Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial 17. April 2015 D U R C H B R U C H B E I H E P AT I T I S C V E R L I E R E R P AT I E N T E N B E T R E U U N G B I G D ATA – N E U E H O R I Z O N T E Michael Manns im Gespräch über neue Kombinationstherapien, die eine Heilung möglich machen. Seite V3 Starke Ökonomisierung und Prozessorientierung haben in Kliniken negative Folgen. Seite V4 Hasso Plattner im Gespräch über die Potentiale der In-Memory-Technologie in der Medizin. Seite V8 FOTO ISTOCK.COM/BAHADIRTANRIOVER Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg Is sa volenimus dolendio. Modi aut et ea nis apelluptur aborporest, volorit amendi te si ut aut quodisit et voluptu repudaest officiur aut occabor rem sam quam facest, tem idiae aut alistem el ipsum reptatq uaturem des plaborem. FOTO MAX MUSTERMANN Perspektiven für die Gesundheitsversorgung Die Möglichkeiten medizinischer Behandlungen sind von immer kürzeren Innovationszyklen geprägt. Ein intensiverer Dialog zwischen Ärzten und Patienten kann bessere Ergebnisse erzielen und langfristig das hochwertige deutsche Gesundheitswesen sichern. Von Michael Hallek D as deutsche Gesundheitswesen ist eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Wie viele Gesundheitssysteme in Mitteleuropa ist es auf dem Solidarprinzip aufgebaut. Häufig wird vergessen: Deutschland wird in vielen Ländern der Welt beneidet um seine Gesundheitsversorgung, deren Finanzierung auf Grundlage der Bismarckschen Sozialgesetzgebung seit mehr als 130 Jahren entwickelt wurde. Innovationen bedeuten Veränderung Alle komplexen Organisationen müssen sich verändernden Markt- und Rahmenbedingungen anpassen, um ihre zukünftige Überlebensfähigkeit zu sichern. Dies gilt auch für das deutsche Gesundheitssystem: Es ist fortlaufend auf seine Funktionsfähigkeit hin zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wenn die Gesundheitsversorgung dauerhaft und hochwertig genutzt werden soll, sind die ver- antwortlichen Akteure in der Pflicht, sich Veränderungen – wie medizinische Innovationen, zunehmend mündige Patienten oder Fortschritte der Informationstechnologie – zu stellen und das Gesundheitswesen daran anzupassen, es fit für die Zukunft zu machen. Dies ist vor allem deshalb nötig, weil heute durch den medizinischen Fortschritt ein so umfangreiches medizinisches Leistungsspektrum bereitsteht, dass dessen ungezielte Nutzung die Sozialsysteme überfordern und bisweilen sogar die Gesundheit der Patienten gefährden könnte. Die breite Nutzung des Leistungsangebots wird im Gesundheitswesen durch ein Vergütungssystem begünstigt, das sich primär an Leistungserbringung anstelle von Qualitätsergebnissen orientiert. In der Regel wird für mehr Leistung auch mehr erstattet. Außerdem werden die Kosten meist von einem Dritten gezahlt, den Krankenversicherungen. Diese Faktoren wirken somit einem sinnvollen und sparsamen Ressourceneinsatz entgegen: Es gibt relativ wenig Anreize, medizinische Leistungen zu unterlassen. In Nordamerika hat daher eine Debatte zur Überversorgung im Gesundheitswesen begonnen. Im Jahre 2011 gründete das American Board of Internal Medicine (ABIM) die Initiative „Choosing Wisely“ mit dem Ziel, eine Qualitätssicherung des Gesundheitswesens zu fördern, indem es den Dialog zwischen den Leistungserbringern und den Patienten stimuliert. Choosing Wisely oder klug entscheiden Die zuständigen Fachgesellschaften sprechen Empfehlungen aus, die evidenzbasiert sind, also auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen beruhen. Die in kurzen Listen zusammengefassten Maßnahmen sollen Leistungserbringer und Patienten anregen, notwendige und mögliche Verfahren und Behandlungen zu hinterfragen. In USA ist daraus bereits eine befruchtende Debatte zwischen den beteiligten Akteuren entstanden. Zur Veranschaulichung hilft auch ein Blick in andere Länder. Die kanadische Vereinigung der Radiologen veröffentlichte eine Schätzung, wonach 30 Prozent der im kanadischen Gesundheitswesen durchgeführten Bildgebung unnötig sind. Auch in der Hämatologie und Onkologie wird derzeit unter Experten die zu häufige Anwendung bildgebender Verfahren kritisch diskutiert, beispielsweise bei der chronischen lymphatischen Leukämie die Durchführung von Computertomographien zur Verlaufsbeurteilung. Geachtete Fachgesellschaften, wie das „American College of Radiology“, haben deshalb Kriterien zur Sinnhaftigkeit von bildgebenden Untersuchungen entwickelt. Als Beispiele für eine potentielle Übernutzung des Gesundheitswesens gelten auch Krankenhauseinweisungen bei chronisch Kranken anstelle ambulanter Therapie, Verordnung von Antibiotika für banale Infekte, oder – wieder in den USA – manche Stent-Implantation bei Verengungen der Herzkranzgefäße. Diese Beispiele belegen, wie sinnvoll und notwendig es ist, dass Ärzte und Patienten eine konstruktive Debatte über die Sinnhaftigkeit von medizinischen Maßnahmen führen. Verantwortungsgefühl stärken Das möchte die DGIM-Initiative „Klug entscheiden“ fördern und damit ihren Beitrag leisten, die Qualität der medizinischen Versorgung langfristig zu sichern und die medizinischen Systeme fit für die Zukunft zu halten. Entscheidend wird das ökonomische Verantwortungsgefühl der im Gesundheitswesen tätigen Leistungserbringer sein. Ansonsten ist ein Gegensteuern des Gesetzgebers oder der Kostenträger unvermeidlich. Denn auch in Zukunft sollten Ärzte gemeinsam mit ihren Patienten eigenständig entscheiden können, welche medizinischen Maßnahmen für den jeweiligen Einzelfall sinnvoll sind. Professor Dr. med. Michael Hallek, Direktor Klinik I für Innere Medizin Centrum für Integrierte Onkologie Köln-Bonn, Universität zu Köln EDITORIAL Von Anna Seidinger Kommunikation ist elementar: Zwischenmenschliche Beziehungen und Organisationen funktionieren nur, wenn die Beteiligten untereinander im Austausch stehen. Das gilt besonders für das wichtige Thema Gesundheit. Die kleinste Einheit, die Arzt-PatientenBeziehung, kennt jeder im Krankheitsfall. Da medizinische Behandlungen komplex sein können, schätzen Patienten Ärzte ihres Vertrauens. Doch ökonomisch orientierte, die Gesundheit nicht nachweislich förderliche Behandlungen belasten diese für den Heilungsprozess wichtige Beziehung. Immer mehr Mediziner fühlen sich von ihren kaufmännischen Abteilungen zu den teuersten und nicht mehr zu den besten medizinischen Behandlungen für ihre Patienten gedrängt. Diese Entwicklung zu erkennen ist wichtig. Nun ist die Kommunikationsfähigkeit aller Akteure im Gesundheitswesen gefordert, um qualitätssichernde Lösungen zu entwickeln. V2 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 A usbrüche multiresistenter bakterieller Erreger, gegen die kein oder kaum noch ein Antibiotikum sicher wirkt, sind das Ergebnis zweier gegenläufiger Entwicklungen: Einerseits fördert die breite human- und veterinärmedizinische Anwendung von Antibiotika die Selektion und Ausbreitung resistenter und multiresistenter Bakterien. Andererseits sind in den vergangenen fünf Jahrzehnten kaum Antibiotika mit neuen Wirkmechanismen zugelassen worden. Viele der großen Pharmaunternehmen haben ihre Forschungs- und Entwicklungsprogramme sogar komplett eingestellt. Multiresistente Erreger verursachen Schätzungen zufolge in Europa jährlich 25 000 Todesfälle. Die zeitnahe Entwicklung neuer Antibiotikaklassen ist weltweit zu einer forschungs- und gesundheitspolitischen Priorität geworden. Phasen der Wirkstoffentwicklung Die Entwicklung eines neuen antimikrobiellen Wirkstoffs von seiner Entdeckung bis zur Anwendung am Menschen gliedert sich wie bei allen Medikamenten in vier Phasen: die Grundlagenforschung, die präklinische Entwicklung, die klinische Entwicklung und die Zulassung. Zu Beginn werden bei der Anti- „Angesichts zunehmender Multiresistenzen wird die Verfügbarkeit alternativer Therapieoptionen wichtiger als die Steigerung der Wirksamkeit.“ biotikaentwicklung in der Forschungsphase durch Screening von Substanzbibliotheken Moleküle mit antimikrobieller Aktivität identifiziert und deren Wirkmechanismus charakterisiert. Es folgt die schrittweise Verbesserung ihrer pharmakologischen Eigen- Die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs beginnt in den Forschungslaboren der Universitäten und Unternehmen. Verschiedene präklinische und klinische Phasen sind zu durchlaufen, bis am Ende ein Medikament für den Patienten zugelassen werden kann. schaften zu Leitstrukturen und schließlich zu Wirkstoffkandidaten. Dieser Bereich der Forschung wird vor allem von akademischen Instituten und spezialisierten Biotechnologieunternehmen betrieben und dauert zwischen drei und fünf Jahren. In der ein- bis zweijährigen präklinischen Entwicklung werden Herstellungsverfahren für den Wirkstoffkandidaten entwickelt, pharmakologische Studien an isolierten Erregern und Tiermodellen durchgeführt und die regulatorisch erforderlichen Untersuchungen zur Toxikologie und Sicherheitspharmakologie abgeschlossen. Die anschließende klinische Entwicklung am Menschen erfolgt in drei Studienphasen. In mehrmonatigen Phase-I-Studien werden an zehn bis 80 gesunden Probanden Verträglichkeit, Sicherheit und pharmakokinetische Eigenschaften – nämlich Aufnahme, Verteilung, Abbau und Ausscheidung – des Wirkstoffs untersucht. Die darauf folgenden Phase-II-Studien dienen dem ersten Wirksamkeitsnachweis am Patienten, das heißt der Bestätigung des Therapiekonzeptes, und der Findung der geeigneten Dosis. Sie werden an 50 bis 200 Patienten durchgeführt und dauern mehrere Monate. Schließlich werden in mindestens zwei großangelegten mehrjährigen und multizentrischen PhaseIII-Studien mit mitunter Tausenden Patienten die für die Zulassung entscheidenden Daten zum Nachweis der Wirksamkeit sowie der Sicherheit des Arzneimittels erhoben. Nach erfolgreicher klinischer Prüfung kann die Marktzulassung eines Antibiotikums bei den regulatorischen Behörden beantragt werden. Der gesamte Entwicklungsprozess vom Beginn der Forschungsphase bis zur Zulassung erstreckt sich über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren, und der finanzielle Aufwand für die Entwicklung FOTO GINO SANTA MARIA, FOTOLIA.COM eines neuen antimikrobiellen Wirkstoffs wird, je nach Schätzung, mit über 800 Millionen Dollar beziffert. Dies macht deutlich, dass Innovation durch Forschung, Entwicklungsprozesse und Kapital zusammenkommen müssen, um ein neues Antibiotikum bis zur Marktreife bringen zu können. Herausforderungen der Antibiotikaentwicklung Die meisten heute auf dem Markt befindlichen Antibiotika stammen aus Mikroorganismen, nur wenige Ausnahmen sind synthetischen Ursprungs wie zum Beispiel Fluorchinolone und Oxazolidinone. Da die leicht zugänglichen, mengenmäßig überwiegenden Naturstoffe bereits in den 1940er und 50er Jahren entdeckt wurden, sind heute leistungsfähigere Kultivierungs-, Trenn- und Detektionsverfahren notwendig, um neue Leitstrukturen aus Naturstoffquellen identifizieren zu können. In der klinischen Entwicklung neuer Antibiotika ergeben sich besondere, für dieses Indikationsgebiet typische Studienanforderungen. Eine Besonderheit ergibt sich aus den vergleichsweise hohen Konzentrationen, in denen Antibiotika den Ort der Infektion erreichen müssen. Sie machen eine größere Anzahl von Phase-I-Studien notwendig, in denen unter anderem der Einfluss der Nahrung, anderer Medikamente sowie der Nierenfunktion auf den Wirkspiegel der Substanz untersucht wird. Die Zulassung eines neuen Antibiotikums erfordert bislang den Nachweis der statistischen Nichtunterlegenheit gegenüber dem Standardmedikament. An dieser hohen Anforderung sind in der Vergangenheit viele Entwicklungskandidaten gescheitert. Angesichts zunehmender Multiresistenz verändern sich jedoch die Prioritäten: Die Verfügbarkeit mehrerer alternativer Therapieoptionen wird wichtiger als die Steigerung der Wirksamkeit. Dementsprechend hat die europäische Zulassungsbehörde, European Medicines Agency, 2012 eine Richtlinie erlassen, nach der für ausgewählte multiresistente Erreger auch der Nachweis der Überlegenheit gegenüber einer Kontrollgruppe ausreichen soll. Aufgrund der rasanten Ausbreitung mulitresistener Keime ist dies ein wichtiger und notwendiger Schritt in Richtung der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Professor Dr. med. Martin Krönke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung G E B Ü N D E LT E K R Ä F T E F Ü R S C H N E L L E R E T R A N S L AT I O N Das Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierte 2011 das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF), einen interdisziplinären Zusammenschluss aus 32 naturwissenschaftlichen und klinischen Forschungseinrichtungen, um die Antibiotikaentwicklung auf verschiedenen Ebenen zu fördern. So wird die Forschung durch den Aufbau von Lehrstühlen und Ausbildungsangeboten sowie das Angebot gemeinsamer Technologieplattformen, zum Beispiel Substanzbibliotheken, einer Erregersammlung und einer zentralen Bioinformatik, vorangetrieben. Auf Ebene konkret geförderter Projekte kommen die notwendigen Expertisen der Wirkstoffforschung, der medizinischen Mikrobiologie und der Pharmakologie zusammen. Für die präklinische und klinische Entwicklung eines Wirkstoffs werden Kooperationen mit Biotechnologie- und Pharmaunternehmen aufgebaut. Außerdem wird industriellen und akademischen Forschern frühe regulatorische Beratung durch die zuständigen Bundesoberbehörden angeboten, um sicherzustellen, dass die Projektplanung von Anfang an auf eine spätere Produktzulassung ausgerichtet ist. Klinische Studien – Pharma-Allianz für Entwicklung und Patienten Nutzen und Herausforderungen Noch vor wenigen Jahren undenkbar: Große Pharmakonzerne kooperieren, um neue Wirkstoffe gemeinsam zu entwickeln. Das bedeutet geteilte Kosten für die teure Entwicklung, aber auch geteilte Märkte und Umsätze für die Medikamente. Die Fragen stellte Anna Seidinger. Neue Wirkstoffe durchlaufen vor ihrer Zulassung drei klinische Entwicklungsphasen. Patienten können dabei an den sogenannten klinischen Studien von Phase I bis III teilnehmen. Was müssen sie wissen, um zu profitieren? Von Britta Siegmund o s Ro set ti RC KK GA A Lu c ia n NACHGEFR AGT FO TO M noklonalen Anti-PD-L1-Antikörper voranzutreiben. Gleichzeitig wollen wir durch unsere Allianz Patienten mit unterschiedlichen Krebsarten zusätzliche neue Therapiemöglichkeiten eröffnen. Schließlich ergänzen sich Merck und Pfizer sich in ihrer weltweiten Präsenz. Durch die Kombination unserer Kenntnisse, Fähigkeiten und letztendlich auch dem Teilen des Entwicklungsrisikos wollen wir neue Therapien schneller zur Marktreife führen, um die weiteren Forschungs- und Entwicklungsaufgaben voranzutreiben. E Herr Rossetti, es ist auch heute noch ungewöhnlich, wenn zwei große forschende Pharmaunternehmen in ihrer Forschung, dem Herzstück von FuE-getriebenen Unternehmen, zusammenarbeiten. Welche strategischen Überlegungen stehen hinter der Zusammenarbeit von Merck und Pfizer? Dr. Luciano Rossetti: Sowohl für Merck als auch für Pfizer ist Immunonkologie von höchster Priorität. Die Allianz ermöglicht beiden Firmen, globale Ressourcen und Kompetenzen zu bündeln, um neuartige Möglichkeiten zur Krebsbehandlung zu entwickeln. Wir werden unser Wissen kombinieren, um gemeinsam die Entwicklung von einem nach den Ergebnissen erster Untersuchungen vielversprechenden mo- Wie werden Merck und Pfizer bei dieser Allianz zusammenarbeiten, um neue Immuntherapien für Krebspatienten verfügbar zu machen? Das Potential von Immuntherapien bei Krebspatienten ist ausgesprochen faszinierend. Diese neuartigen Behandlungsweisen setzen auf die Fähigkeiten unserer eigenen Immunsysteme und eröffnen die Chance auf längerfristige Remissionen und geringere Nebenwirkungen. Die Allianz von Merck und Pfizer profitiert dabei von dem gemeinsamen Portfolio von bereits genehmigten oder noch in der Entwicklung befindlichen Krebstherapien. Dies ermöglicht sowohl die Prüfung von Einzelwirkstoff-Therapien als auch die schnelle Untersuchung von möglichen Kombinationen. Wir hoffen, durch die Bündelung der Ressourcen und Expertise beider Unternehmen im Vertriebs- sowie im Forschungs- und Entwicklungsbereich ein ambitioniertes klinisches Entwicklungsprogramm zu beschleunigen, um den Patienten dringend benötigte Therapien bereitstellen zu können. Ausgehend von der breiten Palette der bereits genehmigten oder in der Entwicklung befindlichen Kandidaten, werden wir bei bis zu 20 klinischen Entwicklungsprogrammen hoher Priorität zusammenarbeiten, darunter auch Studien, bei denen die Ansprechraten auf Kombinationen mit unterschiedlichen Molekülen untersucht werden. D as Ziel klinischer Studien ist es, die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten, bestimmten Behandlungsformen oder medizinischen Interventionen nachzuweisen. Die Ergebnisse klinischer Studien bestimmen maßgeblich, ob ein Medikament für die Anwendung am Patienten zugelassen wird. Wissenschaft und Patienten profitieren Gerade die klinischen Studien im Vorfeld der Zulassung eines Medikaments erfordern hohe Investitionen. Können Sie uns Näheres über die gemeinsamen klinischen Entwicklungsprogramme der Allianz erzählen? Es gibt einen physiologischen Signalweg, der von den Krebszellen besetzt wird, um die normale Immunreaktion zur Abwehr von Krebs zu unterbinden. Dieser Pfad umfasst Moleküle, die als PD-L1 und PD-1 bezeichnet werden. Unser Wirkstoff ist ein in der Entwicklung befindlicher Anti-PD-L1Antikörper, der ursprünglich von Merck entdeckt und entwickelt wurde und für die Zusammenarbeit von Merck und Pfizer ein immunonkologisches Schlüsselelement im Kampf gegen diesen Signalweg darstellt. Im Rahmen der Kooperation zudem ein AntiPD-1-Antikörper von Pfizer in klinische Studien überführt. Dr. Luciano Rossetti, Executive Vice President, Global Head of Research & Development, Mitglied im Pharmaceutical Executive Committee von Merck Serono Patienten können im Rahmen einer klinischen Studie einen direkten Nutzen ziehen, wenn sie Zugang zu einem potentiell wirksamen, bislang nicht zugelassenen Medikament erhalten. Dies trifft insbesondere für Patienten zu, die an einer chronischen oder auch malignen Erkrankung leiden, für die keine weiteren oder nur eingeschränkte Therapieoptionen zur Verfügung stehen. In diesem Fall kann nach erfolgreichem Abschluss der Studie die Zulassung eines neuen Medikaments erfolgen. Studienteilnehmer haben gegebenenfalls von der neuen Therapie profitiert und zu der Zulassung einer neuen Therapiestrategie beigetragen. Daneben gibt es klinische Studien, die die Wirksamkeit zweier bereits zugelassener Medikamente oder auch unterschiedliche Abfolgen von medikamentösen Therapien miteinander vergleichen. Hierbei entsteht den Teilnehmern kein unmittelbarer Nutzen, jedoch sind diese Studien für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungspfade und damit für Verfassung von Therapieleitlinien unerlässlich. Damit haben die Ergebnisse dieser Studien direkte Auswirkungen auf die Therapie aller zukünftigen Patienten mit der betreffenden Erkrankung. Im dritten Fall, bei den sogenannten Beobachtungsstudien, werden die Patienten nach Standard behandelt und bestimmte Ereignisse dokumentiert, beispielswiese die systematische Erfassung von therapiebegleitenden Komplikationen. Die Teilnehmer leisten dabei einen wichtigen Beitrag, indem sie ihre Information zur Verfügung stellen. Daraus können Verbesserungen für zukünftige Therapiestrategien oder Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden. Grundsätzlich sollten möglichst viele Patienten in klinische Studien eingeschlossen werden, um perspektivisch bessere Therapiepfade entwickeln zu können. Patienten in den Mittelpunkt stellen Insbesondere wenn neue Therapien entwickelt oder verschiedene Behandlungsmethoden miteinander verglichen werden, spielt das Aufklärungsgespräch der Patienten eine zentrale Rolle. Es bedarf einer patientenverständlichen Darstellung des Studienablaufs und der Zuordnung der Teilnehmer auf die verschiedenen Untersuchungsgruppen sowie eine Erläuterung der bisherigen Daten in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit. Trotzdem bleiben häufig Restbedenken bestehen, die in ausführlichen Gesprächen diskutiert werden müssen. Wichtige Punkte sind das Abwägen von Wirkung und möglichen Nebenwirkungen sowie die Vorhersagbarkeit, wer auf welche Therapie anspricht. Zuneh- mend werden auch patientenbezogene Parameter wie Veränderung der Lebensqualität berücksichtigt. Möglichkeiten der Finanzierung überdenken Die Mehrheit der durchgeführten klinischen Studien sind von der pharmazeutischen und medizinischen Industrie getriebene Zulassungsstudien. Bei diesen ist das Interesse an einem positiven Studienergebnis hoch, weil damit der ökonomische Erfolg eines Medikaments einhergeht. Zahlreiche Fragstellungen, die nur interventionelle klinische Studien beantworten können, sind jedoch nicht notwendigerweise mit einem ökonomischen Gewinn für Unternehmen assoziiert, können aber gleichermaßen zur Verbesserung von Behandlungswegen beitragen. Die originäre Aufgabe der Universitätsmedizin – klinische Forschung durchzuführen – kann in Anbetracht zunehmender Sparauflagen immer seltener geleistet werden. Da die öffentliche Förderung diese Defizite nicht auffängt, werden kaum noch industrieunabhängige Interventionsstudien durchgeführt werden. Wenn Deutschland im Bereich der klinischen Forschung wieder eine führende Rolle einnehmen soll, bedarf es neuer Konzepte zur Förderung. Professor Dr. med. Britta Siegmund, Direktorin der Medizinischen Klinik 1 Innere Medizin mit Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin el ha M ic Die Entwicklung neuer Medikamente startet in der Grundlagenforschung, geht über in die präklinische und die klinischen Phasen. Dann erfolgen im positiven Fall Zulassungsprozess und Markteinführung. Dieser Weg ist langwierig und kostenintensiv. Das Beispiel der Antibiotika zeigt, wie wichtig neue Wirkstoffe auch für Industrieländer sind, um Infektionen mit multiresistenten Keimen in Schach zu halten. Von Martin Krönke M Der lange Weg eines Wirkstoffs – von seiner Entdeckung bis zum Patienten an ns sen. ehmen. V3 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 NACHGEFR AGT an Der Verlauf einer Hepatitis-C-Erkrankung ist schleichend, doch die Folgekomplikationen können lebensgefährlich sein. Heute ist mit medikamentösen Kombinationstherapien eine Heilung möglich. Professor Michael Manns, der an der Entwicklung entscheidend mitgewirkt hat, spricht über die neuen Therapien, notwendige Maßnahmen bei der Erkennung und den Herausforderungen in der Umsetzung. Die Fragen stellte Anna Seidinger. ns KA IS E R/ MH H M ic ha el M Chronische Virusinfektion – erstmalig Heilung möglich RI N F O OT KA Herr Professor Manns, zu den aktuell bahnbrechenden Errungenschaften der Medizin gehören die neuen Kombinationspräparate gegen Hepatitis C. Sie haben maßgeblich an der Entwicklung dieser neuen Therapien mitgewirkt. Wodurch zeichnen sich diese Therapien aus? Michael Manns: Genau 25 Jahre waren seit Entdeckung des Hepatitis-C-Virus vergangen, als seit 2014 sieben verschiedene direkt antiviral wirkende Substanzen zugelassen werden konnten. Diese Wirkstoffe greifen (wie die Abbildung zeigt) an drei verschiedenen Schlüsselstellen direkt in den Lebenszyklus des Virus ein und hemmen damit die Virusvermehrung. Eine Kombination mehrerer dieser direkt antiviral wirkenden Medikamente führt erstmals beim Menschen zur Heilung einer chronischen Virusinfektion. Das Besondere dieser neuen Therapien ist, dass Interferon in der Behandlung entfallen kann und praktisch keine Nebenwirkungen auftreten. Außerdem beträgt die Dauer der Therapie in der Regel nur zwölf Wochen und ist wesentlich kürzer als bisherige Standardtherapien. Was sind für die Patienten die größten Fortschritte gegenüber den bisherigen Behandlungsmöglichkeiten? Zu den größten Fortschritten gehört erstens der Verzicht auf Interferon, das in der Behandlung mit erheblichen Nebenwirkungen für die Patienten verbunden war. So kam es zum Beispiel zu teilweise schweren grippeähnlichen Symptomen sowie Muskel-, Kopf- und Gliederschmerzen, was auch zum Abbrechen der Behandlung führen konnte. Heute sind die Patienten nahezu beschwerdefrei. Zweitens konnte die Therapiedauer von bis zu 72 Wochen auf acht bis 24 Wochen reduziert werden. Drittens überzeugen die hohen Heilungsraten mit über 90 Prozent. Schließlich können von den neuen Kombinationstherapien auch Patientengruppen profitieren, beispielsweise mit schweren Leberschädigungen, die bisher einer Therapie nicht zugänglich waren. Das Robert Koch Institut schätzt, dass allein in Deutschland über 300 000 Menschen mit dem Hepatitis C Virus infiziert sind, allerdings nur ein Drittel bisher diagnostiziert wurde. Warum gibt es diese große Diskrepanz beziehungsweise Dunkelziffer? Ein sehr großes Defizit in Deutschland ist: Es existieren bisher keine effizienten ScreeningProgramme für eine Hepatitis-C-Infektion. Obwohl es Empfehlungen der Fachgesell- schaften gibt, werden diese in der Praxis nicht umgesetzt. So ist im Rahmen des sogenannten „Check-Up-35“ die Bestimmung aussagekräftiger Leberwerte nicht enthalten und wird damit von den Krankenkassen nicht erstattet. tionstherapien, führt in 90 Prozent der Fälle zur Heilung. Mediziner können von Heilung sprechen, wenn das Virus zwölf Wochen nach Ende der Therapie nicht mehr im Blut nachweisbar ist. Dies ist beim Menschen bisher einzigartig für eine chronische Virusinfektion. Es ist wichtig, den Erfolg der Therapie mittels der sogenannten „SVR 12“ zu dokumentieren. Dieses anhaltende virologische Ansprechen (SVR steht für sustained virological response) ist ein Marker für die Ausheilung einer Hepatitis-C-Infektion nach einer antiviralen Therapie. Außerdem müssen Ärzte und Patienten gemeinsam sicherstellen, dass die Medikamente eingenommen werden. Nur dann können diese wirken. Diese sogenannte Compliance ist ein erfolgskritischer Faktor. Zusätzlich sollten in der Zukunft sinkende Preise die Verschreibung und den Einsatz der Medikamente unterstützen. Welche Werte gehören dazu? Was wäre zu ändern? Dazu gehört beispielsweise der SGPT-Wert aus der Gruppe der Transaminasen, dessen Anstieg als Indiz für eine Lebererkrankung gelten kann. Es wird höchste Zeit, dass die Bestimmung der Transaminase SGPT in die Check-Up-35-Vorsorgeuntersuchungen aufgenommen wird. Unabhängig davon muss jeder erhöhte Leberwert hinsichtlich seiner Ursache abgeklärt werden, auch hinsichtlich einer Hepatitis-C-Erkrankung mittels eines spezifischen Hepatitis-C-Antikörpertests. Dabei sind die Risikogruppen für eine Hepatitis C bereits klar definiert: Jeder, der irgendwann intravenösen Drogenmissbrauch betrieben hat, gehört dazu wie auch die Empfänger von Bluttransfusionen vor 1990. 1989 wurde das Hepatitis-C-Virus entdeckt und erst danach wurden Blutkonserven systematisch auf diesen Virus hin untersucht. Die meisten Ansteckungen mit dem Virus ereigneten sich vor dieser Zeit, doch die Spitze der Folgekomplikationen ist noch nicht erreicht. Was kommt auf Deutschland noch zu? Es gibt verschiedene Modellrechnungen, wann der Gipfel der Hepatitis C bedingten Folgeerkrankungen erreicht ist. Sicher ist, dass dieser Gipfel noch vor uns liegt. Ob dies 2020, 2030 oder später sein wird, lässt sich nicht genau sagen. Das wird unter anderem auch vom Einsatz der neuen HCV-Therapien abhängen. Denn es reicht auf keinen Fall aus, über effiziente Therapien zu verfügen, die in über 90 Prozent zur Heilung führen. Diese wirkungsvollen Therapien müssen auch zum Einsatz kommen. Dies wiederum kann nur geschehen, wenn aus dem Bereich der Dunkelziffer, also aus der Gruppe „infizierter, aber nicht identifizierter Hepatitis-C-Träger“, mehr Patienten diagnostiziert werden und einer Behandlung zugeführt werden. Flächendeckende Screenings im Rahmen einer Standard-Vorsorgeuntersuchung wären dazu die beste Möglichkeit. Wie sieht die Situation dazu im Vergleich in anderen Regionen wie in den USA oder in Entwicklungsländern aus? In den Vereinigten Staaten gibt es verlässlichere Zahlen zur Epidemiologie von Hepatitis C. Dort ist die Prävalenz höher als in vielen Teilen Europas. Die Prävalenz der Hepatitis C variiert in verschiedenen Bereichen Europas: niedrige Hepatitis C Infektionsraten in Nordeuropa, vor allem in Skandinavien, hohe in Osteuropa. Aus den sogenannten Entwicklungsländern liegen in der Regel keine verlässlichen Daten vor. Hier werden wir wahrscheinlich noch Überraschungen erleben. Beispielsweise werden in Ländern mit Erst die Entdeckung des Hepatitis C Virus ermöglichte es, Blut- und Plasmaprodukte auf den Erreger hin zu untersuchen und diesen Übertragungsweg auszuschließen. hoher Hepatitis B Durchseuchung wie China viele Patienten mit gleichzeitiger Hepatitis B und C Infektion, sogenannte HBV/HCV Koinfektionen, vermutet. Falls man bei Krankheiten von Image sprechen kann, hat Hepatitis-C ein sehr schlechtes, weil häufig eine Assoziation mit Drogenmissbrauch stattfindet. Wie beeinträchtigt dies den Umgang mit Hepatitis C? Lebererkrankungen haben generell ein schlechtes Image in der Bevölkerung. Dies führt dazu, dass Patienten Schwierigkeiten und Hemmungen haben, sich zu ihrer Erkrankung zu bekennen. Viele haben oft Angst davor, als Alkohol- oder sonstiger Suchtkranker eingestuft zu werden. Dies erkennt man auch daran, dass es kaum Prominente gibt, die sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Hepatitis-C-Krankheit bekennen und sich so für den Kampf gegen diese Krankheit einsetzen. Hepatitis C hat insbesondere wegen ihrer Übertragbarkeit durch Blut und Blutprodukte und auch durch Nadelstiche den Ruf, eine Erkrankung von Drogenabhängigen zu sein. Dies ist aber ein großes Vorurteil. Die überwiegende Anzahl der Patienten, die heute an einer Leberzirrhose und ihren Komplikationen wie dem Leberzellkarzinom leiden, haben die Infektion ohne ihr eigenes Zutun, in der Regel vor 1990 WIRK PRIN Z IPIE N VO N HE PATITI S - C- M E DIK A M E NTE N zugelassener Wirkstoff Bestandteil des Virus Bestandteil der Leberzelle QUELLE VFA – VERBAND FORSCHENDER ARZNEIMITTELHERSTELLER E. V. Hepatitis-C-Viren sind etwa 50 Nanometer große Kugeln. Unter einer äußeren Membran, aus der Proteine als Fühler ragen, befindet sich eine innere Hülle aus lauter gleichen Proteinbausteinen, die wiederum die Erbsubstanz enthält. Im Blut schwimmende Viren erkennen mittels ihrer Fühler, wenn sie eine Leberzelle berühren, und docken an diese an. Die Membranen von Virus und Zelle verschmelzen, und die Erbsubstanz gelangt ins Zellinnere. Für seine Vermehrung missbraucht das Virus nun die Leberzelle, genauer ihre Ausrüstung zur Proteinherstellung und eigenen Vermehrung. So entsteht in der befallenen Leberzelle ein großes Virusprotein, an dem alle Virenbestandteile aneinandergehängt sind. Eine integrierte „molekulare Schere“ schneidet erst sich selbst und dann eine weitere solche Schere aus dem großen Protein heraus. Die zweite Schere – Protease NS3 oder HCV-Protease genannt – schneidet dann alle weiteren Teile frei, die sich zu einem neuen Virus zusammensetzen. Medikamente vom Typ Protease-Hemmer setzen hier an. Damit ein vollständiges Virus entsteht, ist noch neues Viren-Erbgut nötig. Das wird in der Zelle hergestellt mit Hilfe zweier weiterer Proteine, die aus dem großen Virusprotein herausgeschnitten wurden: NS5A und RNA-Polymerase (synonym: NS5B), die zusammen mit dem zelleigenen (also menschlichen!) Protein Cyclophilin B einen „Kopierer“ für die Viren-Erbsubstanz bildet. An allen drei Proteinen lässt sich medikamentös ansetzen. Polymerase- und NS5A Hemmer sind auf dem Markt. durch Blut oder Blutprodukte erhalten. Dazu gehören Patienten, die einen Verkehrsunfall erlitten hatten und dann im Rahmen von Operationen Bluttransfusionen erhielten. FOTOLIAXRENDER, FOTOLIA.COM Es gibt die Chance, Hepatitis C zu heilen und als Krankheit zu eliminieren. Was muss dafür getan werden? Konsequenter Einsatz der neuen Therapien, vor allem der Interferon-freien Kombina- Angenommen, diese Punkte werden gut gelöst. Was bleibt an großen Herausforderungen für die Zukunft auf dem Gebiet der Hepatitis-C-Forschung? Was können die verbleibenden zehn Prozent der nicht geheilten schweren Fälle erwarten? Kurzfristiges Ziel ist die Entwicklung sicherer und wirksamer Therapien für Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung, den sogenannten dekompensierten Leberzirrhosen. Dadurch sollte eine Lebertransplanation in der Mehrzahl dieser Fälle verhindert werden können. Unsere Vision ist eine Ausrottung der Hepatitis C. Gelingt dies, wäre dieses Ziel erstmals durch die Therapie einer chronischen Infektion und nicht durch einen Impfstoff geschehen. Die Entwicklung eines Impfstoffs zur Verhinderung einer Hepatitis C bleibt daher trotz aller bisherigen Fehlschläge ein großes Ziel. V4 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 Medizin ist der Sorge verpflichtet und nicht dem Profit Ärzte und Patienten bemerken im deutschen Gesundheitswesen die Folgen der zunehmenden Ökonomisierung und Industrialisierung: Unter der Vorherrschaft eines Verwertungsdenkens wird die Vorstellung einer Medizin als Sorge um den kranken Menschen immer mehr zur Nebensache. Immer mehr Ärzte können sich damit nicht identifizieren und fordern ein Umdenken. Von Giovanni Maio Formalistische Unpersönlichkeit statt persönlicher Zuwendung Die Organisation der Krankenhäuser nach industriellen und monetären Kriterien bietet den Ärzten Anreize, sich auf das Formale zu konzentrieren und die persönliche Betreu- ung der Patienten und den zwischenmenschlichen Kontakt zurückzustellen. Die Beziehungsqualität wird stillschweigend zum verzichtbaren supererogatorischen Luxus erklärt, auf die es nicht zentral ankommt, weil es in einem Betrieb vor allen Dingen um Reibungslosigkeit und Schnelligkeit geht. Unübersehbar folgt die Ökonomisierung der Medizin einem mechanistischen Menschenbild, das als Modell für alle Abläufe fungiert. Daher werden alle Abläufe so vorgeplant, dass die Ärzte das Gefühl erhalten, ihre eigentliche Aufgabe bestünde darin, ihre Patienten so schnell wie möglich und vorzugsweise nach Schema F durch die Klinik zu schleusen. In einem auf Effizienz ausgerichteten System kann die Beachtung der Individualität eines Menschen zur Bedrohung werden, weil sie den schnellen Fluss des standardisierenden Machens unterbricht und sozusagen den ganzen Betrieb aufhält. Je mehr ein Arzt in die Patientengeschichte investiert und sich persönlich engagiert, sich auf den Patienten einlässt, desto mehr gilt gerade dieser Arzt als betriebswirtschaftlich unvernünftig. Ärzte werden heutzutage jederzeit zur Rechenschaft gezogen. Das System benachteiligt engagierte Ärzte Sie müssen Rechenschaft darüber ablegen, ob sie die vereinbarten Leistungsziele erreicht haben und die Erlöse stimmen, aber nicht darüber, ob sie sich auf ihre Patienten wirklich eingelassen haben, ob ihre Patien- Im Spannungsfeld von Kostendruck und Therapie Der Trend zu mehr und aufwendigeren Therapien bringt nicht immer bessere Ergebnisse. E I N KO M M E N TA R VON HANS HOFFMANN J eder Arzt behandelt seinen Patienten immer so gut wie möglich. Es gibt keinen Grund, daran generell zu zweifeln. Allerdings gibt es gute Gründe zu wissen, welche Faktoren bei einer guten Behandlung und bei den möglichen Behandlungen zum Tragen kommen. Was gut ist, entscheiden Patient und Arzt gemeinsam und weitgehend autark. Was möglich ist, bestimmen zunehmend wirtschaftliche Zwänge nach den Gesetzen des Marktes. Wettbewerb in einem regulierten Markt Wie funktioniert ein Markt, in dem das Gesamtbudget gedeckelt ist, die Preise festgelegt sind und qualitativ gute wie qualitativ schlechte Behandlungen identisch vergütet werden? Auch in diesem regulierten Markt herrscht Wettbewerb. Im deutschen Gesundheitssystem folgt er jedoch nicht den Kriterien von Angebot und Nachfrage oder von Qualität und Preis. Es ist vielmehr ein Wettbewerb der Kontrolleure: Im stationären Sektor, bei den Krankenhäusern, ist es ein Wettbewerb zwischen den Medizin-Controlling-Abteilungen der Kliniken auf der einen Seite und dem „Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK)“ und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen auf der anderen Seite. Jährlich angepasste Fallpauschalen und die Folgen Die Akteure liefern sich ein, dem Hase-gegen-Igel vergleichbares Rennen. Der jährliche Startschuss erfolgt Ende September, wenn das InEK den „Diagnosis Related Groups“ (DRGs) Vergütungskatalog für das kommende Jahr veröffentlicht. DRGs sind die Fallpauschalen, nach denen jeder stationär im Krankenhaus behandelte Patient abgerechnet wird. Die Höhe der Pauschale ergibt sich aus der jeweiligen Kombination von Diagnose und Therapie. Je kränker der Patient und je aufwendiger die Behandlung, desto höher liegt der Preis. Das ist sinnvoll und zugleich problematisch. Jedes Jahr werden die Fallpauschalen neu festgelegt, wobei die Vergütung für die gleiche Leistung meist abnimmt. Nun vergleichen die Medizin-Controller der Kliniken – unterstützt von einer wachsenden Zahl an Beratern – die neuen Vergütungssätze mit denen des Vorjahres und identifizieren neue lohnende, immer noch lohnende, und nicht mehr lohnende Diagnosen und Therapien. Es werden neue Kodier-Tricks gesucht, um die Hürde zum Sprung in die nächsthöhere Fallpauschale zu schaffen. Auf der anderen Seite verstärken die Krankenkassen notwendigerweise die Kontrollen der Klinik-Rechnungen und rüsten ihren Medizinischen Dienst immer weiter auf. Auch das InEK schläft nicht. Die Kodier-Tricks und knappen Hürdensprünge werden meist schon wieder mit der nächsten Überarbeitung des Katalogs entfernt. Steigende Kosten und Kampf um Fallzahlen Es bleibt als Ergebnis ein Trend zu mehr und aufwendigeren Therapien. So schaukelt Die steigende Zahl älterer kranker Menschen und die zunehmend komplexeren Behandlungsmöglichkeiten bedürfen einer guten Zusammenarbeit der verschiedenen Fachärzte. VON ULRICH R. FÖLSCH E in Fall aus der Praxis: 69-jähriger, stark übergewichtiger Patient klagt über zunehmende Luftnot bei körperlicher Belastung und bei flacher Lagerung sowie seit wenigen Tagen über starke Wassereinlagerungen im Bereich der Knöchel. Bei ihm besteht seit Jahren Bluthochdruck sowie eine rheumatische Gelenkerkrankung mit der Folge eingeschränkter Mobilität. Ebenso beklagt er ein saures Aufstoßen, besonders wenn er sich ins Bett gelegt hat. Wegen dieser Erkrankungen und Beschwerden wird er mit einer großen Anzahl von Medikamenten behandelt. Kurz vor Beginn der Wassereinlagerung in den Knöcheln wurde seine Therapie durch ein neues Medikament für seine Herzerkrankung ergänzt, so dass eine Arzneimittelinteraktion nicht ausgeschlossen werden kann. Dieser Fall ist typisch für einen niedergelassenen oder in einer Klinik tätigen Internisten. Er zeigt, wie wichtig eine Kooperation zwischen den verschiedenen Fachrichtungen der inneren Medizin ist, um den Patienten die bestmögliche Behandlungsqualität anbieten zu können. Diesen vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen widmet sich die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM) mit ihren mehr als 23 500 Mitgliedern. Aus- und Fortbildung im Fokus Die DGIM versteht es als ihren Auftrag, eine qualitativ hochwertige Aus-, Weiter- und Fortbildung der Ärzte auf dem Gebiet der inneren Medizin sicherzustellen. Dies gelingt durch die permanente Einbindung von elf Schwerpunktgesellschaften, den sogenannten Spezialisten, in ihre kontinuierlichen Arbeits- und Beratungsprozesse. Wegen ihrer breiten Ausrichtung hat die innere Medizin in Deutschland eine vielbeachtete und starke Position. Alle Internisten durchlaufen eine gemeinsame dreijährige Grundausbildung, die eine solide, breite und tiefe Kenntnis der inneren Medizin gewährleistet. Vor allem der Jahreskongress der DGIM, der zurzeit in Mannheim durchgeführt wird, bietet allen Internisten eine unverzichtbare Plattform zum Austausch und zur umfassenden Fortbildung. Als Dach aller im Gebiet der inneren Medizin tätigen Ärzteinnen und Ärzte koordiniert die DGIM in vielfältigen Bereichen die Zusammenarbeit zwischen Generalisten und Spezialisten und engagiert sich damit für eine bestmögliche Patientenversorgung. Besonders diese Kooperation über die Sektorengrenzen von Klinik und Praxis hinweg ist eines der Zukunftsthemen der Medizin: Bedingt durch den demographischen Wandel gibt es immer mehr ältere und betagte Patienten, die an mehreren Krankheiten verschiedener Organsysteme leiden, die medizinisch als multimorbide bezeichnet werden. Diese Patienten nehmen unter Umständen bis zu 20 unterschiedliche Medikamente pro Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungsund Stoffwechselkrankheiten Gründungsjahr: 1913, Mitglieder: 5197 Deutsche Gesellschaft für Infektiologie e.V. Gründungsjahr: 1973, Mitglieder: 700 Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) Gründungsjahr: 1969 als Arbeitsgemeinschaft für internistische Intensivmedizin, ab 1976 DGIIN, Mitglieder: 1910 Tag ein, um ihre unterschiedlichen Leiden und Erkrankungen zu behandeln. Koordination interdisziplinärer Themen An dieser Stelle wirken Generalisten, die in enger Abstimmung mit den Spezialisten den richtigen Medikamenteneinsatz für die Patienten koordinieren. Daher gibt es in der DGIM verschiedene Kommissionen und Arbeitsgruppen, die sich unter anderem mit der Aus- und Weiterbildung der Ärzte, den Leitlinien zur evidenzbasierten Patientenbetreuung, der Etablierung der Telemedizin in der Krankenversorgung und der Arzneimitteltherapiesicherheit in Klinik und Praxis beschäftigen. Auch die jüngst gegründete Arbeitsgruppe „Klug entscheiden“ koordiniert die an der Initiative beteiligten internistischen Fachgesellschaften, um die hohe Versorgungsqualität in Deutschland langfristig sicherzustellen und um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermeiden. Die in diesen Kommissionen und Arbeitsgruppen erstellten Positionspapiere und konsentierten Auffassungen und Vorschläge geben der Inneren Medizin eine starke Stimme bei den verschiedenen Partnern im Gesundheitswesen. Professor Dr. med. Ulrich R. Fölsch, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V., Wiesbaden Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK) Gründungsjahr: 1927, Mitglieder: mehr als 8700 Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) Gründungsjahr: 1910, Mitglieder: ca. 3000 DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. Gründungsjahr: 1937, Mitglieder: 2900 Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) Gründungsjahr: 1927, Mitglieder: 1439 Deutsche Gesellschaft für Nephrologie e.V. (DGfN) Gründungsjahr: 2009, Mitglieder: ca. 2400 h ab et r E li s Prof. Dr. med. Giovanni Maio, Lehrstuhl für Medizinethik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg PIXI, FOTOLIA.COM Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie e.V. Gründungsjahr: 1953, Mitglieder: 1500 Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V. Gründungsjahr: 1985, Mitglieder: 1700 ke rd Ha se nf u a Ge Von politischer Seite muss mehr darauf vertraut werden, dass Ärzte im Gespräch mit ihren Patienten am besten herausfinden können, was gut für ihre Patienten ist. Die ökonomisch induzierte übermäßige Standardisierung der Abläufe bedeutet eine Nichtnutzung wertvoller ärztlicher Kompetenzen und richtet sich gegen die Erwartung der Patienten. Der kranke Mensch erhofft sich, als Mensch Beachtung zu finden in der Medizin. Daher ist der Kontakt des Arztes zum Patienten, das Gespräch mit ihm, gerade kein betriebswirtschaftlicher Luxus, sondern es ist der Kern ärztlicher Tätigkeit. Denn nur das Gespräch ermöglicht am Ende eine Entscheidung darüber, was gut für den Patienten ist, und nur das Gespräch kann den Weg für das weitere Vorgehen bahnen. Es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, wie dieses Gespräch und die psychosoziale Betreuung des Patienten wieder gestärkt und aufgewertet werden kann, damit persönlich engagierte Ärzte nicht sanktioniert werden, sondern Wertschätzung erfahren. Gerade weil Patienten vulnerable, angewiesene Menschen sind, darf die Beziehung zu ihnen nicht einer Herrschaft des bloßen Formalismus und der betrieblichen Unpersönlichkeit geopfert werden. Stattdessen muss eine neue Kultur der Sorge gefördert werden, durch die den Ärzten ermöglicht wird, in der Verbindung von professionellem Können und gelebter Mitmenschlichkeit den Patienten neu in den Mittelpunkt zu stellen. Daher muss allen Beteiligten wieder bewusst werden, dass ohne die Ermöglichung von Zuwendung und Zwischenmenschlichkeit auch die bestfunktionierende Medizin nicht wirklich eine humane Medizin sein kann. FOLGENDE SCHWERPUNKTGESELLSCHAFTEN SIND IN DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR INNERE MEDIZIN VERTRETEN: Deutsche Gesellschaft für Angiologie, Gesellschaft für Gefäßmedizin e.V. Gründungsjahr: 1972, Mitglieder: 1159 M är Die Art der Behandlung darf nicht ökonomisch bestimmt werden Wie kooperieren Spezialisten und Generalisten heute sinnvoll? sich das System immer weiter auf, wird stetig komplexer, aufwendiger und im Grunde teurer. Der Wettbewerb der Kontrolleure verschlingt dabei einen immer größeren Teil des Budgets. Das setzt insbesondere kleinere Kliniken zunehmend unter Druck. Pflegestellen werden durch Verwaltungsstellen im Bereich Medizin-Controlling ersetzt. Zudem wird um jeden Patienten, um jeden Fall gekämpft. Denn das Krankenhaus lebt von den Fallzahlen. Allein um das Budget zu halten, müssen jedes Jahr mehr Fälle durchgeführt und abgerechnet werden – oder alternativ: mehr lohnende und weniger nichtlohnende. Wenn der Patient schon einmal in der Klinik ist, soll er sich auch lohnen. Dies fördert möglichst prozedurenreiche Behandlungen, ideal sind Operationen. Das medizinisch oft bewährte Vorgehen – eine Entwicklung abwarten, den Patienten beobachten und mit ihm sprechen – lohnt sich nicht mehr. Lukrative Patienten werden im eigenen Haus zu Ende behandelt, selbst wenn die Behandlung in einer Spezialklinik, medizinisch betrachtet, besser wäre. Diese Zusammenhänge sollten Patienten kennen. Es lohnt sich, nachzufragen und eine zweite Meinung einzuholen. In deutschen Krankenhäusern wird jeder Patient immer noch so gut wie möglich behandelt. Das Engagement der Pflegenden und der Ärzte ist ungebrochen. Die meisten lieben ihren Beruf. Sie würden gerne weiter ihr Handeln ausschließlich nach den Bedürfnissen, Nöten und Sorgen der Patienten ausrichten können. Professor Dr. med. Hans Hoffmann, Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg FOTO COLOURES-PIC, FOTOLIA.COM nicht um Ablehnung, sondern darum, eine angemessene Übertragung, die richtige Passung zu finden. ch Die Organisation der Krankenhäuser nach industriellen und monetären Kriterien bietet den Ärzten Anreize, sich auf das Formale zu konzentrieren. Die wichtige persönliche Betreuung der Patienten wird dabei leicht vernachlässigt. ten gut versorgt worden sind und man ihnen auch wirklich geholfen hat. So kann es vorkommen, dass ein Arzt, der sich den Patienten ganz widmet und sie zufrieden nach Hause entlassen kann, strukturell dennoch sanktioniert wird, weil er die ökonomischen Leistungszahlen nicht vorweisen kann. Zu wenig wird berücksichtigt, dass das qualifizierte Handeln des Arztes eben nicht allein in der Anwendung von Regeln und Handlungsanleitungen, sondern vielmehr in dem Bemühen, eine situationsspezifische, kontextgebundene und an der Lebenswelt des Patienten orientierte Antwort auf den Kranken zu finden, eine singuläre Antwort, die erst in der Begegnung mit ihm generiert wird. Es geht dabei, im Rahmen einer unabdingbaren Beziehungsmedizin, nicht nur um die Qualität der messbaren Verrichtungen, sondern es geht vor allen Dingen um die Qualität des Zuhörens, des In-BeziehungTretens, des Sich-einlassen-Könnens, die Qualität der Begegnung mit dem kranken Menschen als Menschen. Die Ökonomisierung führt zu einer Abwertung dieser nicht messbaren, aber unabdingbar notwendigen Qualitäten, die nicht zuletzt ärztliche Erfahrung erfordern. Ein funktionaler und zweckrationaler Zugang zum Patienten ist nur ein unzureichender Ersatz für Anerkennung, Sorge, Anteilnahme, für einen Zugang, durch den der existentiellen Erfahrung der Hilfsbedürftigkeit angemessen Ausdruck verliehen werden muss. Eine Entökonomisierung allein ist sicher keine Garantie für mehr Humanität in der Medizin, aber eine unangemessene Übertragung ökonomischen Denkens auf die Medizin gefährdet die Humanität. Daher bedarf es hier eines konstruktiven Dialogs. Von Ärzten wird erwartet, dass sie lernen, ökonomisch zu denken, aber es ist noch viel wichtiger, dass die Ökonomen lernen, medizinisch zu denken, damit sie wissen, wo ökonomisches Denken angemessen ist und wo es dem medizinischen Denken wieder den Platz räumen muss. Ökonomie und Medizin sind per se keine Antipoden, aber sie sind auch nicht deckungsgleich. Es geht folglich Mi D ie moderne Medizin ist politisch gewollt zu einem Wirtschaftsbetrieb geworden, in dem die Krankenversorgung nach dem Vorbild industrieller Produktion erfolgt und der kranke Mensch immer mehr aus dem Blickfeld verlorenzugehen droht. Die Tatsache, dass alle Krankenhäuser nur dann weiterexistieren dürfen, wenn Sie schwarze Zahlen schreiben, führt zu einem radikalen Identitätswandel. Denn in einen solchen Verdrängungswettbewerb zueinander gestellt sind es nur die Erlöse, die am Ende über das Schicksal des Hauses entscheiden. Unter einem solchen Erlösdiktat wird aber die Orientierung der Heilberufe am Wohl des Patienten zu einem Anliegen, auf das es gar nicht mehr primär ankommt. In Anlehnung an Foucault ließe sich die neue Logik als ein ökonomisches Tribunal bezeichnen, weil alles, was man tut, nicht mehr primär von ihrer konkreten Bedeutung für den Patienten, sondern nur noch unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit betrachtet wird. Im Grunde findet gegenwärtig eine Kapitalisierung der ärztlichen Tätigkeit statt mit dem impliziten Appell zur Übernahme einer ökonomischen Vorteilslogik, die sich à la longue gegen das Soziale wendet. Denn wenn Ärzte für ihre Patienten da sein sollen und ihnen zugleich vom System beigebracht wird, gewinnwirtschaftlich zu denken, dann ist das ein Widerspruch in sich. Das ist der Grund, weswegen die meisten Ärzte die Ökonomisierung zunehmend als eine Sinnentleerung ihres Tuns empfinden, weil sie spüren, dass sie als deklarierte Mitunternehmer dazu angehalten werden, ihr Können und ihre Arbeitskraft für etwas einzusetzen, für das sie eigentlich nicht angetreten waren. H el a ll e V5 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 NACHGEFR AGT Kluge Entscheidungen stellen den Patienten in den Mittelpunkt ke r- H O TO PR I VA T E li s ab et h M är Die Möglichkeiten der medizinischen Behandlungen werden zunehmend vielfältiger und komplexer. Das Motto „Viel hilft viel“ greift nicht immer, wenn es um die bestmögliche Diagnostik und Therapie für den einzelnen Patienten geht. Die DGIM-Initiative „Klug entscheiden“ möchte bei allen Beteiligten das Bewusstsein dafür schärfen. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sprechen über Inhalte, Ziele und Hintergründe. Die Fragen stellte Anna Seidinger. nn erma s Ha en f uß TO PR IVA T Ge rd F H el a ll ek Herr Professor Hallek, welche Ziele sollen in welchem Zeitraum erreichen? Michael Hallek: In einem ersten Schritt wollen wir mit dieser Initiative erreichen, dass in Deutschland Aufmerksamkeit für die geschilderten Themen erzielt wird. Sollte es uns also in 2015 gelingen, die Kollegenschaft und die Öffentlichkeit auf diese Initiative nachhaltig aufmerksam zu machen, wäre ein wesentliches Ziel bereits erreicht. Als zweites wollen wir schon in diesem Jahr die ersten Vorschläge machen, welche Maßnahmen sowohl Über- als auch Unterversorgung verringern können. Bis Ende 2016 ist unser Ziel, diesbezüglich konkrete Vorschläge von allen internistischen Schwerpunktgesellschaften vorliegen zu haben. N IK L IN IK KÖ LN Mi ch a FO Herr Professor Hasenfuß, ausgehend von der amerikanischen „Choosing Wisely Initiative“, hat die Deutsche Gesellschaft ihre eigene Initiative „Klug entscheiden“ für Deutschland entwickelt. Was ist der Kern dieser Kampagne? Gerd Hasenfuß: Der Kern für die DGIM-Initiative „Klug entscheiden“ liegt klar darin, die Qualität der medizinischen Versorgung langfristig sicherzustellen. Gleichzeitig soll der einzelne Patient transparenter als bisher in den medizinischen Entscheidungsprozess einbezogen werden. Im Rahmen der Initiative werden wichtige Diagnostik- und Behandlungsverfahren identifiziert, die auf Unter- oder Überversorgung hinweisen. Es geht einerseits um Verfahren, die – obwohl evidenzbasiert und damit angezeigt – häufig unterlassen werden, und andererseits um Verfahren, die häufig – obwohl nachweislich nicht förderlich – durchgeführt werden. FO TO U Wie erklären Sie sich das Interesse? M. Hallek: Die große Resonanz bei den verschiedenen Akteuren des Gesundheitssys- tems und der Medien hat unterschiedliche Motive. Sie reichen von der Furcht vor Behandlungsfehlern bei falscher Indikationsstellung bis hin zur Hoffnung, durch die Initiative Gesundheitskosten einzusparen. Wir zielen mit der Initiative allein auf die bestmögliche Behandlung für den einzelnen Patienten und wollen eine langfristig hochwertige Gesundheitsversorgung sicherstellen. Die „Choosing Wisely Initiative“ wurde von der ABIM Foundation, einer Stiftung amerikanischer Internisten, in den Vereinigten Staaten 2011 gestartet. Warum hat die DGIM diese Initiative unter dem Namen „Klug entscheiden“ überhaupt nach Deutschland geholt? G. Hasenfuß: Die Initiative „Klug entscheiden“ der DGIM ist inspiriert durch die amerikanische Initiative „Choosing Wisely“. Unsere Initiative folgt dem DGIM-Ziel, die Qualität der Patientenversorgung kontinuierlich zu verbessern, und basiert auf der Erkenntnis, dass bei der Fülle der Leitlinienempfehlungen häufig wichtige Aspekte nicht adäquat berücksichtigt werden. Das heißt, die Ärzte setzen die von den verantwortlichen Fachgremien entwickelten Empfehlungen für Diagnose und Therapie in bestimmten Fällen nicht oder unzureichend um? G. Hasenfuß: Ja. Besonders häufig scheint dies der Fall zu sein bei negativen Empfehlungen im Sinne von „Unterlassen Sie“ beziehungsweise „Machen Sie nicht“. Daraus resultiert die Durchführung überflüssiger Leistungen, die sogar zum Nachteil des Patienten sein können. Bereits im Medizinstudium wird der Schwerpunkt auf diagnostische und therapeutische Möglichkeiten gelegt. Der Medizinstudent lernt: Das kann ich alles machen, wenn ein gewisser Verdacht vorliegt. K L U G E N T S C H E I D E N – C H O O S I N G W I S E LY n Z IE LE U ND G RUNDSÄT Z E Die Initiative Choosing Wisely stammt aus den Vereinigten Staaten. Sie wurde von der National Physicians Alliance und dem American Board of Internal Medicine entwickelt. Ihr Ziel ist, den Dialog zwischen Leistungserbringern im Gesundheitswesen – in der Regel sind das die Ärzte – und Patienten über die besten Behandlungsoptionen zu stimulieren. Die Initiative handelt nach den folgenden einfachen Grundsätzen: t t t t Basiert auf wissenschaftlicher Evidenz Vermeidung doppelter Untersuchungen oder Behandlungen Vermeidung von Schaden („nil nocere“) Beschränkung auf das Notwendige Nach diesen Grundsätzen forderten die medizinischen Fachgesellschaften ihre Spezialisten auf, häufig angewandte Verfahren, Teste oder Prozeduren auf ihrem Gebiet zu benennen, deren Notwendigkeit hinterfragt und diskutiert werden sollte. Daraus entstanden Listen von je fünf bis zehn häufig verwandten Verfahren, die Ärzte und Patienten hinterfragen sollten. Ein Beispiel ist die aktuelle Liste des „American College of Physicians“ (132 000 Mitglieder), die folgende fünf Punkte umfasst: 1. Bei Personen, die keine Symptome und ein niedriges Risiko für eine koronare Herzerkrankung haben, sollen keine BelastungsEKGs durchgeführt werden. 2. Es sollen keine bildgebenden Untersuchungen durchgeführt werden bei Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen. 3. Bei der Untersuchung einer einfachen Synkope, also Kreislaufkollaps beziehungsweise kurze Bewusstlosigkeit, und bei einer normalen neurologischen Untersuchung soll keine Bildgebung (CT oder Kernspintomographie) des Gehirns durchgeführt werden. 4. Bei Patienten mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit einer venösen Thrombose soll im Rahmen der Erstuntersuchung ein sensitiver Test auf D-Dimere und keine bildgebende Untersuchung durchgeführt werden. 5. Vor Operationen sollen keine Röntgen-Thoraxaufnahmen durchgeführt werden, wenn klinische Zeichen eines intrathorakalen pathologischen Befundes fehlen. Wichtig ist: Die von der „Choosing Wisely“-Initiative erarbeiteten Listen stellen keine Therapieleitlinie im Sinne der von Fachgesellschaften erarbeiteten klassischen medizinischen Leitlinien dar. Ebenso sind sie keine Empfehlung zur Erstattung oder Nichterstattung von medizinischen Leistungen. VERBREITUNG UND RESONANZ In den Vereinigten Staaten haben mittlerweile über 50 Fachgesellschaften entsprechende Listen erstellt. Zum Beispiel hat die American Society of Hematology auf der Jahrestagung im Dezember 2014 im gesamten Kongressgelände Banner mit „Choosing Wisely“-Listen ausgestellt. Darüber hinaus erfuhr die Initiative in den Vereinigten Staaten von Anfang an großen Zuspruch und Unterstützung von zahlreichen großen Organisationen und NGOs des Gesundheitswesens. So erreichte die erst 2011 gestartete Initiative innerhalb weniger Jahre nicht nur eine große Resonanz in der Öffentlichkeit, sondern hat auch bereits in vielen Bereichen die Praxis der medizinischen Versorgung verändert. Im Jahre 2015 haben führende Gesundheitseinrichtungen in Australien, Kanada, Dänemark, England, Italien, Japan, und den Niederlanden und Wales die Ideen oder Inhalte der amerikanischen „Choosing Wisely“-Initiative in ihren Ländern übernommen. Die Schweizer Gesellschaft für allgemeine Innere Medizin hat 2014 eine Initiative „Smarter Medicine“ gestartet. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin hat ihre Initiative „Klug entscheiden“ als Partner- und Netzwerkkonzept gestartet und tritt zum Jahreskongress 2015 mit dieser Initiative verstärkt an die Öffentlichkeit. Weitere Informationen und Quellen: www.choosingwisely.org; http://en.wikipedia.org/wiki/Choosing_Wisely PIXI, FOTOLIA.COM QUA LITÄT S B E RI CHTE FÜ R Ä R Z TE U ND PATIE NTE N Nahezu jeder Patient fragt sich vor einem planbaren ärztlichen Eingriff, welches Krankenhaus der Region die beste Wahl für ihn ist. Da die deutschen Krankenhäuser zu einer kontinuierlichen Qualitätssicherung und zur regelmäßigen Berichterstattung gesetzlich verpflichtet sind, gibt es zu jeder Klinik einen öffentlich zugänglichen Qualitätsbericht. So sollen Patienten bei der Entscheidung für eine bestimmte Klinik unterstützt werden und Ärzte einen Überblick über die Kliniken der Region erhalten. Allerdings sind die Berichte aufgrund hoher Umfänge, kaum kommentierter Darstellungen sowie aufgrund zahlreicher Fachbegriffe für Patienten oft schwer zu verstehen. Deshalb hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) für Patienten kurze verständliche Erläuterungen sowie ein Glossar für den Qualitätsbericht der Krankenhäuser erstellt. Eine vertiefende Langversion richtet sich an die Zielgruppe der einweisenden Ärzte sowie an Patienten mit weiter gehendem Informationsinteresse. Dieses Informationsangebot soll die Aufmerksamkeit für die Qualitätsberichte erhöhen und zeigen, wie diese bei der Wahl eines Krankenhauses genutzt werden können. Der Gewinner ist der informierte Patient. Denn machen wir uns nichts vor: Der Wettbewerb der Kliniken untereinander steigt, der Druck auf Ärzte in finanziell angeschlagenen Krankenhäusern ist bereits hoch. Wenn für die Behandlung eines Patienten mehrere Optionen zur Wahl stehen, die keine wesentlichen Unterschiede in der Ergebnisqualität erwarten lassen, geht der Trend in Kliniken hin zum teureren Eingriff. Diese Eingriffe sind meist auch komplexer und setzen spezielles Know-how voraus, das nicht allein in der Theorie, sondern idealerweise durch ausreichende Fallzahlen in der Praxis erworben wurde. Informationen: www.g-ba-qualitaetsberichte.de; www.gesundheitsinformation.de Aber selbst in konventionellen Leitlinien sind negative Empfehlungen unterrepräsentiert. „Im Zweifelsfall mehr machen“ geschieht häufig aus Unkenntnis, aber auch infolge einer hohen Arbeitsverdichtung, bei der die Anordnung einer weiteren Untersuchung oft zeitsparender erscheint als die mutige Entscheidung zu einer Diagnose oder Therapie, basierend auf den vorhandenen Kernbefunden. Die Sorge vor dem Vorwurf der Unterlassung („malpractise issues“) steht in den Vereinigte Staaten besonders im Vordergrund der „Choosing Wisely Initiative“, und sie spielt auch in Deutschland eine zunehmende Rolle. Zudem wird der Gedanke „Im Zweifelsfall mehr machen“ auch durch finanzielle Fehlanreize unseres Entgeltsystems und durch eine entsprechende Erwartungshaltung der Patienten gefördert. Frau Professor Märker-Hermann, für den Laien erscheint die Fokussierung auf die Versorgungsqualität, sprich: auf die medizinisch hochwertige Diagnostik und Therapie der Patienten selbstverständlich. Worin liegen die Herausforderungen dafür in der Praxis? Elisabeth Märker-Hermann: Es erfordert Mut, als behandelnder Arzt oder behandelnde Ärztin offen auszusprechen, dass es auch bei uns Überversorgung in weiten Bereichen gibt – sei es aufgrund von Unsicherheiten und übertriebenem Sicherheitsdenken auf Seiten des Arztes oder wegen unrealistischer Erwartungshaltungen seitens des Patienten. Die Herausforderung liegt darin, offen mit dem Patienten und seinen Angehörigen zu kommunizieren und seriös zu informieren, ohne das Vertrauen innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung zu belasten. Sie selbst arbeiten auf drei unterschiedlichen Fachgebieten und kennen aus Ihrem Klinikalltag konkrete Fälle für Über- und Unterversorgung. Können Sie bitte jeweils ein Beispiel aus Ihrem Fachgebiet nennen. M. Hallek: Ja, es lassen sich sehr leicht in meinem eigenen Fach, der Hämatologie und Onkologie, gute Beispiele für Verfahren finden, deren Anwendung diskutiert werden kann. So hat die amerikanische Gesellschaft für Hämatologie jüngst in ihren „Choosing Wisely“-Guidelines empfohlen, bei der chronischen lymphatischen Leukämie die Durchführung von Computertomographien zu prüfen, da sie für die Stadieneinteilung und Verlaufskontrolle kaum zusätzlichen Wert bringen. Bei dieser Leukämie gibt es zudem heute zahlreiche, sehr gut wirksame neue Medikamente. Diese geben Anlass für eine weitere Empfehlung: Der Start der Therapie sollte wie bisher erst bei Vorliegen von Symptomen oder fortgeschrittenem Stadium erfolgen, nicht vorher. E. Märker-Hermann: Ein bekanntes Beispiel aus der Rheumatologie ist der „Nichtspezifische Kreuzschmerz“. Die nationale Versorgungsleitlinie empfiehlt bei akutem Kreuzschmerz, wenn gefährliche Verläufe durch Anamnese und körperliche Untersuchung ausgeschlossen werden können, keine bildgebende Untersuchung durchzuführen. Sprich: kein vorschnelles Röntgenbild der Lendenwirbelsäule und kein MRT bei akutem „unspezifischen“ Kreuzschmerz. Die Realität sieht anders aus. G. Hasenfuß: In der interventionellen Kardiologie kommt es nicht selten vor, dass verengte arterielle Herzkranzgefäße aufgeweitet und mit Stent versorgt werden, obwohl keine Durchblutungsstörung durch die Einengung nachgewiesen wurde. Es ist jedoch durch Studien belegt, dass der Patient – bis auf wenige Ausnahmen – nur dann von einer Dilatation profitiert, wenn eine Durchblutungsstörung durch die Einengung vorliegt. Nun haben die sogenannten „NegativListen“ in den Vereinigten Staaten zu Kontroversen geführt. Wie wollen Sie die Akzeptanz in Deutschland erhöhen? E. Märker-Hermann: Solche Negativ-Listen bergen das Risiko in sich, dass dahinter rein wirtschaftliche Aspekte des Sparens, gar der Rationierung vermutet werden. Wir wollen vermitteln, dass ein Zuviel an Diagnostik auch nachteilig sein kann, wenn zum Beispiel neue Abklärungen aufgrund unspezifischer Laborbefunde initiiert werden. Unsere wissenschaftlich erarbeiteten nationalen Versorgungsleitlinien enthalten durchaus nahezu ebenso viele „Soll nicht“-Empfehlungen wie „Soll“-Empfehlungen – wir sollten uns nur konsequent danach richten. Gleichzeitig erhöhen wir die Akzeptanz, wenn wir Möglichkeiten aufzeigen, wie man Unterversorgung aufzeigen und korrigieren kann. Ihre Initiative „Klug entscheiden“ wird auf dem Jahreskongress vorgestellt. Welche Partnerschaften werden Sie zur weiteren Entwicklung eingehen? M. Hallek: Es ist uns wichtig, dass an dieser Initiative alle Beteiligten des deutschen Gesundheitswesens teilnehmen. Das bedeutet: Die Ärzteschaft, die Krankenkassen, die Ministerien, die Forschungseinrichtungen und die Geldgeber für Forschung und Entwicklung, die Industrie und vor allem auch die Patienten. Nur wenn wir diese verschiedenen Partner einbinden, wird auch genügend Wirkung erzielt werden. Und die Wirkung muss darin bestehen, die Behandlung der Patienten zu verbessern. Nur dann hat diese Initiative einen Sinn. V6 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 Gesundheit von morgen entsteht in Netzwerken von heute GRAFIK VFA - VERBAND FORSCHENDER ARZNEIMITTELHERSTELLER E.V. Die Akteure im Gesundheitssystem sind zum Handeln gefordert, wenn in Deutschland auch mittel- und langfristig eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung sichergestellt werden soll. Auch pharmazeutische Unternehmen sollten ihre Expertise einbringen können. Von Birgit Fischer Lebenserwartung in Jahren Die Lebenserwartung der Menschen steigt von Jahr zu Jahr. Nicht nur in den entwickelten Industrienationen, sondern auch in Schwellen- und Entwicklungsländern. Grund dafür sind insbesondere eine bessere Gesundheitsversorgung und bessere Medikamente. Die Grafik zeigt jeweils für die Jahre 1900, 1950 und 2000 die durchschnittliche Lebenserwartung der Einwohner pro Land. Die Kreise sind in ihren Farben einheitlich pro Kontinent, ihre Durchmesser entsprechen proportional der Einwohnerzahl. D er demographische Wandel prägt bereits heute unsere Gesellschaft und wird sie in Zukunft noch nachhaltiger bestimmen. Wir werden immer älter, was neben sich stetig verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen auch ein Resultat des medizinischen und insbesondere des pharmakologischen Fortschritts ist. Die Folgen des demographischen Wandels sind vielfältig. So gilt es, einen wachsenden medizinischen Bedarf sowohl finanziell als auch personell zu bewältigen und dabei durch Gesundheit und gute Lebensqualität gesellschaftliche Teilhabe bis ins hohe Alter zu ermöglichen, ja auch beruflich bis ins hohe Alter produktiv zu sein. Medizinischer Fortschritt erhöht die Lebenserwartung 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung rund 50 Jahre. Heute liegt sie bereits bei 80 Jahren. Dazu leisten Innovationen von medizintechnischen und pharmazeutischen Unternehmen einen entscheidenden Beitrag. Rund 40 Prozent der gewonnenen Lebensjahre gehen auf die Verfügbarkeit neuer, innovativer Medikamente zurück. So ist die Anzahl der Todesfälle durch Herz-Kreislauf- Erkrankungen – bis Ende der sechziger Jahre eine der häufigsten Todesursachen – bis heute um 60 Prozent gesunken. Im Fokus der Forschungsaktivitäten stehen Krankheitsfelder, die in alternden Gesellschaften eine zunehmende Rolle spielen: Krebs, Infektionen, HerzKreislauf, Schmerz- und Palliativmedizin, Alterserkrankungen wie Alzheimer und Parkinson und viele mehr. Auch an wirksamen Impfstoffen wird intensiv gearbeitet. Wenn die derzeitigen Forschungs- und Entwicklungsprojekte erfolgreich sind, können schon in den nächsten Jahren innovative Medikamente gegen mehr als 100 schwere und lebensbedrohliche Krankheiten für die Versorgung der Patienten zur Verfügung stehen. Wissen und Wertschöpfung sind bedeutende Standortfaktoren Deutschland ist als rohstoffarmes und exportorientiertes Land auf Unternehmen am Standort angewiesen, die sich auf dem Weltmarkt mit Wissensvorsprüngen und innovativen Produkten positionieren können. Unser Rohstoff ist das Wissen. Unternehmen des Gesundheitswesens können aufgrund ihrer Kompetenz bei der Therapie von Krankheiten auch als Experten für eine bessere Patientenversorgung und ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem unterstützen. Besonders die hohe Innovationsfähigkeit und internationale Erfahrungen können auch in Deutschland dazu beitragen, neue Versorgungsmodelle zum Nutzen von Patienten und des Gesundheitswesens voranzubringen. Universitäten, staatliche Forschungsinstitute, Kliniken, Ärzteschaft und Unternehmen sind wechselseitige Partner. Sie sind integraler Bestandteil für Forschungsprojekte, wie beispielsweise bei den Zentren für Volkskrankheiten. Immer deutlicher wird an den Standorten der Zentren und Unternehmen, wie bedeutsam die Auswirkungen der Gesundheitswirtschaft für die Bevölkerung und die Regionen sind. Pharmaunternehmen, die mit Produktionsanlagen, Forschungseinrichtungen und Vertriebsorganisationen in ganz Prävention – was können Ärzte tun? Zahlreiche Studien belegen, dass ein gesundheitsfördernder Lebensstil Heilungsprozesse beschleunigen und Krankheiten vorbeugen kann. Nun soll ein Präventionsesetz neue Anreize für Beteiligte und Betroffene schaffen. gestellt werden. Davor lag der Zeitpunkt der Diagnosestellung im Durchschnitt erst nach dem zweiten Lebensjahr. Durch das frühe Screening erhalten die betroffenen Kinder frühzeitig eine Therapie und profitieren deutlich hinsichtlich ihres Spracherwerbs und ihrer sozialen Entwicklung. Aber auch der Nutzen der ärztlichen Primärprävention ist belegt – zum Beispiel anhand der Beratung von Rauchern. Untersuchungen zeigen, dass bereits eine kurze ärztliche Intervention von wenigen Minuten die VON FR ANK ULRICH MONTGOMERY Ä rztinnen und Ärzte sind für ihre Patienten nicht nur in Krankheits-, sondern auch in Gesundheitsfragen wichtige Ansprechpartner. Sie erreichen Patienten fast aller gesellschaftlichen Schichten und können gesundheitliche Risiken früh erkennen. Je früher im Verlauf des Lebens präventive Maßnahmen einsetzen, umso größer sind die Chancen, nachhaltige Wirksamkeit zu zeigen. Ärzte können ihre Patienten motivieren, ihre Lebensweise zu verändern und gesundheitsförderliche Angebote wahrzunehmen. Wichtige Ansatzpunkte bei der Gesundheitsvorsorge sind vor allem das gesunde Aufwachsen von Kindern, die Verbesserung der Ernährungssituation, die Förderung von Bewegung sowie die Eindämmung des Tabakkonsums. Zudem können Ärzte an der Gestaltung von Lebenswelten durch ihr Wissen über Gesunderhaltung und Krankheitsentstehung mitwirken. Vielfältige Optionen für Prävention Was aber wissen wir über den Nutzen und die Wirksamkeit ärztlicher Prävention? Mit dem 2008 eingeführten Neugeborenen-Hörscreening kann beispielsweise bereits in der Geburtsklinik die Diagnose einer Hörstörung „Investition in Prävention und Gesundheit lohnt sich für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes.“ Abstinenz-Rate von Rauchern um fast 70 Prozent steigern kann. Ähnliche Ergebnisse gibt es bei der Kurzintervention zum Alkoholkonsum. Bessere Rahmenbedingungen Gesundheitsberatung, Früherkennung und Prävention von Krankheiten müssen deshalb als originär ärztliche Aufgaben gefördert werden. Wir brauchen aber auch den politischen Willen, Ärzte in der Prävention zu stärken. Leider wird dies im geplanten Präventionsgesetz der Bundesregierung nur unzureichend berücksichtigt. Dort, wo der Ärzteschaft Aufgaben übertragen werden, wird vorausgesetzt, dass damit für die Krankenkassen keine Mehrkosten entstehen. Sicherlich sind die im Gesetz vorgesehene altersmäßige Ausweitung der Kinder- und Jugenduntersuchungen und die stärkere Ausrichtung der Gesundheitsuntersuchungen auf die Erfassung und Bewertung gesundheitlicher Risiken und Belastungen ein richtiger Schritt. Aber die Ausgestaltung dieser Untersuchungen darf nicht allein dem Gemeinsamen Bundesausschuss überlassen werden. Anzahl und Umfang der angebotenen Untersuchungen für GKV-Versicherte könnten sich verringern statt erhöhen, zumal der Gesetzgeber den Krankenkassen für die neugestalteten Gesundheitsuntersuchungen Kostenneutralität in Aussicht gestellt hat. Bei einer qualitativen Neugestaltung der ärztlichen Vorsorge muss die Honorierung der Untersuchungen ergebnisoffen und leistungsbezogen diskutiert werden. Das ärztliche Präventionspotential muss noch stärker ausgeschöpft werden. Statt Ärzte auf das Ausfüllen von Präventionsempfehlungen für Krankenkassenkurse zu reduzieren, sollte der Gesetzgeber die Grundlagen für ein ärztliches Präventionsmanagement schaffen, das sowohl eine Exploration gesundheitlicher Belastungen, eine ärztliche Beratung und Begleitung von Präventionsaktivitäten als auch die Bewertung ihrer Wirksamkeit umfasst. Völlig unverständlich ist es außerdem, wie die Entwicklung einer Nationalen Präventionsstrategie, die diesen Namen auch verdient, ohne die verfasste Ärzteschaft erfolgen soll. In der neu zu konstituierenden Nationalen Präventionskonferenz sind laut Gesetzentwurf zwar die Sozialversicherungsträger, Ministerien, Länder- und Patientenvertreter als Mitglieder berücksichtigt, die ärztlichen Spitzenorganisationen jedoch bleiben außen vor. In einem Punkt aber hilft kein Abtauchen von Politik und Gesellschaft. Gesundheitsförderung und Prävention sind Aufgaben von Kindergärten, Schulen, Bildungseinrichtungen, Politik und Gesellschaft – und nicht eine Aufgabe von Ärzten allein. Investition in Prävention und Gesundheit lohnt sich, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes. Die Ärztinnen und Ärzte leisten dazu gerne ihren Beitrag. Professor Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, Berlin Deutschland vertreten sind, stellen wichtige regionale Wirtschaftsfaktoren dar und sichern Beschäftigung, Wachstum und Innovationen für die gesamte Volkswirtschaft. Wirtschaftsfaktor Gesundheit Eine gute Gesundheitsversorgung ist für jede Gesellschaft und den Einzelnen von großem Vorteil und kann einen Beitrag zur Lebensqualität der Menschen leisten. Für Deutschland sind damit zugleich wichtige Perspektiven und Chancen verknüpft. Die Gesundheitswirtschaft gehört zu den am stärksten wachsenden Branchen – fast 14 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind hier tätig, rund ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts wird im Gesundheitsmarkt erwirtschaftet. Die standortgebundenen Gesundheitsdienstleistungen sind eng verknüpft mit den Leistungen der industriellen Gesundheitswirtschaft. Gleichzeitig stehen die Unternehmen im internationalen Wettbewerb, erforschen und entwickeln Innovationen, um medizinischen Fortschritt möglich zu machen. Damit leistet die Pharmaindustrie einen wichtigen Beitrag zur gesamten Gesundheitswirtschaft: Sie trägt mehr als die Hälfte der Exporte, als forschungsintensivste Industrie in Deutschland treibt sie maßgeblich den medizinischen Fortschritt und ist wichtiger Kooperationspartner für Start-ups, für Kliniken, Institute und Universitäten. Deutschland ist weltweit nach den USA der zweitgrößte Standort für klinische Studien. 14 Prozent ihres Umsatzes wenden die PharmaUnternehmen in Deutschland für Forschung und Entwicklung auf; 2015 voraussichtlich etwa sechs Milliarden Euro. Rund 19 000 hochqualifizierte Angestellte sind allein in Deutschland für Forschung und Entwicklung tätig. Erfolgreiche Netzwerke bieten Perspektiven Deutschland verfügt mit den pharmazeutischen Unternehmen über eine starke wirtschaftliche Basis mit einem hohen Innovationspotential, um international wettbewerbsfähig zu sein und die Herausforderungen des demographischen Wandels zu meistern. Um die Potentiale nutzen und künftig noch bessere Behandlungen für Patienten zu ermöglichen, brauchen wir in Deutschland Netzwerke des Fortschritts. Medizin, Forschung, Politik und Industrie können jeweils viel bewegen. Lösungen im Rahmen einer nationalen Diabetes-Strategie oder einer internationalen EbolaStrategie sind jedoch nur im Zusammenwirken aller Akteure erfolgreich. Benötigt werden vernetztes Denken und branchenübergreifende Lösungen für die Zukunftsfrage: Wie können Gesundheitslösungen weltweit organisiert, finanziert und gesichert werden? Um effektive Beiträge für bessere Gesundheitslösungen der Zukunft zu leisten, sind die Akteure der Gesundheitsbranche wechselseitig auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen. Die Notwendigkeit von partnerschaftlicher Umsetzung muss ernst genommen werden. Die Suche nach gegenseitiger Akzeptanz und Anerkennung ist die Voraussetzung, um Innovationschancen zu nutzen und in einer Gesundheitsallianz gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin vfa – Verband forschender Arzneimittelhersteller Leitlinien als Grundlage medizinischen Handelns Der enorme Wissenszuwachs in der Medizin stellt bei der Anwendung in der Praxis eine Herausforderung dar. Von medizinischen Experten entwickelte Leitlinien unterstützen Arzt und Patienten. Allerdings mangelt es an Akzeptanz und Umsetzung in der Praxis. VON INA KOPP L eitlinien sollen Ärzten und Patienten als solide Wissensgrundlage für eine gute medizinische Versorgung dienen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. In Deutschland koordiniert die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) seit 20 Jahren die Entwicklung von Leitlinien. Die 168 medizinischen Fachgesellschaften in der AWMF entwickeln diese Leitlinien in Kooperation mit den an der Versorgung beteiligten Fachdisziplinen, oft auch mit nichtärztlichen Berufsgruppen und Vertretern der betroffenen Patienten. Mangelnde Anwendung in der Praxis Früh hat die AWMF qualitätssichernde Maßnahmen für die Leitlinien umgesetzt, zum Beispiel für den Umgang mit Interessenkonflikten oder für die sorgfältige und kritische Aufbereitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dennoch ist die Umsetzung der Leitlinieninhalte im Praxisalltag noch deutlich verbesserungsfähig. „Die wissenschaftliche Kritik ist dem Arzt absolut unentbehrlich. Einerseits beschützt sie ihn vor dem Hange der Selbsttäuschung, und andererseits bewahrt sie ihn vor dem Hin- und Hertaumeln von einer Modetorheit zur anderen.“ Dies befand schon im frühen 20. Jahrhundert der berühmte Internist, Pharmakologe und Pathologe Bernhard Naunyn. Vor diesem Hintergrund sollten die bestehenden Leitlinienempfehlungen eine hohe Akzeptanz erfahren. Doch das Gegenteil ist oft der Fall. Zum einen werden Leitli- „Leitlinienempfehlungen sollten eine hohe Akzeptanz erfahren. Doch das Gegenteil ist der Fall.“ nien bis heute mitunter missverstanden als „Kochbücher“ oder „Robotermedizin“, die den Arzt ersetzt oder die individuellen Bedürfnisse des Patienten ausklammert. Das Gegenteil ist beabsichtigt: Ob eine Leitlinienempfehlung im Einzelfall anwendbar ist, muss immer im individuellen Gespräch zwischen Arzt und Patient ermittelt werden. Die Leitlinie soll lediglich als Wissensgrundlage vor Torheit schützen. Zum anderen erreichen die ausführlichen Leitlinien, die mehr als 250 Seiten umfassen können, und begleitende Patienteninformationen mit mehr als 50 Seiten ihre Zielgruppen nicht. Ein Beispiel ist die berühmte „Krux mit dem Kreuz“. Zu viele Röntgenbilder werden bei akuten Schmerzen gemacht, und zu wenig werden kombinierte, aktivierende Behandlungsprogramme angeboten und in Anspruch genommen, wenn die Schmerzen chronisch werden. Und das, obwohl eine qualitativ hochwertige Nationale Versorgungsleitlinie nebst Patientenleitlinie existiert. Ergänzungen zu Leitlinien – kurze, fundierte Empfehlungen Zahlreiche Wissenschaftliche Fachgesellschaften beschäftigen sich international und national in den letzten fünf Jahren mit der Frage, wie wichtige Empfehlungen aus Leitlinien zur Verbesserung der Versorgungsqualität besser in die Praxis transferiert werden könnten. Wesentlich dabei sind zwei Überlegungen. Einerseits gilt es, Aktionismus in der Medizin zu vermeiden, der dem Patienten mehr schadet als nützt. Dieser Aktionismus entsteht teilweise aus der Angst, aufgrund unterlassener Leistungen verklagt zu werden, wird aber auch durch finanzielle Fehlanreize des Gesundheitssystems gefördert („Mehr Leistung bringt mehr Geld.“). Andererseits gilt es zu hinterfragen, welche Leistungen zu selten in Anspruch genommen und stärker unterstützt werden sollten. Das Problem beginnt schon bei der geringen Wertschätzung für Gespräche zwischen Arzt und Patient. Die AWMF unterstützt daher die Bemühungen ihrer Mitglieder, prioritäre Empfehlungen kurz und knapp herauszustellen und hat dazu die Qualitätsoffensive „Gemeinsam Klug Entscheiden“ ins Leben gerufen. Am Ende sollen fach- und berufsgruppenübergreifend sowie gemeinsam mit Patientenvertretern abgestimmte Empfehlungen als Grundlage für Entscheidungen stehen. „Gemeinsam Klug Entscheiden“ stellt den Patienten in den Mittelpunkt und ist auch eine Antwort auf die zunehmende marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitssystems. Prof. Dr. med. Ina B. Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für medizinisches Wissensmanagement, Philipps-Universität Marburg Ersetzt die CT-Angiographie die Herzkatheter-Untersuchung? Bei der Diagnose von Herzerkrankungen gilt die Herzkatheter-Untersuchung nach wie vor als Goldstandard. Eine schonendere und kostengünstigere Alternative stellt in vielen Fällen die Computertomographie dar. Sie wird aber für die Darstellung der Herzkranzgefäße von den gesetzlichen Krankenkassen bislang nicht bezahlt. Von Christian Hamm und Thomas Meinertz D eutschland gehört zu den Ländern, in denen pro Kopf der Bevölkerung die meisten Herzkatheter-Untersuchungen gemacht werden. Dabei werden unter örtlicher Betäubung von der Leiste oder der Ellenbeuge ausgehend Schläuche mit 1,3 bis 1.8 Millimeter Durchmesser eingeführt. Diese Schläuche können über die große Bauchschlagader bis in die linke Herzkammer und zu den Herzkranzgefäßen geschoben werden. Es erfolgt eine direkte Kontrastmittel-Injektion in die Herzkranzgefäße und mittels Röntgendarstellung die individuelle Situation der Gefäße für den Herzmediziner erkennbar. Das klingt risikoreich, ist aber in geübten Händen eine schmerzlose und ziemlich ungefährliche Untersuchung. Auf den Röntgenaufnahmen erkennt der Arzt dann, ob ein Verschluss oder eine Verengung der Koronargefäße vorliegt. Je nach Diagnose kann er unmittelbar im Anschluss eine gezielte Behandlung durchführen – etwa eine Bypass-Operation oder das Einsetzen einer Gefäßstütze (Stent). Besonders bei Notfällen, zum Beispiel beim Herzinfarkt, ist die Herzkatether-Untersuchung nicht zu ersetzen, da man unmittelbar im gleichen Eingriff die lebensrettende Gefäßerweiterung und Stent-Implantation durchführen kann. Doch nicht bei allen Patienten ist eine solche Untersuchung notwendig. So kann man bei Patienten mit chronischen Herzerkrankungen und Symptomen wie einer stabilen Angina Pectoris heute auf einfachere, nichtinvasive Weise klären, ob die Herzkranzgefäße erkrankt sind: Entweder durch Belastungstests, mit denen man Durchblutungsstörungen nachweisen oder ausschließen kann, oder mittels neuer Computertomographie- (CT-)Techniken. n zu ermögNeue CT-Gerätegeneration nd Netzwerkann Herzkatheter ersetzen hung, Politik el bewegen. nalen Diabe- Noch vor 20 Jahren war es kaum vorstellbar: nalen Ebola- Heutzutage können mit einer nichtinvasiven mmenwirken CT-Angiographie Koronargefäße ähnlich werden ver- gut sichtbar gemacht werden wie mit der bergreifende Wie können organisiert, oder sehr rascher Herzschlag. Aber auch für die CT-Untersuchung muss die Indikation stimmen, da damit eine Strahlungsbelastung und Kontrastmittelgabe verbunden sind. Es muss also ein triftiger Grund dafür vorliegen, das Herz genauer zu untersuchen. Der Patient sollte auch prinzipiell bereit sein, anschließend eine Herzkatheter-Untersuchung machen zu lassen, falls sich aus dem CT-Befund eine Notwendigkeit dazu ergibt. Bisher keine Kostenübernahme Herzkatheter-Untersuchung oder CT-Angiographie – in Notfällen haben Herzmediziner keine Wahl: Der Herzkatheter ermöglicht oftmals Diagnose und Behandlung in einem einzigen Eingriff. aufwendigen Herzkatheter-Untersuchung. Durch neue Entwicklungen in der Hard- und Software der Geräte gelang es, zahlreiche der bislang vorhandenen Einschränkungen dieses Verfahrens zu lösen. Dazu gehört auch die Problematik der Strahlenbelastung, die bei den Geräten der neuesten CT-Generation weit unter der einer Herzkatheter-Untersuchung liegt. Wie die Beurteilung der Bilder der invasiven Koronarangiographie bedarf auch die CT-Koronarangiographie einer Befundung durch einen erfahrenen Experten. Nach derzeitigen Leitlinien ist eine CT-Untersuchung angebracht, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, dass bedeutsame Einengungen der Herzkranzgefäße vorliegen. Das Verfahren dient also eher zum Ausschluss einer Koronaren Herzerkrankung als zu deren Diagnose. Das mag widersprüchlich klingen, macht aber Sinn, da im Gegensatz zur HerzkatheterUntersuchung nicht sofort eine Therapie erfolgen kann. Deshalb ist die CT-Untersuchung nicht indiziert, wenn sich mit großer Wahrscheinlichkeit eine Verengung findet, die der Kardiologe gleich mit einem Stent beheben könnte. Liefern dagegen die Voruntersuchungen, wie etwa Belastungs-EGK und Ultraschall, und die Symptomatik keine eindeutigen Hinweise auf schwerwiegende Veränderungen der Koronargefäße, bietet Überversorgung abbauen, Qualität sichern bessere Gezu leisten, eitsbranche mmenarbeit on partnernst genom-Unterschiedliche Faktoren egenseitiger haben an verschiedenen die Vorausn zu nutzenStellen im Gesundheitsgemeinsam system zu Überversorgung geführt. Es bedarf der rerin vfa – elhersteller Dialogfähigkeit und aufgeklärter Patienten. lns V7 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 VON DANIEL STRECH P atienten erwarten, dass ihnen medizinische Leistungen mehr nutzen als schaden. Das deutsche Gesundheitswesen schafft diesen Patientennutzen an vielen Stellen. Andererseits gibt es in Deutschland wie auch im Ausland ein bedeutsames Ausmaß an Überversorgung. Der Begriff steht für die Durchführung von medizinischen Leistungen, die nicht ärztlich indiziert sind, nicht den eigentlichen Präferenzen von gut aufgeklärten Patienten entsprechen oder deren Nutzen nicht hinreichend gesichert ist. Eine Überversorgung kann im schlimmsten Fall gesundheitliche Gefahren für Patienten bedeuten, auf jeden Fall verschwendet sie die Gelder der gesetzlichen Krankenversicherung. Verschiedene Ursachen identifizieren So wird im Kontext der Überversorgung unter anderem in Frage gestellt, ob die hohe Anzahl von Untersuchungen der Herzkranzgefäße in allen Fällen gerechtfertigt ist. Manchmal könnte auch das Schadenspotential für den Patienten überwiegen, wie zum Beispiel das Risiko unerwünschter Blutungen oder anderer Nebenwirkungen. Kritische Rückfragen zur sinnvollen NutzenSchaden-Abwägung finden sich auch für therapeutische Verfahren wie zu der hohen Anzahl an Hüft- und Knieoperationen in Verbindung mit entsprechenden Endoprothesen. Nach einer Umfragestudie, durchgeführt vom Lehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen, vertreten 39 Prozent der befragten deutschen Chefärzte die Ansicht, dass ökonomische Gründe zu nicht erforderlichen medizinischen Maßnahmen führen. Ein Generalverdacht unlauteren Verhaltens für die gesamte Ärzteschaft wäre vor diesem Hintergrund jedoch unangemessen. Zum einen betrifft Überversorgung einige Ärzte mehr und andere weniger oder gar nicht. Zum anderen kann Überversorgung im Einzelfall auch unbewusst oder aufgrund einer nicht ausreichend evidenzbasierten Fortbildung von Ärzten geschehen. Weiterhin gibt es für viele medizinische Maß- nahmen auch kontroverse Diskussionen da rüber, wann deren Anwendung angemessen und wann sie als Überversorgung zu bezeichnen wäre. Ein Arzt, der sich im Interesse des Patienten mit Diagnostik und Therapie zurückhält, kann auch auf Patienten treffen, die diese „Wenigeristmehr“-Strategie falsch verstehen. Patienten, die monatlich hohe Pflichtbeiträge für die Krankenversicherung zahlen, könnten reflexhaft denken: „Will die Ärztin bei mir sparen?“ oder „Gibt sich der Arzt bei mir keine Mühe mehr?“ Situation erkennen und kommunizieren Um die Qualität in der medizinischen Versorgung zu sichern, müsste die Ärzteschaft in einem ersten Schritt deutlicher nach innen und außen kommunizieren, dass es ein relevantes Problem mit Überversorgung auch in Deutschland gibt. Zudem muss öffentlich sichtbar klargestellt werden, dass finanzielle Eigeninteressen oder Engpässe von Ärzten oder Krankenhäusern niemals durch eine Überversorgung gut bezahlter diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen adressiert werden dürfen. Ein erster Schritt könnte eine Orientierung an der US-amerikanischen Choosing Wisely Initiative sein, die Top-5-Listen für Überversorgung veröffentlicht. Damit können Ärzte unter sich und mit der Öffentlichkeit in einen konstruktiven Dialog treten. Solche Listen können jedoch die Herausforderungen von Überversorgung und die aktuell an vielen Orten diskutierten ökonomischen Fehlanreize in der Medizin nicht allein lösen. Vielmehr sollten sie die angestoßenen Debatten zur Qualitätssicherung im deutschen Gesundheitswesen weiter vertiefen. Aufgeklärte Patienten im Vorteil Zudem sollten sich noch mehr Patienten für die nachgewiesenen Nutzen und Schäden von medizinischen Interventionen interessieren. Wer resistent ist gegen evidenzbasierte ärztliche Hinweise, dass z. B. Antibiotika bei viralen Erkältungsinfekten oder andere „Vielhilftviel“-Strategien nicht helfen, sondern nur Nebenwirkungen hervorrufen, der erleichtert den Abbau von Überversorgung nicht. Die Ärzteschaft und andere Gesundheitsberufe sollten deshalb weiter daran arbeiten, Patienten zu befähigen, auf der Grundlage evidenzbasierter Informationen kluge Entscheidungen für ihre Gesundheit zu treffen. Die Medizin bietet heute vielfältige Möglichkeiten. In einigen Bereichen gibt es einen Trend zur Überversorgung. FOTO CREATIVA, FOTOLIA,COM Professor Dr. med. Dr. phil. Daniel Strech, CELLS – Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover (MHH) die CT-Untersuchung eine gute Alternative zur Abklärung. In manchen Fällen wird anschließend doch noch eine HerzkatheterUntersuchung notwendig werden, da sich behandlungsbedürftige Gefäßverengungen im CT gezeigt haben. Das sollte aber eher die Ausnahme sein, um unnötige Untersuchungen zu vermeiden. Wann bleibt der Herzkatheter die erste Wahl? Bei allen Patienten, bei denen wahrscheinlich eine Stent-Implantation oder Operation notwendig ist – zum Beispiel bei Patienten mit Herzinfarkt oder starken, typischen FOTO PSDESIGN1, FOTOLIA.COM Brustschmerzen in Ruhe oder bei leichter Belastung –, würde durch die CT-Untersuchung wertvolle Zeit verloren gehen. Dasselbe gilt für Patienten, bei denen man aufgrund der Vorgeschichte oder den Ergebnissen des Belastungs-EKGs vermuten muss, dass eine Verengung vorliegt. Auch hier sollte man unnötige Doppeltuntersuchungen vermeiden. Der Herzkatheter bleibt der Goldstandard, wenn die Diagnosestellung schwierig ist. Mit den modernen Geräten gibt es kaum noch Patienten, die für eine CT-Untersuchung nicht in Frage kommen. Als Kontraindikation gelten in erster Linie sehr starke Verkalkungen und ein sehr unregelmäßiger Noch wird von der CT-Angiographie des Herzens relativ wenig Gebrauch gemacht. Die CT-Technik ist erst seit kurzem so weit entwickelt, dass man sie als Ersatz für eine Herzkatheter-Untersuchung empfehlen kann. Entscheidend ist auch, dass die Beurteilung der Untersuchung durch erfahrene Ärzte erfolgen sollte. Am besten geschieht das, indem ein Kardiologe als Experte für das Herz und ein Radiologe als Spezialist der CT-Technologie gemeinsam die Untersuchung durchführen und befunden. Das ist noch nicht überall sichergestellt. Zudem übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen bisher nicht die Kosten dieser ambulanten Untersuchung, sondern bezahlen lieber die teurere HerzkatheterUntersuchung. Dasselbe gilt auch für die Kernspintomographie des Herzens. Mit ihr kann man zwar die Gefäße nicht sichtbar machen, aber auf sehr schonende und sichere Art ohne Strahlenbelastung prüfen, ob Durchblutungsstörungen des Herzens vorliegen. So trägt unser Versicherungssystem selbst dazu bei, dass immer noch so viele Herzkatheter-Untersuchungen gemacht werden, obwohl es für viele Patienten schon bessere, sichere und sogar kostengünstigere Alternativen gibt. Professor Dr. med. Christian Hamm, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie - Herz– und Kreislaufforschung Professor Dr. med. Thomas Meinertz, Präsident der Deutschen Herzstiftung V8 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg / 17. April 2015 BIG Data FOTO VITSTUDIO, FOTOLIA.COM NACHGEFR AGT Neue Dimension für Datenanalysen: Aus Wochen werden Sekunden! er N tn TN ER -I N S TI T U T/ K. HERSC HE Has LM so AN Pl at Am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam wurden die Grundlagen für die In-Memory-Technologie entwickelt, welche heute in allen Branchen die Analyse großer Datenvolumina revolutioniert. Der Unternehmer, Gründer und Mäzen Hasso Plattner spricht über die Potentiale dieser Technologie, insbesondere in der Medizin, sowie die Chancen der deutschen Gesundheitsindustrie in den internationalen Märkten. Die Fragen stellte Anna Seidinger. F OTO H ASS O- A PL T Herr Professor Plattner, die In-MemoryTechnologie, an deren Entwicklung Sie selbst maßgeblich mitgewirkt haben, hat die Möglichkeiten der Datenverarbeitung in neue Sphären gehoben. Wie profitieren die Nutzer davon? Unternehmen sind seit jeher darauf angewiesen, Markttrends frühzeitig zu erkennen, um adäquate Geschäftsentscheidungen treffen zu können. Dazu müssen ausgewählte Kenngrößen erfasst und regelmäßig überwacht werden. Mit der zunehmenden Digitalisierung unseres Alltags verfügen wir heute über immer detailliertere Verfahren zur Erhebung und Verarbeitung dieser Kenngrößen. So werden immer größere Datenmen- gen erzeugt, die adäquate Werkzeuge zur interaktiven Analyse möglichst in Echtzeit erfordern, um konkrete Handlungsentscheidungen ableiten zu können. Welche Anwendungen können in der Praxis profitieren? Beispiele hierfür sind Börsentransaktionen, die binnen weniger Millisekunden computergestützt ausgeführt werden und über den Marktwert eines Unternehmens entscheiden. Oder Konsumentenmeinungen auf SocialMedia-Plattformen wie Facebook und Twitter, ein untrüglicher Indikator, ob ein neues Produkt am Markt akzeptiert wird oder nicht. Eine wichtige Datenquelle bieten die verschiedensten Sensoren: Transport wege von sensiblen Produkten können mittels RFID-Technologie über die gesamte Lieferkette hinweg verfolgt werden, Windkraftanlagen und Produktionsanlagen können rund um die Uhr überwacht werden, bis hin zu persönlichen Gesundheitsarmbändern, die pausenlos Daten produzieren. Hier werden heutzutage binnen weniger Sekunden mehr Daten generiert als in Unternehmen noch vor 20 Jahren binnen eines ganzen Jahres. Es ist vor allem die Geschwindigkeit der Datenverarbeitung, die sich vervielfacht hat. Ja. Die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar große Leistungskraft moderner Rechensysteme bietet die Möglichkeit, die berühmten „Big Data“ ohne Wartezeiten zu analysieren und zu bearbeiten. So sind Hauptspeicherkapazitäten im Terabytebereich mittlerweile Normalität, in denen die gesamten Geschäftsdaten der weltweit größten Unternehmen Platz finden. Gemeinsam mit meinen Doktoranden an der Universität erforschen wir seit 2006 die In-Memory-Technologie, die diese technologischen Vorteile erstmals kombiniert und eine flexible Massendatenauswertung binnen einem Wimpernschlag ermöglicht. SAP hat diese Ideen aufgegriffen und als Produkt SAP HANA erfolgreich auf den Markt gebracht. Die In-Memory-Technologie eröffnet allen Anwendungen, bei denen große Datenmengen in Realzeit zu verarbeiten sind, neue Möglichkeiten. Das trifft auch auf die Medizin zu. Hier fallen ebenfalls immer größere Datenmengen an, zum Beispiel bei Genomanalysen oder bei klinischen Fragestellungen der Medikamentenentwicklung. Wie kann die In-Memory-Technologie in diesem Bereich schon heute genutzt werden, und was sind Ihre Erwartungen für die Zukunft? Mein Vater war Arzt und hat oft von Herausforderungen beim sprichwörtlichen Finden der Nadel im Heuhaufen berichtet. Das medizinische Wissen hat sich in den letzten Jahrzehnten überaus rasant weiterentwickelt, und gleichzeitig sind ganz neue Herausforderungen dazugekommen. Durch immer detailliertere diagnostische Verfahren können heute binnen weniger Stunden riesige Datenmengen erzeugt werden, das Analysieren und Auswerten dieser Daten dauert jedoch bis zu Wochen. Außerdem fällt es einem einzelnen Arzt immer schwerer, Schritt zu halten mit den immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Meine Doktoranden in Potsdam arbeiten seit 2010 mit Experten aus Fachdisziplinen wie Biologie, Medizin oder Genetik in interdisziplinären Teams zusammen, um die Möglichkeiten der In-Memory-Technologie im medizinischen Bereich zu erforschen. So konnten wir zeigen, dass das zeitaufwendige Verarbeiten und Analysieren medizinischer Daten statt wie bisher in Wochen binnen Sekunden durchgeführt werden kann. Die In-Memory-Technologie bietet dem Arzt über die intelligente Verknüpfung mit internationalen Wissensdatenbanken in Sekundenschnelle Unterstützung bei der Diagnose und bei Therapieentscheidungen, Informationen zu ähnlichen medizinischen Fällen, zu neuesten Publikationen und zu passenden klinischen Studien. Wie kann das in der Anwendung aussehen? Ein Beispiel ist der mit dem Berlin-Brandenburger Innovationspreis ausgezeichnete und mit der Charité als Prototyp entwickelte „Oncolyzer“. Es ist ein Tool, das Onkologen auf mobilen Endgeräten interaktive Datenanalysen auf dem Klinik- campus ermöglicht. Mittlerweile hat SAP dies zur Anwendung „Medical Research Insights“ erweitert, die Krebsmedizinern weltweit zur Verfügung steht. Ein anderes Beispiel ist unsere Online-Plattform http:// we.AnalyzeGenomes.com, die Medizinern und Forschern die browserbasierte Verarbeitung und Analyse von Ge-nomdaten ermöglicht, ohne dass sie dabei von einer eigenen IT-Abteilung unterstützt werden müssten. Dank In-Memory-Technologie sind alle weltweit verfügbaren Forschungsergebnisse nur einen Fingertipp entfernt und stehen unmittelbar zur Verfügung. Übrigens können so auch Mediziner in kleinen Krankenhäusern oder aus Entwicklungsländern auf neueste medizinische Erkenntnisse zugreifen, ohne die erforderliche Hard- oder Software selbst vor Ort zur Verfügung zu haben. Das deutsche Gesundheitswesen gehört mit über zwölf Prozent des BIP zu den größten Wirtschaftssegmenten. Kennzeichnend sind zahlreiche Akteure wie Ärzte, Klinikbetreiber, Krankenkassen, Politik, medizintechnische und pharmazeutische Industrie sowie die Patienten und ihre Interessenvertretungen, die sich für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Patienten einsetzen. Bisher findet kaum eine Vernetzung der zur Verfügung stehenden Daten statt. Welche Potentiale sehen Sie hier aus IT-Sicht? Bei der Vernetzung von Gesundheitsdiensten befindet sich Deutschland derzeit in der Transformation. So werden erste Projekte, wie zentrale Krebsregister oder klinikübergreifender Austausch von medizinischen Daten vorangetrieben. Insgesamt betrachtet bietet sich hier ein riesiges Potential. Beispiele aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten zeigen, dass zum Beispiel durch die landesweite Überwachung von wichtigen Kenngrößen im Gesundheitswesen Transparenz geschaffen, Qualität gesteigert und Kosten optimiert werden können. Es ist dringend notwendig, künftig auch in Deutschland den Austausch behandlungsrelevanter Daten zu ermöglichen und mit den Techniken des Internets der Dinge noch einfacher und rasanter voranzubringen. Zusätzlich könnten durch den Einsatz mobiler Endgeräte, wie Tablet-PCs oder Smartphones, überfüllte Wartezimmer der Vergangenheit angehören. Unabhängig vom Aufenthaltsort des Patienten oder des behandelnden Arztes lassen sich alle erforder-lichen Informationen kombinieren. Ferndiagnosen durch Telemedizinzentren und die lückenlose Überwachung von Patienten mit chronischen Erkrankungen oder nach Krankenhausaufenthalten sind nur einige der Vorteile, die ich künftig sehe. Die Überwachung medizinischer Kenngrößen von Hunderttausenden Patienten erfordert jedoch geeignete Analyseverfahren, die interaktiv relevante Veränderungen aufspüren können, um Mediziner bei ihrer Arbeit unterstützen zu können. Auch hier kann die In-Memory-Technologie einen wichtigen Beitrag leisten. Als weltweit erfolgreicher Unternehmer können Sie die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gut beurteilen. Welche deutschen Stärken schätzen Sie? Deutschland ist gut bekannt als Land der Ingenieure, die Marke „Made in Germany“ steht für den Erfolg der deutschen Wirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland. Eine wichtige Voraussetzung für diesen Erfolg waren ein sehr solides Bildungssystem und die große Dichte tüchtiger Experten. Um darauf auch in Zukunft bauen zu können, muss in Bildung, in Schulen und Universitäten investiert werden. In meinem Institut in Potsdam achte ich beispielsweise darauf, dass den Studenten neben den erforderlichen wissenschaftlichen Grundlagen auch die richtigen Handwerkszeuge und Methodiken vermittelt werden. Die jungen Leute müssen Selbstvertrauen entwickeln in ihre Fähigkeit, vollkommen neue Ideen zu denken und innovative Produkte oder Dienste erfinden zu können. Hier setze ich auf das Design Thinking, eine ursprünglich an der Stanford University entwickelte Methode, um Innovationsprozesse durch interdisziplinäre Teams voranzutreiben, die an unseren beiden D-Schools an der Stanford-Universität und in meinem Institut in Potsdam unterrichtet wird. In welchen Bereichen haben wir noch Nachholbedarf? Als Gesellschaft müssen wir lernen, auch ungewöhnlichen Ideen Aufmerksamkeit zu schenken, statt sie mit Sätzen wie „Das haben wir schon immer so gemacht“ abzuwiegeln. Ebenso müssen wir lernen, offener mit Niederlagen umzugehen. Das ist gerade im deutschen Mentalitätsumfeld wichtig, da das Scheitern noch immer als dauerhafte persönliche Niederlage betrachtet wird. Hier können wir von der Silicon-Valley-Mentalität lernen. Dort wird Scheitern als Lerninstrument verstanden, um die Sinne auf Ursachen des Scheiterns zu schärfen und Anzeichen dafür künftig früher erkennen zu können. Mittlere und große Unternehmen sind heute global aufgestellt. Das bietet auch für die Medizin enormes Potential – Patienten für klinische Studien können weltweit rekrutiert werden; Patientenund ihre Therapiedaten können anonymisiert weltweit verglichen und verbessert werden, ebenso Forschungsprojekte, medizinische Eingriffe etc. Was trauen Sie Deutschland und deutschen (Gesundheits-)Unternehmen im globalen Wettbewerb zu? In Deutschland entstehen heute sehr vielversprechende neue Geschäftsideen und -modelle rund um die Veredlung medizinischer Big-Data. Sieht man sich aber die heute gültigen Datenschutzregelungen an, dann dürfen solche Geschäftsideen in Deutschland nicht verwirklicht werden, denn diese Regelungen basieren auf dem Prinzip der Datensparsamkeit. Hier müssen die in Deutschland gültigen Regelungen zum Datenschutz und zum Schutz der Privatsphäre dringend neu gedacht werden. Je eher, desto besser, damit wir den Anschluss nicht verlieren. Dann kann das traditionell gute Ansehen des deutschen Datenschutz-Standards im Ausland sogar einen Wettbewerbsvorteil darstellen. IMPRESSUM Medizin zwischen Möglichkeiten und Erfolg Verlagsspezial der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt: Anna Seidinger, Diplom-Biologin/MBA Anna Seidinger Consulting, Medien Medizin Marketing Margit-Schramm-Straße 6, 80639 München [email protected] Im Auftrag der Frankfurt Business Media GmbH Layout: F.A.Z. Creative Solutions, Arnd Hildebrand Autoren: Birgit Fischer, Ulrich R. Fölsch, Michael Hallek, Christian Hamm, Gerd Hasenfuß, Hans Hoffmann, Ina Kopp, Martin Krönke, Michael Manns, Giovanni Maio, Elisabeth Märker-Hermann, Thomas Meinertz, Frank Ulrich Montgomery, Hasso Plattner, Luciano Rossetti, Anna Seidinger, Britta Siegmund, Daniel Strech Verantwortlich für Anzeigen: Ingo Müller, für Anzeigenproduktion: Andreas Gierth Weitere Angaben siehe Impressum auf Seite 4
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