Top down oder Bottom up in die Cloud?

Technik
2015 – 19
Top-down-Cloud-Strategie
Top down oder Bottom up
in die Cloud?
Die Möglichkeiten des Cloud Computing
für ein Unternehmen werden analysiert
und daraus ein konkreter Use Case
abgeleitet.
Wenn CIOs eine Cloud-Strategie planen, haben sie zwei Alternativen. Entweder sie gehen von den Möglichkeiten der Cloud-Technologien aus und entwickeln ganz neue Anwendungen, die diese nutzen. Oder sie transferieren ihre
Legacy-Applikationen in die Wolke. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung.
Von René Büst,
Senior Analyst bei
Crisp Research
M
it dem stetig steigenden Reifegrad
der Cloud wird die Frage nach den
geeigneten Anwendungsfällen immer spannender. Nachdem Unternehmen wie
Pinterest, Airbnb, Foursquare, Wooga, Netflix
und andere gezeigt haben, wie sich Cloud-Infrastrukturen und -Plattformen nutzen lassen,
um neue und teils disruptive Geschäftsmodelle
zu verwirklichen, liebäugeln nun auch klassische Unternehmen und ihre CIOs damit, sich
die besonderen Eigenschaften der Cloud zunutze zu machen. Das Problem: Die vorhandenen Legacy- beziehungsweise Enterprise-Applikationen lassen sich in ihrer jetzigen Form
nicht so einfach in die Cloud überführen. Für
Entscheider steht damit die Frage im Raum, ob
sie eine Top-down- oder Bottom-up-Strategie
verfolgen sollen.
Um ein Verständnis für den Einfluss des Cloud
Computing auf die Unternehmensstrategie zu
erhalten, lassen sich folglich zwei Ansätze nutzen: Beim Top-down-Ansatz analysieren die
Verantwortlichen die Möglichkeiten des Cloud
Computing für ihr Unternehmen und definieren darauf aufbauend einen konkreten Use
Case. In diesem Fall ermöglicht Cloud Computing erst den innovativen neuen Ansatz, anschließend wird auf dieser Basis die konkrete
Cloud-Strategie erstellt.
Genau anders herum funktioniert der Bottomup-Ansatz: Ein bereits existierender Use Case
wird mit den Möglichkeiten des Cloud Computing neu umgesetzt. In diesem Fall wird also
analysiert, wie die Cloud helfen kann, die Anforderungen eines Use Case bestmöglich zu
unterstützen. Daraus leitet sich dann die jeweilige Cloud-Strategie ab.
Use Case
Zwei Wege – ein Ziel: Top-down-
Top-down-Ansatz ist disruptiv
Der Top-down-Ansatz bringt in der Regel neue
Geschäftsmodelle oder disruptive Ideen hervor. Die Entwicklung erfolgt vollständig auf
der grünen Wiese, macht sich modernste Technologien zunutze und bleibt meistens Innovatoren vorbehalten. Der Bottom-up-Ansatz verfolgt das Ziel, ein bestehendes System oder
eine vorhandene Applikation in die Cloud zu
überführen oder dort neu zu entwickeln. Hier
geht es primär darum, eine bereits existierende IT-Ressource zu retten und bestenfalls zu
optimieren.
Migration von Enterprise-Applikationen
Die meisten Unternehmen verfolgen eine Bottom-up-Strategie, um möglichst schnell von
den Vorzügen der Cloud zu profitieren. Hier
steckt der Teufel jedoch im Detail. Legacy- oder
klassische Enterprise-Applikationen sind nicht
für den Betrieb in verteilten Infrastrukturen,
also Cloud-Infrastrukturen, entwickelt worden.
Diese Anwendungen skalieren zunächst einmal nicht „in die Breite“ (Scale-out), sie überstehen maximal einen Scale-up auf einem ein-
Foto: Büst
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Use Case
cieren. Um Governance- und ComplianceRichtlinien zu erfüllen, sind Unternehmen ja
darauf angewiesen, die Daten unter Kontrolle
zu halten und Cloud-Services bei Bedarf in
einem Hybrid-Cloud-Modell darauf zugreifen
zu lassen.
Bottom-up-Cloud-Strategie
Analysiert wird, wie Cloud
Computing helfen kann,
einen bestehenden konkreten
Use Case bestmöglich
umzusetzen.
Quelle: Crisp Research AG
versus Bottom-up-Cloud-Strategie.
zigen System, indem zum Beispiel mehrere
Java-Threads verwendet werden. Wenn dieses
System ausfällt, ist die Applikation nicht mehr
verfügbar.
Anwendungen, die in der Cloud betrieben werden sollen, müssen deshalb die Eigenschaften
der Cloud berücksichtigen und dafür entwickelt werden. Doch dafür fehlt es den Unternehmen weithin an geeignetem Personal mit
den notwendigen Cloud-Skills. Zudem beschäftigen sich Unternehmen intensiv mit dem Thema der „Data Gravity“. Dabei geht es um die
Unbeweglichkeit der Daten – entweder weil die
Datenmenge zu groß ist, um sie in die Cloud zu
verlagern, oder weil rechtliche Rahmenbedingungen es erforderlich machen, sie im eigenen
Besitz zu behalten.
Sowohl das fehlende Cloud-Wissen als auch
die Data Gravity haben die IT-Hersteller erkannt. Sie versuchen, mit neuen Lösungen die
Bottom-up-Strategie zu unterstützen. So ermöglicht es Netapp mit seinem „Private Storage“ für Unternehmen, die Data Gravity zwischen Public-Cloud-Services und dem eigenen
Kontroll-Level möglichst optimal auszubalan-
Die Daten befinden sich in diesem Szenario
nicht unmittelbar in der Cloud des Anbieters.
Stattdessen greifen die Cloud-Services während der Verarbeitung über eine direkte Verbindung auf die Daten zu. Der Netapp Private
Storage ermöglicht dieses Szenario in Kooperation mit den Amazon Web Services (AWS).
Damit lassen sich beispielsweise Amazon-EC2Instanzen nutzen, die auf die Daten in einem
Colocation-Rechenzentrum von Equinix mittels einer dedizierten AWS-Direct-Connect-Verbindung zugreifen.
Wenn Daten zurückkommen sollen
Eine weitere Herausforderung mit nicht Cloudfähigen Enterprise-Applikationen in der Public
Cloud besteht, wenn die Daten die Cloud eines
Anbieters wieder verlassen sollen. Das liegt
daran, dass Cloud-native Speichertypen (Object
Storage, Block Storage) nicht mit gängigen
On-Premise-Speicher-Kommunikationsprotokollen (iSCSI, NFS, CIFS) kompatibel sind.
„Net-app Cloud ONTAP“ versucht hierfür (in
Kooperation mit Amazon AWS) Abhilfe zu
schaffen. Als eine Art NAS-Storage werden die
Daten verschlüsselt auf einer Amazon-ElasticBlock-Storage-(EBS-)SSD gespeichert. Cloud
ONTAP dient in diesem Fall als Storage-Controller und sorgt für den Zugriff von nicht
Cloud-fähigen Enterprise-Applikationen auf
die Daten. Durch die Kompatibilität mit bekannten Kommunikationsprotokollen lassen
sich die Daten ebenfalls einfacher bewegen.
VMware richtet sich mit vCloud Air gezielt an
Unternehmen mit bestehenden Enterprise-Applikationen. Die „vCloud Air Public Cloud Platform“ basiert auf der vSphere-Technologie und
ist kompatibel zu On-Premise-vSphere-Umge-
bungen. Damit lassen sich vorhandene Workloads und virtuelle Maschinen auf die VMware
Public Cloud und wieder zurück in die eigene
IT-Infrastruktur verschieben.
Profitbricks versucht Unternehmen mit dem
Konzept des „Live Vertical Scaling“ zu unterstützen. In diesem Fall lassen sich einzelne virtuelle Server im laufenden Betrieb vertikal um
weitere Ressourcen – etwa die Anzahl an CPUKernen oder RAM – erweitern, ohne einen Neustart des Servers vorzunehmen. Ohne Anpassung der betriebenen Applikation lässt sich
damit die Leistung eines virtuellen Servers erhöhen. Gute Erfahrungen wurden insbesondere
mit dem LAMP-Stack (Linux, Apache, MySQL,
PHP) gemacht, da beispielsweise eine MySQLDatenbank ohne weitere Anpassungen und
einen Neustart des Systems die neuen Ressourcen erkennt und in der Lage ist, die hinzugefügte Leistung direkt zu nutzen. Um das zu
ermöglichen, hat Profitbricks auf Betriebssystem- und Hypervisor-Ebene Modifikationen
vorgenommen, die für den Nutzer jedoch
transparent bleiben. Dieser muss lediglich ein
zur Verfügung gestelltes Referenz-Betriebssystem-Image einsetzen, das die Live- VerticalScaling-Funktionalität beinhaltet.
Ein ausgewählter Bottom-up-Use-Case von
Enterprise-Applikationen in der Public Cloud
findet sich unter anderem bei AWS. Er zeigt allerdings auch, dass Systemintegratoren in der
Cloud wichtiger werden. Die Hotelkette Kempinski hat Großteile ihrer Kernanwendungen
und Abteilungen, darunter Finanzen, Buchhaltung und den Schulungsbereich, auf die AWSInfrastruktur migriert. Zusammen mit dem
Systemintegrator Cloudreach hat Kempinski
hierzu eine VPN-Verbindung aus dem eigenen
Rechenzentrum in Genf zur Amazon Cloud aufgebaut, über welche die 81 Hotels weltweit nun
mehrheitlich versorgt werden. Kempinski
plant zudem die vollständige Schließung des
eigenen Rechenzentrums und damit eine hundertprozentige Überführung seiner IT-Infrastruktur in die Public Cloud.
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Fazit
Top-down: Start auf der grünen Wiese
Ob sich ein Unternehmen nun für
eine Top-down- oder Bottom-upCloud-Strategie entscheidet,
hängt von der individuellen Situation und dem aktuellen Wissensstand ab. Fakt ist, dass Varianten
helfen, die IT-Infrastruktur, die ITOrganisation und das gesamte
Unternehmen agiler und skalierbarer zu gestalten. Allerdings
entstehen nur mit einem Topdown-Ansatz Innovationen und
neue Geschäftsmodelle. Jedoch
muss man auch berücksichtigen,
dass für die Entwicklung und den
Betrieb bestimmter Plattformen –
Beispiel Netflix – ein ausgezeichnetes Verständnis von Cloud-Architekturen vorhanden sein muss,
das es im Markt noch selten gibt.
Im Gegensatz zum Erhalt von EnterpriseApplikationen steht der Neustart auf der grünen Wiese: die Top-down-Strategie. In diesem
Fall wird eine Applikation oder ein ganzes
Geschäftsmodell vollständig neu entwickelt,
wobei die Eigenschaften der Cloud möglichst
weitgehend genutzt werden. Man spricht in
diesem Zusammenhang auch von einer Cloudnativen Applikation, die die Skalierbarkeit und
Hochverfügbarkeit von Beginn an berücksichtigt. Diese Anwendung ist eigenständig in der
Lage, weitere virtuelle Maschinen hochzufahren, wenn mehr Leistung benötigt wird (Skalierbarkeit), beziehungsweise die nicht mehr
benötigten virtuellen Maschinen auch selbständig wieder herunterzufahren.
Abhängig von ihrer Strategie und
insbesondere im Hinblick auf das
Internet of Things (IoT) und die
dafür notwendige Digital Infrastructure Fabric (DIF) sollten sich
Unternehmen intensiv mit CloudInfrastrukturen beschäftigen. Diese bieten die idealen Voraussetzungen für den Backend-Betrieb
von IoT-Lösungen sowie für den
Austausch mit Sensoren, Embedded Systems und mobilen Applikationen. Weiterhin stehen bei einigen wenigen Anbietern bereits
unterstützende High-Level-Services für die Entwicklung zur Verfügung, die die Time-to-Market verkürzen können. Mit einer weltweit
umspannenden Infrastruktur von
Rechenzentren hilft die globale
Skalierbarkeit zudem, schnell in
neue Ländermärkte zu expandieren.
Genauso verhält es sich, wenn eine virtuelle
Maschine in einen fehlerhaften Zustand gerät.
Auch hier sorgt die Anwendung selbst dafür,
dass entsprechend eine virtuelle Maschine als
Ersatz hochgefahren wird und die defekte Maschine aus dem System verschwindet (Hochverfügbarkeit). Die Anwendung ist daher in der
Lage, auf jeder beliebigen virtuellen Maschine
(VM) einer Cloud-Infrastruktur zu funktionieren. Das liegt unter anderem daran, dass jederzeit eine VM ausfallen kann und eine andere
neu hochgefahren werden muss. Hinzu kommt,
dass die Daten, die von einer Anwendung verarbeitet werden, sich zwangsläufig nicht mehr
an einem einzigen Ort befinden, sondern über
die Cloud hinweg verteilt gespeichert sind.
Dieser Komplexität sind sich Startups und innovative Unternehmen bewusst, wie die folgenden Top-down-Beispiele zeigen:
D Amazon Web Services und Netflix
Netflix gehört zu den prominentesten Use Cases in der Amazon-Cloud. Der VideostreamingDienst macht sich die Eigenschaften der Cloud
bis ins kleinste Detail zunutze, was mit einer
hohen Verfügbarkeit und Performanz belohnt
wird. Als einer der Pioniere auf der Amazon-Infrastruktur hat Netflix von Beginn an eigene
Tools – Netflix Simian Army etwa – geschrieben, um die Komplexität zu beherrschen. Doch
innovative Geschäftsmodelle werden nicht nur
in der Public Cloud umgesetzt. Außerdem
bleibt der „Grüne-Wiese-Ansatz“ nicht nur
Startups vorbehalten.
D T-Systems und Runtastic
Runtastic ist ein Anbieter von Apps für Ausdauer, Kraft, Gesundheit, Wellness und Fitness
und hilft den Nutzern, ihre Gesundheits- und
Fitnessziele zu erreichen. Das Unternehmen
wächst rasant. Nach 100.000 Downloads im
Jahr 2010 und 50 Millionen Downloads 2013
haben die Download-Zahlen mittlerweile die
110-Millionen-Grenze überschritten. Runtastic
zählt weltweit 50 Millionen Nutzer. Das Unternehmen hat sich aus technischen Gründen
für T-Systems entschieden und betreibt seine
Infrastruktur in zwei Rechenzentren in einem
Colocation-IaaS-Hybridmodell.
D Claranet und Leica
Mit dem „Leica Fotopark“ hat der Kamerahersteller Leica im vergangenen Jahr einen Online-Fotodienst für die Verwaltung und Bearbeitung sowie das Drucken und Teilen von
Fotos veröffentlicht. Für die Entwicklung und
den Betrieb der Infrastruktur ist der ManagedCloud-Anbieter Claranet zuständig, der den
Leica Fotopark auf einer Scale-out-Umgebung
aus einer Converged Infrastructure und einem
Software-defined Storage betreibt. Als agiles
Betriebskonzept wird hier zudem auf ein Dev(hv)
Ops-Modell gesetzt.