Experimente im Mathematikunterricht Reinhard Oldenburg, Tag der Mathematik 2015 1 Experiment Nr. 1 • Zeichenprogramm starten, Maus als Zirkel benutzen, welche Linie entsteht am Bildschirm? fest 2 Experiment Nr. 1 • Experimente können … – Verblüffung erzeugen, Interesse wecken – Erklärungsbedürfnis wecken • Aber auch: – Erklärungen geben – Begriffe und Hypothesen nahe legen • Vor allem: Experimentieren ist der Prototyp einer Kompetenz-förderlichen Handlungssituation 3 Was erwartet Sie? • Ganz wenig Theorie • Viele Beispiele 4 Kompetenzen • Kompetenzen laut MA-Bildungsstandards – – – – – (K 1) Mathematisch argumentieren (K 2) Probleme mathematisch lösen (K 3) Mathematisch modellieren (K 4) Mathematische Darstellungen verwenden (K 5) Mit symbolischen, formalen und technischen Elementen der Mathematik umgehen – (K 6) Kommunizieren • Ist das zu viel? • Fehlt da nicht was? – – – – Planen (von Abläufen, Prozessen,…) Systeme und Prozesse analysieren Vernetzen / Beziehungen herstellen Bewerten • Für die Naturwissenschaften sind diese Kompetenzen selbstverständlich (Physik: Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation, Bewertung) • Für Mathe lassen sie sich notfalls auch bei K1-K6 mitdenken, trotzdem ist es sinnvoll, diese pointierter auszubringen 5 Mathematik = Wissenschaft von Strukturen und ihren Veränderungen Vernetzen Planen EXPERIMENTIEREN Math. Argumentieren /Beweisen Problemlösen Darstellen & Kommunizieren Modellieren Analysieren Bewerten 6 Warum Experimente? • Experimente sind prototypische Handlungssituationen mit Kompetenzanforderungen – Planung des Experiments – Durchführung – Auswertung / Analyse – Schlussfolgerung / Vernetzung der Erkenntnis • Experimente sind eine charakteristische Methode für alle MINT-Fächer – Auch für die Mathematik! 7 Der Experimentbegriff • Ein Experiment ist durch Hypothesen geleitetes, planvolles und kontrolliertes Handeln mit Objekten zum Zweck der Erkenntnisgewinnung durch Beobachtung. (Ludwig&Oldenburg 2007) 8 Experimente und Kompetenzen • Verschiede Arten von Experimente • Daten gewinnen – beschreiben : Modellieren – Häufig: Naturgesetz • Verhalten entdecken – erklären : Argumentieren – Häufig: gesetzte Regeln • Frage entscheiden : Planen und Begründen • Experimentieren mit einer Simulation : Mathematische Darstellungen und Vernetzen 9 Experiment 1: Ergebnis • Phänomen: Linearisierung • Erklärung: – Maus bestimmt Position sehr oft (>10 mal pro Sekunde) – Kleines Bewegungsstück ist nahezu linear – Die Maus sieht deswegen nur eine Bewegung in einer Dimension • Lokale Linearisierung • Gibt es das sonst noch? 10 Lokale Linearisierung • Wieso funktioniert ein Wipp-Schleuder so gut? • Modellierung (lokale Linearisierung) • Berechnung: Strahlensatz 11 Lokale Linearisierung • Wie muss der Basketball fliegen? [Weigand, Ludwig, ...] 12 Lokale Linearisierung 13 Lokale Linearisierung • Einsatz dieser Experimente z.B. … • In der Sek I als Propädeutik der Analysis • Nach der Einführung der Differentialrechnung zur Vernetzung • Für den Einstieg in die Differentialrechnung schlage ich dagegen vor: 14 Ein experimenteller Zugang zur Ableitung • Analysisunterricht vermittelt zu oft nur den Kalkül, ohne Bedeutung und Sinn • Experimente zur Ableitung sollen verschiedene Grundvorstellungen (Tangente, Änderungsrate, lineare Approximation) vernetzen • Lernen an Stationen, erprobt in Klasse 11(G9) 15 Station 1: Steigungsmessung an Schablonen • • • • Arbeitsaufträge Steigung an Funktionsgrafmodellen an verschiedenen Stellen möglichst genau messen Konvexen Abschnitt [Tangente] oder konkaven Abschnitt [Sekante] verwenden? Wahl von kurzer oder langer Sekante? Berechnung aus Funktionsgraph? HTML5-Applet Grundvorstellungen • Mittlere und punktuelle Steigung • Sekante/Tangente • Differenzenquotient 16 Station 2: Murmelrollbahn Arbeitsaufträge • Legostein so positionieren, dass er getroffen wird • Berechnung aus Funktionsgraph? • Für zweite Murmelbahn mit bekanntem Funktionsgraph: Berechnungsstrategie notwendig Grundvorstellungen • Lineare Approximation • Approximation durch Differenzenquotienten 17 Station 3: Rutschen im Parabolspiegel Arbeitsaufträge • Bestimmung des Winkel, ab dem ein Legostein auf einer schrägen Glasplatte rutscht • Vorhersage der Stelle, ab der der Stein im Parabolspiegel rutscht Grundvorstellungen • Mittlere Steigung • Differenzenquotient • Sekante/Tangente 18 Station 4: Spiegelkonstruktion • Spiegelkonstruktion der Normalen • Isoliert wäre dies kontraproduktiv, da nur auf einen Punkt fokussiert • Im Kontext: Graph sieht lokal fast gerade aus • Nachteil: Kein Hinweis auf Berechnung Grundvorstellungen • Lokale Richtung/Geradlinikeit 19 Station 5: Physikunterricht • Im Physikunterricht: Geschwindigkeit eines beschleunigten Wagens messen • Ergebnis ist eine Tabelle aus t- und xWerten • Methodische Alternativen: – Videoanalyse – Bewegungsanalyse mit Ultraschallsensor Grundvorstellung: • Differenzenquotient 20 Ideen für weitere Stationen Geländesteigung aus Höhenangaben ermitteln Vorteil: Anders als bei Profilbildern sieht man nichts, ohne zu rechnen Grundvorstellung: Differenzenquotient (Richtungsableitung) 21 Koordinatensystem • Experimente für die „Kleinen“? • Experimente mit weniger Materialaufwand • Beispiel: Koordinatensystem, ein Arbeitsblatt 24 Koordinatensystem 25 26 Koordinatensystem • Vorteile dieses Zugangs • Die dualen Richtungen: Punkt Koordinaten und Koordinaten Punkt werden von Anfang an integriert • Mit Koordinaten kann gerechnet werden: Erste Erfahrung zur algebraischen Geometrie – Mittelwert = Wert in der Mitte = Mittelpunkt • Schüler werden (hoffentlich) ermutigt, Vermutungen zu äußern, Hypothesen zu formulieren 27 Experimentieren mit Termstrukturen • Mathematische Strukturen gehören nicht zu den aktuell gut umsorgten Themen der Mathematik 28 Experimentieren mit Termstrukturen 29 Experimentieren mit Termstrukturen • Ziele hier: – – – – Notwendigkeit für das Aufschreiben von Termen Eindeutigkeit der Darstellung einer Berechnung Notwendigkeit von Klammern Termbäume entdecken • Kalkül kommt von den Kalksteinchen – Spielerisches, experimentelles Vorgehen liegt nahe • Ansammlung blauer Plättchen. Austauschregeln: – Für jedes blaue Plättchen gibt es drei rote (Multiplikation) – Für je drei blaue Plättchen gibt es ein gelbes (Division mit Rest) 30 Methodik: Experimentalisieren von Fragen • • Napierstäbe als historisches Hilfsmittel zur Multiplikation werden in einigen Schulbüchern behandelt Bsp. aus LS 5 31 Methodik: Experimentalisieren von Fragen • Nachteil dieser Form: Viel Vermittlung, wenig Eigenaktivität • „Napierplättchen“: Vorderseite, Rückseite • Für die Multiplikationsaufgabe 5934 legt man: • • Wie liest man ab? Erstelle Blättchen zur Multiplikation mit anderen Zahlen? Wie multipliziert man, wenn beide Faktoren mehrstellig sind? • Antworten • 5934= 32 Flächeninhalt und Umfang 33 Jg. 9: Experiment: Strom einer Solarzelle • Kurzschlussstrom als Maß für Lichtintensität folgt einem cosGesetz Erklärung durch Projektion • y 2.6 2.4 2.2 2.0 1.8 1.6 1.4 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 x R. Oldenburg: Mathematik, Realität und Experimente Geometrische Experimente • Klassiker nicht vergessen! – Schwerpunkt des Dreiecks – Gelenkmechanismen Andere Streckfaktoren! Zufälliges Probieren vs. theoriegeleitetes Modifizieren 35 Einparken • Jürgen Roth hat die Mathematik des Einparkens mit Schülern untersucht – Wie lange muss ein Parklücke sein, wenn man optimal einparkt? – Was heißt überhaupt Optimal • Auf dem Weg zur Antwort – Wendekreis – Bahnen aufzeichnen (Bobbycar) Experimente zu Funktionen • Wie viele Nägel sind in einer Packung? Kann man das auswiegen? (Quelle: Astrid Beckmann, ml 141) – Experimentelle Lösung einer authentischen Fragestellung – Ein Nagel zu leicht, also besser eine größere Anzahl messen und Dreisatz – Denken in Proportionen – Genauigkeitsüberlegungen Algebraische Experimente • Das Water-Flask-Problem • Becker, Jerry P. / Shimada, Shigeru: The Open-Ended Approach: A New Proposal for Teaching Mathematics. The National Council of Teachers of Mathematics, Inc. 1997 • Beitrag des Buches: Popularisierung von offenen Aufgaben • Ein Hauptbeispiele des Buchs: Modellierung von Wasserständen in schrägen Gefäßen • Examensarbeit von Roman Lange „Experimenteller Zugang zu Gleichungen in Klasse 8 der Realschule – eine qualitative Erhebung“, PH Heidelberg 2008. • Algebraische Experimente • Kippen über eine Kante. • Welche Größen für weitere Beobachtungen in Betracht zu ziehen sind. • Mögliche Fragestellungen wären: – – – – – – Gibt es Größen und Formen, die sich beim Kippen des Gefäßes ändern? Welche sind dies? Wie ändern sie sich? Gibt es Größen und Formen, die sich beim Kippen des Gefäßes nicht ändern? Welche sind dies? Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen bestimmten Größen und Formen? – Gibt es bestimmte Beziehungen zwischen verschiedenen Größen und Formen? – Gibt es Regelmäßigkeiten? Algebraische Experimente • Mögliche Beobachtungen bei diesem Versuch: – x + 2y = konstant (AA´ + BB´ + CC´ = konstant) – M und N sind fixe Punkte, ihre Verbindungslinie ein fixes Element – Die Form der Wasseroberfläche ist immer ein Dreieck Algebraische Experimente • 8. Realschulklasse, eine Woche; Vorund einen Nachtest mit Aufgaben zu linearen Gleichungen und zu Aufgaben der Art: – Erstelle einen Term zur Berechnung des Umfangs U der folgenden Figur. ( U= …) – Berechne den Umfang U für x=2. • Ergebnis: Höhere Leistungszuwachs als Parallelklasse Algebraische Experimente • Wichtig generell bei Experimenten: – Erst Größen klären: Was ist interessant? Was relevant? – Erst Abhängigkeiten klären, Hypothesen aufstellen: Was wird passieren? (zB: Was wächst, wenn …) – Messverfahren klären – Experiment durchführen, Datensammeln – Auswerten, Theoriebildung – Messgenauigkeit und Modellgenauigkeit reflektieren – Werte vorhersagen – Verallgemeinern Algebraische Experimente Experimente und Modellbildung • Viele Beispiele bisher zeigen zwei mögliche Beziehungen von Experimentieren und Modellieren • Möglichkeit 1: Das Experiment als Realsituation bei dem die Idealisierung startet und an dem auch eine Validierung des Modells möglich ist • Möglichkeit 2: Ausgehend von einer mathematischen Struktur (zB Napierstäben) wird ein Experiment entwickelt, das die Theorie veranschaulicht – Das Experiment ist dann ein materielles Modell einer mathematischen Situation 44 Töne modellieren • Reine Töne sind Sinusschwingungen, z.B. – Amplitude * sin(2ft) – 0,5*sin(2*400*t) • Töne können mit Funktionen modelliert werden – zB lauter werden, höher werden .... • Töne addieren führt zu Schwebungen • Ausprobieren mit /home/oldenburg/Projekte/webAU/index.html Applet auf meiner Homepage 45 Experimente mit digitalen Bildern • Binsenweisheit: Computer stellen alles durch Zahlen dar • Helligkeit: z. B. Zahlen 0 (schwarz) …. 255 (weiß) • Graustufenbilder sind Matrizen (Koordinatensystem; Malen nach Zahlen) 46 Experimente mit digitalen Bildern • Veränderung der Pixelhelligkeit durch Anwenden einer Funktion: Ausprobieren mit Applet • Mögliche Aufträge zum Ein-Pixel-Applet: – – – – – – Helligkeit erhöhen, verringern Kontrast erhöhen, verringern Negativbilder SW-Bilder Was bewirken (x-20)^4 oder 16*x^0,5 oder 255-10000/x ? Ein Partner verändert Bild z.B. (255-x/2), der andere versucht, sie rückgängig zu machen (Umkehrfunktion) • RGB-Farben 47 Experimente mit digitalen Bildern • Geometrische Transformationen – Mögliche Aufträge dazu: – – – – – – – – – Verschieben Vergrößern, verkleinern Scheren Spiegeln Rotieren Was bewirkt x‘=x, y‘=y+30*sin(y/20) ? Was bewirkt x‘=x, y‘=x*y/100 – und warum? Was bewirkt x‘=x+y/2, y‘=y+x/2 – und warum? Was bewirkt x’=x+(x-160)*sqrt((x-160)^2+(y-160)^2)/300 y’=y+(y-160)*sqrt((x-160)^2+(y-160)^2)/300 ? • Wie auch bei den anderen Beispielen auch Übungen ohne PC möglich: Wie verändern Transformationsterme das Bild? 48 Experimente mit digitalen Bildern • Geometrische Transformationen – Mögliche Aufträge dazu: – – – – – – – – – Verschieben Vergrößern, verkleinern Scheren Spiegeln Rotieren Was bewirkt x‘=x, y‘=y+30*sin(y/20) ? Was bewirkt x‘=x, y‘=x*y/100 – und warum? Was bewirkt x‘=x+y/2, y‘=y+x/2 – und warum? Was bewirkt x’=x+(x-160)*sqrt((x-160)^2+(y-160)^2)/300 y’=y+(y-160)*sqrt((x-160)^2+(y-160)^2)/300 ? • Wie auch bei den anderen Beispielen auch Übungen ohne PC möglich: Wie verändern Transformationsterme das Bild? 49 Experimente mit digitalen Bildern • Kombination von Bildern: – Summen: Transparenz – Differenzen: Unterschiede feststellen – Sanfte Übergänge • Für den Mathematikunterricht sind ebenfalls lohnend, aber bisher noch nicht als Applet aufgearbeitet: – Perspektive – 3D-Bilder (Anaglyphen; Rot-Grün-Brillen) – Erkennen von Geraden und Kreisen in Bildern 50 Fazit • Kompetenzen sind umfassende Persönlichkeitsmerkmale und lassen sich schlecht in isolierten Situationen fördern • Ernsthafte Kompetenzorientierung sollte daher m.E. die Fächergrenzen sprengen und Experimente sind ein Weg dazu • Wird damit alles besser? – Diskussion! 51
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