hatte immer Mühe, das Geschirr, insbesondere das Kummet, anzulegen. Das
Pferd unterstützte mich dabei, indem es den Kopf senkte und sich auch sonst so verhielt,
dass mir das Einspannen leichter fiel. Der Gaul und ich hatten ein richtiges
freundschaftliches Verhältnis Es wieherte wenn ich den Hof betrat und ich hatte den
Eindruck , dass es sich auf unser Zusammensein freute.
Ich hatte absolut keine Angst vor Pferden, weil außerdem damals die Erwachsenen
immer sagten: „Die Pferde sehen den Menschen sieben Mal größer als er in
Wirklichkeit ist und gehorchen deshalb den scheinbaren Riesen.“ Das war aber nur ein
Märchen und sollte den Respekt vor der Kraft dieser Tiere nehmen, um furchtlos mit
ihnen umzugehen.
Im Sommer bevor ich eingeschult wurde, lernte ich Schwimmen. Am Haltepunkt
Schüptitz, wo mein Onkel wohnte, war ganz in der Nähe der kleine Fluss Weida durch
ein Wehr gestaut. Dahinter befand sich ein ca. 1 m tiefes größeres Staubecken, das sich
ausgezeichnet zum Schwimmen eignete. Meine 3 Jahre ältere Cousine erteilte mir
Schwimmunterricht. Wir hatten damals sogenannte Schwimmkissen, mit denen wir uns
über Wasser hielten und die Schwimmbewegungen lernten. Das waren ungefähr 40 x 40
cm große Kissen, die aus festem, fast Luft undurchlässigem Leinentuch von unseren
Müttern selbst genäht wurden. Sie konnten nur mit großer Mühe aufgeblasen werden,
hielten aber doch einige Stunden die Luft. Zwei Kissen waren mit einem Stoffstreifen
verbunden, der als Auflage für die Brust diente. Diese einfachen billigen Hilfsmittel
erfüllten durchaus ihren Zweck.
Außerdem verbrachte ich meine Freizeit sehr gern bei Onkel, Tante und Cousine.
Dichte Wälder, kleine Berge und in der Nähe ein stillgelegter Steinbruch waren ein
wunderbares Gelände zum „stromern“. In den Herbstferien bin ich manchmal noch
abends, wenn es schon dunkel war, durch den Wald nach Hause gegangen. Ich habe
dann oft hierüber mit meinem Mut geprahlt und auch Geschichten über die Begegnung
mit Wildschweinen oder Landstreichern erfunden.
Übel genommen habe ich meiner Cousine, dass sie unser “Floßunternehmen“
verhinderte. Wir waren ca. 10 Jahre alt und zwei Spielgefährten und ich phantasierten,
ein Floß zu bauen um damit über die Flüsse Weida, Weiße Elster, Saale und Elbe
vielleicht sogar bis Hamburg zu kommen. Wir haben im Wald Bäume gefällt, im
Steinbruch leere Benzinkanister aufgespürt und von zu Hause Stricke mitgenommen.
Auch Lebensmittel für die lange Fahrt wurden bevorratet. Alles blieb geheim, bis wir
das Floß ins Wasser bringen wollten. Da entdeckte uns meine Cousine an unserem
„Floßbauplatz“ , verriet unser Vorhaben und machte damit alle unsere Träume und
Pläne zunichte. Es gab sogar noch Schelte wegen der gefällten Bäume.
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In einer Kleinstadt wurde das Postgeheimnis nicht immer ernst genommen. Der
Briefträger las die Postkarten und originelle Mitteilungen erzählte er dann allen
Bekannten unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit.
Mit der Rechtschreibung nahmen es viele nicht so genau und schrieben wie sie im
Dialekt auch sprachen. So sind von einem Herrn, der von der Front nach Hause schrieb,
folgende Kartengrüße durch den Briefträger bekannt geworden: „Liebe Muder, schick
mir Buder, denn du weßt, Fet äss ich net.“ Oder „ Lieg Lazeret bin wund.“
Das Postgeheimnis wurde ebenfalls verletzt, als bekannt wurde, dass von Oswald
während seiner Wanderschaft als Handwerksbursche eine Karte zu Hause angekommen
war. Ohne Absender enthielt sie nur den Text: „Oswald tot.“ Er war daraufhin mehrere
Jahre verschollen und als er frohgemut wieder in Hohenleuben auftauchte erhielt er den
Spitznamen: „Oswald Tod“.
Noch heute denke ich gern an den „Klingelmann“. Alle wichtigen städtischen
Mitteilungen wurden durch mündliches Ausrufen bekannt gemacht. In jeder kleinen
Stadt gab es eine Brauerei, die das Wasser zum Teil aus öffentlichen Teichen entnahm.
Vielleicht als Witz, oder auch als Wahrheit, kursierte der Spruch: „Es wir hiermit
bekannt gemacht, dass niemand mehr ins Wasser macht, denn morgen wird gebraut.“
Eine wahre Begebenheit machte in dieser Zeit in Hohenleuben die Runde. Es war
Samstagabend und damit Badetag. Ein älteres Ehepaar in der Schlossstraße, beide
konnten schlecht sehen, trafen in der Küche die notwendigen Vorbereitungen für den
Säuberungsakt. Als die Frau in der Zinkwanne badete, bat sie ihren Mann etwas heißes
Wasser nach zu gießen. Auf dem Herd kochten schon die Rinderrouladen. Anstelle des
Wassers erwischte er den Topf mit diesem Sonntagsessen und schüttete den gesamten
Inhalt in die Wanne. Die Ehefrau schrie auf, als sie die Fleischstücke spürte, sagte dann
aber in ihrer gutmütigen Art, im Dialekt: „Ach Otto, die gute Rulattenbrühe, itze hamer
morgen nichts ze aessen.“
Zu den Originalen unserer Stadt zählte der Altwarenhändler, wir sagten
Lumpensammler. Er hatte Anfang der dreißiger Jahre sein Geschäft gegründet und mit
einem Handwagen und einer gemieteten Scheune den Firmenaufbau begonnen. Er
wohnte in der Bahnhofstraße und hatte auf seinem Firmenschild am Handwagen
„Bahn“ ohne “h“ geschrieben. Er war ein Schulkamerad meiner Mutter und sie sprach
ihn daraufhin an, um ihn vor einer Blamage zu bewahren. Er erwiderte: „ Ihr Mädchen
wollt immer so schlau sein und wisst nicht, dass in einem Wort keine zwei „H“
vorkommen dürfen. Hof muss aber wohl mit „H“ am Anfang geschrieben werden.“
Jedenfalls blieb sein Firmenschild unkorrigiert.
Zum Verdruss unserer Eltern spielten wir Kinder sehr gern in der Scheune vom
Altwarenhändler. Dort konnten wir in den Lumpen, altem Geschirr, Eisenwaren und
sonstigem Gerümpel wühlen und uns manchmal sogar etwas mit nach Hause nehmen.
Wir halfen ihm dafür beim Sortieren des Plunders. Meine Mutter hatte Angst, dass wir
uns eventuell mit Krankheiten anstecken könnten. Verbote halfen aber nicht, uns von
diesem Tun abzuhalten.
Der Kleinunternehmer hatte dann ab 1938 ein Auto, das er auch im Krieg behalten
durfte, weil es nicht „wehrmachtstauglich“ war. Es war ein größeres Cabrio ohne
Verdeck und mit nur einem Sitz für den Fahrer. Der übrige Raum diente als Ladefläche.
Die Gangschaltung befand sich außen neben der Fahrertür. Für uns Kinder war die
große Hupe mit Gummiballon, die wir hin und wieder drücken durften, besonders
interessant. Die Automarke ist mir nicht mehr bekannt, es war auf alle Fälle kein
Originalmodell mehr. Der Motor sprang trotz eifrigen Kurbelns nur selten an. Der
Besitzer ließ deshalb das Auto eine lange Straße, die mit starkem Gefälle ins Leubatal
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in Richtung Hohenölsen führte, hinabrollen, um es damit zum Anspringen zu bringen.
Wir Kinder – meist 6 bis 8 Jungen und Mädchen – durften mitfahren, weil er uns
brauchte, das Gefährt wieder nach oben zu schieben, wenn der erste Versuch nicht
geklappt hatte. Zu unserer Freude gab es manchmal sogar mehrere Wiederholungen.
Erlebnisreich war für uns Kinder immer der Kinobesuch in unserer Kleinstadt. Bis zu
den vierziger Jahren kam der Landfilm. Es wurden Propaganda- aber auch
Märchenfilme gezeigt. Die Veranstaltung fand im „Reußischen Hof“ statt. Dieses Hotel
als erstes Haus am Platz hatte neben der Gaststätte einen großen Saal mit einer
geräumigen Bühne:
Nicht nur Filmvorführungen sondern Zusammenkünfte und Feiern der NSDAP und
ihrer Gliederungen, Tanzvergnügen, Theatervorführungen und andere Veranstaltungen
fanden in diesem Mehrzwecksaal statt. Es konnten hier mehr Menschen untergebracht
werden als im Ratskeller und Schützenhaus, wo ebenfalls je ein Saal zur Verfügung
stand.
Die Filmvorführungen für Kinder fanden Nachmittags statt. Es gab hierfür immer einen
Kampf um Karten und Plätze. Die Tochter einer Freundin meiner Mutter, die Karla
Junold, die 3 Jahre älter war als ich, sollte meine Beschützerin sein. Im Saal trennten
wir uns aber grundsätzlich, denn sie wollte hinten und ich vorn sitzen. Ich behauptete
immer, dass man nahe der Leinewand die Bilder besser sieht. Außerdem schämte ich
mich, dass ein Mädchen mich als 6 bis 9 Jährigen Jungen noch leiten und lenken wollte.
Ich kannte noch echte „Tante Emma Läden“. Auf dem Firmenschild dieser
Lebensmittelgeschäfte stand meistens hochtrabend „Kolonialwaren“, es wurden aber
vorwiegend einheimische Produkte verkauft. Mehl, Zucker, Hülsenfrüchte, Nudeln
usw. wurden aus großen Säcken oder Kästen in Papiertüten gefüllt, gewogen und den
Kunden übergeben. Dabei blieb trotzdem noch Zeit die neuesten Nachrichten und den
Dorfklatsch auszutauschen. Ein simples Vorkommnis blieb mir bis heute in Erinnerung.
Ich kaufte gerade bei einem solchen Ladenbesitzer ein und hörte ein Poltern. Der
Geschäftsinhaber war mit einem Mehlsack einige Stufen die Treppe heruntergefallen
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und. der Sack war geplatzt. Das Mehl lag über den gesamten Flur verstreut. Die
anderen Kunden und ich mussten warten bis das wertvolle Gut mit Besen und Schippe
aufgenommen war. Es kam in den Kasten, aus dem es verkauft wurde. Erst nach
beendeter Arbeit kümmerte sich die Geschäftsfrau um ihren Mann. Die heute strenge
Bestimmung, dass auf den Boden gefallene unverpackte Lebensmittel nicht mehr
verkauft werden dürfen, galt damals noch nicht, oder man hat sie zumindest nicht ernst
genommen. Ich habe noch die Bemerkung im Ohr: „Alles was gekocht oder gebacken
wird ist nicht mehr schädlich“. Lebensmittel wegwerfen galt als Sünde und es wurden
manche Manipulationen vorgenommen um Verdorbenes zu retten. Z.B. wurde Fleisch
mit leichter Oberflächenfäulnis mit Essig abgerieben, verunreinigtes Mehl gesiebt,
beschlagene Schinken oder Dauerwürste trocken abgerieben, Schimmel auf Marmelade,
Brot u.a. entfernt usw. usw.. Die von solchen Lebensmittel ausgehenden großen
Gefahren kannte man nicht.
Im Zusammenhang mit Lebensmittelmarken denke ich an das Schützenfest 1939 in
Hohenleuben, das alljährlich am letzten Augustwochenende stattfand. Ich ging mit
meinen Eltern sehr gern zu dieser Veranstaltung. Auf den Weg dorthin schaute in der
Reichenfelserstraße ein Herr , der in der Stadtverwaltung tätig war, aus dem Fenster. Er
sagte zu uns: „Esst nur noch einmal tüchtig Rostbratwürste, denn ab Montag teilen wir
Lebensmittelkarten aus und dann wird’s knapper mit der Esserei.“ Die
Lebensmittelrationierungen begannen und sogar das Fest wurde abgebrochen.
In meiner Kindheit war das Schützenhaus, das in der DDR – Zeit abgerissen wurde,
eine bekanntes Ausflugsziel und eine beliebte Gaststätte. Auf dem Platz hinter dem
Haus fand das Schützenfest statt.
Über die Lebensmittelmarken weiß ich eine lustige Geschichte zu erzählen. Neben uns
in der Gartenstraße wohnte Hermine. Man erzählte sich, dass sie sich wenig gewaschen
hat und dem Wasser und der Seife böse sei.
In der Sommer- und Herbstzeit, wenn die Gartenfrüchte konserviert wurden, war
Zucker ein sehr begehrter Artikel. Hermine kam in den Konsumladen und verlangte
Zucker. Die Verkäuferin sagte: „ Frau Fritsche sie haben keine Zuckermarken mehr,
sondern nur noch Abschnitte für Seife.“ Sie erwiderte im Dialekt: „ Scheiß, Quatsch,
Sefenzeig, ich hab kene Zeit zum Waschen, Zucker brauch ich“!
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Die Konsumverkaufsstelle in Hohenleuben war in den dreißiger Jahren in meinen
Augen ein sehr fortschrittlicher Laden, in dem es alle Waren des täglichen Bedarfs gab.
Enge Wohnverhältnisse und Prügelstrafe bei Kindern sind zwei weitere für mich
unvergessene besondere Kindheitserlebnisse.
Von den 7 kleinen Wohnräumen in unserem Haus hat mein Großvater Anfang der
dreißiger Jahre noch zwei an eine fünfköpfige Familie ( 2 Erwachsene, 3 Kinder )
vermietet. Dieser Familie standen nur ca. 18 qm Wohnfläche in der ersten Etage zur
Verfügung. Sie mussten das Wasser in der Waschküche in Parterre holen und auch das
Abwasser bis in den Hof bringen. Das Plumpsklo befand sich neben der Miststätte. Als
Lager für Holz, Kohlen und Kartoffeln oder sonstige Gegenstände konnten sie lediglich
noch einen ungefähr 6 qm großen Schuppen sowie eine kleine Fläche im Keller nutzen.
Meines Wissens bezahlten sie aber auch nur monatlich 3.- Mark Miete.
Ein Sohn dieser Mieter war in meinem Alter. Er ging in den ersten beiden Schuljahren
mit mir in die gleiche Klasse.
Er war der Prügelknabe seines Vaters, der sehr oft seine Kinder mit einem Lederriemen
schlug. Für mich war das immer sehr schrecklich. Ich wurde von Großeltern und Eltern
nicht geschlagen. Mein Vater hat mir ein einziges Mal den Hintern versohlt. Er hatte
dazu auch allen Grund. Ich hatte sein Motorrad umgeschmissen, weil ich gemeinsam
mit meinem Schulfreund Hans Lautenbach darauf rum geturnt war. Ein dabei
zerbrochener Schalter konnte nur schwer wieder beschafft werden und das hatte meinen
Vater sehr in Rage gebracht.
Nach den Strafaktionen mit der Riemenpeitsche wurde mein Schulkamerad meist noch
in den Keller gesperrt. Der Eingang in die Tiefe war in der Waschküche und mit einer
schweren Falltür verschlossen. Eine Selbstbefreiung gab es also nicht. Meine
Großmutter hat den Jungen manchmal rausgelassen und versteckt. Sie war sehr
couragiert und hatte auch vor den rabiaten Vater keine Angst; der sich übrigens auch
nicht getraute, ihr zu widersprechen. Ich habe mehrmals erlebt, dass der Junge auf den
Treppenstufen im Keller saß und nach dem Versiegen der Tränen sang: „Vom Himmel
hoch da komm ich her..........“.
6. Das Leben auf dem Lande
Während meiner Kindheit waren die Lebensverhältnisse in den Dörfern einfacher als in
den Städten. In der Neuzeit verschwinden diese Unterschiede immer mehr. Mein
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Lebensweg, meine Lebenserfahrungen und mein heutiges Wissen wurden sehr stark
davon geprägt, weil ich auf dem Lande aufwuchs. Den Kindern soll derzeit u.a. durch
„Ferien auf dem Bauernhof“ Wissenswertes von der ursprünglichen Landwirtschaft
nahe gebracht werden. Ich will aber darüber hinaus einige ausgewählte Episoden
erzählen, die auf dem heutigen Bauernhof gar nicht mehr nachvollzogen werden können
und im übrigen verdeutlichen, wie gut es uns heute geht.
Obwohl mein Heimatort Stadtrechte besaß, herrschte der Dorfcharakter vor. Das zeigte
sich vor allem in den Wohnverhältnissen und besonders hinsichtlich der sanitären
Einrichtungen. In fast allen Häusern und Gehöften standen landwirtschaftliche
Nutzungsmöglichkeiten aller Räume und Anlagen im Vordergrund. Es wäre einer
Sünde gleichgekommen, wenn die häuslichen Fäkalien nicht für die Düngung
Verwendung gefunden hätten. Ich kannte nichts anderes als sogenannte Plumpsklos
über der Miststätte oder der Jauchegrube des Stalles. Bild eines typischen Plumpsklos –
aufgenommen im Freilichtmuseum Hohenfelden:
Die Gruben waren meistens nur mit Holzbohlen abgedeckt und wenn es regnete oder sie
entleert wurden, war ein sehr intensiver Gestank nach Fäkalien unvermeidbar. Die
Entleerung der Sammelbecken erfolgte nur in größeren Bauernwirtschaften mit einer
Pumpe. Bei uns und vielen Kleinbauern gab es für diese Tätigkeit eimerartige an einer
Stange befestigte „Jaucheschöpfen“.
Die Jauchefässer waren aus Holz und hatten eine sich nach hinten verengende Form.
Die Ausflussöffnungen waren so konstruiert, dass sich die Flüssigkeit beim Austritt
großflächig verteilte. Zum Ausbringen des Dungs auf Felder und Wiesen wurde der
Abfluss während der Fahrt des Wagens geöffnet. Dazu gehörte Geschicklichkeit, weil
man sonst sehr schnell einen Schwapp Jauche abbekam.
Erst als ca. Siebenjähriger sah ich zum ersten Mal bei meiner Tante in der Stadt eine
Toilette mit Wasserspülung. Dieser verschwenderische Umgang mit dem wertvollen
Dünger und dem Wasser wollte mir gar nicht einleuchten.
Anfang der vierziger Jahre wurden in der Straße, in der wir wohnten, Wasser- und
Abwasserleitungen verlegt. Vor dem Anschluss an das öffentliche Netz erfolgte bei uns
die Versorgung mit dem wertvollen Nass aus einem 8 m tiefen Brunnen in unserem
Garten. Eine Pumpe, selbst nur mit Handbedienung, war meinem Großvater zu teuer.
Wir mussten mit einem Eimer, der an einer langen Stange mit einer Kette befestigt war,
das Wasser schöpfen. Noch immer erinnere ich mich der mahnenden Worte der Eltern
zur Vorsicht bei dieser Tätigkeit. Auch beim Spiel mussten wir die Nähe des Brunnens
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meiden. Ich hatte deshalb oft Alpträume, dass die den Brunnen abdeckenden
Holzbohlen einbrachen und ich in der Tiefe ertrank.
Das sehr saubere Wasser, das wir auch unbehandelt tranken, wurde nie amtlich
untersucht. Es entsprach aber bestimmt den heutigen Forderungen, denn von
Erkrankungen habe ich nie etwas gehört. Wir nutzten es selbst noch im großem
Umfange nach dem Anschluss an die öffentliche Trinkwasserversorgung, gegen die sich
ohnehin mein Großvater lange gewehrt hatte. Im übrigen leistete der Brunnen sehr
häufig gute Dienste für uns und die gesamte Nachbarschaft, wenn in Trockenperioden
zu wenig Wasser aus dem städtischen Versorgungsnetz zur Verfügung stand.
Hohenleuben war schon frühzeitig vorbildlich in der städtischen Wasserversorgung.
Kennzeichen hierfür sind das Wasserwerk unterhalb der Ruine Reichenfels (rechts im
Bild) und der Wasserturm, als Wahrzeichen der Stadt.
Die häuslichen Abwässer sammelten sich in unserem Haus in einer Grube. Sie flossen
dann durch eine aus Natursteinen errichtete unterirdische Leitung in einen offenen
Abwassergraben.
Während meiner Kindheit gab es in den Haushalten auf dem Lande manche
Beschwernisse und Arbeiten, die heute in dieser Weise niemand mehr verrichten würde.
Besonders die Hausfrauen leisteten in diesem Zusammenhang oft Schwerstarbeit. Eine
Hilfe im Haushalt wurde damals Männern nicht zugemutet, oder sie lehnten sie auch
grundsätzlich als „Weiberkram“ ab. Ich denke dabei an das Wäschewaschen; das
Wischen und Scheuern der Stuben, Hausflure Böden und Vorratsräume; die
Bevorratung und das Kühlen der Lebensmittel; Öfen beheizen; das Kochen der Speisen;
das Kehren der Hofflächen, Scheunen und der Straße; die Arbeiten im Haus- und
Obstgarten usw. Wir Kinder hatten in diesem Rahmen ebenfalls Aufgaben und
Pflichten, die manchmal sogar bis an die Grenzen der kindlichen Leistungsfähigkeit
gingen. Mindestens alle 4 Wochen hieß es: „Heute und morgen ist „große Wäsche“, da
müsst ihr Kinder euch selbst betun und eventuell auch mit helfen“.
Das Bild der Waschküche, aufgenommen im Thüringer Freilichtmuseum Hohenfelden ,
zeigt Gerätschaften, die im Vergleich zu denen, die ich in meiner Kindheit sah, noch
modern waren. Anstelle der Zinkwannen gab es schwere große Holzwannen aus Holz;
fließendes Wasser hatten wir auch noch nicht und das Nass musste mit schweren
Zinkeimern aus dem Brunnen im Garten herangeschleppt und das Abwasser
fortgetragen werden. Der eingemauerte Kessel mit Feuerungsloch galt auch bei uns als
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eine große Errungenschaft. Der Behälter fand aber nicht nur Verwendung fürs
Wäschekochen, sondern diente beim Schlachtfest fürs Kochen des Fleisches und der
Würste und wurde ebenso eingesetzt für die Sirupherstellung aus Zuckerrüben. Das
Rumpelbrett, das ganz vorn im Bild und hinten an der Wand neben dem Kessel zu
sehen ist, war sehr wichtig um alle Schmutzstellen aus der Wäsche zu rumpeln. Die
Frauen haben sich dabei manche Finger wund gerieben. Hartnäckiger Schmutz wurde
mit Kern- oder Schmierseife eingerieben und mit einer Wurzelbürste, die auch zum
Scheuern des Fußbodens Verwendung fand, bearbeitet. Eine Wringmaschine, die wie
abgebildet am Wannenrand festgemacht wurde, und zumindest das schwere Auswringen
per Hand erleichterte, lernte ich erst in den vierziger Jahren kennen. Betonen muss ich
noch, dass besonders die Arbeitskleidung der Männer aus steifem, schwerem
Drillichstoff bestand und beim Waschen viel Kraftanstrengung erforderte. Beim Heben
der Wäsche aus dem Kessel und den Wannen sowie beim Transport der schweren
Wassereimer und großen Töpfe haben sich manche Frauen, so hörte ich schon als Kind,
gesundheitliche Schäden zugezogen.
Zum Trocknen der Wäsche wurden im Sommer im Garten oder Hof Leinen gespannt.
Der Transport des nassen Gutes in geflochtenen Wäschekörben dorthin war leichter zu
bewältigen als im Winter, wenn der Trockenvorgang auf dem Hausboden erfolgte. Für
die Hausfrauen war es eine besondere Ehre, blütenweiße Bettwäsche zu präsentieren.
Nicht weniger beschwerlich war das Säubern der Räume, Flure und Nebengelasse, das
mir als Kind so gar nicht gefiel, weil dabei Mutter und Großmutter immer sehr
abgespannt waren und gar keine Zeit für mich hatten. Außerdem durfte man dann nicht
mit Straßenschuhen über die frisch gesäuberten Flächen gehen. Es war ein Ritual, dass
jeden Freitag oder Samstag Stuben, Kammern und der Hausflur gründlich gewischt und
dort wo blanke Dielenbretter und Steinfußboden waren, gescheuert wurde Der
Fußboden in unserem Hauseingang war mit Ziegelsteinen gepflastert und ich erinnere
mich noch, dass meine Mutter intensiv mit der Scheuerbürste hantierte. Die Männer
nahmen auch oft keine Rücksicht und gingen mit schmutzigen Schuhwerk ins Haus.
Als fortschrittlich galt, wenn Räume mit „Linoleum“ ausgelegt waren. Die damit
erzielte Erleichterung beim Wischen wurde aber durch das „Einbohnern“ und Blankbzw. Glänzendreiben wieder aufgewogen. Mindestens zweimal im Jahr wurden alle
Räume im Haus einschließlich Keller und Hausboden einer gründlichen Reinigung
unterzogen. Ich erinnere mich noch, dass die Frauen alle Arbeiten beim Säubern des
Fußbodens im Knien ausführten. Schrubber an einem Stiel waren verpönt und man
meinte, damit könnte nicht gründlich genug „reine gemacht“ werden, wie wir ebenfalls
im Dialekt sagten. Beim Scheuern wurden hauptsächlich Schmierseife und Scheuersand
(Ata) verwandt und als Zusätze ins Wasser gab es Soda und „Imi“; Mittel, die sehr
hautunverträglich waren.
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Ungefähr die Hälfte unseres Hofes und auch die Straße vorm Haus waren nicht
befestigt, sondern mit einem etwas feineren Kies abgedeckt. Es war sehr beschwerlich,
diese unebenen Flächen gründlich zu kehren. Trotzdem musste einmal in der Woche
gefegt werden. Schon als Vorschulkinder wurden wir hierbei zur Mitarbeit eingespannt.
Die „Außenarbeiten“ mussten samstags bis zum sogenannten Feierabend- oder
Sonntagseinläuten, das war um 18,00 Uhr, erledigt werden. Von dieser Zeit an galt die
sogenannte Sonntagsruhe während der nur das Vieh versorgt oder in der Erntezeit
unaufschiebbare Arbeiten erledigt werden durften. Bei trockenem Wetter wurde beim
Kehren viel Staub aufgewirbelt und wir konnten dann mit der Gießkanne die Flächen
anfeuchten, wir sagten hierzu im Dialekt „sprengen“.
Zur Sonntagsruhe fällt mir eine Episode ein, die bei uns die Runde machte. In unserer
Nachbarschaft wohnte eine Familie mit mehreren Kindern. Der Familienvater hatte
einige Teiche zur Karpfenzucht und -mast gepachtet und es wurde ihm aber nachgesagt,
dass er sonntags, wenn die Leute in der Kirche waren, verbotener Weise in den
Gewässern des Fürsteneigentums fischte. Besonders während des Gottesdienstes
bestand aber Arbeitsverbot. Deshalb besuchte der Ortspolizist den Mann und sagte in
der damals üblichen Redewendung: „G. sie haben unter der Kirche gefischt.“ Er
erwidert: „Ach, ich wusste gar nicht, dass unter der Kirche ein Teich ist.“
Elektrische Haushaltskühl- oder Gefrierschränke gab es im Haushalt meiner Eltern und
Großeltern nicht. Ich bestaunte die Kühltruhe, die ein größerer Bauer in unserer
Nachbarschaft besaß, die einmal im Monat mit Blöcken aus natürlichem Eis neu
bestückt wurde. Die Eisstücke wurden im Winter von den zugefrorenen Teichen durch
Aussägen gewonnen, in tief gelegenen kühlen Kellern gelagert und an die Verbraucher
ausgefahren. Auch an Gaststätten und einige Lebensmittelgeschäfte wurden diese
Eisstangen ausgeliefert, die zum Schutz vor Schmutz und schnellem Auftauen in
starken Jutesäcken verpackt waren. Im Sprachgebrauch von uns Kindern erfolgte diese
Dienstleistung vom Eismann. Der Händler mit Speiseeis, das ich übrigens erst als ca.
Sechsjähriger kennen lernte, erhielt in unserem Jargon später diesen Namen. Aus dem
Nachbarort Langenwetzendorf kam Ende der dreißiger Jahre der Eishändler mit einem
zweirädrigen Karren nach Hohenleuben. Aus zwei doppelwandigen Behältern verkaufte
er 2 unterschiedliche Sorten Speiseeis, die pro Portion 5 Pfennige kosteten. Für uns
Kinder war es eine ganz besondere Belohnung, wenn wir uns Eis kaufen durften. Der
Verkäufer war immer auch von denen umringt, die kein Geld hatten und hofften, etwas
schnorren zu können.
Bei uns zu Hause wurden die Speisen im Keller kühl gehalten. Mutter, Großmutter und
auch ich haben deshalb im Sommer sehr oft den Weg dorthin machen müssen. Betonen
will ich aber an dieser Stelle, dass unser Keller bestimmt eine geeignete Lufttemperatur
und –feuchte für die Lebensmittelaufbewahrung hatte, denn Kartoffeln, Rüben, Kraut,
Möhren, Kohlrabi, Obst und Eingewecktes waren bis zur nächsten Ernte immer in
einem einwandfreien Zustand und an verdorbene Speisen kann ich mich nicht erinnern.
Ich kannte noch Etagenöfen, deren Konstruktion sehr sinnvoll und praktisch war. - Bild:
Freilichtmuseum Hohenfelden.
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Meine Großeltern besaßen einen eingemauerten größeren Küchenherd, der mit der
Rückwand bis in die angrenzende Stube reichte und damit dort mit heizte. Die
Küchenherde waren anfänglich insgesamt aus Gusseisen. Später lernte ich Herde
kennen, die mit Kacheln oder Emailleplatten verkleidet waren. Alle hatten sie eine
große Röhre zum Schmoren und Warmhalten der Speisen und eine Pfanne in der stets
heißes Wasser vorrätig gehalten werden konnte. Die Heizplatte direkt über der Feuerung
bestand aus herausnehmbaren Ringen. Der Unterboden der aufgesetzten Töpfe kam
dadurch direkt ans Feuer und die Hitze wurde optimal genutzt. Kohle- bzw. Holzkästen
dienten der Bevorratung des Heizbedarfs für 1 – 2 Tage, damit dieser nicht ständig vom
Schuppen oder der Scheune herangeschleppt werden musste. Die Kästen wurden
meistens unter den Herd - zwischen dessen Beine - geschoben, oder sie befanden sich
als Sitzgelegenheit neben dem Ofen.
Die Hausfrauen legten ihre Ehre darein, die gusseisernen Teile immer sauber und
glänzend zu halten; hierzu gab es spezielle Ofenschwärze. In der Küche wurde
vorwiegend mit Holz geheizt, weil dies eine schnelle größere Hitze erzeugte. Briketts
wurden nur nachgelegt, wenn längere Zeit Glut gebraucht wurde oder im Winter der
Raum warm gehalten werden sollte.
Unter den Stubenöfen waren die Kachelöfen, die es noch heute in vielen Varianten gibt,
die beliebtesten. Sie verbreiten eine gleichmäßige Raumwärme und auf der meistens um
den Ofen herum aufgestellten Ofenbank konnte man den Rücken angenehm wärmen.
Während meiner Kindheit kamen die transportablen Dauerbrandöfen auf, die
gewährleisteten, dass Glut und Wärme lange erhalten blieben.
Feste Brennstoffe waren während des Krieges und danach sehr knapp und es mussten
häufig Kohlen verwendet werden, die für den jeweiligen Ofentyp ungeeignet waren.
Besonders Briketts sollten durch Rohbraunkohle ersetzt werden. Es gehörte deshalb
Geschick dazu, Öfen, die eigentlich z.B. für Steinkohlen oder Koks ausgelegt waren,
mit diesem Ersatz zu beheizen. Als Brikettersatz gab es sogenannte Presssteine, die aus
unterschiedlichsten Kohlesorten gepresst und von schlechter Qualität waren.
Die Kohlen wurden in unserer Kleinstadt mit Pferdewagen ausgefahren und vorm Haus
oder Hoftor abgekippt. Wir Kinder mussten fleißig mithelfen, die Kohlen in großen
Zinkeimern in den Schuppen oder in die Scheune zu transportierten. Briketts haben wir
dabei meistens per Hand eingelesen. Zur Platzersparnis wurden sie im Vorratsraum
außerdem noch aufgeschichtet.
Damals wurde das Feuerholz grundsätzlich nur per Hand gesägt und gehackt.
Unvergleichbar am schwersten war aber das Ausgraben und „Kleinmachen“ der
Baumwurzeln, der sogenannten Stöcke, in den Rodungen der Wälder. Einfacher war es,
besonders hartnäckige Wurzeln mit einer Schwarzpulverladung heraus zu sprengen.
Trotzdem war die weitere Bearbeitung sehr kraftaufwändig. Die Mühe lohnte sich, denn
das Wurzelholz hatte eine ausgezeichnete Heizkraft. Wir sagten: „Stockholz wärmt
dreimal – beim Roden, beim Zerkleinern und in der Stube.“
Es machte immer Schwierigkeiten, Holzstücke oder Kohlen zum Brennen zu bringen.
Bei uns hieß es „Feuermachen“. Es gab zwar Kohleanzünder zu kaufen, die waren uns
aber zu teuer. Wir schnitzten „Schleißen“, das sind ganz dünne Stäbe aus trockenem gut
brennbarem Holz. Zum Feuer anzünden eigneten sich besonders gut: „Tannenzapfen“
und „Kuhmuscheln“, die von Fichten und Kiefern stammten und meistens von uns
Kindern im Wald gesammelt wurden. Zum Trocknen wurden sie auf dem Haus- oder
Scheunenboden ausgelegt und waren dann als „Anzünder“ unübertroffen.
Fast alle Brennstoffe, die ich als Kind kannte, rußten sehr. Wenn deshalb wegen eines
schlechten Rauchabzuges viel Qualm aus den Öfen kam, sagten wir in unserem
Sprachgebrauch: „Der Ofen muss ausgeputzt werden.“ Das hieß, der Russ musste aus
den Ofenschächten, -zügen und –rohren entfernt werden. Bei dieser Arbeit halfen wir
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Kinder ganz gern mit, denn wir durften alte Kleidung anziehen, brauchten uns wegen
Verschmutzungen nicht besonders in Acht nehmen und lachten uns gegenseitig aus,
wenn wir wie die Schornsteinfeger aussahen. Nur das Waschen nach der schmutzigen
Arbeit war nicht ganz nach unserem Geschmack.
Die Berufe und das Tätigkeitsfeld der Menschen in meinem Heimatort reichte von
Bauern, Kleinbauern, Nebenerwerbslandwirten, Landarbeitern, Fabrikarbeitern und
Angestellten, die meistens in den Nachbarstädten arbeiteten, bis zu Handwerkern,
Besitzern von Läden, Gastwirtschaften und kleineren Gewerbebetrieben sowie deren
Angestellten. Das Verhalten und die Gewohnheiten dieser Menschen kennzeichnete das
Landleben wie ich es als Kind erlebte. Es wandelte sich, als sich in der Nachkriegszeit
die Eigentumsverhältnisse grundlegend änderten.
Die gängigsten landwirtschaftlichen Arbeiten lernte ich als Kind wie selbstverständlich
fast im Spiel. Ich interessierte mich außerdem hierfür und war immer recht stolz, wenn
ich mit neuen Kenntnissen aufwarten konnte.
Bei der Bearbeitung der Äcker waren wir vertraut mit Pflug, Egge und Walze, die von
Pferden gezogen wurden. Sensationell war für uns, wenn der Großgrundbesitzer unseres
Ortes die Seilzugmaschine zur Feldbearbeitung einsetzte. Am Feldrand stand eine
Dampfmaschine und am gegenüberliegenden Rain befand sich eine Umlenkrolle über
die Seile führten, die sich über den Acker hinweg bewegten. Damit wurden die
Bearbeitungsgeräte hin und her gezogen. Als dann die ersten Traktoren zum Einsatz
kamen, war mein Großvater stark empört. Er sagte u.a.: „ Der Druck durch diese Reifen
verfestigt so sehr, das die ganze Bodenfruchtbarkeit pfutsch ist.“
In meiner Kindheit war der Stallmist der wertvollste Dünger, der sehr aufwändig nach
traditionellen Methoden behandelt und aufs Feld gebracht wurde.
Das Ausmisten der Ställe mit Gabel und Schubkarren war Schwerstarbeit. Auf jedem
Hof gab es einen Miststapel und die erfahrenen Bauern sagten: „Am richtig gestapelten
Misthaufen erkennt man, ob der Bauer ordentlich ist und sein Fach versteht.“
Der Mist wurde mit Kastenwagen aufs Feld gebracht. Auf dem Acker wurde der Dung
mit der Gabel gleichmäßig verstreut. Bei dieser Arbeit hatte ich als Vierzehnjähriger ein
unvergessenes Erlebnis. Ich war allein auf dem Feld und es stand ein Gewitter am
Himmel, aber es regnete noch nicht. Ich steckte die Gabel in die Erde, hielt sie noch
am Stiel fest und schaute zum Himmel, ob ich weitermachen kann. Plötzlich spürte ich
ein fürchterliches Zucken durch meinen Körper, schmiss das Werkzeug weg und warf
mich auf die Erde. In ca. 10 m Entfernung hatte ein Blitz in einen am Straßenrand
stehenden Pflaumenbaum eingeschlagen. Der Strom war durch die Erde bis zu meinen
leicht feuchten Gabelstiel geflossen. Seitdem beherzige ich die Hinweise, wie man sich
bei Gewitter vor einem Blitzschlag schützt.
Ich kannte als Kind in erster Linie Roggen, Hafer, Gerste und Weizen. Die Bauern
meinten aber, dass sich der Boden und das Klima in unserer Gegend kaum für den
Weizenanbau eignen würde, deshalb sah man diese Getreideart auf den Feldern nur
selten. Bei den Feldfrüchten dominierten Kartoffeln und Futterrüben. Die heute
vorherrschenden Zuckerrüben wurden nur von einigen Großbauern angebaut. Erst nach
dem Krieg pflanzten auch wir auf einem kleinem Feldstück Zuckerrüben speziell für
die Sirupherstellung im eigenen Haushalt an.
Gras, Rotklee und Luzerne waren die Grundlage für das Wiederkäuerfutter. Mais und
Raps lernte ich erst in späteren Jahren kennen.
Großer Wert wurde auf gepflegte Wiesen und Weiden gelegt. Es kam darauf an, dass
möglichst schon ab März, bevor die neue Vegetationsperiode begann, die Pflegearbeiten
26
anfingen. Von dieser Zeit an war der Handrechen für uns das wichtigste Gerät für die
folgenden Arbeiten auf den Wiesen.
Von meinen Großeltern hörte ich manchmal Bauernregeln im Zusammenhang mit dem
Wetter: „Märzenschnee tut den Saaten weh“. „ Zur Lichtmess ( 2. Februar ) sieht der
Bauer lieber den Wolf im Schafstall , als die Sonne am Himmel“. „Wenn es zur
Lichtmess stürmt und schneit; ist der Frühling nicht mehr weit.“ „Jeder Nebeltag im
März bringt ein Gewitter im Juni“. „ Wenn es am Siebenschläfer ( 27. Juni ) regnet,
dann hält dies 7 Wochen an; dann gibt es Schwierigkeiten bei der Getreideernte“. „Ist
der Mai kühl und nass, füllt´s den Bauern Scheuer und Fass“. Ich bekenne, dass ich als
Kind diese Regeln sehr ernst nahm und auch kontrollierte, ob sie eintrafen.
Die Weidewirtschaft war besonders in meiner Heimat eine Wissenschaft für sich. Die
Kleinbauern tüderten die Rinder, Schafe und Ziegen. Das stammt aus dem
Niederdeutschen und bedeutet, dass die Tiere an einer langen Leine, die an einem
Pflock befestigt ist, angebunden werden. Die Wiederkäuer können damit in einem
erreichbaren Areal das Gras, den Klee oder die Luzerne abweiden. Schon damals hatten
die größeren Bauern „elektrische Weidezäune“. Als Kinder erlaubten wir uns manchmal
den Schabernack, durch Herstellung einer Erdverbindung der Drähte die elektrische
Wirkung aufzuheben. Trotzdem brachen die Tiere nur selten aus, denn sie hatten fast
alle schon Bekanntschaft mit der Stromwirkung gemacht und die sichtbaren
Stromleitungen genügten.
Der Heuernte im Juni, wenn die Gräser den richtigen Wuchs für qualitätsvolles
Winterfutter hatten, folgte im August/September noch die Grummeternte. Ich wusste
schon als Kind, dass die Heumahd vor der Blüte bestimmter Gräser erfolgen musste,
damit diese Pflanzen mit geringerem Futterwert nicht ihre Samen verbreiteten.
Bei den Wiesen- und Feldarbeiten durfte nicht von den bisherigen Traditionen
abgewichen werden. Das Gras wurde meist mit der Sense gemäht, weil das schonend
für die Wiesenfläche war. Außerdem war auf dem hängigen Gelände meiner Heimat der
Einsatz von Mähmaschinen nicht überall möglich. Nach dem Mähen musste das Gras
von den großen Schwaden mit dem Rechen gleichmäßig über die Wiese verteilt
werden, damit es schnell trocknete. Die Wettervorhersagen waren zur damaligen Zeit
noch sehr ungenau, es wurde weitgehend nach alten Bauernregeln gehandelt. Wenn auf
Grund ungünstiger Witterung sich die Ernte verzögerte, musste auch zwischendurch als
Schutz vor Regen oder Tau das Heu oder Grummet in Haufen, als Schober bezeichnet,
aufgeschichtet und nach Wetterbesserung wieder verteilt werden. Immer und immer
wieder, oft zweimal am Tag, wurde gewendet. Das war gar nicht so einfach, denn man
musste den Rechen so ansetzen, dass mit einem gezielten Schwung die untere Seite der
richtigen Menge Gras nach oben kam. Hierbei halfen die Frauen und wir Kinder tüchtig
mit. Bei dieser Arbeit habe ich mir als Kind so manche Schwiele an den Händen
zugezogen, bis ich den richtigen Griff am Rechenstiel beherrschte. Mein Großvater
sagte immer: „ Das Heu muss auf dem Rechen trocknen “.
Sehr beschwerlich war es allerdings, wenn das Heu mit Schubkarren eingebracht
werden musste. Wir besaßen z.B. u.a. eine Wiese ( ca. 0,25 ha groß) im Triebestal. Zu
diesem Standort, ungefähr 3 Km von unserem Haus entfernt, führte nur ein enger für
Fuhrwerke kaum passierbarer recht steil abfallender Wald- und Feldweg. Ich entsinne
mich noch, dass mein siebzigjähriger Großvater den vollgepackten Schubkarren schob
und die Balance hielt. An vorn angebundenen Stricken halfen meine Mutter und ich, die
Fuhre den Berg hinauf zu ziehen. Das war Schwerstarbeit, die mir trotzdem nicht die
Freude an der Landwirtschaft verdarb. Ich lebte immer in der Hoffnung, später einmal
alle schweren Arbeiten mit Zugtieren oder Technik ausführen zu können.
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Nicht weniger aufwändig als die Raufuttergewinnung war das Pflanzen sowie die
Pflege und Ernte der Hackfrüchte. Die Rübenpflanzen wurden selbst gezogen. Dafür
besaßen die einzelnen Bauern ein extra Stück Land, das man Pflanzstelle nannte. Eine
solche 25 Quadratmeter große Fläche inmitten anderer Grundstücke, die dem gleichen
Zweck dienten, ist noch heute in meinem Heimatort in meinem Besitz. Der
Rübensamen musste rechtzeitig, Ende Februar, ausgesät werden, damit die kräftigsten
Pflanzen im April aussortiert und auf dem Feld ausgepflanzt werden konnten.
Chemische Unkrautbekämpfung kannte ich in meiner Kindheit noch nicht.
Die Aussaat des Getreides vollzogen in meiner Kindheit noch einige Bauern per Hand.
Das musste gekonnt sein, denn das Saatgut war gleichmäßig über das Feld zu verteilen.
Beliebte Motive einiger Kunstmaler waren die dargestellten „Sämänner“ mit den vor
dem Bauch getragenen Mulden bzw. Saat- oder Düngerwannen und den typischen
Handbewegungen für das Breitwerfen des Saatgetreides. Damit wird eine
charakteristische bäuerliche Tätigkeit dokumentiert. Auf gleiche Weise brachten viele
Bauern den Kunstdünger aus.
In meiner Kindheit waren die Arbeitsgänge bei der Getreideernte nicht nur schwer,
sondern auch sehr umständlich. Als ich erstmals Anfang der vierziger Jahre von
Mähdreschern in Amerika hörte, habe ich gelacht und das ganze als Märchen abgetan.
Als dann in den fünfziger Jahren die großen russischen Erntemaschinen auch bei uns
Einzug hielten, kamen wir aus dem Staunen fast nicht mehr raus. Es ist beeindruckend,
dass beim Einsatz der heutigen Maschinen für die Getreideernte nur noch ganz wenige
Arbeitskräfte benötigt werden.
Vielfach wurde das Getreide, vor allem in den kleineren Bauernwirtschaften, noch mit
der Sense, an der ein besonderes Gestell angebracht war, gemäht. Die abgeschnittenen
Halme fielen damit günstig für das sogenannte „Raffen“ an das noch stehende Getreide.
In der weiteren technischen Entwicklung kamen die von Pferden gezogenen
Grasmähmaschinen, die am Mähbalken mit einem speziellen Ablegblech ausgerüstet
waren, zum Einsatz. Neben dem Mähen mit der Sense, war das „Raffen“ die
beschwerlichste Arbeit, bei der ich auch schon als Kind tüchtig mithalf. Handschuhe zu
benutzen war verpönt. Den Schmerz durch die stechenden Disteln oder Gerstengrannen
kann ich bis heute nicht vergessen. Ich dachte immer daran, dass ich im Frühjahr beim
„Distelstechen“ doch noch zu viele dieser stachligen Pflanzen übersehen hatte. Die
Garben banden wir meistens mit selbstgefertigten Bändern zusammen. Hierfür wurden
die oberen Enden der Getreidehalme durch einen besonders gedrehten Knoten
miteinander verbunden. Einfacher waren die Schnurenbänder zu handhaben, bei denen
nur der festgezogene Strick um einen Holzknebel gewunden wurde. Nach diesen
Arbeitsgängen ging es an das Aufstellen der „Puppen“. Hierzu wurden um eine mittlere
Garbe, die meistens wir Kinder gerade hielten, 5, 9 oder 11 weitere Getreidebündel fest
angelehnt. Damit bestanden die Puppen aus 6, 10 oder 12 Garben und konnten nach
„Dutzend“ oder im Dezimalsystem zusammengezählt werden. 5 „Zwölferpuppen“
waren dann ein Schock = 60 Garben. Nach verrichteter Arbeit durften wir Kinder
manchmal Verstecken spielen, wozu sich die „Puppen“ vorzüglich eigneten.
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Beim Einfahren reichten die Helfer mit zweizinkigen Gabeln die Garben auf die
Leiterwagen. Dort musste die Fuhre gleichmäßig und akkurat geladen werden..
Zu Hause wurden die Getreidegarben im „Scheunenpansen“ zwischengelagert, denn
das Dreschen blieb für die Wintermonate, wenn die Außenarbeiten erledigt waren.
In unserer kleinen Landwirtschaft wurde nach dem Abfahren der Getreidegarben die
gesamte Stoppelfläche noch mit dem Heurechen nachgerecht, um auch die letzte
Getreideähre aufzusammeln.
Meine Großeltern sagten: „Wenn der Wind über die Stoppelfelder streicht, dann ist der
Sommer fast vorbei“. Diese Fluren waren für uns Kinder ideal, um die selbstgebastelten
Drachen steigen zu lassen. Die Freude währte aber nicht lang, weil die Flächen auf
denen kein Klee oder keine Luzerne wuchsen sobald wie möglich gepflügt wurden. Ich
habe schon als Dreizehnjähriger gern gepflügt, weil ich dabei meine phantasievollen
Gedanken schweifen lassen und bei guter Arbeit ein Lob einheimsen konnte.
Überaus anstrengend und mit dem heutigen Maschineneinsatz nicht mehr vergleichbar,
war die Hackfruchternte. Es gab noch nicht so viele Kartoffelsorten wie heute.
Unterschieden wurden frühe, mittelfrühe und späte Arten, die als beste Qualitäten alle
„ mehlig bis halbmehlig kochend“ sein mussten. Der Erntezeitpunkt, vor allem für die
Einlagerungsfrüchte, war nicht vor Oktober. Nur dann, so meinten unsere Großeltern,
halten sie sich im Keller oder in der Miete bis zum nächsten Frühjahr.
Die Kleinbauern ernteten die ersten frühen und mittelfrühen Kartoffeln durch
Ausgraben mit der Gabel. Die Haupternte erfolgte dann in mehreren Arbeitsschritten.
Zuerst wurde das Kartoffelkraut per Hand herausgezogen und am Feldrand auf Haufen
geschichtet. Als nächstes mussten wir die beim Krautziehen mit herausgerissenen
Kartoffeln auflesen.
Das Roden mit dem Pflug war schonender als mit den in meiner Kindheit
aufkommenden „Schleudern“. Nur mussten beim ersteren die Knollen meist noch aus
der Erde heraus gebuddelt werden. Beim Schleudern lagen die Kartoffeln recht gut
verstreut auf der Erdoberfläche, wurden aber stärker beschädigt.
Neben den Mühen gab es aber bei der Kartoffelernte auch manche Freuden, an die ich
sehr gern zurück denke.
Der Oktober war die Zeit der Zwetschgenernte. Es gab deshalb auf dem Feld zur Vesper
köstlichen saftigen Hefeteig - Pflaumenkuchen, der mit den schmutzigen Händen
besonders gut schmeckte.
Das in Haufen aufgeschichtete Kartoffelkraut wurde meist verbrannt. Wir durften dabei
Kartoffeln in dieses Feuer legen, die dann zwar eine verkohlte Schale hatten, aber gut
schmeckten. Als Vorschulkinder übten wir dabei das Zählen, denn die Anzahl der
hineingeworfenen Knollen musste auch wieder gefunden werden.
Die Futterrübenernte war ebenfalls umständlich. Das Kraut war ein gutes Rinderfutter.
Schon vor der Rübenernte wurden die unteren größeren Blätter per Hand abgemacht.
Wir nannten das „blaten“. Mit diesen Blättern konnte die Zeit der Fütterung mit frisch
geerntetem Grüngut verlängert werden.
Die Zeit, in der die frischen Rübenblätter verfüttert wurden, war in den Kuhställen
immer deutlich sichtbar. Die Tiere hatten dann einen sehr guten „Stuhlgang“, oder bei
Tieren sagt man besser gute Kotausscheidung. Vor den kräftigen und dünnflüssigen
Kotstrahl galt es, sich im Stallgang rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Das nahm man
in Kauf, weil durch die Rübenblattfütterung auf alle Fälle die Milchleistung der Tiere
gesteigert werden konnte.
Für das Dreschen des gesamten Getreides standen die unterschiedlichsten Maschinen
zur Verfügung und das ganze Verfahren war, neben der schweren Arbeit, in gewisser
Hinsicht ein kleiner Festakt, denn nun wurden auch die erzielten Erträge sichtbar.
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Bei uns wurden die schweren Getreidesäcke auf den Boden ( Scheune oder Haus)
getragen und die Körner dort zum Trocknen ausgebreitet. Sie mussten dann im Laufe
des Winters, bis sie verfüttert oder zur Mühle gebracht wurden, mehrmals mit speziellen
Schaufeln aus Holz (Scheffel) gewendet werden.
Beim Dreschen bekamen wir immer viel Staub ab, und wir sahen abends manchmal wie
Mulatten aus. Bäder gab es bei uns und in den meisten Familien damals nicht. Wir
waren froh, wenn in der Waschküche der Wäschekessel angeheizt war, und wir dann in
der großen Zinkwanne baden konnten.
Als Besonderheit kannte ich in meiner Kindheit noch das Flegeldreschen. Die Flegel
sind walzenförmige ca. 80 bis 100 cm lange und 10 bis15 cm starke Klöpfel, die
beweglich mit Riemen an Stielen befestigt sind. Zum Dreschen werden auf der
Scheunentenne die Bündel Strohhalme mit noch vollen Ähren ausgebreitet, auf die 6
bis 8 im Kreis postierte Personen im rhythmischen Takt einschlagen. Wir Kinder hatten
kleinere Flegel und lernten zwischen den Erwachsenen stehend das Flegeldreschen.
Meist wurde Roggen in dieser Weise gedroschen, weil dessen Stroh lange Bänder
liefert. Körner und Spreu, die auf der Tenne zurückblieben, mussten noch getrennt
werden. Das erfolgte oft per Hand - durch Werfen gegen den Wind. Die Bauern halfen
sich in den Wintermonaten gegenseitig beim Flegeldreschen. Daraus entwickelten sich
oft kleine Feste mit Bier- oder Kaffeetrinken. Bild aus der Kindheit meiner Mutter.
.
Über die Veränderung der Leistung und Haltung der landwirtschaftlichen Nutztiere gibt
es viele seriöse aber auch reißerische Veröffentlichungen. Ich will als Zeitzeuge
berichten, wie die Tierhaltung in meiner Kindheit aussah, weil das schon weitgehend in
Vergessenheit geriet.
Ein guter Durchschnitt waren tägliche Milchleistungen der Kühe von 10 Litern und der
Ziegen von 2 Litern. Die Kälber tranken (saugten) am Euter ihrer Mütter, wurden damit
natürlich ernährt und außerdem durch die Kontamination mit den stallspezifischen
Keimen grundimmunisiert. Es gab weniger Kälberverluste als später beim Einsatz von
Milchaustauschern. Antibiotika kannten wir noch nicht. Das Kalbfleisch war echt, weil
die Tiere bis zur Schlachtung nur Milch und keine festen Futterstoffe bekamen.
In meiner Heimat wurde vorwiegend die Rinderrasse Höhenfleckvieh, das sich neben
einer akzeptablen Milchleistung durch guten Fleischansatz auszeichnet, gezüchtet und
gehalten.
Die Hauptkrankheit war Rindertuberkulose, die bekanntlich auch auf den Menschen
übertragbar ist. Die meisten Bauern hatten im Stall eine Kuh, die als die gesündeste galt
und nur von dieser wurde die Trinkmilch für den Eigenbedarf gewonnen. In
aufgeklärten Bauernfamilien wurde aber auch diese, wie alle andere Milch, nicht roh
verzehrt. Die schon damals sehr gut funktionierenden Molkereien lieferten Trinkmilch
aus, die in der gesundheitlichen Unbedenklichkeit dem heutigen Standard entsprach.
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Melkmaschinen hatten nur die größeren Bauern. Beim Handmelken wurde ein
einbeiniger Schemel an den Hintern gebunden, mit dem man recht gut neben der Kuh
sitzen und das Euter erreichen konnte
Die künstliche Besamung war noch nicht bekannt und in jedem Ort oder auch für
mehrere Dörfer zusammen stand in einem größeren Bauernhof ein Zuchtbulle. Dorthin
wurden die Kühe zum „Decken“ gebracht. Die Ziegenböcke waren meist an einer
zentralen Stelle bei Kleinbauern untergebracht. Diesen Standort konnte man durch den
intensiven Geschlechtsgeruch selbst in der weiteren Umgebung wahrnehmen. In
Hohenleuben befand sich die Bockhaltung in der Oststraße. Ziegen sind sehr störrisch,
selbst wenn sie zum Deckakt gebracht werden sollten. Mein Großvater hat sie
manchmal mit dem Handwagen dorthin gefahren, weil sie absolut nicht laufen wollten.
Einstreulose Haltungsformen gab es während meiner Kindheit noch nicht. Sonst hätte ja
auch der Mist gefehlt.
An Schweinerassen kannte ich „Deutsches Landschwein“, „Deutsches Edelschwein“
und „Sattelschwein“, das waren die schwarz / weiß gefleckten Tiere. Die Mastdauer
betrug meist länger als ein Jahr. Vier Zentner schwere Schweine mit dickem Speck
waren beliebt für die Hausschlachtung, d.h. den Eigenbedarf. Von neu gezüchteten
Rassen mit einem längeren Kotelettstrang und einer Schlachtreife ab 8 – 9 Monate,
erfuhr ich erst während meines Studiums in den fünfziger Jahren. Die Schweine wurden
in mittleren und größeren Bauernhöfen in massiven ordentlichen Unterkünften gehalten,
aber mehr als 50 Tiere in einer Stallung hatte ich nicht kennen gelernt. In vielen kleinen
Gehöften waren die Plätze für die Schweinehaltung sehr primitiv und manchmal
richtige „dunkle Löcher“ in Scheunen und Nebengebäuden. Üblich waren „Koben“ , mit
runden Hölzern als Fußböden über einen Hohlraum, in dem sich Kot und Urin
sammelte. Bei Mastschweinen wurde meist nur wenig Stroh eingestreut. Die Holzböden
waren wahrscheinlich die Wegbereiter für die einstreulose Schweinehaltung. Nur in der
Ferkelaufzucht wurde mit Stroheinstreu nicht gespart. Als fortschrittlich galten
Betriebe, in denen die Schweine im Freien leben und sich suhlen konnten.
Das Säubern der Schweinebuchten war immer eine Arbeit, vor der auch ich mich gern
drückte. Das Herausnehmen der Rundhölzer, deren Reinigung und das Leeren der
Sammelgruben vom Kot- und Urin, erfolgte mit einfachem Werkzeug und per Hand.
Außerdem musste mit Wasser gespart werden. Die heute bekannte Säuberung mit
Wasserstrahlgeräten oder wenigstens einem Wasserschlauch gab es bei uns nicht.
Legehennen durften bei keinem Bauern fehlen. Das waren die Tiere, die am ehesten
Frischluft und Auslauf genießen konnten. Käfige oder Bodenintensivhaltung habe ich in
meiner Kindheit nirgends kennen gelernt. Die Landwirte, die eine hohe Legeleistung
erwarteten, hielten die Rasse „Weiße Leghorn“, die legten durchaus im Jahr pro Henne
150 bis 180 Eier. Diese Vögel hatten aber keinen guten Fleischansatz, wie er für
Suppenhühner gewünscht war. Hierfür gab es Fleischrassen, die aber weniger Eier
legten.
Im Gegensatz zu heute wurden noch in den dreißiger und vierziger Jahren die
Legehennen im Schnitt 3 – 4 Jahre alt. Sie hatten dann fast alle Tuberkulose, die auch
auf Schweine und Rinder übertragbar ist. Die Legeleistung der alten Tiere war sehr
gering und deckte häufig nicht einmal den Futteraufwand. Meine Großeltern sagten:
„Alte Kühe und junge Hühner machen den Bauern reich.“ Diese Weisheit war aber auch
nur schwer zu verwirklichen. Z.B. die Kühe, für deren Nachwuchs ein hoher Aufwand
erforderlich ist, mussten gerade wegen der Tuberkuloseerkrankung oft sehr jung
geschlachtet werden.
In meiner Kindheit war die Fütterung der landwirtschaftlichen Nutztiere noch sehr
natürlich und artgerecht. Rinder bekamen im Winter vorwiegend Heu und Grummet
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sowie Rüben und nach jeweiliger Milchleistung Getreidekraftfutter. Sogenannte
Leistungsförderer waren unbekannt und als Zusatz nur Mineralstoffgemische
vorwiegend mit Kalk üblich. Lecksteine sowohl für Rinder als auch für Ziegen und
Schafe durften nicht fehlen. Getränkt habe ich die Tiere noch mit dem Wassereimer
oder Wasser in Trögen. Es kamen gerade die Selbsttränken auf und ich weiß, dass wir
immer sehr argwöhnisch prüften, ob die Tiere auch wirklich getrunken haben. Es wurde
immer gesagt: „Wasser ist das billigste und wichtigste Futtermittel und wer das Tränken
vergisst, verschenkt Geld.“ Für Pferde war Hafer das hauptsächlichste Kraftfutter.
Schweine erhielten vorwiegend Kartoffeln und Rüben sowie Kleie und
Getreidekraftfutter. Bauern, die schon einmal etwas von Vitaminen gehört hatten,
fütterten den Schweinen auch Rübenblätter, Klee oder Luzerne.
Natürlich ernährt wurden die Hühner mit Gersten- oder Weizenkörnern, zerkleinerten
Knochen oder Eierschalen. Ich erinnere mich, dass wir eine „Knochenpresse“ hatten,
mit der die von den Fleischspeisen übrig gebliebenen Knochen zerkleinert wurden.
Nachbarn ohne Tierhaltung sammelten diese Futterstoffe und erhielten hierfür einen
kleinen Obolus in Naturalien. Der Zukauf von Mineralstoffgemischen konnte damit auf
ein Minimum beschränkt werden.
In den dreißiger und vierziger Jahren besaßen die Ernteergebnisse einen wesentlich
höheren Stellenwert als heute. Nicht mehr allein das gewonnene Produkt, sondern der
erzielte Geldgewinn spielt jetzt die dominierende Rolle. Unsere Vorfahren würden es
einfach nicht begreifen, dass z.B. die EU für nicht bestellte Flächen oder nicht erzeugte
tierische Produkte Prämien zahlt.
Der Leser möge deshalb auch nach diesen Gesichtspunkten die bisher beschriebenen
bäuerlichen Arbeiten beurteilen, die einschließlich des Geräte- und Maschineneinsatzes
auf eine möglichst verlustlose Gewinnung aller pflanzlichen und tierischen Produkte
gerichtet waren. Die oft übertriebene Sparsamkeit war meist kein Geiz, sondern aus der
Not geboren.
Bis 1945 war in der Landwirtschaft der Grundbesitz in Privathand. Nur in sehr
geringem Umfange gab es sogenannte Domänen, die im wesentlichen in Staatsbesitz
waren. Der einzige größere Landwirtschaftsbetrieb des Eigentümers Jäger und die
Wiesen, Ländereien und Wälder der Fürsten Reuß wurden in meinem Heimatort nach
1945 enteignet. Im Rahmen der Bodenreform wurden 1946 dieser Besitz an landarme
Bauern und Neubauern aufgeteilt. Pro Antragsteller gab es in unserer Gegend 5 ha
Nutzfläche.
Ich erinnere mich an die Gespräche in unserer Familie, ob auch wir „Neubauern“
werden sollten. Unser Kleinbauernhof hätte sich durchaus für die Einrichtung einer
Neubauernstelle geeignet. Besonders mein Vater sagte: „Ich nehme kein Land, das
bisher anderen gehörte. Ich kenne den enteigneten Großgrundbesitzer unseres Ortes sehr
gut. Er ist kein Verbrecher, und ich würde mich schämen, wenn ich mir diesen Besitz
aneigne.“ Und deshalb wurden wir keine Neubauern.
7. Meine Spielsachen und meine Fahrräder
Ich freute mich , wenn an Sonn- oder Feiertagen Vater, Mutter und Großmutter mit mir
in Wald und Flur spazieren gingen. Mein Großvater kam nie mit, weil er meinte und oft
sagte: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Bei diesen Ausflügen lernte ich die Namen
der einheimischen Bäume, Pflanzen, Sträucher, Getreidearten und Gräser sowie der
Vögel und der frei lebenden Tiere, soweit wir sie sehen konnten, kennen und
unterscheiden. Es gehörte einfach dazu, dass ich als Kind vom Lande auf diesen
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Gebieten Bescheid wusste. Besonders Stolz war ich, als mich mein Vater lehrte, wie
man aus Weidenruten wohlklingende Pfeifen schnitzen kann. Trillerpfeifen kosteten
relativ viel Geld und dieser Ersatz war außerdem als selbst gebasteltes Spielzeug
wertvoller als gekaufte Sachen. Zur damaligen Zeit wurden übrigens ganz wenige
Spielwaren gekauft. Wir Kinder waren recht einfallsreich beim Herstellen von
Gewehren, Degen und Schutzschilde aus Holz, Bauklötzen aus Abfallholz, Karren aus
abgewrackten Kinderwagengestellen und ähnlichem.
Ich wurde von Spielgefährten beneidet, weil ich als Einzelkind allerhand Spielzeug
besaß. Es war nicht alles neu, sondern meine Eltern hatten es z.T. gebraucht gekauft
oder von Verwandten erhalten. An folgende Spielsachen erinnere ich mich:
Schaukelpferd aus Holz mit echtem Fell, das ich Cäsar nannte. Eine elektrische
Märklin Eisenbahn der Spur O, mit vielem Zubehör und alles auf einer großen Platte
(ca. 2,0 x 2,5 m) montiert. Dazu viele, nach maßstabgerechten Modellen, selbst gebaute
Bahnhofsgebäude, Häuser, Bäume, Gebirge und Tunnel sowie eine sich bewegende
Drahtseilbahn. Minilaternen und -birnen sorgten für eine eindrucksvolle elektrische
Beleuchtung. Außerdem hatte ich Zinnsoldaten, -pferde und -reiter sowie Burg und
Pferdestall aus Holz.
Beim Gestalten der Platte mit der elektrischen Eisenbahn und dem Zubehör hat mein
Vater nur die Grundausstattung installiert. Bis ungefähr zu meinem 10. Lebensjahr hat
er mitgeholfen und mir die erforderlichen Fertigkeiten beigebracht. Dann habe ich
weitgehend selbständig gebastelt, gebaut und alles weiterentwickelt. An
Schwachstromanlagen erfasste ich insgesamt die Grundlagen für die Elektromontage.
Ich war z.B. hoch begeistert, als ich das Prinzip der Induktion, des Elektromagnetismus,
der Wechselschaltung und ähnlichem begriffen hatte und es anzuwenden verstand. Im
Krieg und in der Nachkriegszeit, als fast keine Handwerker zur Verfügung standen,
konnte ich mit diesen Kenntnissen oft helfen. Schon als Elfjähriger habe ich in diesem
Rahmen bei uns und in der Nachbarschaft häufig Havarien in den Elektroanlagen der
Häuser und Wohnungen beseitigt. Mein wichtigstes Werkzeug war dabei die
Probierlampe, mit der ich die Spannung in den Elektroleitungen bzw. Abzweigdosen
aufspüren konnte.
Während meiner Kindheit führten die Besitzer kleiner Häuser oder Gehöfte
Handwerkerleistungen aus Kostengründen selbst aus. Heute dagegen ist die Bewegung
„ do it yourself“ für viele ein Hobby.
Mit allen Reparaturmaterialien und Geräten wurde sehr sorgsam umgegangen und
Vieles wiederverwendet. Alles was Geld kostete, oder auch schwer zu beschaffen war,
wurde aufgehoben. Wegen dieser Eigenart, die ich nie ablegte, werde ich von unseren
Kindern häufig gerügt. Sie wuchsen in eine „Wegwerfgesellschaft“ hinein, die sich nun
auch bei uns im Osten Deutschlands im letzten Jahrzehnt immer stärker ausprägte.
Ich gehörte zu den Auserwählten, das wird mir erst heute bewusst, weil ich als
sechsjähriges Kind ein Fahrrad besaß. Heute ist das keine Ausnahme mehr, denn noch
Jüngere haben solche Fahrzeuge, ohne deren Wert zu achten. Mein Vater hatte aus
gebrauchten und einigen neuen Teilen ein Kinderfahrrad zusammengebaut. Ich habe
dabei geholfen und es mit unserer Lieblingsfarbe grün angestrichen.
Das wichtigste am Rad war für mich der Rücktritt. Beim Lernen des Fahrens musste ich
neben dem Halten der Balance als erstes das Anhalten beherrschen. Ich spüre noch
heute meine damalige Angst, wenn ich mit dem Fahrrad sehr schnell auf Menschen,
Zäune, Tiere, Mauern oder Gräben zuraste. Das Beherrschen der Rücktrittbremse war
dann die letzte Rettung. Als 64 Jähriger schaffte ich mir, auf Empfehlung meiner
Kinder, ein Fahrrad mit Gangschaltung an. An diesem gibt es, technisch bedingt, nur
Handbremsen. Selbst die Vorteile der Gänge waren für mich kein Ausgleich für die
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Rücktrittbremse. Bei einer notwendigen Bremsung trete ich noch immer wie gewohnt
automatisch schnell rückwärts und ich merke mit Schrecken, das Gefährt hält nicht an.
Außerordentlich glücklich war ich über das neue Erwachsenenfahrrad, das ich als
Zehnjähriger erhielt. Damit und mit den Rädern, die ich mir in den Folgejahren
anschaffen durfte, habe ich zahlreiche Touren mit Cousins und Cousinen sowie
Freunden unternommen. Ich lernte dadurch die Sehenswürdigkeiten meiner Heimat
kennen und hatte viele schöne Erlebnisse.
1939 - Mit meinem Vetter aus dem Sudetenland - Radausflug zur Göltzschtalbrücke-
Wir hatten Frühstücksbrote und Trinkbares mitgenommen, denn das Einkehren in
Gaststätten war zu teuer. Außerdem schmeckte das Essen in der Natur viel besser.
Fast kein Radausflug verlief damals ohne Reifenpanne, weil die Qualität der Mäntel und
Schläuche sehr zu wünschen übrig ließ. Auch die Reparatur war viel schwieriger als
heute. Es gab noch keine „Flügelmuttern“; die ohne Schraubenschlüssel zu lösen oder
festzuziehen sind. Der sogenannte Knochen, ein Schlüssel, der für alle gängigen
Schraubengrößen verwendbar ist, gehörten neben dem „Flickzeug“ zu den wichtigsten
Utensilien in der Reparaturtasche. Abgesehen davon, dass es sehr schwierig war die
Räder abzumontieren, grenzte es manchmal an eine Meisterleistung, den Schlauch
wieder luftdicht zu bekommen. Beim Suchen der Schadstelle wurde die defekte
Gummiröhre aufgepumpt und ins Wasser gedrückt. Dort, wo Luftblasen aufstiegen,
befand sich die undichte Stelle. Voraussetzung für eine erfolgreiche Reparatur waren:
Eine ganz trockene leicht angeraute Oberfläche, dünn aufgetragener Klebstoff, der die
vorgeschriebene Zeit antrocknen musste und der notwendige längere Druck für das
Festkleben des Fleckens. Die meisten Schadstellen entstanden sehr oft direkt neben
schon aufgebrachten Gummiflicken. Weggeworfen wurden die Schläuche erst dann,
wenn der Umfang der geflickten Stellen keine weiteren Reparaturen mehr zuließ. Alte
Schläuche dienten außerdem als Reparaturmaterial.
8. Meine Volksschulzeit
Als ich 1938 eingeschult wurde, war Adolf Hitler an der Macht. Nationalsozialismus
war die staatstragende Ideologie, die in der schulischen Erziehung im Mittelpunkt stand.
Die Ehre, Deutscher zu sein, die Überlegenheit gegenüber anderen Völkern war für
mich und viele Kinder meines Jahrgangs ein erhabenes Gefühl, worin wir in der Schule
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bestärkt wurden. Wir hörten, dass es keine sozialen Unterschiede mehr gibt. Jeder echte
Deutsche kann Offizier, Führer in der Hitlerjugend und im Jungvolk, Funktionär in der
Partei oder Beamter im Staatswesen werden. Uns imponierte damals der Spruch: “Jeder
deutsche Soldat trägt den Marschallstab im Tornister“. Der wirtschaftliche Aufschwung
sicherte den meisten Familien einen gediegenen Wohlstand. Als Kind kümmerte auch
ich mich nicht um Geschehnisse, die sich gegen andersdenkende Menschen, Juden oder
ehemalige Kommunisten richteten. Uns wurde erklärt, dass diese „Volksfeinde“ aus der
Gesellschaft ausgestoßen werden müssen. Ich kannte von diesen Betroffenen niemanden
näher und empfand deshalb kein besonderes Mitleid. Das Ausmaß der Gräueltaten ahnte
ich damals auch nicht. Im Elternhaus, bei Nachbarn oder Verwandten habe ich
manchmal heimlich Gespräche belauscht und kritische Bemerkungen über das brutale
Vorgehen gegen Juden gehört. Doch den Lehrern habe ich mehr geglaubt als den
Eltern, zumal die Erwachsenen aus Angst nur in Andeutungen sprachen.
Erst mit meinen heutigen Erkenntnissen weiß ich die „Kristallnacht“ 1938, die in die
Zeit meines ersten Schuljahres fällt, richtig zu beurteilen. Ich erinnere mich, dass in
meinem Elternhaus damals darüber gesprochen wurde und bruchstückweise bei mir
folgendes haften blieb: In Gera gab es das in meinen Augen als Kind riesengroße
Kaufhaus Dietz. Besonders Weihnachten 1937 sah ich dort eine schöne unerreichbare
Märchenwelt. Nun hörte ich, dass in diesem Haus die Schaufenster eingeschlagen und
vieles zerstört worden sei, weil die Besitzer Juden waren. Ich verstand das Warum nicht
und war enttäuscht, dass die SA meine phantasievolle Märchenwelt zerstört hatte.
Die noch heute zu hörende Auffassung, dass früher die Schulbildung und -erziehung auf
dem Lande schlechter als in der Stadt gewesen sei, ist schlichtweg falsch. Wir lernten
außerschulisch viele Tätigkeiten, die im Unterricht eine Ergänzung fanden. Das
Zusammenspiel zwischen Elternhaus und Schule klappte bei uns besser als in einer
Großstadt, wo es gute Bildungsmöglichkeiten gegeben haben soll. Die Pädagogen
kannten bei uns die einzelnen Familien sowie deren Verhältnisse und Gepflogenheiten.
Sie konnten in der Erziehung darauf Einfluss nehmen. Freilich galt oft die Sympathie
der Lehrer stärker den Kindern von reichen Bauern und aus angesehenen und
wohlhabenden Familien; jedoch förderten sie auch begabte Schüler ohne Rücksicht auf
deren Herkunft. Wir gehörten nicht zu den reichen aber wohl zu den als anständig
eingeschätzten Familien unserer Kleinstadt. Ich fand, das stelle ich retrospektiv fest,
große Unterstützung und Förderung durch meine Lehrer.
Im übrigen will ich hier Erlebnisse einfließen lassen, die ich von meinen ehemaligen
Mitschülern aus der Volksschule erfragte.
Zehn Klassenkameradinnen und 2 bis 3 Schulkameraden aus meiner Volksschulzeit
treffen sich gegenwärtig alle 6 – 8 Wochen in Hohenleuben. Wir erinnern uns dabei an
viel gemeinsam Erlebtes und auch die Neuzeit bietet Gesprächsstoff. Ich nehme sehr
gern teil, weil Erzählungen von früher für mich mit fortschreitendem Alter immer
beliebter und interessanter werden.
Ich stelle immer wieder fest, dass im dritten Reich unsere Eltern und die Erwachsenen
versuchten, die Politik möglichst aus der familiären und häuslichen Sphäre heraus zu
halten. Zumindest offenbarten sie uns Kindern selten oder nie ihre wahren
Auffassungen. So betrachtet, wuchsen wir Kinder recht unbeschwert oder sogar sorglos
auf, wenn ich die Nöte beim Ringen um gute schulische Leistungen, manchen Streit mit
Freunden oder Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern außen vor lasse. Allerdings
kamen in den letzten Kriegsjahren durchaus auch bei uns Kindern oft
außergewöhnlichen Ängste hinzu.
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Es hat sich nichts geändert. Auch heute können es die meisten Kinder, wie wir damals,
kaum erwarten, endlich Schulkind zu werden. Es war nicht allein die in Aussicht
gestellte Zuckertüte sondern vielmehr der Drang, endlich - z.B. im Schreiben und
Rechnen - mit den älteren Freunden oder Geschwistern mithalten zu können. Die
Schulausbildung beginnt heute jedoch mit größeren Vorkenntnissen. Kindergärten, in
denen schon gezielt Grundwissen vermittelt wird, gab es in unserer Kindheit, zumindest
auf dem Lande, nicht. Wenn beide Elternteile berufstätig waren, mussten die Großeltern
die Kinderbetreuung übernehmen. Wir erhielten auch manchmal ein Blatt Papier um
darauf Buchstaben und Zahlen zu kritzeln oder Bilder zu malen. Eine systematische
Vorbereitung auf die Schule kannten wir aber nicht. In der Regel begann für uns alle die
Schulpflicht mit fast gleichem Bildungsstand.
Wie wurden Ostern 1938 im Alter von 6 Jahren eingeschult. Schon in dieser Zeit gab es
vorher eine gründliche medizinische Untersuchung auf Eignung zum Volksschulbesuch.
Mit dieser Aufgabe war seinerzeit der in unserer Kleinstadt niedergelassene
Allgemeinmediziner betraut. Er kannte als Hausarzt fast alle Familien des Ortes recht
gut und konnte deshalb fachlich fundierte auf Erfahrungen gestützte Diagnosen stellen.
Unsere Schule - Bild aus den dreißiger Jahren – im vorderen Eckzimmer war unser
Klassenraum in den ersten Klassen.
Meine Schulkameraden erinnern sich - genau wie ich - noch recht gut an die ganze
Zeremonie mit den Zuckertüten. Unerschütterlich glaubten wir daran, dass die Tüten an
einem Baum, der von den älteren Schülern und Eltern immer gut gepflegt und gegossen
wird, wachsen. Der Zuckertütenbaum, den wir nie zu Gesicht bekamen, stand angeblich
im Keller der Schule. Uns wurde gesagt, dass die folgsamen Kinder die größten und
mit leckeren Sachen gefüllten Tüten bekommen. Wir merkten dabei gar nicht, dass
damit die Sprösslinge von reichen Eltern artiger gewesen sein mussten. Sie bekamen
zwangsläufig einen reichhaltigeren Tüteninhalt.. Wir waren froh über eine große
Zuckertüte, wenn auch deren Innenvolumen durch Knüllpapier reduziert wurde. Neid
kannten wir nicht. Als Einzelkind stand ich nicht unter dem Zwang, den Inhalt teilen zu
müssen. In Familien mit mehreren Kindern musste aber durchaus für alle je eine Portion
mit Süßigkeiten zurecht gemacht werden..
An unserem ersten Schultag überreichten uns in einem spärlich geschmückten Raum als
Zwerge gekleidete Schüler höherer Klassen die Zuckertüten. Ich erinnere mich noch
recht deutlich, dass damals mein Großvater zu mir sagte: „ Wenn du die Tüte nimmst,
dann bist du gefangen und musst jeden Tag zur Schule gehen. Ich würde mir das Ganze
noch mal überlegen, vielleicht kannst du noch davon kommen.“ Der Erwartungsdruck,
nicht nur in den Besitz des wertvollen Tüteninhalts zu kommen, sondern vor allem die
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Schule kennen zu lernen, war aber so groß, dass ich diese ohnehin aussichtslose
Möglichkeit gar nicht in Erwägung zog.
Aussehen, Form und Größe der Zuckertüten haben sich seit unserer Kindheit kaum
verändert. Nur der Inhalt wird heutzutage nicht mehr so hoch geschätzt, weil es zur
Schuleinführung daneben zum Teil wertvolle und teure zusätzliche Geschenke gibt. Ich
weiß noch, dass ich viel Lakritzen, weil ich diese Süßigkeiten leidenschaftlich gern aß,
einige Tafeln Schokolade sowie Plätzchen von Omas Hausbäckerei bekam. Der untere
Teil der Spitze war auch in meiner Zuckertüte mit zusammengeknülltem Zeitungspapier
ausgefüllt.
An weitere Feiern zum Schulbeginn in der Schule, Kirche oder auch in der Familie
kann ich mich nicht erinnern. Auf alle Fälle hatte zu jener Zeit dieses Ereignis nicht die
herausragende Bedeutung wie heute. In unseren Gesprächen konnte sich lediglich eine
Schulkameradin entsinnen, dass sie einen Blumenstrauß erhielt.
Ein Bild mit Zuckertüte durfte allerdings nicht fehlen.
Ich fühlte mich zur Elite gehörend, weil mein Schulranzen, die Schiefertafel, das
hölzerne Federkästchen und dessen Inhalt neu waren. Die meisten Kinder mussten oft
mit gebrauchten Sachen auskommen, die sie von ihren größeren Geschwistern bzw.
anderen Verwandten oder Bekannten bekamen.
Es gab unterschiedliche Schulranzen für Jungen und Mädchen. Bei denen für die Buben
reichte die Verschlussklappe über die gesamte Rückseite , während diejenigen für die
Mädchen einen kleineren Verschlussteil hatten. Die Knaben schämten sich z.B., wenn
sie einen Ranzen von der älteren Schwester weiter benutzen mussten. In unserer Zeit
wurden Aktentaschen modern und deren Besitzer, Vertreter oder Geschäftsleute galten
als besonders vornehm. Wir fühlten uns stolz und überlegen als wir ungefähr ab dritter
Klasse eine Schulmappe besaßen, die wir in der Hand tragen konnten. Die
gesundheitlichen Nachteile ignorierten wir. Die Eltern konnten reden was sie wollten,
wir machten den neuen Modetrend mit. Erfreulicher Weise sind in der Neuzeit wieder
Ranzen und Rucksäcke „in“. Unsere ersten Aktentaschen waren sogar nur aus Pappe,
aber für uns wertvoller als die Ranzen aus Leder.
An der Seite des Schulranzens musste der Schwamm und ein Lappen, die mit einer
Schnur an der Schiefertafel befestigt waren, baumeln.
Die wertvolleren Federkästchen aus Holz waren mit schönen Bildern bemalt.
Anderenfalls klebten wir Stammbuchbilder auf die einfacheren Behälter. Alle hatten
spezielle Fächer für Schiefergriffel, Bleistifte, Radiergummi, Federhalter usw.
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Die Qualität der Schiefertafeln und –stifte war unterschiedlich. Bei den billigeren
entstanden nach kürzerer Zeit Rillen und Ritzen auf der Tafelfläche, weil wir ungeübten
Schulanfänger meistens stark aufdrückten. Dabei zerbrachen außerdem häufig die Stifte,
und wir versuchten uns mit selbst gebauten Holzhalterungen zu helfen. Die
Gummitafeln - ebenfalls mit abwaschbarer Schrift -, die ich Anfang der vierziger Jahren
kennen lernte, haben sich nicht bewährt. Eine gepflegte und ordentliche Schreibtafel
und Schrift standen übrigens in der Bewertung der Ordnung ganz weit oben. Oft gab es
Tränen, wenn die Mutter bei Hausaufgaben das mühsam Geschriebene weg wischte,
weil es nicht akkurat war. Nicht Gelungenes zu beseitigen wurde schwieriger, als das
Schreiben auf Papier begann. Zuerst wurde mit Bleistiften geschrieben. Fehlerhaftes
konnte dann zwar wegradiert werden, aber die Radierstellen blieben trotzdem sichtbar.
Beim späteren Schreiben mit Tinte konnten Kleckserei und Fehler nicht mehr
verheimlicht werden. Wir versuchten deshalb, misslungene oder verdorbene Seiten zu
beseitigen. Lehrer und Mutter bemerkten aber den Schwindel, weil die Hefte immer
dünner wurden. Auf Schiefertafeln und in Heften waren Linien vorgezeichnet, um
Buchstaben und Zahlen in der vorgeschriebenen Größe und Form schreiben zu lernen
Es war für uns schon eine rechte Plage mit den oft die Tinte nicht haltenden
Schreibfedern und unhandlichen Federhaltern umzugehen. Die in den Schulbänken
eingelassenen Tintenfässer, die unförmigen Gefäße zu hause und die schlecht
saugenden Löschblätter förderten zusätzlich die überall sichtbare Tintenkleckserei.
Unbequeme Sitzgelegenheiten in den Schulbänken sowie daheim am Küchentisch
erschwerten außerdem den Umgang mit der Schreibflüssigkeit. Überall hinterließ sie
ihre nicht mehr oder nur schwer entfernbaren Spuren. Es gab zwar eine Flüssigkeit,
sogenannter „Tintentod“, der die Kleckse entfernen sollte, aber damit entstanden sehr
hässliche Flecken. Ich hatte des öfteren die Aufgabe, in unserer Klasse die Tintenfässer
nachzufüllen. Finger und auch manchmal Kleidungsstücke zeigten dann sehr deutlich
die ausgeführte Tätigkeit.
Schulbänke , Schiefertafeln und Ranzen – Bild: Freilichtmuseum Hohenfelden.
Später wurde die Benutzung von Füllfederhaltern erlaubt. Die ersten Modelle waren so
unpraktisch, dass beim Schreiben und Auffüllen mit Tinte die Kleckserei nicht weniger
wurde.
Mit unseren Buntstiften, die sehr harte Minen hatten, konnten wir die beliebten
Zeichenvorlagen nur sehr beschwerlich ausmalen. Auch der Umgang mit Wasserfarben
aus Farbkästen war oft eine Katastrophe. Bei den Pinseln lösten sich hin und wieder die
Borsten, so dass beim Farbenmischen alles durcheinander lief. Es konnten dann keine
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scharf abgegrenzten Linien und Gebilde gezeichnet werden. Die heute zur Verfügung
stehenden Faser- und Filzstifte, sogar mit unterschiedlichen Minenstärken, sind deshalb
eine echte Bereicherung für die Malfreude und -übung der Kinder.
Vom ersten Schultag an waren wir auf uns selbst gestellt. Unsere Eltern begleiteten uns
nicht, wie das heute vielfach üblich ist, zur Schule. Es gab auch noch nicht den starken
Fahrzeugverkehr und die Gefahren auf dem Schulweg sind in keiner Weise mit den
heutigen vergleichbar. Im übrigen hätten wir uns sehr geschämt, wenn z.B. die Mutter
beim ersten Unterricht dabei gewesen wäre. In unserer Kindheit wehrten wir uns ganz
enorm als „Muttersöhnchen“ zu gelten.
In unserer Kleinstadt kannten wir uns zwar untereinander, aber wir verhielten uns am
Anfang auch gegenseitig sehr fremd. Vor allem wollten wir Jungen keinesfalls in den
Verdacht kommen, dass wir vielleicht ein gleichaltriges Mädchen schon etwas näher
kannten.
Die Lehrer galten als höher gestellte Respektspersonen und wir saßen an den ersten
Schultagen sehr schüchtern und folgsam in den recht engen und unbequemen
Schulbänken. Zwischen den Bankreihen der Mädchen und denen von uns Jungen
befand sich ein Gang und es galt bei uns schon als Fortschritt, dass beide Geschlechter
zusammen in einem Klassenraum unterrichtet wurden. Von Anfang an war es
selbstverständlich, dass wir aufstanden, wenn der Pädagoge die Klasse betrat und
verließ oder wir eine Antwort gaben. In den höheren Klassen kam dazu, dass täglich zu
Schulbeginn von uns Schülern Meldung erstattet werden musste. Insgesamt verhielten
wir uns recht artig gegenüber den Erziehern, die oft mit überzogener Strenge handelten.
Wetteifern in der Kleidung, dass z.B. nur Markenartikel anerkannt sind, kannten wir
damals nicht. Lediglich auf saubere nicht zerrissene Garderobe kam es an. In der
Kriegs- und Nachkriegszeit kam für unsere Eltern erschwerend hinzu, dass es neue
Kleidung und Schuhe nur rationiert auf Punkte oder Bezugscheine gab. Ausgebessertes
„Anziehzeug“, wie es bei uns im Dialekt heißt, war deshalb nicht verpönt.
Die in den ersten Schuljahren aufgenommenen Kenntnisse waren für mich ein
bleibender Wissensschatz fürs ganze Leben. Eine Ausnahme bildet hierbei das
„Schönschreiben“, das oft geübt und streng zensiert wurde. Die vorgezeichneten Linien
und Kästchen für die gleichmäßige Größe der Buchstaben und Zahlen und der
Zeilenabstand verwöhnten uns. Es fiel mir deshalb später schwer, auf unliniertem
Schreibbogen gradlinige Zeilen zu schreiben.
Im ersten Schuljahr hatten wir täglich nur 3 Stunden Unterricht. Damit konnten wir uns
allmählich und kontinuierlich an die Schulpflichten gewöhnen.
In der damaligen Zeit gab es zwar keine Kinderarbeit mehr, aber wir alle hatten zu
Hause ständige, feststehende Pflichten und Arbeiten zu erfüllen. Das galt vornehmlich
in Bauernwirtschaften, Geschäftshaushalten, Handwerksbetrieben usw., aber auch in
Familien mit mehreren Kindern, wenn dazu beide Eltern auf Arbeit gingen.
Ich weiß, dass wir vor der ersten Schulstunde noch manche, auch oft schmutzige
Hausarbeit, zu erledigen hatten. Die gründliche Säuberung, vor allem der Finger, blieb
dann oftmals - besonders aus Zeitnot - auf der Strecke. Zur ersten Schulstunde
überprüfte der Lehrer besonders die Sauberkeit unserer Hände. Vor allem bei
schmutzigen Fingernägeln gab es mit dem Rohrstock Schläge auf die Finger. In diesem
Zusammenhang erzählte anlässlich unserer vorn erwähnten Zusammenkünfte unsere
Mitschülerin Liane ein Erlebnis, das ich mit ihrem Einverständnis hier wiedergeben
darf: Ihre Eltern besaßen einen Kolonialwarenladen und Landwirtschaft. Sie hatte fast
täglich zu Hause schon vor Schulbeginn eine Reihe Tätigkeiten zu verrichten. Ihr blieb
deshalb oft nur wenig Zeit fürs gründliche Säubern der Hände. Bei unserem überaus
strengen Lehrer Herrn H. bekam sie deshalb sehr häufig die erwähnten schmerzhaften
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Schläge. Als erwachsene Frau traf sie diesen Lehrer, der mit ihr ein Gespräch über die
frühere Schulzeit führen wollte. In bewundernswerter Art sagte sie ihm: „ Mit ihnen
will ich nicht mehr reden. Sie haben mich als Schulmädchen zutiefst gekränkt,
gedemütigt und schmerzhaft geschlagen, nur weil ich von ehrbarer Arbeit nicht ganz
saubere Finger hatte. Das kann ich nicht vergessen.“ Sie wandte sich ab und beendete
das Gespräch. Dem ehemaligen Lehrer blieb nach der bei uns gebräuchlichen
Redewendung „der Mund offen stehen“. Als nunmehr gestandene und geachtete
Handwerkerfrau konnte sie auf diese Weise ihren ehemaligen Peiniger abblitzen lassen.
Er getraute sich auch nicht zu widersprechen und beendete ebenfalls die Unterhaltung.
Ich wusch mich nicht gern und auch gegen gute Kleidung, die ich schonen sollte, hatte
ich eine Aversion. Erst ab dem Zeitpunkt, als Freundinnen in meinem Leben interessant
wurden legte ich größeren Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Vorher trug ich am liebsten
„Stromerkleidung“, oder die strapazierfähige Jungvolkuniform.
Ich besitze noch mein Zeugnisheft bis zum Ende der dritten Klasse und das
Abschlusszeugnis der 8. Klasse. Die dazwischen liegenden Dokumente sind 1945, als
unsere Schule durch Granatenbeschuss den Flammen zum Opfer fiel, verbrannt. Es war
damals nicht üblich Kopien (wofür es nach meiner Kenntnis – außer Abschriften- gar
keine Möglichkeiten gab) anzufertigen. Die Originale mussten im Archiv der Schule
aufbewahrt werden. Zu Beginn des Schuljahres wurden die Zeugnisse vom Lehrer
eingesammelt und kontrolliert, ob der Erziehungsberechtigten unterschrieben hatte.
Im Zeugnisheft stand als Fußnote geschrieben: „Das Zeugnis ist vom Vater oder seinem
Stellvertreter ohne jede Bemerkung zu unterschreiben und dem Klassenlehrer zur
Aufbewahrung zurückzugeben. Fälschungen der Zeugnisse und Unterschriften sind
strafbar“. Daraus leite ich heute ab, dass in dieser Zeit die Mutter als Stellvertreterin des
Vaters galt. Wir erhielten die ersten Zensuren nach Abschluss der ersten Klasse Ostern
1939. In diesem Schuljahr waren ab Oktober 1938 die Zeugnisgrade von 5 auf 6
verändert worden. Die Note 4 war damit nicht mehr das große Schreckgespenst, das es
nach dem Kriege wurde, als es wiederum nur 5 Noten gab. Die 3 wurde dann aber in
befriedigend umbenannt.
Mich beschäftigt bis heute die Frage: „Nach welchen Kriterien und Gesichtspunkten
nahmen unsere Lehrer die Einschätzung in Betragen ,Fleiß und Ordnung vor?“
Retrospektiv erkenne ich, dass während meiner Volksschulzeit alle Einschätzungen
nach subjektiven Gesichtspunkten, insbesondere nach der Herkunft der Kinder,
erfolgten. In Dörfern und Kleinstädten wussten die Lehrer meist über die
wirtschaftlichen, sozialen sowie berufsständigen Verhältnisse und politischen
Auffassungen der einzelnen Familien recht gut bescheid. Die Befragung der Kinder in
den ersten Schultagen über die Familienverhältnisse, Beruf der Eltern, Anzahl der
Geschwister usw. diente deshalb nur zur Abrundung ihrer Aufzeichnungen. Ein
Einblick in das schon damals gebräuchliche Klassenbuch und in die Notizbücher der
Lehrer galten für uns Schüler als strengstes Tabu.
Schmunzelnd vernahm ich eine Story, die meine Schulkameradin Annerose von dieser
Befragung erzählte: „Einige hatten bisher zum Beruf ihres Vaters nach ihrer Meinung
hochtrabende Bezeichnungen wie: Fabrikant, Kaufmann, Landwirt, Meister usw.
genannt. Als sie an der Reihe war, wollte sie nicht hinten an stehen und beförderte
kurzentschlossen ihren Vater vom Gesellen zum Tischlermeister. Er war im Ort ein
geachteter und angesehener Mann und die Rangerhöhung fiel deshalb gar nicht auf.
Im nachhinein wird mir bewusst, das Mitschüler aus weniger begüterten Familien bei
manchen Lehrern immer die Zielscheibe für Bestrafungen waren. In Erinnerung blieb
mir, dass ein besonders ungerechter Lehrer ein Mädchen häufig an den Haaren bis zur
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Tafel zog. Noch im Ohr habe ich Bemerkungen eines Pädagogen, der sagte: „Dummheit
und Stolz wachsen auf einem Holz“. Es war zwecklos sich darüber zu beschweren, denn
in unserer Schulzeit war das Verhältnis Elternhaus - Schule ganz anders als heute. Wir
konnten nicht nach Hause kommen und sagen: „Der Lehrer hat uns ungerecht bestraft“.
Wir wurden nicht in Schutz genommen sondern , nach oberflächlicher Klärung der
Umstände, zusätzlich gerügt. Die Lehrer waren Respektspersonen und mussten von uns
Kindern vorbehaltlos anerkannt und geachtet werden, selbst wenn auch sie manche
menschlichen Fehler hatten. Ich entsinne mich, dass ich mich einmal zu hause
beschwerte, weil ich mich ungerecht bei der Menge der gesammelten und abgelieferten
Heilkräuter bewertet glaubte. Ich bat meine Mutter, mich in der Schule in Schutz zu
nehmen. Ich fand aber kein Gehör, weil das Urteil des Lehrers als unanfechtbar galt.
Gleiches geschah mir bei einer Note im Zeugnis mit nur „gut“ und nicht „sehr gut“ in
der wichtigen Beurteilung „Ordnung“. Ich meinte besser als die mit „eins“ beurteilten
Mädchen zu sein. Auch hier erhielt ich durch die Eltern keine Unterstützung, sonder
zusätzliche Kritik, weil mein Verhalten zu Hause mit einbezogen wurde.
Im Unterrichtsfach „Deutsch“ standen in der ersten Schulklasse „Lesen“ und
„Sprachlicher Ausdruck“ im Vordergrund. Erst ab der zweiten Klasse kamen
„Sprachlehre und Rechtschreibung“ und ab der fünften „Aufsatz“ hinzu.
Als wir zur Schule kamen kannten wir nur wenige Buchstaben und uns fiel es unsäglich
schwer vollständige Sätze zu bilden. Ich erinnere mich noch, dass ich vor Schulbeginn
eigentlich nur das kleine „i“ schreiben konnte. Das war in der deutschen Schreibschrift
einfach und mit der Übung verbunden: „Rauf runter rauf und ein Pünktchen drauf“.
Die Buchstaben fürs Lesen lernten wir nach folgender Methode: „ In einem Kasten, der
vorn auf dem Katheder stand, befanden sich Schilder mit den Buchstaben des ABC in
Schreib- und Druckschrift. Der Lehrer begann nach und nach die einzelnen
Schriftzeichen zu zeigen, die wir im Chor aufsagen mussten. An der Wandtafel wurde
durch ausgewählte Schüler mit Kreide der jeweilige Buchstabe angeschrieben. Wir
übertrugen diesen auf unsere Schiefertafel und schrieben als Hausaufgabe mehrere
Zeilen dieses Schriftzeichens. In ähnlicher Weise lernten wir die Zahlen.
Nicht nur bei den Zensuren, sondern auch in der Schriftart erlebten wir einen Umbruch.
1939 wurde in allen Schulen die „Deutsche Normalschrift“, die sich in ihren
Grundformen an die lateinische Schreibschrift anlehnt, eingeführt. Im dritten Reich
musste alles deutsch sein. Wir hatten deshalb aber das Glück, noch die deutsche
Schreibschrift kennen zu lernen. Fließendes Lesen und Schreiben dieser Schriftart, die
wir noch in handschriftlichen Unterlagen und Büchern unserer Eltern und Großeltern
finden, fällt auch uns heute sehr schwer.
In Erinnerung blieb mir, dass wir das „A“ als Druckbuchstabe an der Form einer mit der
Spitze nach oben stehenden Zuckertüte schreiben lernten. Überhaupt gab es einige
sogenannte Eselsbrücken mit denen wir uns Buchstaben und Zahlen einprägten. Das
„M“ waren 2 aufrecht und das „W“ 2 auf dem Kopf stehende „A“ usw. Als erste Worte
lernten wir wie die Kleinstkinder „Mama und Oma“ und versuchten im sprachlichen
Ausdruck diesen eine Tätigkeit anzuhängen. Haupt- oder Dingwort, die immer mit
großen Anfangsbuchstaben geschrieben werden, für alles was man anfassen kann und
Tätigkeitswort für alles was man tun kann, erfuhren wir als erste Weisheiten in der
Sprachlehre.
Am Ende der 1. Klasse konnten wir in der sehr einfachen Lesefibel die ersten kurzen
Geschichten lesen.
Nach 1945 habe ich meine erste Lesefibel leider vernichtet, weil darin die Bilder und
Darstellungen zum Teil nazistische Tendenzen zeigten. In diesem Zusammenhang will
ich einfügen, wie naiv ich mich insgesamt nach dem Untergang des 3. Reiches noch als
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Fünfzehnjähriger im Umgang mit Schriftgut verhielt. Mein Onkel und meine Tante, die
als Vertriebene aus dem Sudetenland zu uns nach Hohenleuben kamen, erzählten:
„Nach der Machtübernahme durch die Tschechen in ihrem Heimatort bei Karlsbad
erfolgten häufig bei deutschen Familien Hausdurchsuchungen. Wenn dabei
Nazisymbole oder -bilder gefunden wurden, gab es Strafen und dabei zumindest eine
kräftige Ohrfeige.“ In meiner kindlichen Phantasie leitete ich daraus ab, dass nach dem
Einmarsch der sowjetischen Armee ähnliches auch bei uns geschehen könnte. Ich
verbrannte deshalb alle meine Bücher mit nazistischem Inhalt. Einige davon waren mir
zu wertvoll und ich begann in diesen Werken alles diesbezüglich Suspekte
durchzustreichen. Als meine Mutter mein unvernünftiges Tun bemerkte, gebot sie
Einhalt; ich hatte aber schon eine recht umfangreiche Arbeit geleistet. Der
„Volksbrockhaus“ der Ausgabe von 1938, den ich bis heute als Nachschlagewerk
benutze, ist hierfür ein Beweisexemplar. Es war nur gut, dass ich nicht alles schwärzte,
sondern nur mit Rot- oder Bleistift durchstrich, so dass der Text noch z.T. lesbar blieb.
Das ist die Seite mit den Begriffen „Nationalsozialismus“ nach meiner „Streichaktion“.
Eine Schulkameradin hat unsere Lesefibel vom ersten Schuljahr aufgehoben. Bereits
auf dem Titelbild unserer Schulfibel war die beabsichtigte Beeinflussung der Kinder im
Sinne der nationalsozialistischen Propaganda erkennbar. Der Hitlergruß war Pflicht.
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Am Ende des 1. Schuljahres konnten wir in der Fibel die folgende Geschichte lesen, die
typisch für die schulische Erziehung dieser Zeit war:
Nachdem wir einigermaßen lesen und vollständige Sätze sagen und schreiben konnten,
begann die Qual mit Diktaten, die sehr oft geschrieben wurden. In der Rechtschreibung
machte mir in den ersten Schuljahren unser thüringer Dialekt viel zu schaffen. Noch
heute fällt es mir schwer b und p und d und t zu unterscheiden und ich spreche dabei
noch immer von jeweils harten oder weichen Buchstaben. Nur mit Anstrengung und
Konzentration gelingt es mir den Unterschied in der Aussprache darzustellen. In
meinem Berufsleben hielt ich mehrmals wissenschaftliche Vorträge auch vor
internationalen Zuhörern mit Simultanübersetzung. In Vorbereitung dieser Aufgaben
habe ich intensiv geübt, um nicht in den Dialekt zu verfallen, sonst hätten auch die
Übersetzer Schwierigkeiten bekommen.
Selbst von unseren Kindern muss ich mir manchmal freundlichen Spott gefallen lassen,
wenn „harte oder weiche p bzw. t“ zu Verwechslungen führen.
Eine Geschichte, die ich als Schulkind in den ersten Klassen im Zusammenhang mit
dem Dialekt erlebte, blieb mir unvergessen. Ich hatte in einem Diktat 7 Fehler und
damit eine schlechte Note bekommen. Eine Katastrophe, denn ich schämte mich sehr,
weil ich zudem immer etwas ehrgeizig war. Zu Hause legte ich das Heft auf den
Stubentisch, damit meine Mutter unterschreiben sollte und ich schloss mich in unserem
Geräteschuppen ein. Meine Mama war zunächst böse. Als sie aber kam, um mich aus
meinem Versteck zu holen, merkte ich, dass der erste Zorn verraucht war. Sie hatte
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festgestellt, dass ich die vielen Fehler deshalb gemacht hatte, weil ich so schrieb wie wir
daheim sprachen. Z.B. Kirche als Kaerche, Hose als Huse, nein als nee, so als su usw.
Beim Diktieren hatte ich zwar die hochdeutschen Worte verstanden, aber bis zum
Niederschreiben fehlte mir die Zeit zum gründlichem Nachdenken. Ich schrieb deshalb
fast alles so, wie ich es in unserem Dialekt kannte. Von da an wurde beschlossen, dass
wir uns Mühe geben wollten zu Hause einigermaßen hochdeutsch zu sprechen. Das
klappte nicht durchgehend und außerdem war der Einfluss durch Gespräche mit anderen
Kindern auf der Straße zu stark. Dort wurde man verlacht, wenn man keinen Dialekt
sprach.
Religionslehre und Lebenskunde hatten wir bis Mitte der 2. Klasse. Ob dieses
Unterrichtsfach dann generell abgeschafft oder in den höheren Klassen nicht mehr
unterrichtet wurde, weiß ich nicht mehr. Wir Kinder von kirchlich gebundenen Eltern
gingen dann ungefähr ab achtem Lebensjahr zum Pfarrer in die Religionslehre und
später in den Konfirmandenunterricht, der im Pfarrhaus stattfand. Es gab damals eine
Trennung zwischen Kirche und staatlicher Schule.
Neben Deutsch war Rechnen schon ab den ersten Schuljahren ein sehr wichtiges
Unterrichtsfach. Die Mathematik blieb während meines ganzen Lebens bis heute mein
Hobby. Zurückblickend stelle ich fest, dass die in unserer Volksschule erworbenen
Kenntnisse und Übungen im Fach Rechnen dem Gedächtnistraining dienten. Außerdem
anerkenne ich die damalige Gründlichkeit, mit der wir Zahlen und Grundrechenarten
lernten. Mit vielen Übungen kannten wir nach der ersten Klasse die Zahlen bis 100 und
waren am Ende der vierten so weit, dass wir das große Einmaleins beherrschten. Die
heutigen Lehrpläne gehen da, jedoch ohne die erforderliche Gründlichkeit, viel weiter.
Im Fach Rechnen machte uns eine einfache aber zugleich erfolgreiche Übung viel
Spaß:. Alle Schüler mussten aufstehen und durften sich setzen, wenn sie die vom Lehrer
gestellte Rechenaufgabe als Erster richtig gelöst hatten.
Während des Krieges betreuten die Lehrer zur gleichen Zeit mehrere Klassen. Wir
führten dann diese Rechenübung in eigener Beaufsichtigung durch. Dabei waren nicht
immer die intelligenten, sondern oft die körperlich stärksten Schüler, die Ersten, die sich
durchsetzten. Der Lehrer kam dann vom Nachbarzimmer und schritt ein, wenn es zu
laut wurde. Die Züchtigung mit dem Rohrstock sorgte dabei oft für die ausgleichende
Gerechtigkeit.
Ab 1942 war ein sehr erheblicher Lehrermangel spürbar. Zum Ausgleich der
Ausfallstunden mussten wir uns selbst beschäftigen, oder wir erhielten umfangreichere
Hausaufgaben. Es war kurios, aber wir freuten uns über den Fliegeralarm. Wenn wir uns
vom Aufenthalt im öffentlichen Luftschutzkeller drücken konnten, nutzten wir die
gewonnene freie Zeit zum „stromern“ in Wald und Flur. Dort bestand nur eine geringe
Bombengefahr. Wir warteten im Unterricht ständig auf den Voralarm, weil wir bereits
in diesem Falle schnell nach Hause durften. Wir Kinder empfanden insgesamt den
Unterrichtsausfall, der unsere schulische Ausbildung bestimmt negativ beeinflusste, als
recht angenehm.
Im weiteren will ich einiges zur „Prügelstrafe“ in der Schule aussagen. Diese Art einer
offiziell geduldeten Erziehungsmethode kann sich die heutige Generation gar nicht
mehr vorstellen. Allerdings wurde mir erst jetzt durch eine Fernsehsendung bekannt,
dass in Bayern bis Ende der sechziger Jahre Ohrfeigen erlaubt waren.
Bei Bestrafungen trat nach meinen Erfahrungen oft die Gerechtigkeit in den
Hintergrund. Sympathie oder Antipathie der Lehrer gegenüber bestimmten Schülern
waren sehr stark ausgeprägt. Ich erinnere mich, dass ein Knabe fast täglich, oft wegen
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Kleinigkeiten, Stockhiebe auf das Hinterteil bekam. Der Lehrer konnte nicht vergessen,
dass dieser Junge ihn einmal stark brüskiert und lächerlich gemacht hatte. Dieser
Erzieher klemmte meist den Kopf des Übeltäters zwischen seine Beine, um mit der
freien Hand den Hosenboden straff ziehen zu können. Bei einer solchen Strafaktion biss
der bewusste Schüler den Lehrer so sehr in die Wade, dass dieser vor Schmerz
aufschrie und einen hohen Sprung vollführte. Wenn wir die Hitlerjugenduniform trugen,
durfte uns der Lehrer nicht schlagen. Leider konnten wir aber dieses sogenannte
Ehrenkleid in der Schule nur zu besonderen Anlässen anziehen.
Es ist verständlich, dass wir Schüler uns manches einfallen ließen, um die
Schmerzhaftigkeit der Schläge zu mildern. Hierzu gab es auch überlieferte Erfahrungen
von den Erwachsenen. Als wirksam erwies sich, den Rohrstock mit Zwiebel
einzureiben, weil er dann leichter zerbrach. Nur hatte diese Methode bestimmte
Schwierigkeiten. Erstens war das Folterinstrument immer im Klassenschrank
eingeschlossen und nur der Lehrer hatte einen Schlüssel; zweitens roch die Zwiebel sehr
stark und drittens gab es immer Ersatzstöcke.
Weiterhin wurde auch versucht, den Hosenboden mit Kissen, Leder oder sonstigen
Unterlagen zu polstern. Nur merkte der Lehrer beim Straffziehen, dass da etwas nicht
stimmte. Vor der Bestrafung mussten dann die Polsterungen entfernt werden und es
wurde oft sogar das Strafmaß erhöht. Erlebt habe ich, dass ein Schüler eine mit
Schweineblut gefüllte Schweineblase unterlegte, die von einer Hausschlachtung
stammte Als durch die Schläge die Blase platzte und das Blut spritzte, war der Lehrer
zunächst schockiert. Nachdem sich herausstellte, dass er reingelegt worden war, wurden
die folgenden Bestrafungen noch härter.
Als Andenken habe ich einen Rohrstock aus der Schulzeit mit nach Hause genommen
und bis heute aufbewahrt. Zu unserem ersten Schulkameradentreffen habe ich ihn
vorgezeigt und er weckte bei allen manche schmerzlichen Erinnerungen.
Ich war kein Musterschüler, hatte aber Glück, ich wurde nur ein einziges Mal mit acht
Stockhieben bestraft. Das Vergehen, das zu dieser Züchtigung führte, hatte starken
Einfluss auf meine Erziehung zur Ehrlichkeit und Disziplin; deshalb will ich es
ausführlich beschreiben.
Im Winter mussten in unserer Schule die Öfen von uns Schülern geheizt und versorgt
werden. Einen Hausmeister gab es während des Krieges nicht und wir erledigten im
übrigen viele Tätigkeiten, die diesem sonst oblagen. Ein Klassenkamerad und ich waren
verantwortlich für die Ofenheizung im Lehrerzimmer. Das war eine besondere
Auszeichnung, denn wir konnten uns hin und wieder vom Unterricht entfernen und
waren auch häufig in diesem Raum ganz allein. Dort lagerten auf dem Tisch oder im
unverschlossenem Schrank Klassenbücher, Zeugnisduplikate und sogar das Siegel des
Schuldirektors. Die Verführung war sehr groß, und wir haben ab und zu einen Blick in
die für uns geheimen Unterlagen gewagt. Besonders guten Freunden konnten wir dann
Auskünfte über negative oder positive Eintragungen geben und auch einiges über uns
selbst erfahren. Besonders verlockend war aber, dass wir mit dem Siegel des
Schuldirektors Bezugsbescheinigungen für Schreibhefte abstempeln konnten.
Schreibhefte waren bewirtschaftet und nur mit amtlichen Bestätigungen einzukaufen.
Wir erstellten eine größere Anzahl solcher Bescheinigungen und hatten damit nicht nur
für uns genügend Hefte, sondern auch ein ausgezeichnetes Tauschobjekt. Das Geschäft
florierte so lange, bis der einzige Schreibwarenhändler unserer Stadt aufmerksam
wurde. Er konnte die Versorgung nicht mehr absichern und informierte die Schule, weil
er die Echtheit der vielen Bezugsbescheinigungen anzweifelte. Der Schwindel flog auf.
Unsere Mütter wurden zur Schule bestellt und uns offeriert, dass wir Sabotage oder im
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geringsten Falle Urkundenfälschung begangen hätten. Schwere Stunden für uns Schüler
und unsere Eltern folgten. Es wurde uns angedroht, dass wir in ein Erziehungsheim
kämen.
Ich denke, dass unser sonst diszipliniertes Verhalten und meine aktive Mitwirkung im
Jungvolk sowie unsere unbescholtenen Eltern den Lehrer bewogen haben, die
Angelegenheit nicht weiter zu melden. Die Bestrafung wurde also in der eigenen Schule
vorgenommen. Wir 2 Hauptschuldigen und 4 weitere Mitschüler, die mit den
Bescheinigungen einen Tauschhandel betrieben hatten, erhielten nach strengen und
mahnenden Worten 8 Stockhiebe. Obwohl es sehr weh tat, war es Ehrensache nicht zu
weinen. Weil wir den Zeitpunkt unserer Bestrafung wussten, haben wir unser Hinterteil
mit einem Kissen abgepolstert. Da der Lehrer das merkte, mussten wir erst in der
Toilette diesen Schutz entfernen. Das alles war natürlich ein Gaudi für die ganze Klasse.
Mit Schadenfreude quittierten die anderen Mitschüler, dass wir mit all unseren
Betrügereien reingefallen waren. Erstaunt war ich, dass wir auch weiterhin die Öfen im
Lehrerzimmer versorgen durften. Alle wichtigen Utensilien befanden sich aber nunmehr
im verschlossenen Schrank. Wahrscheinlich waren die eigenen Fehler der Schulleitung
auch ein Grund, die Angelegenheit nicht an die große Glocke zu hängen.
In Geschichte erfuhren wir in meiner Volksschulzeit viel über Biographien von
Monarchen und großen deutschen Heerführern sowie der nordischen Mythologie und
lernten Jahreszahlen von Kriegen und nationalsozialistischen Ereignissen auswendig.
Mir gefiel das sehr gut und ich glaube, dass damals bei mir der Grundstein für meine
noch heute existierende Verehrung Bismarcks gelegt wurde.
Als Vorschulkind habe ich recht gern gemalt, aber schon in der ersten Klasse ließ meine
Begeisterung nach. Das ewige Malen von Zuckertüten behagte mir absolut nicht. Ich
benutzte gern ein Lineal, weil mir die mit freier Hand gezeichnete Linien meist nur
schlecht gelangen und nicht gefielen. Ich bekam deshalb in den ersten. Klassen in
Zeichnen nur eine „3“. In den späteren Jahren wurden die Fähigkeiten beim Malen nicht
mehr vordergründig bewertet und es kam in diesem Fach Kunstgeschichte hinzu, womit
sich meine Noten verbesserten.
Im Frühjahr, Sommer und Herbst war unsere Freizeit stark eingeschränkt. Wir mussten
Heilkräuter, die als Tee für die Wehrmacht und zur Herstellung von Medikamenten
gebraucht wurden, sammeln. Außerdem hatten wir die Aufgabe Kartoffelkäfer von den
Stauden ablesen. Die Käfer wurden zunächst in Gläsern aufbewahrt, gezählt und dann
ins Feuer geschüttet. Für fleißige Sammler gab es neben Lob manchmal sogar kleinere
Geldbeträge. Uns wurde erzählt, dass die Kartoffelkäfer von den Amerikanern aus
Flugzeugen abgeworfen worden wären. Damit sollte angeblich in Deutschland die
Ernährung der Bevölkerung sabotiert werden. Die Erwachsenen lächelten über diese
plumpe Propaganda und auch wir merkten nach dem Krieg, dass diese Behauptung eine
Lüge war. Das Sammeln von Heilkräutern war für den Naturkundeunterricht eine sehr
gute praktische Übung: Wir lernten die Pflanzen und auch einiges über deren
Heilwirkung kennen.
Während des Krieges betreuten wir Schulkinder eine Seidenraupenzucht. Das galt als
kriegswichtige Aufgabe, weil aus der gewonnenen Seide Fallschirme für die
Wehrmacht hergestellt wurden. Um Futter für die Raupen zu gewinnen wurde der
Feuerwehrübungsplatz mit einer Maulbeerhecke umgrenzt. Bei der Pflanzung sowie
weiteren Pflege waren wir Kinder ebenfalls beteiligt. Im Feuerwehrgerätehaus befand
sich ein sehr großer beheizbarer Raum, in dem der Naturseidenanbau betrieben wurde.
Wir Kinder waren vor allem für das Füttern der Raupen verantwortlich und hatten
hierfür sogar hin und wieder Wochenendbereitschaft.
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Obwohl all diese dargestellten Arbeiten die direkte Unterrichtszeit verringerten und
unsere Freizeit schmälerten, stärkten die Aufgaben unser Pflichtbewusstsein und sie
unterstützten auch das Lernen.
Erwähnenswert sind noch die Lehrmittel. In unserer Schule standen u.a. zur Verfügung:
Landkarten, Schautafeln von Tieren und Pflanzen, Bilder von Maschinen,
unbewegliche, relativ kleine Wandtafeln, auf die mit weißer Kreide geschrieben wurde,
wenige Exemplare ausgestopfter Tiere, getrocknete, gepresste Blätter der Heilkräuter,
die wir während des Krieges sammeln mussten und die als Anschauungsmaterial
dienten.
Die Karten und Schautafeln waren auf festes Leinentuch aufgezogen, das an zwei
Holzstangen befestigt war. So konnten sie aufgerollt aufbewahrt werden. Alles befand
sich in einem gut verschlossenen Lehrmittelraum. Es war eine große Auszeichnung für
uns Schüler, sie von dort für den Unterricht holen zu dürfen. In diesem Raum roch es
immer muffig und es war staubig. Ich war sehr neugierig, wenn ich Lehrmaterial
abholte oder zurück brachte. Heimlich habe ich versucht, einen Blick auf die Sammlung
der Gegenstände zu werfen, die wir im Unterricht noch nicht gesehen hatten. Aber viel
Neues, das vor allem im Biologieunterricht interessant gewesen wäre, entdeckte ich
nicht. Bilder von Menschen - besonders der beiden Geschlechter - gab es damals in der
Schule noch nicht. Das Wissen darüber habe ich mir, wie schon vorn beschrieben,
heimlich aus den sogenannten „Doktorbüchern“ geholt. Darin gab es neben Hinweisen
für Erkrankungen und der Heilung mit Hausmitteln aufschlussreiche Bilder über
Männer und Frauen und deren unterschiedliche Geschlechtsorgane. Die Themen
Zeugung, Schwangerschaft, Geburt usw. waren damals in der Schule aber auch in der
Familie gegenüber den Kindern ein Tabu. Wir mussten im wahrsten Sinne der
Scheinwelt noch an den „Klapperstorch“ glauben. Selbst wenn wir uns selbst aufgeklärt
hatten, verhielten wir uns so, als wüssten wir nichts.
In meinen Aufzählungen will ich die Lehrtafeln nicht vergessen, die heute
erfreulicherweise nicht mehr ihresgleichen finden. U.a. waren das Bilder von
Uniformen; Rangabzeichen der Offiziere der Wehrmacht, Marine und Luftwaffe; Typen
von Panzern, Kanonen, Kriegsschiffen und Flugzeugen. Darüber Bescheid zu wissen
und das zu lernen machte damals uns Jungen sogar richtig Spaß.
Höhepunkte für uns waren hin und wieder befohlene Besuche ausgewählter
Kinovorführungen des Landfilms. Hier sahen wir ( soweit ich mich noch erinnern kann)
u.a.:„Kopf hoch Johannes“ ( Ein Hitlerjugendfilm), „Friedericus Rex“ und andere NS
– Propagandafilme, an deren Titel ich mich nicht mehr erinnern kann.
Drei Ereignisse während meiner Volksschulzeit haben mich emotional stark bewegt.
Das waren Todesfälle von Mitschülern.
Renate Sell war ungefähr 14 Jahre alt, als sie an einer schweren Lungenkrankheit starb.
Noch heute kann ich mich daran erinnern, wie wir als Mitschüler tief bewegt an ihrem
Grab standen. Sie war ein liebenswertes Mädchen.
Tragisch war der Tod von Lothar Groß, der sich mit 10 Jahren das Leben nahm. Er warf
sich vor einen Eisenbahnzug. Lothar lebte mit seinen Eltern in unserer Nachbarschaft
im Gemeindehaus, wo ärmere kinderreiche Familien kostenlos oder mit geringer Miete
wohnen konnten. Er war ein recht guter Schüler. Die Ursache seines Freitodes wurde
meines Wissens nie richtig aufgeklärt. Man erzählt, dass er frühmorgens ein Brötchen
essen wollte, was ihm seine Mutter untersagte und er sich deshalb wieder einmal mit ihr
sehr stritt. Die Mutter muss sich sehr große Vorwürfe gemacht haben, denn wenige
Tage nach dem Tod ihres Sohnes ertränkte sie sich in einem Teich.
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Werner Junkunz, dem mit 11 oder 12 Jahren die heimtückische Krankheit
Kinderlähmung überfiel, waren danach die Beine gelähmt. Es dauerte damals sehr lange
bis er einen Rollstuhl bekam und er war deshalb weitgehend an die Wohnung gebunden.
Wir Mitschüler besuchten ihn fast täglich, brachten ihm die Schulaufgaben und lernten
auch mit ihm. Später kam er in ein Heim, wo er schulisch und auch in der
Berufsausbildung sehr gute Ergebnisse erzielte. Zu unserer Schulabschlussfeier 1946
haben wir Werner eingeladen und wir waren alle sehr erfreut, dass er trotz seiner
Behinderung teilnahm. Ich habe ihn damals zum letzten Mal gesehen und nur später
erfahren, dass er in einem kaufmännischen Beruf sehr erfolgreich war.
Vieles hat sich seit meiner Schulzeit verändert und verbessert. Vielleicht sollte man aber
prüfen, ob auch einige Aspekte von damals in die heutigen Lehrpläne übernommen
werden könnten.
9. Kindheitserlebnisse mit politischem Hintergrund
Retrospektiv kommen mir eine Reihe weiterer Ereignisse wieder in Erinnerung, die mir
in der Hitlerzeit eigentlich Augen und Ohren über die vielen Widersprüche hätten
öffnen müssen. Ich finde noch heute keine schlüssige Erklärung dafür, warum ich trotz
vieler Mahnungen immer Rechtfertigungen suchte und fand, die nationalsozialistischen
Parolen und Maßnahmen zu verteidigen. Aufkommende Zweifel wurden, so glaube ich
mich zu entsinnen, durch die schulische Erziehung und die angefachte Begeisterung zur
Elite aufsteigen zu können, unterdrückt.
Zahlreiche Erlebnisse mit einem politischen Hintergrund blieben mir in Erinnerung.
Schon 1937 besaßen meine Eltern einen leistungsfähigen Radioapparat. Dieser war in
unserer Nachbarschaft ( Eigentümer von kleinen Bauernhöfen und Einfamilienhäusern)
das einzige Rundfunkgerät. Verständlicherweise wurden wichtige Sendungen und vor
allem die Reden von Adolf Hitler gemeinsam in unserer Wohnstube empfangen und
angehört. Uns Kindern beeindruckte mehr die schnarrende, laute, ja manchmal sich
überschlagende Stimme des Redners, als der Inhalt der Ansprachen. Von den
begleitenden Gesprächen ist mir eine Bemerkungen in Erinnerung geblieben:
„ Alles steuert auf einen Krieg hin – das wird ein furchtbares Blutvergießen“.
Vergleiche zum 1. Weltkrieg wurden angestellt.
Als Kind konnte ich mit diesen Aussagen nichts anfangen und glaubte später eher der
Parole, die wir in der Schule hörten:
„Deutschland muss die Schande des Versailler Friedensvertrages tilgen und braucht
eine Erweiterung des Reichsgebietes“.
Die Erwachsenen sprachen schon ab dem Jahre 1936 sehr häufig davon, dass Hitler bald
einen Krieg vom Zaune brechen würde. Es wurde auch ein in unseren Breiten selten zu
sehendes Nordpolarlicht beobachtet. Ich erinnere mich recht gut an dieses
Naturschauspiel. Der Himmel war großflächig rot-grün streifig verfärbt. Die älteren
Leute und auch meine Großeltern sagten: „Das ist ein böses Vorzeichen und bedeutet
Krieg“. In diesem Falle hatten sie sogar recht.
Die Forderung der Nationalsozialisten, die ich damals oft hörte, dass sich unser Land
nach Osten ausdehnen müsste, war mir sehr sympathisch. Schon als Vorschulkind
beantwortete ich die Frage nach meinem Berufswunsch mit einer lautstarken,
unumstößlichen Sicherheit: „Bauer“. Ich träumte deshalb davon, später einmal
Verwalter in einem großen Rittergut in der Ukraine oder in Russland zu werden. Mir
imponierten die Bilder, wenn der Inspektor über die Felder ritt und seine Befehle
erteilte. In dieser Zeit ahnte ich aber nicht, welches Leid die Deutschen dann in die
besetzten Länder brachten. Dem Schicksal kann ich in diesem Zusammenhang nur
dankbar sein, dass ich zu jung war, um an der gescheiterten Osteroberung teilzunehmen.
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Von der Losung: „Deutsche aus dem Sudetenland wollen heim ins Reich“ war ich nach
eigenem Erleben nicht ganz überzeugt. Meine Tante und mein Onkel wohnten in der
Nähe von Karlsbad und fühlten sich dort recht wohl. Nebenbei schnappte ich schon
Anfang 1938 bei Gesprächen auf, dass sie von den Aufmärschen und Parolen der
„Henleinanhänger“ oft sehr beunruhigt waren. In den Ferien besuchte ich meine
Verwandten sehr häufig. Erst später als Erwachsener erkannte ich die geschichtliche
und politische Brisanz meiner damaligen Kindheitserlebnisse im Sudetenland, die ich
deshalb hier kurz schildern will.
Meine Tante war deutscher und mein Onkel tschechischer Abstammung. Sie hatten eine
kleine Firma (10 Arbeiter und mehrere Heimarbeiter) und steppten Lederhandschuhe.
Nachhaltige Eindrücke hinterließ bei mir ein Urlaubsaufenthalt im Sommer 1938 vor
dem Einmarsch der deutschen Truppen im Sudetenland. Schon die Reise dorthin war
ein unvergessenes Erlebnis für mich. Ich fuhr mit meiner Großmutter mit dem Zug bis
zum Grenzbahnhof Johanngeorgenstadt. Der illegale Grenzübertritt war damals gang
und gäbe. Auch meine Oma und ich gingen vom Bahnhof aus per Fuß weiter und
überquerten in der Nähe der „Dreckschenke“ gemeinsam mit vielen Leuten einen
kleinen Bach. Damit waren wir in der Tschechoslowakei, wo uns unsere Verwandten in
Empfang nahmen. Das verbotene Tun war für mich als Kind sehr aufregend, aber ich
bemerkte, dass die Grenzwachen beider Seiten sich kaum um die illegalen Grenzgänger
kümmerten.
Als Kind gibt man gern an und prahlt mit Taten und Geschehnissen. So erzählte ich den
Kindern, die ich dort kennen lernte, von Deutschland. Ich prahlte: „Deutsche sind
tapferer als alle anderen Völker“. Ja, ich verstieg mich sogar soweit, dass ich forderte,
auch meine Spielgefährten müssten mit „Heil Hitler“ grüßen. Ich erntete Widerspruch
und Streit blieb nicht aus. Onkel und Tante bremsten meinen patriotischen Eifer. Als
folgsames Kind fügte ich mich letztlich den Mahnungen der Erwachsenen.
Von 1939 bis 1944, als es keine Grenze mehr zwischen Deutschland und dem
Sudetenland gab, verbrachte ich jährlich einen Teil meiner Schulferien bei meinen
Verwandten im Erzgebirge.
1941 war ich Pimpf im Deutschen Jungvolk geworden und wollte deshalb in die
Sommerferien in Uniform reisen, was jedoch meine Mutter strikt verbot. Im Ferienort
gab ich aber trotzdem gegenüber den Gleichaltrigen mit meiner Jungvolkmitgliedschaft
sehr an.
Bis 1943 waren wir Kinder sehr begeistert von den Siegen der deutschen Wehrmacht. In
der Schule wurden auf Weltkarten der sich erweiternde Herrschaftsraum und das
Vorrücken unserer Armeen täglich mit bunten Stecknadeln aktualisiert. Selbst als der
Kampf um Stalingrad tobte, gab es noch immer Siegeszuversicht. Unser Lehrer
verkündete die Kapitulation in dieser hart umkämpften Stadt als großen Sieg. Mein
Vater hatte mir diese Niederlage anders erklärt, mich aber streng ermahnt, darüber in
der Öffentlichkeit nicht zu sprechen. Ich hielt mich an diesen Hinweis und hatte
nunmehr doch manchmal heimliche Zweifel an den Verkündungen unseres Lehrers. Das
zeigte sich fortan beim Rückzug der deutschen Armeen auf allen Kriegsschauplätzen.
Trotzdem blieb bei mir, das weiß ich noch heute, immer ein Hoffnungsschimmer auf
den deutschen Sieg.
In den Bauernhöfen unserer Nachbarschaft waren französische und polnische
Kriegsgefangene am Tage als Landarbeiter tätig. Nachts wurden sie unter Bewachung in
einem Barackenlager untergebracht. Ein Franzose, ein Lehrer, der in seiner Heimat
deutsche Sprache unterrichtet hatte, war mir besonders sympathisch. Ich setzte mich oft
zu ihm, wenn er im Pferdestall die Mahlzeiten einnahm. Außerdem zeigte ich ihm
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manche Fertigkeiten der landwirtschaftlichen Arbeit, die ich besser kannte als er als
Intellektueller. Er gestatte mir oft, mit den Pferden zu kutschieren, wenn wir zu den
Feldern und Wiesen fuhren und dort arbeiteten. Die Zügel in der Hand halten zu dürfen
und die Tiere zu lenken, war für mich eine besonders große Freude.
Keine ernsthaften Gedanken machte ich mir darüber, dass ich ihn manchmal am Tisch
bei der Bauernfamilie sitzen und essen sah. Wenn ich kam, stand er sofort auf und aß im
Stall weiter. Die Gefangenen durften nicht mit in der Stube oder Küche speisen und
Gefangener und Bauer hatten Angst vor Denunziation. Das hätte ich bestimmt nicht
getan, aber das Vertrauen, besonders zu Kindern, reichte damals nicht weit. Es waren
auch Fälle bekannt geworden, dass Kinder ihre Eltern, Verwandten oder Nachbarn
wegen unbedachter, verbotener politischer Äußerungen oder Handlungen anzeigten.
Listige verbohrte Nationalsozialisten nutzten sogar die Unerfahrenheit der Kinder und
fragten diese scheinheilig aus.
Die Unterhaltung mit diesem Lehrer war für mich sehr aufschlussreich, weil er
spannend von seiner Heimat erzählen konnte und ich auch manches lernte. Politischen
Themen, das kommt mir retrospektiv in Erinnerung, wich er aus. Zu Konflikten hätte es
manchmal bald geführt, dass er mich völlig ignorierte, wenn ich die Jungvolkuniform
trug. Ich wollte nicht verstehen, dass er sich dann, selbst wenn ich ihn ansprach, taub
stellte. Ich legte mir das so zurecht, dass er zwar ein guter Mensch ist, aber trotzdem
immer unser Feind bleibt. Als solcher ist er uns unterlegen und kann "das Gute" in
Deutschland nicht begreifen.
In Schule und Jungvolk wurde uns gelehrt, die Reinheit der nordischen Rasse zu
bewahren und zu schützen. In unserer Familie erfuhr ich 1940 welche Hürden zu
überwinden waren, wenn ein SS Offiziersanwärter heiraten wollte. Meine 10 Jahre
ältere Cousine war mit einem jungen Mann verlobt, der in der Leibstandarte „Adolf
Hitler“ diente. Sie musste Ahnentafeln, die auch für mich interessant waren, aufstellen
und ihre arische Abstammung belegen. Erfreulicher Weise war in unserer Familie
lückenlos fast 200 Jahre zurück die „ rassische Reinheit“ der Vorfahren nachzuweisen.
Sie selbst war aber als Kind an der Hüfte operiert worden. Deshalb musste sie ärztliche
Atteste beibringen, um eine Erbkrankheit auszuschließen. Der Bräutigam ist im
Russlandfeldzug bei Stalingrad gefallen.
Ich hatte im Zusammenhang mit Problemen des „Rassenwahns“, das war die
Bezeichnung, die nach dem Krieg aufkam, schreckliche Kindheitserlebnisse. Die
französischen und polnischen Kriegsgefangenen, die bei fast allen Bauern arbeiteten,
gehörten zum Stadtbild. Ein Pole hieß Nicolaus, und er war ein hübscher junger Mann.
Wenn er mit dem Pferdefuhrwerk Jauche oder Mist aufs Feld fuhr, machte er oft einen
Umweg über den Marktplatz, durch die ganze Stadt. Er sagte mit den wenigen
deutschen Worten, die er gelernt hatte: „ Ich will schöne Mädchen sehen.“ Die
mahnenden Worte seines Bauern halfen nichts, er fuhr immer wieder Extratouren.
Gefangene trafen sich heimlich mit jungen Mädchen aus unserer Stadt. Das blieb nicht
unbemerkt. Die jungen Männer wurden weggebracht und wir haben nie wieder etwas
von ihnen gehört. Sie sollen erschossen worden sein. Den Mädchen, sie stammten aus
angesehenen Familien, wurden öffentlich auf dem Marktplatz die Haare abgeschnitten.
Anschließend fuhr man sie auf einem Mistwagen durch die Stadt. Noch heute klingt in
meinen Ohren das Schreien und Johlen der Menschen, die aus der Umgebung angereist
waren, um der entehrenden Veranstaltung beizuwohnen. Es war alles sehr deutlich in
unserem Hof, in einer Entfernung von ungefähr einem halben Kilometer, zu hören.
Meine Eltern gingen nicht dorthin und verboten auch mir, an diesem makaberen
Schauspiel teilzunehmen. Sie empörten sich über die Demütigung der Menschen, die
doch gar nichts Bösartiges getan hatten. Als der Wagen an unserem Haus vorbeifuhr,
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habe ich doch heimlich durch den Vorhang geschaut. Das Bild, vor allem den gequälten
Gesichtsausdruck dieser Frauen, kann ich mein Leben lang nicht vergessen.
Der Frisör, der den verurteilten jungen Frauen die Haare abschnitt und der Bauer, der
den Mistwagen fuhr, wurden dazu gezwungen. Dies und die Tatsache, dass viele
Menschen diese Geschehnisse verurteilten, erfuhr ich erst nach dem Krieg. Alle hatten
Angst, denn wer opponierte, der musste mit unvergleichlich hohen Strafen rechnen. Es
brauchte nicht einmal ein
organisierter Widerstand zu sein, allein abfällige
Bemerkungen über Hitler und das System sowie der Empfang feindlicher Sender
genügten für eine Strafverfolgung.
Ein weiteres Beispiel zeigte mir, dass oft einfache Menschen heimlichen Widerstand
leisteten. In unserer Straße wurden 1941/42 die Arbeiten zum Verlegen von Wasserund Abwasserleitungen von Kriegsgefangenen ausgeführt. Diese Männer bekamen trotz
der schweren Arbeit wenig zu essen und hatten auch keine entsprechende Kleidung für
schlechtes Wetter. Meine Großmutter und auch andere ältere Frauen aus der
Nachbarschaft steckten den Gefangenen heimlich Nahrungsmittel und auch wärmende
Kleidungsstücke zu. Pflichtbewusste Wachposten versuchten dies zu verhindern und
drohten auch mit Strafen. Meine Großmutter und auch die anderen Frauen waren aber
sehr mutig und ließen sich nicht abschrecken.
Bis Mitte 1944 spürten wir in den ländlichen Gebieten wenig vom Krieg. Freilich
kamen häufig Nachrichten über gefallene Soldaten; darunter waren auch Menschen, die
ich kannte. Berührt wurde man hiervon aber erst richtig, wenn es die eigene Familie
betraf. Wir hatten, so kann ich heute sagen, noch Glück, denn von der engeren Familie
sind nur der erwähnte Bräutigam und der Mann meiner anderen 10 Jahre älteren
Cousine gefallen. Alle anderen näheren Verwandten kamen, von einigen leichten
Verwundungen abgesehen, unversehrt aus dem Krieg zurück.
In der Schule hörten wir u.a. die Redensarten „ Gefallene Soldaten starben für Führer,
Volk und Vaterland.“ „Die Hinterbliebenen trauern stolz.“ und „ Die Soldaten fielen
auf dem Felde der Ehre“. Wir Kinder wiederholten diese Schlagworte, ohne deren
tieferen Sinn richtig zu begreifen. Nur meine Großmutter hatte den Mut, auch mir
gegenüber, den Krieg als ein sinnloses Sterben von Menschen zu bezeichnen.
Über Hitler wurden wenig Witze bekannt, zumindest hörte ich in dieser Zeit über ihn
selten abfällige Reden. In unserer Familie war dieses Thema der großen Verehrung
unseres Führers mehr oder weniger tabu. Deshalb ist mir auch eine Unterhaltung in
Erinnerung geblieben, die ich als Neunjähriger bei einer Bekannten meiner Großmutter
mithörte. Die Frau erzählte, dass sie bei einem Berlinbesuch das Glück hatte, den
Jackenärmel Hitlers zu berühren. Bei einer langsamen Fahrt durch die Menschenmenge
gelang es ihr ganz nahe an diesen hochverehrten Mann heran zu kommen. Ich kann das
Gespräch nicht mehr wörtlich wiedergeben, aber sie sagte ungefähr folgendes: „ Von
unserem Führer geht eine himmlische Kraft aus“. Meine Großmutter, die eine fromme
Frau war, erwiderte: „ Er ist aber doch bestimmt nicht der liebe Gott.“ Diese
Bemerkung führte zu Konflikten. Die Bekannte nahm es meiner Großmutter übel, dass
sie nicht mit in ihr Horn blies. Das Fass fast zum Überlaufen brachte außerdem, dass
meine Oma gar nicht stolz auf das ihr verliehene silberne Mutterkreuz war, das man für
6 geborene Kinder erhielt. Sie meinte immer: „ Ich allein habe meine Kinder zu
anständigen Menschen erzogen. Der Staat hat mir dabei nicht geholfen, der braucht die
Kinder nur für den Krieg zum Totschießen.“ Im übrigen wurden durch meine
Großmutter politische Fragen immer auf einen sehr einfachen Nenner gebracht.
Erfindungen, so sagte sie, werden in der Hauptsache gemacht und verwirklicht, um im
Krieg die jeweiligen Feinde wirkungsvoller zu bekämpfen und zu besiegen. Wenn es
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aber um die Verbesserung der Lebensverhältnisse, um das Bekämpfen von Krankheiten
geht, dann ist meistens kein Geld dafür da. Ein beliebter Ausspruch von ihr war auch:
„Wer anständig bleibt, wird selten reich.“
In gleicher Einfachheit demonstrierte mein Vater im Dritten Reich seine politische
Einstellung u.a. durch das Erzählen folgender wahrer Begebenheiten und Witze: Ein
Mann sagte öffentlich in der Kneipe: „Die großen bleiben die großen, stinkig, faul und
popelig.“ Als er verhaftet werden sollte, weil sich die Obrigkeit angegriffen fühlte,
äußerte er: „Ich meine doch nur die Kartoffeln“.
Hermann Göring, der Reichs- und Luftmarschall, hatte am Anfang des Krieges gesagt: „
Wenn ein feindliches Flugzeug in den deutschen Luftraum eindringt, dann will ich
Meier heißen.“ Als die feindlichen Bomber fast ungehindert nach Deutschland kamen,
hieß Göring im Volksmund nur noch Herr Meier. Sehr oft erzählte mein Vater von den
Darbietungen des bekannten Münchener Kabarettisten „Weißferdel“. Er brachte 3
Schweine auf die Bühne, die er Familie Mann nannte und sagte: „Das kleine Ferkel ist
Kind Mann, das mittlere Schwein ist Frau Mann und das große fette Schwein ist Herr
Mann“. Er erhielt sehr großen Beifall, denn alle wussten, dass Göring gemeint war.
Seine darauf folgende Inhaftierung währte nicht lange. Er gehörte zu den bekannten
Künstlern, die man auch in der Hitlerzeit, wegen Rücksichtnahmen gegenüber dem
Ausland, weniger hart bestrafte. Übrigens soll Weißferdel nach seiner Haftentlassung
wieder mit einem Schwein auf die Bühne gekommen sein und darauf zeigend gesagt
haben: „Wegen dieser fetten Sau war ich eingesperrt“ und er meinte damit wiederum
Göring, der einen beträchtlichen Körperumfang hatte.
Wirklich zugetragen haben soll sich im Hohenleubener Bahnhofswartesaal folgende
Begebenheit: Die wartenden Fahrgäste unterhielten sich über Politik. Ein Mann sagte:
„Es wird auch wieder anders.“ Ein Fanatiker glaubte, er meine den Sturz Hitlers. Wegen
dieser allgemeinen Aussage wurde der Mann, der früher Sozialdemokrat war, verhaftet
und verurteilt.
Erst bei Gesprächen mit meinen ehemaligen Schulkameraden kam mir wieder in
Erinnerung, dass auch in Hohenleuben in den dreißiger Jahren einige Kommunisten
verhaftet und in Lager verbracht wurden. Sie kamen aber nach einigen Monaten wieder
zurück, weil sich der Ortsgruppenleiter und Bürgermeister unserer Stadt für sie
verbürgte und ihre Entlassung erreichte. Dagegen bekamen in der sowjetischen
Besatzungszone einige als Nationalsozialisten bekannte Männer keine Chance auf Hilfe
vor der strengen sowjetischen Verfolgung. Mir sind aus meinem Heimatort noch die
Namen Böttger, Jäger und Meinhardt im Gedächtnis, die von der Besatzungsmacht
abgeholt wurden. Hierzu will ich an dieser Stelle einige eigene Empfindungen
darstellen.
Meinen Volksschullehrer Herrn Meinhardt habe ich als Hitleranhänger kennen gelernt.
Er beging aber bestimmt keine Straftaten. Beim gründlichen Nachdenken über
persönliche Gespräche, die ich als Kind allein mit ihm führte, glaube ich sogar im
Nachhinein , dass auch er im Nationalsozialismus manches kritisch sah. Er kam nach
dem Krieg nach Buchenwald und ist dort umgekommen. Sein Schicksal beschäftigt
mich sehr. Er war mir als Lehrer ein Vorbild. Das Wissen, das er mir auf
naturwissenschaftlichen Gebieten beibrachte, bildete ein gutes Fundament für mein
Berufsleben. Ich wusste damals nicht, dass er uns eine falsche Ideologie lehrte. Ich
denke aber und weiß heute, dass er gar nicht anders konnte. Erst nach dem Krieg merkte
ich, dass er uns in Literatur sehr viel vorenthalten hatte. Die Namen Gorki, Puschkin,
Mann, Heine und von vielen anderen weltberühmten Literaten hörte ich zum ersten Mal
nach dem 2. Weltkrieg. Außerdem hatte mich der Lehrer für ein Geschichtsbild
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begeistert, das ich nach dem Krieg als gefälscht erkannte. Mir drängt sich allerdings die
Frage auf: „Konnte er in dem Umfeld, in dem er wirkte und mit den ihm zugänglichen
Informationen erkennen, dass er eine falsche Weltanschauung hatte ? Oder gehörte er
auch zu den Vielen, die anders dachten, als sie handelten?“ Ich kann es nicht mehr
klären. Ich weiß aber aus eigenem Erleben, dass einfache Menschen, die mit wahren
oder gefälschten Berichten überhäuft werden, kaum objektiv das Richtige oder Falsche
einer Ideologie erkennen können.
Noch gut erinnern kann ich mich an die sechste Kriegsweihnacht im Jahre 1944. Ich
genoss trotz der schlimmen Kriegsereignisse die kindliche Vorfreude auf Weihnachten.
Wir auf dem Lande waren weniger mit dem direkten Kriegsgeschehen konfrontiert, als
die Menschen in Großstädten und Industriezentren, die unter den Bombardierungen zu
leiden hatten. Aus diesen Gebieten waren Kinder teils allein oder mit ihren Müttern in
unsere Kleinstadt gekommen. Sie sollten Schutz vor den feindlichen Fliegerangriffen
finden. Bei uns waren keine solchen Leute einquartiert; aber eine Mutter mit einem mir
gleichaltrigen Jungen, die in der Nachbarschaft untergebracht waren, haben wir
Weihnachten zu uns eingeladen. Rückblickend stelle ich fest, dass sich damals die
Menschen mit großer Hilfsbereitschaft gegenseitig unterstützten.
Die Gespräche der Erwachsenen drehten sich besonders an den Festtagen vorwiegend
um die Sorgen über Angehörige und Bekannte, die als Soldaten an der Front ständig
großen Gefahren ausgesetzt waren. Im Mittelpunkt stand außerdem die bange Frage:
„Wann werden die Kampfhandlungen deutsche Gebiete erreichen?“
Im Westen war an der französischen Grenze Mitte Dezember 1944 eine deutsche
Gegenoffensive gestartet worden. Unsere Gäste, die aus dem Rheinland stammten,
hofften, dass damit ihre Heimat vom direkten Kriegsgeschehen verschont bliebe.
In fast allen Familien wurde in jener Zeit -trotz des strengen Verbotes- vor allem auch
während der Weihnachtsfeiertage, heimlich „ der Feindsender“ -BBC- in deutscher
Sprache empfangen. Wir wollten besonders an diesen Festtagen die Wahrheit
ergründen: „Wie sieht es an den Fronten tatsächlich aus? Gibt es Hoffnungsschimmer,
dass zumindest zum Weihnachtsfest unsere Soldaten ein wenig Ruhe vor schweren
Gefechten und Angriffen haben?“
Wenn wir in der Familie allein waren und uns auch Niemand überraschen konnte, dann
wurde der genannte „Feindsender“ eingeschaltet. Über das Radio stülpten wir einen
großen doppelwandigen Karton unter den wir unsere Köpfe steckten. Die Lautstärke am
Gerät wurde so geregelt, dass die Worte des Sprechers eben noch verstanden werden
konnten. Im übrigen galt es zu sichern, dass vor allem das verräterische Pausenzeichen
des Londoner Senders auch draußen vor dem Haus nicht zu vernehmen war. Ich
bewundere noch heute das Vertrauen meiner Eltern, die mich diese Nachrichten mit
hören ließen, obwohl sie wussten: „Ein unbedachtes Wort in ein falsches Ohr konnte
Konzentrationslager oder Zuchthaus bedeuten“.
Die Meldungen dieses Senders offenbarten, dass ein deutscher Sieg immer
aussichtsloser wurde. Weihnachten 1944 empfand ich erstmals bewusst die
Widersprüche zwischen der Friedensbotschaft des Weihnachtsfestes und dem
grausamen Kriegsgeschehen sowie dem Leid, von dem wir und keine mir bekannte
Familie verschont geblieben waren.
Andererseits erinnere ich mich noch gut daran, dass wir zum Fest Wunschkonzerte im
Deutschlandsender hörten. Die Frontsoldaten konnten Grüße mit ihren Lieben aus der
Heimat austauschen und ihre „Siegeszuversicht“ zum Ausdruck bringen. Besonders am
Heiligen Abend waren diese Radiosendungen recht rührselig aufgemacht, wovon auch
ich stark beeindruckt war. Wir hatten in der Vorweihnachtszeit kleine Pakete für die
Soldaten an der Front gepackt, z.B. mit dem Inhalt: Plätzchen, Stollen und Süßigkeiten,
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gestrickte Handschuhe, selbstgebastelter Weihnachts-baumschmuck und ähnliches. Die
Gaben mussten mit viel Bedacht zusammengestellt werden, denn es gab für die
Päckchen Gewichtsbeschränkungen. Die Kommentatoren nahmen bezug auf diese in
den Unterständen angekommenen Liebesgaben. Wir warteten darauf, dass vielleicht
zufällig auch wir als Absender mit genannt werden würden. Mit dem heutigen Abstand
weiß ich, dass diese Rundfunksendungen nur propagandistischen Zwecken dienten, was
ich damals meinen Eltern nicht glauben wollte.
Die Einschränkungen während der Kriegsweihnachten hinsichtlich bescheidenerer
Geschenke oder genügsamerer Festessen nahm ich verständnisvoll hin. Gedanken
machte ich mir jedoch über die unterschiedliche Interpretation des Weihnachtsfestes aus
christlicher und nationalsozialistischer Sicht. Obwohl meine Eltern und Großeltern, das
erfuhr ich nach dem Krieg, das Hitlerregime ablehnten, haben sie mich nicht in
Widersprüche zur schulischen Erziehung gebracht. Ich lernte in der Schule und im
Jungvolk: „Die religiösen Inhalte des Weihnachtsfestes basieren auf einer falschen
Geschichtsinterpretation. Nur das germanische `Mittwinterfest Jul`, das am 25.
Dezember gefeiert wird, beinhaltet die echten für uns nachahmenswerten Bräuche.“
Den nationalsozialistischen Ideologen gelang es jedoch nicht, die Mehrzahl der
deutschen Menschen von den christlichen Traditionen abzubringen. Obwohl ich ein
überzeugter Pimpf und Jungvolkführer war, konnte auch ich mich der stärkeren
Wirkung des christlichen Weihnachtsfestes nicht entziehen. Bei uns gab es auch keinen
Tannenbaumbehang mit Nazisymbolen. Dazu beigetragen hat meine Großmutter, die
viele schöne Geschichten von der christlichen Weihnacht zu erzählen wusste.
Ich entsinne mich, dass im Jungvolk und in der Schule das Wort Christbaum verpönt
war. Es hieß nur Tannen- oder Weihnachtsbaum. Im übrigen besaß während des Krieges
das Wort Christbäume eine doppelsinnige gefährliche Bedeutung: „Am nächtlichen
Himmel wurden vor Luftangriffen Markierungszeichen gesetzt, die wie leuchtende
Christbäume aussahen und den feindlichen Bombern Weg und Ziel für ihre gefährlichen
Abwürfe zeigten“. Diese Bilder sehe ich noch heute nach 60 Jahren sehr deutlich vor
meinem geistigen Auge; als z.B. die Städte Dresden, Plauen, Chemnitz und die
Industriegebiete bei Gera und Zeitz mit den typischen Christbäumen markiert wurden
und wir in mehr als 50 bis 100 Km Entfernung noch das Krachen der Bombardierungen
hörten und nachts den Feuerschein am Himmel sahen.
Im weiteren will ich beschreiben, wie es unsere Eltern zur Weihnacht 1944 - trotz
vieler Sorgen - fertig brachten, ein frohes Fest zu arrangieren. In den vorhergehenden
Kriegsjahren spürten wir Deutschen die Entbehrungen noch nicht so stark wie in diesem
Jahr. Jetzt weiß ich, dass die besetzten Gebiete bisher kolossal ausgebeutet wurden und
von dort Versorgungsgüter ins Reich kamen. Das war nun vorbei und auch wir mussten
durch allerlei Tricks und Einfälle versuchen, die Mängel auszugleichen.
Für alles Essbare, das Weihnachten auf den Tisch kommen sollte, wurde schon ab Mitte
des Jahres begonnen zu bevorraten bzw. zu sparen. Der Weihnachts- oder
„Christstollen“ gehört in Thüringen zum wichtigsten traditionellen Festtagsgebäck.
Hierfür wurden 1944 bei uns schon ab Mai Lebensmittelmarken ( als Reisemarken) z.B.
für Mehl, Butter und Zucker aufgespart. Für die sonstigen Zutaten ließ man sich allerlei
Notbehelf einfallen. Ich weiß noch, dass für Mandeln das Innere von Pflaumenkernen,
für Rosinen getrocknete Pflaumen und ähnliches als Ersatz verwendet wurden.
Wir auf dem Lande konnten uns große Portionen von Hauskaninchenbraten als
Festtagsschmaus leisten, denn diese Tiere waren während dieser Zeit der wichtigste
zusätzliche Fleischlieferant.
In allen Familien mit Kindern durfte der Tannenbaum nicht fehlen. Glaskugeln und
Lametta, die aus der Vorkriegszeit stammten, konnten alle Jahre wieder verwendet
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werden. Nur die Baumkerzen waren ein großer Engpass. Wachskerzen wurden für
Notbeleuchtungen während der Stromsperren gebraucht und ihr Abbrennen am
Weihnachtsbaum galt deshalb als Verschwendung. 1944 gab es auch keine
Sonderzuteilungen mehr, wie sie in den Vorjahren für Familien mit Kindern üblich
waren. Wir stellten deshalb die Baumkerzen selbst her. Wie meine Eltern den
Grundstoff Wachs beschafften weiß ich nicht mehr, aber an die Herstellung kann ich
mich noch erinnern. Wir bastelten Formen aus Blech, die wir mit dem erhitzten flüssig
gewordenen Wachs zunächst zur Hälfte füllten, legten einen Wollfaden als Docht ein
und gossen die Form voll. Schwierigkeiten gab es, wenn wir nicht den richtigen Faden
auswählten. Dieser verkohlte dann, ohne dass die gewünschte Kerzenflamme entstand.
Eigentlich konnte in dieser Zeit keine Rede vom Fest des Lichtes sein. Durch die
angeordnete strenge Verdunkelung war außerhalb der Wohnungen alles in eine starke
Finsternis getaucht; wodurch zwangsläufig eine gedrückte Stimmung entstand.
Die Geschenke zur Weihnacht 1944 waren, abgesehen von einigen Spielsachen für uns
Kinder, grundsätzlich auf Zweckmäßiges, das heißt Bekleidung oder wichtige
Gebrauchsgegenstände, ausgerichtet. Mit Waren von aufgesparten Bezugscheinen oder
Marken konnten trotzdem kleine Weihnachtsfreuden bereitet werden. Mein Vater
rauchte sehr gern Zigarren und so haben die Familienmitglieder und nahe Verwandte,
die nicht rauchten, ihre „Tabakmarken“ geopfert, damit eine Kiste Zigarren auf dem
Gabentisch stehen konnte. Selbst der Weihnachtsstollen oder die Ersatzsüßigkeiten
waren besonders wertvolle Geschenke. Meine Großmutter fertigte z. B. Marzipankugeln
aus Grießteig an. Trotz entsprechender Gewürze bzw. Ersatzaromen erreichten sie nicht
ganz den typischen Geschmack, schmeckten uns aber mit genügender Einbildung
recht gut.
Erzählen will ich nun über die Weihnachtsgeschenke, die ich 1944 bekam. Ich war
Einzelkind und der Umfang mutet sogar recht reichlich an, aber interessant sind Art und
Qualität der Sachen.
Das wichtigste für mich waren die Ergänzungen meiner elektrischen
Spielzeugeisenbahn. Ich bastelte dazu selbst allerlei Zubehör; Tunnel und Gebirge aus
Packpapier, Bäume und Sträucher aus Schwamm und anderes. Noch heute wundere ich
mich über unseren damaligen Einfallsreichtum, mit dem wir aus Pappe, Papier, Holz,
Farbe und Leim viel Schönes herstellten. Erstaunlicher Weise gab es selbst 1944 noch
manche Ergänzungsteile für diese Modelleisenbahn. Außerdem war es üblich mit
Freunden zu tauschen, wenn dies und jenes nicht mehr funktionierte.
Sehr gewünscht hatte ich mir ein Paar Skier, denn bei meinen bisherigen nur 1,6 m
langen war außerdem bei einem Sturz die Spitze abgebrochen. Schneeschuhe waren
eine große Mangelware, denn sie mussten an die Wehrmacht abgegeben werden, damit
die Soldaten - besonders im schneereichen Russland - beweglich waren. Ich bekam ein
Paar gebrauchte „Bretter“, die man an den Annahmestellen zurückgewiesen hatte. Sie
waren 2,1 m lang, sehr breit und schwer und hatten eine Riemenbindung, die ich immer
nur mit Mühe am Schuhwerk zum Halten bekam. Besonders die Metallteile, die zum
Arretieren der Schuhe dienten und die auf den Holzbrettern festgeschraubt wurden,
lösten sich recht häufig. Das Holz war vom vielen Aufschrauben morsch und spröde
geworden. Trotzdem war ich glücklich, auch wenn das Schneeschuhfahren mit diesen
Ungetümen sehr beschwerlich war.
Eine besondere Überraschung war für mich der blaue Wellensittich, den ich zusammen
mit einem sehr schönen geräumigen vom Vater selbstgebauten Vogelbauer bekam. Der
Vogel war schon handzahm und er saß nach der Bescherung auf meinem Finger. Vorher
hatte er schon mal die Umgebung erkundet und das Sitzen auf dem geschmückten
Tannenbaum probiert. Er verhielt sich plötzlich ganz eigenartig, ließ den Kopf hängen
und fiel tot in meine Hand. Meinen Schock und meine Trauer kann wohl fast jeder
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nachvollziehen. Nur wussten ich und auch meine Eltern damals noch nicht die Ursache
dieses plötzlichen Todes. In den späteren Jahren konnte ich als Tierarzt diese häufig
auftretenden Fälle aufklären und die Tierhalter beraten: „Wellensittichen gefällt das
glitzernde Lametta am Weihnachtsbaum, sie picken daran und verschlucken dabei sogar
manchmal lange Fäden. Abgesehen von der Toxizität können diese eine
Kropfverstopfung verursachen, die zum Erstickungstod führen kann.“
Nicht minder geachtet wurden von mir die Kleidungstücke, die ich als Geschenk
bekam. Herausragend war dabei eine sogenannte Überfallhose, die zur Dienstkleidung
im Jungvolk gehörte.
In diesem Kapitel will ich noch einige besondere Erlebnisse zur Versorgung mit
Lebensmitteln darstellen. Die Zuteilungen auf Marken für Deutsche waren während des
Krieges reichlicher als in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dagegen, das war kein
Geheimnis, wurden Juden, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene wesentlich schlechter
versorgt.
Wenn wir auch nicht Hunger leiden mussten, so entsprachen allerdings die
Zuteilungsmengen meistens nur dem Erhaltungsbedarf. Städter waren in diesem
Rahmen schlechter gestellt als wir auf dem Lande. Das merkte ich, als unsere
Verwandten aus Leipzig und meine Tante aus Gera gern zu uns kamen um etwas Mehl,
Kartoffeln, Speck und ähnliches zur Aufbesserung ihres Speiseplanes zu bekommen.
Komplizierter für uns alle wurde die Versorgungslage mit Lebensmitteln Ende des
Krieges, als die „Flüchtlingsströme“ aus dem Osten kamen. Diese Menschen, die es
zusätzlich zu versorgen galt, waren oft auf unsere Hilfe in den Dörfern angewiesen.
Beginnend im Krieg, aber besonders unmittelbar danach ließen auch wir uns auf dem
Lande allerlei einfallen um an mehr Essbares heranzukommen.
Die Müller durften nur die Mengen Getreide annehmen und in Mehl umtauschen, für
die man Berechtigungsscheinen hatte. Sie ließen sich aber manchmal bestechen. Ich
erlebte, dass ich mit meinem Großvater mit dem Handwagen 3 Zentner Roggen zur
Mühle brachte, und wir erhielten nur Mehl für 2 ½ Zentner. Wir haben deshalb zu
Hause eine kleine Handmühle konstruiert und vom damit Gemahlenem auch selbst Brot
gebacken. Ich erlebte, dass meine Tante in Gera das Getreide, das sie von uns bekam,
mit der Kaffeemühle gemahlen hat. Auch im Buttern haben wir uns geübt, aber nie die
Qualität der Molkereibutter erreicht.
Meinem Vater gelang es im vorletzten Kriegsjahr einen Zentner Nudeln, die aus
dunklem Roggenmehl hergestellt waren, einzukaufen bzw. einzutauschen. Ab diesem
Zeitpunkt gab es bei uns zu Hause über viele Monate hinweg 1 bis 2 Mal pro Woche
Nudeln in unterschiedlichster Zubereitung. In der Anwendung der mannigfachsten
Kochrezepte waren übrigens meine Mutter und Oma Meisterinnen. Sie stellten sogar
falsche Bratheringe aus Teig her, die in der Form, dem saurem Milieu und dem
Aussehen den echten ähnelten.
Ich bin nicht wählerisch im Essen. Auf schwarze Nudeln und Kaninchenfleisch
verzichte ich heute aber gern. Im übrigen wurde ich von Kindern, deren Eltern keine
Landwirtschaft hatten, beneidet, weil es bei uns reichlich Pflaumenmus gab, der nur mir
nicht schmeckte. Ich denke, ich habe mit diesen Speisen schon damals mein Lebenssoll
erfüllt.
10. Erlebnisse im Jungvolk
Ich berichte erst jetzt ausführlich von meinen Erfahrungen im Jungvolk von 1941 - 45,
weil oft Zeit verstrichen sein muss, um offen über alles zu sprechen.
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Während der DDR – Zeit getraute ich mir nicht über meine Erlebnisse im Jungvolk und
in der Hitlerjugend öffentlich zu reden. Das wäre, zumal ich Jungvolkführer war,
zumindest bei einem leitenden Angestellten nicht toleriert worden. Einen simplen
Vorfall will ich hierzu beschreiben. 1968 nahm ich an einer Sitzung in der Bauakademie
in Berlin teil. Alle Teilnehmer hatten schon Platz genommen, es herrschte die übliche
Ruhe vor dem unmittelbaren Sitzungsbeginn. Bei meinem recht späten Eintreten rief ein
Teilnehmer recht laut: „Ach, jetzt kommt mein ehemaliger Schulkamerad aus meinem
Heimatort. Er war im Jungvolk mein Jungzugführer, aber ein ganz prima Kerl.“ Alle
Blicke richteten sich auf mich und ich sah vorwiegend grinsende Gesichter. Wir hatten
viele Jahre keine Verbindung und ich freute mich einerseits über das Wiedersehen, war
aber sehr bestürzt über diese Offenlegung, die für mich ohne Folgen blieb.
In meiner Familie sowie Verwandten gegenüber habe ich immer offen über meine
Jungvolkmitgliedschaft gesprochen. Ich konnte das mit ruhigem Gewissen tun, denn
strafbare oder unrechte Handlungen hatte ich mir nicht vorzuwerfen. Die offizielle
Politik in der DDR vermittelte mir aber stets das Gefühl, dass ich mich wegen meiner
Erlebnisse und Karriere aus dieser Zeit zu schämen hätte.
Gegenwärtig nimmt die Anzahl der Berichte, besonders im Fernsehen, über das
Zeitgeschehen während des Nationalsozialismus zu. Ich bekenne, dass auch ich, wie in
vielen Kommentaren gezeigt wird, ein begeisterter Pimpf und Jungvolkführer war.
Etwaige Emotionen vermag ich aber heute in die richtigen Bahnen zu lenken, weil
sechzigjährige Lebenserfahrungen hinzukommen.
Im Dritten Reich war es erwünscht, dass sich überall die Stärksten durchsetzen. Das
kam auch in der „Hitlerjugendlosung“: „ Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink
wie Windhunde“ zum Ausdruck. Beim Jungvolk hatten wir in diesem Rahmen
sogenannte Mutproben zu bestehen.
Als zehnjährige Pimpfe mussten wir z.B. im Schwimmbad – ob Schwimmer oder
Nichtschwimmer - vom Dreimeterturm springen. Als geübter Schwimmer gehörte ich
zu den Favoriten, die mithalfen, die Ängstlichen vom Sprungbrett zu stoßen. Heute
wundere ich mich, dass damals nichts Ernsthaftes passierte. Manche Jungen erreichten
oft nur durch panisches Paddeln und Strampeln mit viel Angst den rettenden
Schwimmbeckenrand. Mir machten aber diese Sprünge ins Wasser nichts aus.
Sommerbad in Hohenleuben mit Dreimeterturm, der sich in der Mitte vor den Kabinen
befindet:
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Ängstliche hassten die „Geländespiele“, bei denen aber die Mutigen begeistert
mitmachten. Es waren, das weiß ich heute, die Vorbereitungen auf die Kriegsteilnahme.
In der Regel wurden zwei sich zu bekämpfende Gruppen gebildet. Die Stärkeren
versuchten immer die Kräftigsten in ihre Abteilung zu bringen. Nur das Machtwort der
Hitlerjugendführer, deren Befehle unwidersprochen galten, konnte bei diesem Gerangel
die Ordnung herstellen. Da ich körperlich groß und kräftig war, gehörte ich meist zu den
favorisierten Einheiten. Besonders stolz war ich, wenn ich zum Führer oder Unterführer
einer Kampfabteilung ernannt wurde.
Das hügelige und stark bewaldete Gebiet meiner Heimat bot ausgezeichnete
Bedingungen für diese Kriegsspiele. Zu Festungen, die es zu verteidigen oder zu
erstürmen galt, wurden meist Talsenken oder kleine Anhöhen, Kiesgruben oder
ähnliches erklärt. Die Angreifer mussten mit List und Kampfesgeist handeln. Dabei
ging es oft sehr roh und hart zu. Die unerbittlichen Raufereien und Prügeleien waren ein
Teil der Mutproben. Wehe, wenn ein verletzter Junge heulte oder Feigheit zeigte. Ich
erinnere mich an ein Geländespiel, bei dem wir in einem stillgelegten Steinbruch große
Steine den Berg hinabrollen ließen. Die Angreifer sollten damit getroffen werden; das
gelang auch und führte in einem Falle sogar zu einem Armbruch. Nachsicht gegenüber
den angeblichen Feinden gab es nicht. Kameradschaft und gegenseitige Hilfe galt
dagegen nur in der eigenen Gruppe. Die Führer erzogen uns zur Härte und zum
Aushalten sowie Unterdrücken von Schmerzen. Wer Schwäche und Wehleidigkeit
zeigte, wurde vor versammelter Einheit lächerlich gemacht; Methoden, die sich dann
beim Arbeitsdienst und der Rekrutenausbildung fortsetzten. Für die Mehrzahl von uns
Kindern wurde damit nicht etwa Ablehnung oder Widerspruch erzeugt, sondern im
Gegenteil, die Begeisterung weiter angefacht.
Anschleichen, den Gegner überlisten und viele gefangen nehmen wurde bei fast allen
Spielen geübt. Mit den sogenannten Gefangenen gingen wir nicht glimpflich um. Es
gehörte dazu sie zu fesseln, an Bäume zu binden und zu knebeln. Dabei hatten wir
einen solchen Pimpf nach Ende des Geländespiels vergessen. Erst nach mehreren
Stunden erinnerten sich Schulkameraden, dass noch einer im Übungsgebiet an einem
Baum festgebunden ist, dem außerdem der Mund fest zugebunden war, damit er nicht
schreien konnte. Auch seine Eltern hatten die Abwesenheit ihres Kindes noch nicht
bemerkt. Beim Befreien des Jungen musste ein Arzt geholt werden. Er war schon wegen
erschwerter Atmung ohnmächtig geworden. Nach der Meinung des Mediziners hätte
dieses üble übertriebene Spiel sogar tödlich ausgehen können.
Die sogenannten Kämpfe wurden immer gewagter und auch gefährlicher. Wir durften
„Fahrtenmesser“ besitzen und benutzen. Das waren kleine Dolche, die in einer Scheide
steckten und am Koppelriemen getragen wurden. Es war zwar verboten, aber unsere
Hitlerjugendführer drückten bei solchen Sachen die Augen zu, wenn wir die Klingen
doppelseitig schärften. Mit diesen Fahrtenmessern wurden, wie mit dem Soldatendolch,
Pfeile geschnitzt, Äste beim Bau von Verstecken, Unterkünften und Zelten zurecht
geschnitten, Verpflegungsdosen geöffnet und manchmal sogar den Übungsgegnern
gedroht. Letzteres sollten die Hitlerjugendführer nicht sehen. Sie wussten sicherlich
darüber Bescheid und schauten auch hier geflissentlich weg.
Die Mahnungen unserer Eltern, doch immer vorsichtig zu sein, schlugen wir in den
Wind. Erstens wurde zu Hause nicht alles erzählt und zweitens war die Beeinflussung
durch die Hitlerjugendführer stärker als die mahnenden Worte von Mutter und Vater.
Im übrigen konnte man aus der immer wieder beschworenen Kameradschaft gar nicht
ausscheren.
Obwohl meine Eltern und Großeltern dem Hitlerregime nicht zugetan waren, das merkte
ich auch schon als Kind an einigen vorsichtigen Einflussnahmen, ließ ich mich dadurch
nicht in meiner Karriere im Jungvolk aufhalten. Schon als Elf- bis Vierzehnjähriger war
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ich im Verhältnis zu meinen gleichaltrigen Schulkameraden groß und kräftig, verhielt
mich diszipliniert und meine schulischen Leistungen waren gut. So avancierte ich in der
nationalsozialistischen Kinderorganisation sehr schnell und wurde 1942 schon zum
Jungschaftsführer, der ersten Stufe in der Karriereleiter des Jungvolks, befördert. Damit
durfte ich eine dünne, aber immerhin gut sichtbare rot/weiße Führerschnur tragen und
hatte eine Gruppe von 10 Jungen zu befehligen. Ein Jahr später wurde ich schon
Jungzugführer mit grüner Schnur und 30 mir unterstellten Pimpfen. Mit der
Beförderung Ende 1944 zum Fähnleinführer, erhielt ich dann eine dickere grün/weiße
geflochtene Führerschnur. Sie war mit ihren Enden am Knopf der linken Brusttasche
und der linken Schulterklappe befestigt. Meiner Befehlsgewalt als Jungvolkführer
unterstanden nunmehr 70 bis 80 zehn- bis vierzehnjährige Schüler meines Heimatortes
und der umliegenden Dörfer. Der schnelle Aufstieg in der Führerhierarchie ergab sich,
weil die älteren Hitlerjugendführer als Flakhelfer oder für den Arbeitsdienst eingezogen
worden waren.
Ich trug, das bekenne ich heute, mit Stolz die Uniform der Pimpfe. Es war im übrigen
ein erhabenes Gefühl, wenn ich auf dem Vorplatz der Schule Befehle erteilen durfte.
Mit der Trillerpfeife forderte ich Aufmerksamkeit und befahl antreten, stillgestanden
usw. Verstehen konnte ich damals nicht, dass sich manche Erwachsene gegenüber uns
Jugendlichen in Uniform sehr reserviert verhielten. Sie sagten zwar nie etwas, aber man
spürte ihre Abneigung. Da es keine Aufklärung über diese Widersprüche gab und vom
Lehrer unser strammes Hitlerjugendgehabe unterstützt wurde, fand auch ich das eigene
Verhalten durchaus in Ordnung.
Für meine Jungvolkkarriere war es notwendig, dass ich Lehrgänge in sogenannten
Führerschulen besuchte. Eine solche Einrichtung gab es in der Nachbarort in
Langenwetzendorf. Eine mitten im Wald gelegene große Villa eignete sich als Kaserne
sehr gut zur Durchführung der Ausbildungen. Als Dreizehnjähriger war ich der jüngste
Teilnehmer. Über die Tischsprüche, die vor jedem Essen deklamiert wurden, war ich
damals sehr schockiert. Es hieß z.B.: „Es isst der Mensch, es frisst das Pferd, heut
machen wir es umgekehrt.“ „ Unser täglich Brot sichert uns nicht Gott, sondern unser
Führer.“ „Wir essen, die Juden aasen, fressen und schmatzen,“ und weitere ähnliche
widerliche Sprüche.
Alles, wie sportliche Übungen, Exerzieren, Geländespiele und -märsche, waren einer
Rekrutenausbildung ähnlich. Selbst die Schikanen, die sich unsere Ausbilder einfallen
ließen, erinnerten an das Soldatenleben.
Unser Lagerführer war ein junger Offizier, der im Krieg einen Arm verloren hatte. Er
war ca. 24 Jahre alt und wegen seiner Verwundung frontuntauglich.
Während eines Nachtmarsches mit sehr schwerem Tornister wurde plötzlich der Befehl
erteilt, einen steilen Hang zu erstürmen. Ich hatte nicht mitbekommen, dass gleichzeitig
angekündigt wurde, wer als letzter die Bergkuppe erreicht, der muss die nächsten 3
Tage die Stiefel des Lagerführers putzen. Wegen der vorausgegangenen strapaziösen
körperlichen Anstrengungen war ich fix und fertig und erklomm als letzter das Ziel. Mit
starkem Gejohle und auch teilweiser Schadenfreude wurde ich empfangen. Ich erhielt
den Befehl, in den nächsten 3 Tagen immer für saubere Stiefel des Lagerführers zu
sorgen. Noch sehr genau erinnere ich mich an die Demütigungen, die ich beim
Vorzeigen des geputzten Schuhwerks über mich ergehen lassen musste. Oft fünf bis
sechsmal wurde ich zurückgewiesen, weil die Stiefel angeblich noch nicht sauber und
glänzend wären. Anfangs habe ich wieder und wieder geputzt und gerieben und fast
geweint, wenn die Arbeit immer noch bemängelt wurde. Von erfahrenen Kameraden
erfuhr ich dann den Trick, gar nichts zu tun und sie nur immer wieder zu präsentieren.
Bei diesem Schwindel wurde ich aber ertappt. Außerdem war bemerkt worden, dass ich
die Glanzwirkung der Schuhcreme mit Spucke aufbesserte. Weil ich wusste, dass dies
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alle taten, habe ich es in meiner Naivität vor dem Vorgesetzten nicht verborgen. Als
Strafe musste ich in vorgegebener Zeit 3 Runden um den großen Sportplatz laufen. Die
Zahl wurde sogar verdoppelt, weil ich Abkürzungen genutzt hatte. Selbst diese als
ungerecht empfundenen Erniedrigungen minderten letztlich nicht meine Begeisterung
für die Übungen und Spiele in Vorbereitung auf das Soldatentum.
Besonders stolz war ich, dass ich schon als Dreizehnjähriger in die HJ – Reiterstaffel
aufgenommen wurde. In unserer Nachbarstadt Triebes waren in nicht benötigten großen
Fabrikräumen Pferdeställe und eine Reithalle eingerichtet worden. Vom Sommer 1944
bis Februar 1945 lernte ich in diesem Stützpunkt die Grundbegriffe des Reitens.
Schöne Erlebnisse blieben mir von den Zeltlagern des Jungvolks in Erinnerung. Wir
lernten z.B. Tornisterpacken und Zelte aufstellen. Das Essen aus Gulaschkanonen
schmeckte besonders gut und der anstrengende Wachdienst machte uns nichts aus.
Nachtmärsche und Lagerfeuer – ohne elterliche Mahnungen zur Vorsicht – waren das
Richtige für uns Jungen. Nicht fehlen durfte allerhand Schabernack, der zwar verboten,
aber von den Führern meist geduldet wurde. Schlafenden Pimpfen drückten wir
vorsichtig Zahnpasta in die Nasenlöcher, dort langsam erhärtete. Sie schnappten beim
Aufwachen nach Luft und wir freuten uns über die gelungenen Quälerein. Oder wir
rieben das Hinterteil schlafender Jungen mit schwarzer Schuhcreme ein. Nur mit ganz
straffen Wurzelbürsten ließ sich der Hintern säubern. Er sah danach meist aus, wie der
eines Pavians. Fast jede Nacht wurden Überfälle inszeniert. Als größter Erfolg galt,
wenn die Wachen lautlos überwältigt werden konnten.
Ein schönes Erlebnis hatte ich während der Schulferien im Sommer 1943 in einem
Zeltlager in Frießnitz bei Weida. Ich war als Zwölfjähriger zum Jungzugführer befördert
worden und damit Stellvertreter unseres fünfzehnjährigen Hauptjungzugführers,
unserem Vorgesetzten. Nur dieser kannte das Ziel, als wir 15 Jungen losmarschierten.
Durch Orientierungen auf Generalstabskarten, vorgegebene Kompasszahlen und
verschiedenen Marschbefehlen mussten wir das ausgesuchte Dorf selbst finden.
Unterwegs wurden Marschübungen befohlen: Z.B. in Formation oder einzeln
marschieren, Sicherung des Trosses und ähnliches. Mitgeführt wurde ein großer
Handwagen. Aufgeladen waren die Utensilien für das Essenkochen, Sportgeräte,
Luftgewehre, Decken, Zelte und deren Ausrüstungen. Jungen, die wegen zu großer
Anstrengung manchmal fast schlapp machten, durften ihre Tornister zeitweilig auf den
Wagen laden. Am Zielort brauchten wir keine Zelte aufbauen, denn der größte Bauer
des Dorfes, der außerdem Ortsbauernführer war, stellte eine große Scheune für unsere
Übernachtung zur Verfügung. Am Abend gab es eine strenge Vergatterung: „ Nicht
rauchen, kein offenes Feuer, Vorsicht mit den Sturmlaternen, die unsere einzige
Lichtquelle waren sowie Ruhe und Ordnung.“ Die eingeteilten Wachen hatten für
Disziplin zu sorgen und bei nahender Gefahr rechtzeitig zu warnen. Es blieb nicht aus,
dass der Jungvolkzug des Ortes einen Angriff auf unser Lager wagte. Der wurde in
einer wüsten Prügelei abgeschlagen. Das Baden in den großen Fischteichen nahe des
Ortes und die übrigen körperlichen Anstrengungen machten Hunger. Die auf offenem
Feuer in einem Kessel gekochte Erbsensuppe mit Speck mundete deshalb aus dem
Kochgeschirr besonders gut. Es war ein ungeheuerer Spaß 2 Tage lang, ohne Aufsicht
der Eltern, richtig wie in einem Feldlager zu leben. Das Waschen im Teich war viel
schöner als zu hause. Selbst sehr anstrengende Sportübungen und Exerzieren sowie das
sonst verpönte Aufräumen und Ordnung halten fanden unsere Zustimmung.
Gefährlich war ein Geländespiel, als wir selbstgebastelte Minen einsetzten. Diese
bestanden aus Konservendosen, die wir mit Schwarzpulver und Lehm füllten,
provisorisch verschlossen und mit einer Zündschnur versahen. Das Schwarzpulver hatte
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ich mitgebracht. Ich hatte davon ca. 10 kg in unserem Schuppen entdeckt. Es stammte
von meinem Onkel, einem Förster, der dieses als Sprengmittel für das Roden der
Baumwurzeln benötigte. Als er von zu Hause auszog, hatte er wahrscheinlich diesen
gefährlichen Vorrat vergessen. Mich hat niemand gefragt, woher ich dieses
Schwarzpulver hatte. Die Sprengdosen gruben wir in die Erde ein. Die Zündschnüre
wurden untereinander verbunden und wenn die feindlichen Truppen anrückten,
gezündet. Wir erfreuten uns an den umherfliegenden Erdbatzen und den flüchtenden
Angreifern. Das war eigentlich schon kein Spaß mehr, aber unsere Jungvolkführer
haben das gefährliche Treiben auch nicht verboten. Gott sei Dank passierte nichts
Ernsthaftes, denn die umherschwirrenden Steine und Erdschollen verursachten nur
harmlose blaue Flecke.
Das Kriegsspiel wurde Anfang 1945 auch für uns Kinder zur rauen Wirklichkeit. Ich
erhielt im März 1945 den Befehl, gemeinsam mit einem Schulkameraden in unserer
Kreisstadt scharfe Gewehrmunition für den Volkssturm unseres Ortes zu holen. Wir
fuhren mit unseren Fahrrädern los, weil fast alle PKW für kriegswichtige Aufgaben
beschlagnahmt waren. Zu dieser Zeit beschossen schon sehr häufig amerikanische
Tiefflieger Fahrzeuge und Menschen auf den Landstraßen. Wir waren mit unserer
gefährlichen Fracht schon auf dem Heimweg auf einer Autostraße durch ein
weitgezogenes Tal. Plötzlich dröhnte es und Geschosse schlugen neben uns ein. Zwei
Tiefflieger kamen vom benachbarten Tal von uns unbemerkt angeflogen. Wir hatten
bestimmt mehrere Schutzengel, weil es uns gelang, mit unserer Munition den nahen
schützenden Wald zu erreichen. Aus dem Schussfeld gerückt, sahen wir, dass die 2
Flugzeuge ein zweites Mal ihr Ziel suchten. Noch heute spüre ich die Beklommenheit
und Angst, mit der ich meinen ersten Beschuss überstanden hatte. Unwillkürlich habe
ich gebetet, als ich merkte, wir leben noch. In Deckung des Waldes und über Feldwege
sind wir anschließend unbeschadet nach Hause gekommen. Die scharfe Munition haben
wir beim Volkssturmkommandanten abgeliefert. Retrospektiv bleibt mir unerklärlich,
dass damals wir Kinder schon zu solch gefährlichen Missionen verpflichtet wurden und
unsere Eltern nicht stärker protestierten. Ich glaube aber, wir haben daheim gar nicht die
Wahrheit gesagt. Unsere Disziplin und Einsatzbereitschaft für „Führer, Volk und
Vaterland“ war selbst in dieser Zeit des sichtbaren Untergangs fast ungebrochen. Wir
glaubten noch den Schwindel, dass durch Vergeltungswaffen eine Wende kommen
kann. Im März 1945 wurde ich sogar in unserer Kreisstadt Greiz noch gemustert, und
ich sollte in Wien in einer Offiziersschule anrücken. Mit dabei war mein Spielgefährte
Hermann aus unserer Nachbarschaft, der ein halbes Jahr älter war als ich. Wir mussten
die 15 km vom Musterungsstützpunkt nach hause laufen, weil die öffentlichen
Verkehrsmittel schon sehr unregelmäßig fuhren. Auf diesem Weg sprachen wir über die
Ehre, Offiziersschüler werden zu dürfen. Wir malten uns aus, wie wir dann in unserem
Heimatort damit angeben können. Kürzlich traf ich Hermann, der sich auch noch recht
gut an die damalige Begebenheit erinnern konnte. Unsere Mütter hielten uns zurück
und verboten ganz streng, dass wir noch als Soldat einrückten. Wir hatten jedoch schon
unterschrieben und damals galt die Erklärung eines Kindes auch ohne Zustimmung der
Eltern. Das kurz darauf folgende Kriegsende bewahrte uns vor Repressalien.
Mit dem Volkssturm in unserer Stadt erlebten wir einige lustige Episoden. Der
Kommandant war ein ehemaliger Rittmeister, der als Siebzigjähriger die Wiedergeburt
seiner militärischen Karriere erleben wollte. Das Exerzieren von ca. 30 älteren Männern
auf dem Sportplatz war eine Schau! Wir versteckten uns hinter einer Hecke und guckten
zu. Der Frisör unseres Ortes hätte dem braven Soldaten Schwejk alle Ehre gemacht. Er
hat sich bei den Volkssturmübungen immer darauf berufen schwerhörig zu sein und die
Befehle nicht zu verstehen. Beim Marschieren lief er allein geradeaus, während die
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Kolonne abschwenkte. Bei den Gewehrgriffen hat er die mit scharfer Munition
geladene Waffe oft falsch gehalten. Die Nachbarn im Glied und selbst der Befehlshaber,
mussten sich dann oftmals in Sicherheit bringen. Die Übung mit Panzerfäusten erfolgte
mit Attrappen, es gab wahrscheinlich nicht mehr genügend scharfe Waffen.
Zum Einsatz der Volkssturmeinheit kam es in unserer Stadt nicht mehr, weil die
Männer wegen des Beschusses und der anrückenden Amerikaner nicht zum Treffpunkt
gingen.
In den Jahren bis 1944 wurden auch in unserer Kleinstadt besonders der Geburtstag des
Führers am 20. April und andere Staatsfeiertage pompös gefeiert. Hitlers Ehrentag war
für uns Kinder ein sehr wichtiges Datum, denn ab diesem Zeitpunkt mussten kurze
Hosen und Kniestrümpfe getragen werden. Selbst schlechte Witterung, Sturm und
Kälte konnten daran nichts ändern. Zu Hause gab es deswegen immer einen harten
Kampf mit der Mutter, die befürchtete, dass wir uns erkälteten. Sie konnte sich aber
nicht durchsetzen, der Einfluss von außen war stärker, weil man auch sonst von den
anderen Kindern als Memme bezeichnet und ausgelacht worden wäre. Manchmal
konnte ich es nicht verhindern, zu Hosen mit kurzen Beinen als Kälteschutz lange,
braune, wollene Strümpfe tragen zu müssen. Diese Kleidungsstücke hasste ich und zog
sie immer gleich aus, wenn ich außer Sichtweite der Eltern war.
Ich empfand es als eine große Ehre und Auszeichnung, wenn ich zu propagandistischen
Veranstaltungen auf der Bühne kernige national-sozialistische Gedichte vortragen
durfte. Exakte Uniform und straffe Haltung mit Hitlergruß war wichtiger als der Inhalt
der Dichtungen, den ich nie richtig verstand. Ich zeigte mich aber als überzeugter Pimpf
und glaubte in diesen Momenten an die Unbesiegbarkeit Deutschlands.
In den letzen beiden Kriegsjahren hörten wir in unserem Ort weit entferntes, fast
ständiges, dumpfes Dröhnen. Es hieß, das käme von den Produktionsstätten der VWaffen, die sich in der Nähe von Nordhausen, Arnstadt, Lehesten und bei Hof
befänden. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass dort tatsächlich riesige unterirdische
Produktionshallen für Waffen gebaut wurden. Für diese Arbeiten waren KZ- Häftlinge
eingesetzt worden, die dabei viele Qualen erleiden mussten.
Bis Mitte 1944 ging in unserer Kleinstadt fast niemand in die Luftschutzkeller. Die
Bomber, die in großer Höhe und Anzahl über uns hinwegflogen sahen wir nicht als
Gefahr an. Wenn die Sirenen Fliegeralarm signalisierten, durfte sich zwar bis zur
Entwarnung niemand mehr auf öffentlichen Straßen und Plätzen sehen lassen, aber in
den Gehöften und auf den Feldern gingen wir unserer gewohnten Arbeit nach. Für die
Stadtangestellten und Leute, die bei Fliegeralarm nicht mehr ihre Wohnungen
erreichten, stand ein öffentlicher Luftschutzkeller zur Verfügung. Das war ein
ehemaliger „Bierhöhler“, der ca. 10 m unter der Erde in den Felsen gegraben worden
war. Dort fanden ungefähr 300 Menschen Platz. Der Eingang mit dicken Eisentüren
befand sich in einer tiefer gelegene Straße. Insgesamt war es ein Schutzraum, der alle
Bedingungen erfüllte und als sehr sicher galt. Für uns Jungvolkführer war es eine Ehre
und Pflicht, die Luftschutzwarte in ihrer Arbeit zu unterstützen. Wir taten gern Dienst
im Luftschutzkeller, den wir manchmal bei Fliegeralarm während der Schulstunden
aufsuchen mussten. Wir durften uns an den Türen zum Schutzraum aufhalten und
sorgten dafür, dass diese während des Alarms bis zur Entwarnung geschlossen blieben.
Mitte 1944 fielen in der Nähe unserer Stadt Bomben. Wenige Tage später wurde in der
Nachbargemeinde Lunzig ein Haus durch 9 Bomben getroffen und völlig zerstört. Dort
starben sogar 11 Menschen. Ab diesem Zeitpunkt nahmen wir die
Luftschutzmaßnahmen etwas ernster. Es wurde gesagt, dass diese Sprengkörper ohne
bestimmtes Ziel abgeworfen worden wären, denn die Flugzeuge dürften nicht mit
Bomben an Bord im Heimatflughafen landen.
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Die Einschläge in der Nähe unserer Stadt wären unserem Landbriefträger fast zum
tödlichem Verhängnis geworden. Die Flugzeugpulks waren nicht mehr zu hören und
wir warteten am Ausgang des Luftschutzkellers auf die Entwarnung. Plötzlich ertönte
ein Zischen und Dröhnen und ein Schlag erschütterte die Erde. Wir warfen uns alle
sofort auf den Boden und dachten, die Welt geht unter – jetzt ist es aus. Mein erster
klarer Gedanke war: „ Wenn man das Rauschen der Bomben oder Geschosse hört, dann
wird man nicht unmittelbar getroffen“. Das hatten Soldaten mit Fronterfahrung erzählt.
Wenige Minuten später kommt der Landbriefträger angesaust und ist fast nicht
aufzuhalten. Er war von oben bis unten mit Dreck bespritzt und zitterte am ganzen Leib.
Einige Meter von ihm entfernt waren die Sprengkörper eingeschlagen und er hatte zum
Glück nur Erdbatzen und keine Splitter abbekommen. Trotz des Ernstes der Situation
mussten wir über den Briefträger lachen, wodurch sich auch unsere Verkrampfungen
lösten.
Die im Nachbarort zu beklagenden Opfer dienten der politischen Agitation. Im großen
Gutshof wurden die Särge aufgebahrt und SA, Hitlerjugend und Jungvolk marschierten
auf. Die Ansprachen während des Traueraktes charakterisierten u.a. die Fliegerangriffe
als Feigheit der Feinde. Als Jungvolkführer hielt auch ich eine Rede. Ich weiß deren
Inhalt nicht mehr, aber noch so viel, dass ich vorwiegend „Führerzitate“ vortrug.
Unvergessen bleibt mir der Luftangriff auf Dresden im Februar 1945. Ich sehe mich
noch mit meinen Eltern am Bodenfenster stehen, als wir das unheimliche Geschehen
aus der Ferne beobachteten. In einer geschätzten Entfernung von ca. 200 km sahen wir
am nächtlichem Himmel die Markierungen, die so genannten „Christbäume“ leuchten.
In sehr großer Höhe flogen unzählige Bomber mit einem furchterregendem Brummen
über uns hinweg. Wir hörten die Einschläge und sahen einen gespenstischen
Lichtschein am östlichen Himmel. Wir dachten, der Angriff gelte Chemnitz. Am
nächsten Tag erfuhren wir von Flüchtlingen, die aus Dresden kamen, dass es diese
Stadt sehr schwer getroffen hatte. Über dieses Inferno gibt es viele
Augenzeugenberichte, doch mir blieb es - selbst aus der Ferne beobachtet - in
schrecklicher Erinnerung.
Noch recht gut erinnere ich mich an den 20. Juli 1944 den Tag des Attentats auf Hitler.
Unser „Jungvolk Fähnlein“ erhielt von der Bannleitung in Greiz am nächsten oder
übernächsten Tag den Befehl, durch unsere Kleinstadt zu marschieren und in
Sprechchören zu rufen: „Der Führer lebt !“ In der Schule sprachen alle Lehrer von der
„Vorsehung“, die Adolf Hitler das Leben rettete und uns sollte die unbedingte Treue zu
unserem Führer bewusst gemacht werden.
Im übrigen marschierten wir recht oft durch die Straßen unserer Kleinstadt und sangen
„Hitlerjugendlieder“. Recht laut grölten wir in Straßen, in denen Kinder wohnten, die
sich oft vom Jungvolkdienst drückten. Noch im Ohr hab ich die ersten Verse des
Liedes: „Ja, wir vom Jungbann Osten, sind immer auf dem Posten, sind immer
bereit..........“
11. Kinderstreiche
Rauchen und Alkoholgenuss waren im Jungvolk verboten. Drogen kannten wir nicht.
Das Verbot hielt auch mich nicht davon ab, im Alter von ungefähr 13 Jahren die ersten
heimlichen Rauchversuche zu starten. Ein älterer Schulkamerad hatte zu Hause
Zigaretten geklaut; wir setzten uns mit diesen versteckt an einen Waldrand, um das
Laster zu probieren. Mit sehr schnellen Zügen wurde „auf Lunge“ geraucht. Mir war
damals so übel, dass ich dies heute noch im Unterbewusstsein spüre. Vor der Mutter
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habe ich gejammert, dass ich wohl etwas Unrechtes gegessen hätte. Sie hat bestimmt
den Braten gerochen, denn es ging ab ins Bett. Außerdem musste ich sehr bitteren
Wermuttee trinken.
Trotzdem haben uns die bösen Erfahrungen nicht von weiteren Versuchen abgehalten.
Wenige Wochen später hatte ein Schulkamerad vier wertvolle handgemachte Zigarren
ergattert. Wir marschierten über ein abgeerntetes Getreidefeld und rauchten wie die
Großen. Plötzlich sahen wir den Vater eines Schulkameraden auf uns zu kommen.
Schnell wurden die Brasil ausgedrückt und eingesteckt. Wir grüßten sehr höflich und er
hielt sich auch nicht lange bei uns auf. Plötzlich merkten meine Kameraden, dass aus
meinem Hinterteil starke Rauchwolken herausquollen. Ich hatte die Zigarre nicht richtig
ausgedrückt. Schnell wälzten mich meine Freunde auf der Erde. Damit konnten wir den
Brand löschen. Die Hose war kaputt und das in der Zeit, als man Kleidungsstücke nur
auf Bezugschein bekam. Zu Hause habe ich versucht, den Schaden durch Aufnähen
eines Flickens zu beheben. Das half nichts, meine Mutter bemerkte das Übel. Sie
schimpfte nicht, sie war nur sehr traurig, weil sie nicht wusste, wie sie eine neue Hose
beschaffen sollte. Es war eine sogenannte „Überfallhose“, die ich sehr gern trug und die
als „bessere Kleidung“ galt.
Die in den Kriegsjahren von uns gesammelten Heilkräuter wurden auf dem Schul- und
Kirchboden getrocknet. Während der Schulstunden und darüber hinaus mussten wir den
Tee wenden, nach der Trocknung in Säcke stopfen und anschließend für den
Abtransport an Sammelstellen fertig machen. Diese Tätigkeit erfolgte meist ohne
Aufsicht des Lehrers, der nur hin und wieder plötzlich auftauchte und nach dem
Rechten sah. Um den Tee fest in die Säcke zu pressen, nahmen wir unsere Beine zur
Hilfe. Das Ganze war sehr stachlig deshalb zogen wir hierfür die Schuhe nicht aus.
Unser unerwartet aufgetauchter Lehrer ertappte meinen Schulkameraden Erich bei
dieser Handlung. Er verprügelte ihn so sehr, dass Striemen sichtbar wurden und die
Jacke sowie das Hemd zerriss. Ich erinnere mich, dass der Lehrer sinngemäß sagte:
„Mit deinen Dreckschuhen verunreinigst du den Tee. Das ist Wehrkraftzersetzung, denn
unsere tapferen Soldaten können sich durch den schmutzigen Tee vergiften.“ Noch viele
mir heute entfallene Schimpfworte folgten. Der Lehrer merkte, dass wir alle sehr
schockiert waren. Nachdem er sich beruhigt hatte, kündigte er an, die Kleidungsstücke
zu ersetzen. Er merkte, dass er zu weit gegangen war.
Während der Tätigkeiten auf dem Trockenboden hatten wir außerdem Zeit und
Gelegenheit zu allerhand Schabernack in der Kirche. Wir haben im Turm die Glocken
angeschlagen und die Leute im Ort kamen mit der Zeit durcheinander, weil sie
annahmen, es läutet zur Mittagsstunde. Der Orgel entlockten wir einige Töne; damit
wollten wir den Küster ärgern. Wir vertauschten auf den Zahlentafeln im Kirchenraum
die Nummern der Lieder, die am kommenden Sonntag im Gottesdienst gesungen
werden sollten. Beim Kirchenbesuch merkten wir, dass die Gläubigen mit den
angezeigten Liedern ganz schön durcheinander kamen. Es fiel uns schwer, uns nichts
anmerken zu lassen. Der Pfarrer hatte in der Bibel, die auf dem Pult der Kanzel lag,
Zettel zwischen die Seiten gelegt und die Texte markiert, die er für seine Predigt
brauchte. Wir entfernten diese Kennzeichnungen oder ordneten sie an anderen Stellen
ein. Auch hier erwarteten wir, dass der Prediger nicht mehr weiter weiß. Aber wir
täuschten uns, denn er ließ sich keine Unsicherheit anmerken.
Viel Unsinn trieben wir in der Konfirmandenstunde. Wir stellten z.B. den Schemel
vorm Harmonium mit den Beinen nach oben und legten eine Decke und ein Kissen
darüber. Als der Pastor nichtsahnend sich setzte, fiel er durch.
Wir merkten zwar in dieser Zeit die starke Kluft zwischen Kirche und Staat. Darüber
machten wir uns aber keine ernsthaften Gedanken und erst im Nachhinein wird mir an
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einigen Ereignissen bewusst, welch schweren Stand damals die Pfarrer hatten. In
kirchlichen Räumen durften wir in meinem Heimatort keine Jungvolkuniform tragen.
Von anderen Orten, z.B. aus Pöllwitz im Vogtland wurde mir aber bekannt, dass dort
die Geistlichen mit den Nationalsozialisten sympathisierten. Dort marschierten sogar
SA und Hitlerjugend mit ihren Fahnen in die Kirche.
Unser Pastor sagte jedoch auch nie etwas gegen den Staat. Er versuchte uns moralische
Werte, besonders an Hand der 10 Gebote, beizubringen. Heute erkenne ich, dass er es
mit der Vermittlung religiöser Fragen schwerer hatte als die Hitlerjugendführer, deren
Phrasen wir Kinder freudiger aufnahmen. Ich besuchte die Konfirmandenstunde und
die Kirche nur meiner Mutter und Großmutter zu liebe und weil es Tradition war.
Rückblickend auf mein Leben bin ich aber, besonders jetzt im Alter, dankbar über das
mir in diesem Rahmen vermittelte Wissen.
In den letzten Unterrichtsstunden vor der Konfirmation versuchte unser Pastor uns die
Unterschiede von Mann und Frau und deren eheliche Beziehungen zu erklären. Die
Unterweisung erfolgte getrennt für Jungen und Mädchen. Ein Ausspruch unseres
Pfarrers blieb mir dabei unvergessen, er sagte: „Kind wirst du rot, so warnt dich Gott.“
Wir bekamen tatsächlich auch noch einen roten Kopf, wenn wir mit Mädchen über
heikle Themen schwatzten. Heute erröten die jungen Leute selbst bei kräftigen
Bemerkungen über Probleme der sexuellen Beziehungen nur noch sehr selten.
Einige gewagte Streiche, deren Ausgang zum Glück glimpflich ablief, will ich hier noch
beschreiben.
Wir Jungen streiften gern durch die Wälder unserer Heimat. Wir sammelten Pilze und
Waldbeeren. Obwohl besonders mühselig, pflückten wir aber sehr gern Blaubeeren,
weil diese sehr gut schmeckten. Frisch vom Strauch in den Mund, das war ein Genuss.
Der Krug füllte sich dann allerdings nur sehr langsam. Mehrmals passierte es mir, dass
die fast gefüllten Behälter umfielen oder auf dem Nachhauseweg umkippten, wenn wir
uns gegenseitig neckten. Ich war dann manchmal den Tränen nahe, denn die mühsam
gesammelten Beeren waren nur mit Verlust wieder in die Kanne zu bringen. Unsere
Eltern lobten diese nützlichen Tätigkeiten, die wir überdies freiwillig ausübten.
Wir wussten, dass Brennholz knapp war und wollten uns durch Holzsammeln ebenfalls
ein Lob verdienen. Im übrigen hörten wir, dass Birkenholz sehr gut brennt und ich
wollte meinen Großeltern das Anzünden des Feuers im Ofen erleichtern. Eigentlich gab
es in unserem Haushalt genügend Feuerholz. Kurzum, zwei Schulkameraden und ich
sägten im Wald zwei mittelgroße Birken ab, die wir auf Feldwegen nach Hause
schleiften. Plötzlich stand der Ortspolizist vor uns und stellte uns zur Rede. Wir
meinten, er habe schon auf der Lauer gelegen, um uns zu erwischen. Obwohl er uns
kannte, schrieb er unsere Namen auf und sagte: „Ich werde euch mit euren Eltern auf
die Wache bestellen. Ihr habt Baumfrevel begegangen und einen großen
volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet. Euch erwartet eine hohe Strafe". Er fragte
uns, wo wir die Bäume abgesägt hätten. Wir aber behaupteten, wir hätten sie gefunden.
Er entdeckte die Säge, (einen Fuchsschwanz) die ich unter meiner Jacke zu verbergen
suchte. Jedenfalls meinte er, dass er die Baumstümpfe bestimmt noch finden würde.
Nach der Begegnung mit dem Ordnungshüter kam Fliegeralarm und wir sahen sehr
deutlich die über uns hinweg fliegenden Flugzeugstaffeln. Anstatt nach Hause zu eilen,
verbargen wir uns in einer Feldscheune. In unserer Not hofften wir, eine Bombe möge
uns oder zumindest den Polizisten treffen, der nicht zum Luftschutzkeller ging, sondern
seinen Rundgang über die Flur fortsetzte. Nach unserer Beichte waren unsere Mütter
sehr bestürzt. Am nächsten Tag kam die Vorladung zum Polizeirevier. Unser Leugnen,
dass wir die abgesägten Bäume gefunden hätten, half nichts. Der Gendarm hatte die
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Stelle, wo die recht hohen Baumstümpfe noch standen, ausgemacht und wusste auch,
welchem Bauern der Wald gehörte. Er drohte, dass wir in ein Erziehungsheim kämen,
wenn der Waldbesitzer unseren Frevel anzeigt. Im Anschluss an das Verhör zogen wir
mit den Birkenbäumen unter Polizeibewachung durch die Stadt zum Bauern, bei dem
wir das Holz abliefern sollten. Begleitet wurden wir von einer großen Schar Kinder, die
frohlockten, dass wir verhaftet und eingesperrt würden. Die Bauersfrau empfing uns im
Hof und schimpfte uns in Anwesenheit des Polizisten tüchtig aus. Schließlich sagte sie
zu ihm, dass sich die Sache erledigt hätte und kein Strafantrag gestellt würde. Als der
Gendarm weg war, sagte sie: „Schert euch mit den Bäumen nach Hause und tut so
etwas nie wieder.“ Nochmals zogen wir durch die Stadt. Jetzt begleiteten uns
enttäuschte Kinder, weil wir nun doch nicht verhaftet worden waren. In späteren Jahren
erfuhr ich von meiner Mutter, dass sie sich und die anderen Mütter vor dem
Polizeiverhör mit dem Waldbesitzer geeinigt und die Bäume bezahlt hatten.
Wagehalsig war ein Spiel mit Kipploren aus einem Steinbruch im nahegelegenen
Flusstal. Mit von der Partie waren die Jungen aus der Gärtnerei in unserer
Nachbarschaft. Dort gab es einen Zugochsen, der eingespannt wurde und die Loren auf
die Straße bis zur Anhöhe am Ortseingang ziehen musste. 6 – 8 Jungen schwangen sich
auf die Loren und es ging mit Karacho den Berg hinab! Als Bremse diente lediglich ein
Holzknüppel, der über einem Rad installiert war. Schnelles Anhalten war damit nicht
möglich. Beendet wurde unser Tun schon am nächsten Tag durch den Ortspolizisten,
der den Weg absperrte. Wegen Tierquälerei und des Diebstahls der Loren wollte er
Anzeige erstatten. Wahrscheinlich war ihm aber die Arbeit hierfür zu viel, wir erhielten
nur eine mündliche Rüge.
Der Zugochse wurde von uns Kindern zu einem weiteren Streich eingespannt. In der
Gärtnerei gab es ein altes abgewracktes Auto, das keinen Motor mehr hatte. Die Räder
rollten noch und auch die Lenkung funktionierte. Ich meine, es war ein Opel P 3. Das
Gefälle in der unteren Gartenstraße reichte aus, das Autowrack in Fahrt zu bringen. Es
war für uns Kinder ein Heidenspaß, wenn uns das Zugtier in dem Gefährt nach oben
zog und wir anschließend die ca. 200 m lange Strecke nach unten fahren konnten. Der
Platz am Lenkrad war immer der begehrteste. Wie lange und wie oft wir dieses Spiel
trieben und wodurch es beendet wurde, ist mir nicht mehr in Erinnerung.
Die während des Krieges angeordnete Verdunkelung war einerseits gruselig aber zum
anderen auch erlebnisreich. An den Lampen der Autos sowie Motor- und Fahrräder war
nur ein Schlitz für einen ganz schmalen Lichtschein frei. Hindernisse oder auch
Fußgänger wurden mit dieser schwachen Beleuchtung fast nicht gesehen. Es war
lediglich eine Hilfe, dass man nicht vom Weg abkam. Die Ortschaften, Strassen und
Gassen waren in völlige Dunkelheit getaucht. Es gab keinerlei Außenbeleuchtung und
nur aufgebrachte Leuchtfarben gaben eine geringe Orientierungshilfe. Selbst das
Benutzen von Taschenlampen war im Freien untersagt. Widrigenfalls konnte man
verdächtigt werden, Lichtzeichen für Feinde oder Spione zu geben. Eine ungenügende
Verdunkelung wurde nicht nur gerügt, sondern manchmal sogar hart bestraft. Wir
Kinder freuten uns, wenn wir abends in der Dunkelheit noch draußen auf der Straße
bleiben durften. In den Wintermonaten, wenn es schon am Nachmittag dunkelte, war
das besonders reizvoll. Für uns war es oft ein Spaß, wenn wir, besonders bei älteren
grilligen Leuten, ohne Grund ans Fenster klopften. Sobald sie die Verdunkelung leicht
zur Seite schoben, um nachzusehen wer draußen ist, riefen wir: „Verdunkeln – sonst
gibt’s Strafe“. Erschrocken wurde dann der dichte Vorhang oder das Rollo wieder
zugezogen. Für das Bedecken der Fenster hatten wir anfangs selbstgefertigte
Holzrahmen, auf die schwarzes Papier aufgezogen war. Die späteren Rollos mit
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Faltpapier hatten den Nachteil, dass durch die Löcher für die Schnurführung noch ein
kleiner Lichtschein hindurchkam. Die dann aufkommenden Schnapprollos mussten gut
gesichert werden, damit sie nicht unkontrolliert nach oben schnippten Selbst
kurzzeitiger nach außen dringender Lichtschein konnte zur Bestrafung führen. Aus
diesem Grunde hingen auch vor den Haustüren noch zusätzlich Decken, damit beim
Öffnen der Zimmertüren ja nichts passierte.
In den letzten Kriegsjahren gab es häufig Stromsperren. Sie kündigten sich an, indem
das Licht zunächst flackerte, mehrmals ausging und wieder aufleuchtete, um dann oft
für mehrere Stunden weg zu bleiben. Bei uns lagen in dieser Zeit immer Wachskerzen
bereit und wir holten die bereits ausrangierten Petroleumlampen und Stalllaternen
wieder hervor. Probleme hatte ich hin und wieder, wenn ich am Tage meine schulischen
Hausaufgaben aufgeschoben hatte und nun beim „Funzellicht“ das Versäumte
nachholen musste. Gefahrvoll war es außerdem mit offenem Licht in den Stall, in die
Scheune oder auf den Boden zu gehen. Sehr gefährlich konnten die Stromsperren sein,
wenn z.B. in Räumen, in denen die Fenster nicht verdunkelt waren, plötzlich das Licht
wieder anging, weil man aus Versehen den Lichtschalter angeknipst hatte. In der
Endkonsequenz wurden bei uns alle elektrischen Beleuchtungen an kritischen Stellen
dauerhaft abgeschaltet.
Die fast absolute Finsternis außerhalb der Häuser war für uns Kinder interessant, wenn
wir abends noch auf der Straße spielen durften. Gern erzählten wir uns dabei
Gruselgeschichten. Wir Jungen prahlten gegenüber den Mädchen mit unserer
Tapferkeit. Wir erzählten z.B., dass wir ohne Angst nachts durch dunkle Gassen und
selbst über den Friedhof gehen würden. Wenn es dann darauf ankam, fiel doch
manchmal das Herz in die Hosentasche – ein bei uns üblicher Ausspruch für große
Angst. Wir hatten uns im übrigen ein schönes Spiel ausgedacht: Große Futterrüben
wurden ausgehöhlt und für Mund und Augen Öffnungen ausgeschnitten. Eine darin
leuchtende Kerze ließ die Nachbildung wie einen Totenkopf aussehen. Das Gebilde
stellten wir auf die Friedhofsmauer, wobei wir wegen der Verdunkelung sicherten, dass
der Lichtschein nicht weit sichtbar war. Kinder, die den Schabernack nicht kannten und
dort ohne zu zögern vorbei gingen, gehörte zu den Mutigen.
Viel Spaß hatten wir, wenn wir im Winter abends noch Schlitten- oder Skifahren
durften. Wir Jungen machten mit übertriebenem Gehabe gegenüber den Mädchen durch
verwegene Abfahrten auf uns aufmerksam. Die Skier, mit denen wir fuhren, habe ich
schon beschrieben, als ich solche Weihnachten 1944 bekommen hatte. Hinzufügen will
ich hier, wie wir versuchten, die Bindung an den Schuhen zu befestigen. Wir nagelten
Lederstreifen an die Absätze. Da es auf Bezugschein pro Jahr nur ein Paar Schuhe gab,
musste damit sehr vorsichtig umgegangen werden. In diesem Zusammenhang sah ich
meine Mutter einmal sehr traurig, denn ich hatte solch große Nägel eingeschlagen, dass
sich der Absatz löste. Zum Glück konnte ein mit unserer Familie befreundeter
Schuhmacher den Schaden wieder beheben. Übrigens wünschte ich mir schon als
Dreizehnjähriger sehnlichst ein Paar „Langschäfter – Lederstiefel“. Meinem Vater
gelang es durch ein Tauschgeschäft hierfür Leder zu ergattern. Mein Wunsch wurde
erfüllt. Der Schuhmacher fertigte per Hand ausgezeichnete Stiefel an, die ich sehr stolz
zu Breecheshosen trug. Diese Reitmontur zog ich allerdings nicht zum Skifahren an,
denn an diesem Schuhwerk nagelte ich nicht herum. Weil aber das Befestigen der
Schneeschuhbindung immer wieder sehr problematisch war, machten wir die Riemen
oberhalb der Ferse, in der Fessel, fest. Das schmerzte manchmal schon ohne Bewegung
und der Langlauf und das Springen mit dieser provisorischen Befestigung der Bindung
wurde oft zur Qual. Das hielt uns trotzdem nicht davon ab, über kleine aus Schnee
selbstgebaute Schanzen zu springen und gewagt die Wiesenhänge hinunter zu fahren.
Ein einziges Mal habe ich erlebt, dass ein Schulkamerad sich beim Skifahren ein Bein
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gebrochen hat. Sonst passierte, abgesehen von einigen kleineren blauen Flecken, wenig,
weil der hohe Schnee ein gutes Polster darstellte. Übrigens habe ich den Eindruck, dass
es während meiner Kinderjahre mehr Schnee und strengere Winter gab als heute.
Gleichaltrige Bekannte bestätigen ebenfalls diese Feststellung.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Schneepflüge, die damals sehr
häufig zum Räumen der Straßen und Wege eingesetzt werden mussten. Sie wurden von
Pferden gezogen und bestanden aus zwei keilförmig miteinander verbundenen
Holzwänden. Für uns Kinder war es ein Vergnügen, wenn wir auf diesen Geräten
mitfahren durften; das wurde uns recht gern erlaubt, weil die Schneepflüge beschwert
werden mussten, um den Schnee nicht nur oberflächlich beiseite zu schieben.
Die Angst vor Bestrafungen - oft wegen nur geringfügiger Vergehen - war bei uns
Kindern früher größer als heute. In Hohenleuben gab es eine Einrichtung, die uns
deutlich vor Augen führte, welche Folgen straffälligen oder auch nur unartigen Kindern
blühen können. Es war das Heim für schwer erziehbare Kinder „Heinrichsstift“, bei uns
damals unter den Namen „Rettung“ bekannt. Unsere Eltern und die Behörden benutzten
diese Einrichtung als Drohkulisse. Sie befindet sich ca. 2 km von unserer Kleinstadt
entfernt in einem kleinem Wald und ist heute ein Christliches Jugenddorf. Wir Kinder
machten immer einen großen Bogen um das Heim, das wir lieber nicht von innen sehen
wollten. Die Heiminsassen hatten nur Ausgang mit Erziehern. Ich habe noch das Bild
vor Augen, wenn sie z.B. sonntags an unserem Haus in Gruppe und sehr artig vorbei
gingen. Außerdem gab es manchmal Gerüchte, dass Kinder ausgerissen wären und
diesen wurden dann oft auch Einbrüche zugeschrieben. Wir sahen die Heimkinder auch
manchmal bei der Arbeit, denn zur Einrichtung gehörte ein Landwirtschaftsbetrieb.
Die „Rettung“ wurde 1945 als Hilfskrankenhaus eingerichtet und in den späteren Jahren
wieder Kinderheim.
12. So erlebte ich das Kriegsende
Plötzlich war eine unheimliche Stille, denn das Zischen der Granaten, der Beschuss
hörte auf. Wir fragten uns: „ Ist der Krieg zu Ende ?“ Im Keller unseres
Kleinbauernhofes hatten meine Großmutter, Mutter und ich ( 14 Jahre alt) Schutz
gesucht. Mein schwerkranker Großvater (82 Jahre alt) lag in der Wohnstube im Bett
und weigerte sich in den Keller gebracht zu werden. Er sagte: „Wenn mein Haus
zerstört wird, dann soll es auch mich mit treffen“.
Am Nachmittag diese Tages hatten wir von unserem Garten aus beobachtet, dass am
Rande eines ca. 5 km Luftlinie entfernten Waldgebietes bei Staitz hin und wieder
Panzer aus ihrer Deckung fuhren und wieder verschwanden. Über uns zischten in
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Abständen von ungefähr 10 Minuten Geschosse hinweg. Wir waren uns der Gefahr
nicht bewusst und gingen erst am späten Nachmittag in den Keller, als sich die Pausen
zwischen den Salven verringerten. Das war für uns wie eine Vorsehung, denn kurz
danach schlug in unserem Garten ein Granate ein. Sie hinterließ ein großes tiefes Loch.
Die Splitter beschädigten die nahe Hauswand, ohne jedoch bis ins Zimmer, wo mein
Großvater lag, einzudringen.
Den gegenseitigen Beschuss lieferten sich eine deutsche Haubitzeneinheit und die
amerikanischen Panzer, die wir schon gesehen hatten. Die Deutschen hatten im Tal
östlich unseres Ortes Stellung bezogen. Die Granaten, die über uns hinweg flogen,
waren also deutsche und amerikanische.
Am späten Abend kam mein Vater zu Fuß von seiner 20 km entfernten Arbeitsstelle
nach Hause. Eisenbahn und Busse verkehrten nicht mehr. Wir waren sehr erleichtert,
denn nun war unsere engere Familie wieder vollständig.
Nach angemessener Zeit, immer lauschend, ob der Beschuss auch wirklich zu Ende war,
verließen wir gegen Mitternacht den Keller. Ich ging mit meinem Vater zum Marktplatz.
Das Bild, das sich uns dort bot, war für mich erschütternd. Ich hatte bisher noch keine
größeren unmittelbaren Zerstörungen durch Bomben oder Granaten gesehen. Unsere
Schule brannte. Es waren nur die Mauern übriggeblieben, die gespenstisch in den
feuererhellten Himmel ragten. Inmitten der zerstörten Häuser stand fast unbeschädigt die
Kirche. Die Amerikaner sollen versucht haben den Kirchturm, auf dem sich der
deutsche Beobachter befunden hätte, zu beschießen, hatten aber keinen Erfolg.
Über die deutsche Artillerieeinheit wusste ich etwas Bescheid. Zwei Tage vor dem
Beschuss hatte ich eine Begegnung mit den Kommandeur dieser Truppe. Ich war auf
unserem Feld mit der Vorbereitung des Ackers für das Kartoffelpflanzen beschäftigt.
Am Feldrand hielt ein Geländewagen, ein deutscher Oberst stieg aus, ging auf mich zu
und sagte: „ Du bist Jungvolkführer hier im Ort und sollst dich in der Gegend gut
auskennen. Ich bitte dich um Auskünfte und auch um die Überlassung eventuell
vorhandener Landkarten.“ Ich war richtig stolz, dass ein so hoher deutscher Offizier von
mir Unterstützung wollte. Ich übergab ihm die Generalstabskarten aus unserer Gegend,
die ich bei unseren Geländespielen verwendet hatte. Außerdem konnte ich seine Fragen
über unseren Ort und die nähere Umgebung recht genau beantworten. Er meinte, dass
wir unbesorgt sein könnten, denn er würde die Amerikaner aufhalten und sogar zurück
drängen. Das erschien mir doch etwas übertrieben, denn man hörte schon in der Ferne
den Kriegslärm und durch die Nachrichten des Londoner Rundfunks wusste ich, dass
Westthüringen schon von den Amis erobert worden war. Noch heute - nach 60 Jahren sehe ich das Bild vor meinem geistigen Auge, wie respektvoll ich mit dem Oberst
sprach. Damals wünschte ich mir vielleicht, dass er mit seiner Siegeszuversicht recht
behält.
Später wurde berichtet, dass die deutsche Geschützeinheit von amerikanischen
Granaten getroffen worden wäre. Deshalb hörte wohl in der Nacht auch plötzlich das
Geschützfeuer auf.
Wir fragten uns, wie konnten die Amis die Stellung der deutschen Verteidiger so genau
erkunden? Sie hatten sich doch in einem schwer einsehbaren Tal gut getarnt. Die
Antwort hierauf war einfach. Seit Tagen kreiste in unserer Gegend in geringer Höhe ein
feindliches Flugzeug, das wir fliegende Festung nannten. Es flog langsam und
unbehelligt. Es hatte wahrscheinlich exakte Luftaufnahmen gemacht, die aktueller und
genauer als das von mir übergebene Kartenmaterial waren. Daegen wechselten die
amerikanischen Panzer ständig ihre Stellung und waren deshalb schwieriger
abzuschießen. Als Junge habe ich mich für diese militärischen Fragen sehr interessiert
und gestaunt, als die Amis mit ihren Jeeps und modernen Geländepanzern anrückten.
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Sie kamen am Tage nach dem Beschuss vom Westen her in großen Formationen über
die von uns einsehbaren Felder und Wiesen auf unseren Ort zu. Wir beobachteten
wiederum von unserem Garten aus den sich nähernden „Feind“. Trotz strengen Verbots
hissten wir als Zeichen der Kapitulation eine weiße Fahne (ein zurecht geschnittenes
Betttuch). Wir waren dabei nicht frei von Angst, weil von Nachbarorten bekannt
geworden war, dass fanatische SS – Offiziere selbst Zivilisten erschossen hatten, weil
diese eine weiße Fahne zeigten.
Mein Elternhaus und die Nachbarhäuser waren von dichten Heckenzäunen umgeben.
Die amerikanischen Soldaten betraten vorsichtig die Gärten und Gebäude. Sie trauten
der weißen Beflaggung nicht 100 %. Mit sichernden Gewehren betraten 2 weiße
Amerikaner und ein schwarzhäutiger Korporal unser Haus. Der gut deutsch sprechende
Vorgesetzte beorderte uns in die Stube, in der mein kranker Großvater im Bett lag. Wir
mussten die Hände über den Kopf halten und er behielt seine Waffe im Anschlag. Er
fragte immer wieder, ob im Haus oder der Umgebung noch deutsche Soldaten wären.
Die beiden anderen Amis durchsuchten derweil Haus, Scheune, Stall und Garten. Sie
fanden meinen feldmarschmäßig gepackten Tornister, den ich aus der Jungvolkzeit
hatte. Dort drin war alles recht gut zu verstauen. Ich hatte mir dieses zweckmäßige
Gepäckstück zurecht gemacht, weil wir nicht wussten, was durch den Einmarsch der
„Gegner“ alles auf uns zukommt.
Die Amerikaner glaubten, mein Vater und auch ich wären Soldaten. Sie meinten, wir
hätten uns nur zur Tarnung Zivilkleidung angezogen. Die Papiere meines Vaters über
seine Tätigkeit in der Rüstungsfabrik wurden schließlich akzeptiert. Mich aber wollten
sie als Gefangenen mitnehmen. Meine Mutter verteidigte mich wie eine Löwin ihr
Junges. Sie sagte immer wieder: „ Sie sehen doch, das ist noch ein Kind.“ Sie zeigte als
Beweisstücke meine Kleidung und Schulhefte. Ihr gelang es damit, mich vor der
Gefangennahme zu retten.
In unserer Stadt wurden nur ganz wenige ehemalige Angehörige der deutschen
Wehrmacht aufgespürt und abtransportiert.
Allerdings ereignete sich ein Vorfall, der die Stimmung der Besatzer sehr zu unseren
Ungunsten beeinflusste. Im Keller der abgebrannten Schule hatten sich einige
Hitlerjungen aus Nachbardörfern verschanzt. Sie wollten als Wehrwolfeinheit die
Amerikaner bekämpfen. Als sie sogar aus diesem Hinterhalt auf die Amis schossen,
stürmten diese die Schule und nahmen die Jungen gefangen. Sie wurden abtransportiert
und wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.
Die Besatzungssoldaten patrouillierten sehr häufig mit Ihren Jeeps durch alle Strassen
und Gassen unseres Ortes. Sie schossen auf alles Verdächtige, so dass man selbst am
Tage sehr vorsichtig sein musste. Von Abends 20,00 bis Frühmorgens 6,00 Uhr war
Ausgangssperre. Wer in dieser Zeit noch außerhalb der Häuser angetroffen wurde,
musste mit Festnahme und sogar Inhaftierung rechnen.
Sehr häufig klopften versprengte deutsche Landser an unser Hoftor und baten zumindest
während der Sperrzeit um Unterschlupf. Unser Haus erwies sich hierfür als günstig,
weil es sich am Ortsrand befand. Wir gewährten in dieser Zeit fast täglich 3 – 4
Soldaten Unterkunft. Sie wurden auch zum Teil mit verpflegt. Alle wollten so schnell
wie möglich, ohne noch in Gefangenschaft zu geraten, nach Hause. Wir zeigten ihnen
dann am Tage die Schleichwege, auf denen sie weitgehend den Amis ausweichen
konnten. Die meisten schafften auch die kilometerlangen Strecken und wurden dann
manchmal in ihrem Heimatort noch gefangen genommen, weil sie sich nicht mehr
versteckten.
Als am 08.05.1945 im Radio die deutsche Kapitulation bekannt gegeben wurde, war
dies für uns kein großes Ereignis. Für uns war am 16. April 1945 mit dem Einmarsch
der Amerikaner bereits der Krieg zu Ende. Erstmals dachte ich in diesem Jahr am 20.
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April nicht mehr an den Geburtstag des Führers. Ja, auch bei mir keimte ein innerer
Widerstand gegen das bisherige System. Heute wird viel darüber diskutiert, ob die
Deutschen die Kapitulation als Niederlage oder als Befreiung empfanden. Mich
interessierte damals beides nicht. Ich wollte einfach unbehelligt, ohne die Gefahren
durch die Kriegsereignisse und frei von der ständigen Angst um Verwandte und
Bekannte weiterleben.
Das Kriegsende war damals für die Erwachsenen, das erfuhr ich aus Gesprächen,
deprimierend. Immer wieder hörte ich, man hätte früher mit dem Krieg aufhören
müssen. Außerdem gab es erste Unterhaltungen über Verbrechen im Dritten Reich, die
bisher Tabuthemen waren.
Nunmehr erzählte auch mein Vater von seinen Erlebnissen, die er kurz vor dem
Einmarsch der Amerikaner hatte, als er zu Fuß auf dem Nachhauseweg von seiner
Arbeitsstelle war. Er sah mehrere Tote in Häftlingskleidung im Straßengraben liegen.
Das waren Gefangene, die vom KZ Buchenwald aus auf dem sogenannten Todesmarsch
nach Südwestdeutschland unterwegs waren. Wer nicht mehr weiter konnte wurde
erbarmungslos liquidiert.
Sehr glaubwürdig erzählten meine Eltern, dass sie zwar
die Existenz der
Vernichtungslager geahnt, aber niemals das Ausmaß des schrecklichen Geschehens
vermutet hätten. Auch sie erfuhren näheres hierüber erst nach dem Krieg und waren wie
viele Menschen fassungslos.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Erlebnis Ende 1944 auf dem
Bahnhof in Weimar. Ich fuhr als Jungvolkführer per Bahn zu einer Konferenz. Wegen
Fliegeralarm rollte unser Zug auf ein Abstellgleis. In der Nähe standen Viehwaggons,
aus deren Luken ausgemergelte und verzerrte menschliche Gesichter schauten. Ich sah,
wie am Zug entlang SS – Soldaten liefen, die mit Stöcken gegen diese Antlitze schlugen
und die Öffnungen schlossen. Das waren für mich grausige Bilder, die ich lange nicht
vergessen konnte. Ich fragte meinen Lehrer was mit diesen Menschen geschieht. Er
sagte: „Das sind Gefangene, arbeitsscheues Gesindel, die in Lager zur Umerziehung
gebracht werden.“ Von meinen Eltern erhielt ich nur ausweichende Antworten mit dem
Hinweis, über die mich sehr bewegenden Erlebnisse mit
niemanden in der
Öffentlichkeit zu reden.
In meiner Heimatstadt war der Gefängnisdirektor als Nationalsozialist bekannt.
Einwohner, die sich mit ihm während des Feindalarms im Luftschutzkeller aufhielten,
erzählten, dass er, als der Beschuss aufhörte, sagte: „Jetzt hat es die Amerikaner
erwischt, unsere deutschen Truppen werden sie zurückschlagen“. Er hatte sich gründlich
geirrt. Nach der Ankunft der Sieger übergab er den Gefängnisschlüssel und konnte
heimlich verschwinden. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
Die Amerikaner ließen in diesem großen Frauengefängnis alle frei. Sie kontrollierten
nichts; auch die wirklichen Straftäter konnten das Weite suchen. In unserem Garten, der
sich in der Nähe des Gefängnisses befand, entdeckten wir Häftlingskleidung, die von
den Freigelassenen weggeworfen worden war. Man erzählte später, dass etliche Frauen
sehr schnell wieder straffällig geworden sind und bald zurück in die ihnen bekannte
Haftanstalt kamen.
Am Tag nach dem Einmarsch der Amerikaner verbreitete sich die Parole: „Das leere
Kittchen wird gesprengt und die Bevölkerung kann vorher alles, was ihr gefällt,
herausholen.“ Viele Menschen rannten los und stürmten regelrecht die offenstehenden
Knasträume. Mit Handwagen, Tragkörben, Taschen und Säcken schleppten sie Wäsche,
Wolldecken, Kleider, Nähmaschinen, Küchengeschirr, Armaturen und vieles andere
mehr aus den Gebäuden. Nach vorsichtiger Orientierung, ob es eventuell auch keine
Falschmeldung ist, begab ich mich gemeinsam mit meiner Mutter mit in den Trubel.
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Mich interessierten außerdem die Zellen und insgesamt das Innere einer Strafanstalt. Ich
war schockiert, wie primitiv die Gefängnisinsassen leben mussten. Am nächsten Tag
gaben die Amis bekannt: „ Das Gefängnis wird nicht gesprengt und wer die
geplünderten Sachen nicht innerhalb der nächsten 4 Stunden zurück bringt, wird
verhaftet und kann erschossen werden.“ Angst verbreitete sich, auch wir warfen, wie
viele andere, die Gegenstände heimlich wieder über die Mauer der Vollzugsanstalt. Wir
wollten uns wegen drei Wolldecken, etwas Zwirn und drei Bettbezügen nicht in Gefahr
bringen. Konsequenzen gegenüber denjenigen, die nichts zurück brachten, kamen mir
aber nicht zu Ohren. Nach wenigen Monaten wurde die Strafanstalt wieder ihrer
Bestimmung zugeführt. Das Gefängnis wurde in den Jahren ab 1950 bis heute stark
ausgebaut und das Areal vergrößert. Dafür musste das Schloss und dessen großer
Garten leider weichen.
Links im Bild neben dem Schloss die Haftanstalt vor der Erweiterung des
Gefängniskomplexes. Bild aus den dreißiger Jahren..
Voller Entsetzen sahen wir Anfang Juli 1945 den Einmarsch der sowjetischen Truppen.
Sie kamen an einem schönen Sommertag in einem langen Tross mit ungepflegten
Pferdegespannen, klapprigen Autos und mit vielen Soldaten auf der Landstraße von
Hohenölsen den Berg herauf in unsere Kleinstadt. Wir standen am Wegesrand bei der
Stadtwaage und beobachteten den Einzug. Der große Unterschied zwischen den
modernen Fahrzeugen der Amis und der uns primitiv erscheinenden Technik der
Russen bestürzte uns sehr. Später wurde uns klar: Das einfache Kriegsgerät war
robuster und immer einsatzfähig. Freilich, die auch vorhandene moderne Technik der
Sowjets sahen wir nicht. Ich verglich in der Folge oft die uns beim Einzug der Russen
aufgefallenen Gegensätze mit den Unterschieden zwischen dem DDR Fahrzeug Trabant
und den mit Elektronik vollgestopften „Westautos“. Wir konnten uns bei fast allen
Pannen selbst helfen. Mit den West- PKW´s kommt man ohne Werkstatthilfe nicht
weiter.
Wir hatten anfänglich Angst vor den Sowjets. Wahrscheinlich wirkte noch immer das
Feindbild der Hitlerpropaganda nach. Zu einem Tauschhandel kam es nicht. Die
Frontkämpfer, für die der Krieg noch nicht zu Ende war, nahmen sich alles was sie
brauchten und ihnen gefiel.
Über die Besatzer wurden viele Geschichten erzählt. Ich habe einiges davon als
Realität erlebt. Ein Soldat nahm mir auf belebter Straße unvermittelt mein Fahrrad weg.
Niemand half mir oder kümmerte sich darum. Als er nicht damit zurecht kam, warf er es
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hin und ich durfte weiterfahren. Zwei Russen kamen in unser Gehöft und räumten die
Eiernester leer. Sie gingen wieder, aber wir mussten zuschauen und waren zum
Nichtstun und Schweigen verurteilt.
Ebenso wehrlos waren wir, als Sowjetsoldaten unsere Fahrräder aus der Scheune holten
und spurlos verschwanden. In diesem Falle konnten wir nicht ganz ausschließen, ob
nicht sogar verkleidete deutsche Diebe, die damals ihr Unwesen trieben, beteiligt waren.
All das war nicht erlaubt, aber uns schien es, dass sich die sowjetischen Vorgesetzten
gar nicht um Plünderungen kümmerten. Ich spreche erst jetzt offen über diese
Geschehnisse, denn in der DDR waren diese Themen tabu und die befohlene Deutsch –
Sowjetische Freundschaft unantastbar. Offiziell gab es gleich nach dem Kriege keine
Verbindungen zu den sowjetischen Soldaten. Im Gegensatz zu den Amis ließ deren
äußeres Erscheinungsbild in Kleidung und Sauberkeit zu wünschen übrig. Als Sieger
und Besatzer hatten sie aber das Sagen. Davon machten sie regen Gebrauch, besonders
durch die bekannten SMA-Befehle (Sowjetische Militär Administration ) Diese
konnten wir am Aushang vorm Bürgermeisteramt lesen.
Mit geringer Freude erfuhren wir auf diese Weise auch, dass im Oktober 1945 der
Schulunterricht wieder begann. Die schöne lange Ferienzeit war damit zu Ende. Wir
dachten eigentlich, das zerstörte Schulgebäude und die entlassenen „Nazi- Lehrer“
zögen den Schulbeginn noch etwas hinaus.
Der Unterricht begann in Gaststätten und anderen Ausweichquartieren. Ältere Lehrer,
die keine Genossen der Nazipartei waren und sogenannte Neulehrer, die im
Schnellverfahren ausgebildet wurden, begannen uns zu unterrichten. Ich musste bis zum
Abschluss der 8. Klasse noch ein Jahr in die Volksschule gehen.
13. Epilog
Ab wann wird der Mensch erwachsen und reif fürs Leben? Geredet wird vom
Erwachsensein schon zur Konfirmation, in der DDR zur Jugendweihe. Der Gesetzgeber
hat als Ende der Jugendzeit ein Lebensalter von 18 Jahren festgelegt. Ich meine: Die
Phase des Erwachsenseins beginnt mit der Zeit, ab der man Verantwortungen
übernehmen muss. Ebenso ist nicht ganz eindeutig, mit welchem Alter die Kindheit
aufhört und der Übergang zur Jugendzeit beginnt. Ich meine, dass bei allen diesen
Fragen das jeweilige Zeitgeschehen und die Lebensverhältnisse eine große Rolle
spielen. Aus der Not geboren musste ich als Dreizehnjähriger schon viele
Erwachsenenarbeiten verrichten. Unter diesen Gesichtspunkten endete meine Kindheit
1944. Viele meiner Gedanken und Handlungen waren aber ebenso in den weiteren 2 – 3
Jahren sehr kindlich, so dass ich diese Zeit meiner Kindheit zurechne.
Aus den dargestellten Erlebnissen, die vordergründig Einigkeit und Einvernehmen in
unserer Familie zeigten, ergab sich für mich eine echte Obhut im Eltern- und
Großelternhaus. Sie stand im Widerspruch zum turbulenten Leben außerhalb dieses
Schutzes. Über meine damalige häusliche Geborgenheit bin ich bis heute sehr glücklich.
Die auf Stärke, Macht und Menschenverachtung ausgerichtete Gesellschaft während
meiner Kindheit wirkte sich deshalb nicht negativ auf mein Leben aus. Die nach dem
Kriegsende mir bekannt gewordenen Gräueltaten prägten meine künftige Haltung zur
strikten Ablehnung jeglicher Gewalt, die ich als Kind in Jungvolk und Schule erlebte
und die ich durch den Krieg verherrlicht sah. Auch aus diesem Grunde erzähle ich
meine diesbezüglichen Kindheitserlebnisse, die zum Teil ein typisches Bild dieser Zeit
sind. Ich will damit meine Nachfahren zum Nachdenken anregen. Ich würde mich
freuen dadurch Verbündete für Toleranz sowie Achtung des Lebens und der
Menschenwürde zu gewinnen.
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Kindheitserlebnisse in den Jahren 1936 bis 1945
in der Ostthüringer Kleinstadt Hohenleuben
Ernst Woll wurde 1931 in der Ostthüringer Kleinstadt Hohenleuben geboren und ist
dort aufgewachsen. Nach dem Abitur 1950 in Greiz schloss sich
ein
veterinärmedizinisches Studium in Leipzig an. Er promovierte 1958 und übte
anschließend in Thüringen im Bezirk Erfurt verschiedene tierärztliche Tätigkeiten aus.
Ab 1966 arbeitete er im Institut für Veterinärwesen in Bad Langensalza als
stellvertretender Direktor und auf dem Gebiet der veterinärmedizinischen Bauhygiene.
Er qualifizierte sich in einem Fernstudium zum Bauingenieur. Ab 1974 übernahm er im
Bezirk Erfurt leitende Aufgaben in der tierärztlichen Lebensmittelhygiene bis er 1994
Rentner wurde.
E. Woll ist seit 1952 verheiratet, hat 4 Kinder und wohnt ab 1960 in Erfurt. Im
Ruhestand findet er Zeit für sein Hobby, erlebte Geschichte aufzuzeichnen.
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Ernst Woll
Kindheitserlebnisse in den Jahren 1936 bis 1945
in der Ostthüringer Kleinstadt Hohenleuben