Ausblick zu einer nachhaltig funktionsfähigen Lippe und Lippeaue

Lippe: Entwicklung, Visionen
Anhang
Die Lippe und ihre Aue – historische
Entwicklung, Landschaft und Besiedlung
Ulrich Detering, Jürgen Ruppert
Die Lippe ist seit gerade 2000 Jahren historisch greifbar, ihre Aue zeigt uns Besiedlungsspuren seit der Altsteinzeit. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die wesentlichen Entwicklungslinien seit der Eiszeit gleichsam holzschnittartig herauszuarbeiten und sie durch einige farbigere Situationsschilderungen anzureichern.
Vergleicht man die Lippe mit anderen Nebenflüssen des Rheines wie Neckar, Main oder Mosel, so zeigt sie sich
als relativ klein: ihr Einzugsgebiet umfasst mit knapp 5000 km2 nur etwa das Fünffache der Fläche Berlins.
Ringsum erstrecken sich – gegen den Uhrzeigersinn – die Einzugsgebiete von Weser, Ems, Issel, Rhein, Emscher
und Ruhr. Die Lippe entwässert den Südteil der westfälischen Tieflandsbucht; im Osten strömen ihr Seitengewässer vom Egge-Gebirge und Haarstrang zu; im Westen führt sie das Wasser des zentralen und südlichen Münsterlandes über die Stever ab. Ihre Länge von rund 230 km entspricht einer Stunde Fahrzeit mit dem IntercityExpress; ihr Gefälle von 123 m, also weniger als die Höhe eines modernen Kraftwerkskamins, erweist sie als
ausgesprochenen Flachlandfluss.
Wenn man sich der Frage nähern will, wie die
Lippe natürlicherweise ausgesehen haben könnte,
so muss man sich mit der Entstehungsgeschichte
des Flusses beschäftigen. Interessant ist, dass die
Lippe vor der letzten Eiszeit wenige Kilometer
westlich von Lippstadt nach Norden floss und sich
etwa bei Rheda-Wiedenbrück mit der Ems vereinigte (Abb. 1). Erst seit dem Ende der letzten Eiszeit (Weichsel-Kaltzeit, ca. 11 500 bis 11 000 Jahre
vor heute) fließt die Lippe in westlicher Richtung
zum Rhein.
Für die Flussentwicklung bedeutet das: Das Alluvium ist wenig ausgeprägt, der anstehende Mergel
ist nur in geringer Mächtigkeit mit Sand und Kies
überdeckt und tritt in einigen Schwellen auch
zutage. Die Auen sind häufig verhältnismäßig
schmal abgegrenzt. Nach der Eiszeit entwickeln sich
über Tundraformen allmählich offene Waldlandschaften.
Weitere Kenntnisse aus der keltischen und germanischen Frühzeit stehen kaum zur Verfügung. Bekannt
Abbildung 1: Nach der letzten Eiszeit änderte Lippe ihren Verlauf und trennte sich von der Ems.
Darstellung: M. Bunzel-Drüke
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Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung
Erde-Lager in Anreppen 25 000 ausgewachsene
Eichen verbraucht. Bei einem Kronendurchmesser
von zehn Metern sind dann hierzu allein 200 Hektar
Waldfläche notwendig gewesen.
Abbildung 2: Das Gefecht bei Spellen am 12. September 1595.
ist lediglich, dass allmählich auch die höheren Lagen
der Aue besiedelt, die Wälder hier und dort ausgelichtet und die Landschaft so mehr und mehr genutzt
wurde. Spätestens in der Bronzezeit wurde der
Bedarf an Brennstoffen größer. Dies dürfte zu einem
weiteren Rückgang der Wälder geführt haben.
Das Gebiet war durch lockere Besiedlung geprägt.
Cherusker siedelten im Quellgebiet der Lippe und
um die unweit östlich gelegene altgermanische Kultstätte der Externsteine, Bructerer im eigentlichen
Lippegebiet, Usipeter im Bereich der Mündung. Die
Flussaue war sumpfig und unwegsam, nur einzelne
Nord-Süd-Wege durchzogen sie. Man geht oder reitet eher über die Höhenwege (z. B. den Haarweg im
Süden). Transporte gehen zu Wasser über die Lippe
als West-Ost-Transportweg; der Fluss bietet
ganzjährig eine recht gute Wasserführung.
Auch die Römer nutzen diesen Weg und haben
sicherlich auch in kleinem Umfang wasserbauliche
Maßnahmen durchgeführt: Sie versorgen bei ihrem
Versuch, Germanien bis zur Elbe in ihr Reich einzubeziehen, ihre Lager ausgehend von Xanten über
Dorsten-Holsterhausen, Haltern, Oberaden, Anreppen – dazwischen lagen wohl noch weitere – über
das Wasser. Diese Holz-Erde-Lager bedeuteten einen
erheblichen Holzverbrauch: So wurden für das Holz-
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Nach der Völkerwanderungszeit ist die Region sächsisches Siedlungsgebiet, das „springende Ross“
gehört bis heute zum Landeswappen in NordrheinWestfalen und Niedersachsen. In den Sachsenkriegen betreibt Karl der Große die Christianisierung im
Sachsenland und zugleich die Ausweitung des Frankenreiches. 799 wird Paderborn karolingische Pfalz,
805 Bischofssitz. Klöster widmen sich der Missionierung und fördern zugleich die Landeskultur.
Dabei wird auch die Antriebskraft des Wassers
genutzt: Erste Mühlen entstehen an Bächen, nach
und nach auch am Fluss; natürliche Mergelschwellen
werden durch Wehre erhöht, um durch mehr Aufstau
mehr Energie zu nutzen.
Ab dem 13. Jahrhundert wird die Nutzung besonders
zwischen Lippstadt und Lünen verstärkt. Die
Mühlen werden oft ohne Hochwasserentlastungen
betrieben. Um einen besseren Nutzen zu erreichen,
werden die Rechte häufig missbraucht und die Wasserstände im Oberwasser erhöht. Zwischen 1847 und
1884, also in 36 Jahren, vermerkt der Chronist nicht
weniger als 24 Überflutungen der Aue durch Sommerhochwasser im Bereich.
Nach und nach werden Städte gegründet oder wachsen heran. Lippstadt, älteste Gründungstadt in Westfalen, wird 1185 von Bernhard II gegründet. Ab
1239 wird auch Paderborn als Stadt bezeichnet.
Lippeabwärts bilden sich mit Lünen (1216), Hamm
(1226), Haltern (1239), Wesel (1241) und Dorsten
(1251) in kurzer Zeit fünf weitere Städte heraus.
Diese Siedlungen sind an Flussübergängen, also
Handelswegen entstanden, teils Brücken, teils
Fähren verbinden die Ufer. 1372 wird die Fähre
Ahsen als Lehen genannt. Also war auch im Mittelalter nicht vergessen, dass Wasser für Transporte
brauchbar ist – nicht nur quer zum Fluss. Die Städte
leben vom zunehmenden Handel, mehrere werden
Hansestädte. Freilich kennzeichnen die Städte auch
die wachsende Bedeutung von Territorialgrenzen;
Jahrhunderte lang bildet die Lippe die Südgrenze des
Bistums Münster. Wie könnte der Fluss damals ausgesehen haben?
NUA-Seminarbericht Band 9
Lippe: Entwicklung, Visionen
Abbildung 3: Die Lippe in Bad Lippspringe unterhalb der
Quelle in 1672.
Abbildung 2 zeigt das Gefecht bei Spellen am
12. September 1595 im Bereich der Mündung der
Lippe in den Rhein. Erkennbar ist, dass die geschlagenen Truppen in Richtung Norden fliehen und
dabei die Lippe durchqueren. In heutiger Zeit wäre
das mit solch schwerer Rüstung nicht möglich, die
Fliehenden müssten ertrinken. Damals aber, so belegen weitere Quellen, war die Lippe dort so flach,
dass man sie durchwaten konnte. Dafür war sie mit
etwa 140 Meter ein mehrfaches breiter als heute.
Dieser für Naturflüsse typische Zustand, nämlich
flache und breite Profile zu haben, wird auch in
historischen Bildern deutlich: Abbildung 3 zeigt die
Lippe unterhalb der Quelle in Bad Lippspringe um
1672. Erkennbar sind drei breite Arme. Ähnlich sind
auch die Verhältnisse in Boke aus dem gleichen Jahr
(Abb. 4). Nach Angaben kundiger Forscher sind die
alten Stiche in etwa maßstäblich.
Weiterhin erfolgt Schifffahrt auf der Lippe auch
längs als West-Ost-Verbindung. Freilich wird sie
zunehmend durch Zölle an den zahlreichen Territorialgrenzen erschwert. Aufwärts gegen die Strömung
NUA-Seminarbericht Band 9
Abbildung 4: Lippe bei Boke in 1672.
muss vielfach getreidelt werden. Zum Treideln
braucht man Menschen, Pferde und Leinen. Leinpfade werden durchgehend angelegt; sie müssen von
den Anliegern unterhalten werden. In Flurkarten finden sich bis heute Hinweise auf die Schifffahrt: „Vor
der Schiffswende“ in Hamm-Haaren oder „Schepphort“ in Dorsten sind Beispiele. Im 17. und 18.
Jahrhundert wurden bessere Schifffahrtsbedingungen
der Lippe vor allem seitens der Weseler Kaufmannschaft gefordert. Auf Grund der Zugehörigkeit zu
verschiedenen Staaten konnte man sich jedoch nicht
auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.
Abbildung 6 zeigt ein Plakat, welches zu einer Ausstellung im Lippstädter Heimatmuseum einlädt. Es
zeigt einen Umschlagplatz für Güter, die auf der
Lippe bis Lippstadt transportiert wurden. In Lippstadt erinnern heute noch Straßennamen wie etwa
„Lagerplatz“ an diese Nutzung des Flusses.
Was wird verschifft? Preußische Salzschiffe sollen
heimlich auch andere Kaufmannsware „nemblich
schinken, wacholder-bieren, reiß, früchte, bretter,
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Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung
Abbildung 5: Sandtransport auf der Lippe bei LippstadtBenninghausen.
korn, lein, kohlen, eysen, mehl und buchweitzen hinauf und hinunter mitfahren“ haben lassen.
Obwohl die Lippe auf Grund der hohen Quellschüttungen ein recht gute Wasserführung für die Schifffahrt hat, waren die vielen flachen Bereiche ein
unangenehmes Hindernis. Häufig muss das Frachtgut umgeladen werden.
Bei Dorsten entsteht 1767 das Kohlhaus Gahlen am
Ende des „Gahlener Kohlenwegs“. Die Ruhr war
noch nicht schiffbar und die (Ruhr-)kohle wurde
äußerst mühsam mit Ochsenkarren von Bochum,
Witten, Hattingen und Blankenstein bis hier zum
Verschiffen gebracht. Die Straßen waren vielfach in
einem jämmerlichen Zustand. Erst zwischen 1810
und 1813 wurde als neuzeitliche Straße die Chaussee
Wesel–Wulfen–Haltern als Teil der Heerstraße
Paris–Hamburg angelegt. (Nicht viel mehr als 100
Jahre später entstehen dann schon die ersten Autobahnen!)
Aber zunächst bleiben wir noch im 19. Jahrhundert,
welches ja auch schon durch schleunige Entwicklung geprägt ist: Die Lippe liegt nun nach dem Wiener Kongress 1815 gänzlich in Preußen. Eine Stromund Uferordnung für die Lippe dient seit 1817 als
Grundlage für die Unterhaltung des Flusses, entsprechend den damaligen Nutzungen. Nach 1815 werden
Vorarbeiten zu einem Lippe-Ems-Kanal unternommen: zwischen Lippstadt–Wiedenbrück und Hamm–
Drensteinfurt/Davensberg–Münster zogen Militär-
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Abbildung 6: Hafenszene aus Lippstadt.
geografen Vermessungslinien. Zwischen 1820 und
1830 wurde die Lippe selbst zum durchgehenden
Schifffahrtsweg ausgebaut; Schleusen entstehen an
allen Wehren zwischen Vogelsang und Lippstadt.
Als der preußische Baukondukteur Wehner 1820 die
Lippe bereiste, findet er zwischen Neuhaus und
Boke einen Fluss vor, den wir heute als naturnah
bezeichnen würden. Folgendes hält er in seinem
Erfahrungsbericht fest:
„. . . (kann man sich) leichtlich eine Vorstellung von
dem verwilderten Zustand derselben machen . . . die
Ufer sind abwechselnd mit Weidenwuchs und mit
Bäumen bestanden, von welchen letzteren viele
abgehauen und zum Theil, andere sogar ganz in den
Strom gestürzt sind. Mitten in demselben findet man
einzelne Weidensträuche in schönstem Wachsthume
und desgleichen mehrere der Schiffahrt entgegenstehende Hindernisse, so daß wir mit möglichster Vorsicht uns durchwinden mussten, um nicht umgeworfen zu werden . . . Die Lippe . . . hatte an den seichtesten Stellen bei dem damaligen Wasserstande 13 bis
14 Zoll (0,34 bis 0,36 Meter) Wasser. Nach . . .
Erkundungen soll sie noch 6 bis 7 Zoll (0,16 bis 0,18
Meter) kleiner werden.“
Nach 1845 entstehen im Lippegebiet Eisenbahnstrecken, sogar zügig als recht dichtes Netz. Sie laufen dem begrenzten Schifffahrtsweg zunächst den
Rang ab. Dabei ist zu bedenken, dass die wachsenden Schiffsgrößen auf der Lippe wegen der von
NUA-Seminarbericht Band 9
Lippe: Entwicklung, Visionen
H. Wehner angeführten Probleme nur noch zeitweilig verkehren konnten.
Erhöhter Holzbedarf für Bergbau führt zu weiterem
Abholzen von Waldflächen.
1850 erhält die Meliorations-Sozietät Boker Heide
(später Verband Boker Heide) das Recht, über den
Boker Kanal unterhalb der Alme-Mündung erhebliche Wassermengen zur Bewässerung abzuleiten.
Auch andere Bewässerungsgenossenschaften entstehen. Die trockenen Heideflächen (Ausläufer der sandigen Senne) werden im landwirtschaftlichen Ertrag
deutlich verbessert.
Stärkeren Einfluss auf die Gestaltung von Fluss und
Aue nahmen die Vorhaben zur Verbesserung der
landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse.
Während für die Schifffahrt lediglich Hindernisse
entfernt werden sollten, hatte die Melioration andere
Ziele: „das erste und wichtigste anzuwendende Mittel ist die Begradigung des Flusses . . . diese Krümmungen schaden der Vorflut auch dadurch, dass sie
dem Wasser die Kraft rauben, sich ein gehörig tiefes
und weiteres Flussbett selbst zu schaffen.“ (MICHAELIS 1864)
Wie stark sich die Landschaft durch unterschiedliche
Nutzungsformen änderte, ist in Bildern zu erkennen.
Abbildung 7 zeigt die Lippe bei Paderborn-Sande
um 1837. Auffallend ist der hohe Anteil von Heideflächen. Der gleiche Kartenausschnitt zeigt um
1954, dass die Heideflächen bis auf kleine Reste verschwunden sind (Abb. 8). Die Möglichkeit der
Bodenverbesserung durch den Einsatz von Kunstdünger hat diese nährstoffarmen Standorte verschwinden lassen. Klar erkennbar ist, dass die
Flächen im Bereich der Lippeaue überwiegend als
Grünland genutzt werden.
Das Bild „Lipperode" von Ernst Miesler entsteht um
1910 (Abb. 9). Der Standort des Malers lässt sich
recht genau rekonstruieren, denn die beiden
Kirchtürme von Lippstadt-Lipperode sind im Hintergrund erkennbar. Auf den Feldern wird das Getreide
geerntet, es ist also Hochsommer, die Zeit der niedrigen Wasserstände. Trotzdem ist die Lippe relativ
hoch im Gelände. An den Böschungen erkennt man
NUA-Seminarbericht Band 9
Abbildung 7: Landnutzung im Bereich der Lippe bei Paderborn-Sande um
1837 (erarbeitet durch NZO-GmbH).
Abbildung 8: Landnutzung im Bereich der Lippe bei Paderborn-Sande um
1954 (erarbeitet durch NZO-GmbH).
Sandablagerungen. Der gleiche Abschnitt zeigt heute
einen begradigten Fluss, der deutlich schmaler ist.
Die Sohle liegt erheblich tiefer in der Landschaft.
Die technischen Möglichkeiten, einen veränderten
Fluss in einem naturfremden Zustand fest zu halten,
sind deutlich geringer als heute. Der hohe Anteil an
Handarbeit macht die Arbeit schwer, die immer wieder auftretenden „Schäden“ bringen die Menschen
um den Lohn der Arbeit. Aus dieser Zeit stammt ein
Aufsatz des Heimatdichters Heinrich Luhmann, der
in dem Lippedorf Hultrop in der heutigen Gemeinde
Lippetal lebte. Er beschreibt darin die Arbeit der
Wasserbauer, die damals Kripper genannt wurden.
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Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung
Im Westen wächst währenddessen südlich der Lippe
das Industriegebiet auf der Grundlage von Kohle
und Stahl heran. Massengüter sollen nun transportiert werden; dafür reichen die Eisenbahnen nicht.
Großräumig werden Kanalprojekte entworfen und
nach jahrzehntelanger heftiger Diskussion dann auch
in wenigen Jahren verwirklicht. Der erste ist 1899
der Dortmund-Ems-Kanal, 1914 folgen DattelnHamm- und Rhein-Herne-Kanal, 1915 das erste
Teilstück des Mittellandkanales. Zunächst soll auch
die Lippe kanalisiert werden; hierzu gehört der Plan
eines Doppelhebewerkes in Olfen als Verbindung
zum Dortmund-Ems-Kanal.
Abbildung 9: Die Lippe bei Lippstadt-Lipperode um 1910, Gemälde von
Ernst Miesler.
Wir wollen ihn ein Stück auf seinem Spaziergang
von Süden her in Richtung Lippe begleiten. „Zur
nördlichen Tiefe hin zieht sich in grüner Breite ein
Wiesengürtel, einem Flusse zu beiden Ufern folgend.
Es ist ein tückisch Wasser, das mit Gras und Blumen
seine Falschheit schön umkleidet. Nicht sehr breit,
ist es von einer Tiefe, die der sengenste Sommer
nicht ausgetrunken hat. Die fröhlich schadlose Wildheit seiner Bergbrüder fehlt ihm. In Kolken und
Strudeln verbeißt sich seine Gier. Größe hat es nur,
wenn ihm der Himmel zu viel gibt. Dann braust es
über die weidenumbuschten Ufer, die es im engen
Bett fressend unternagt und unterwölbt hat, schlägt
die Maht auf den Wiesen und Feldern und wagt sich
bis an die Hausgärten . . .
Überall da, wo der Fluss die Wiesen zernagte und
die Ufer unterwölbte, mussten sie seine Wildheit
zurückdämmen. Sie füllten den Grund, den er, sein
altes Recht verletzend, begehrlich überschritten
hatte, mit Dornen und Reisig aus, rammten Pfähle
hindurch und vernagelten sie so mit dem Grunde...
dann machte eine Grasnarbe die wiedereroberte
Stelle mit der Wiese des Ufers gleich hoch, zum Wasser hin aber wurde aus der Tiefe eine Flechtmauer
aufgezogen, sie vor den beißenden Zähnen des
Untiers zu schützen.
Solcherart war die Tätigkeit der Kripper. Es war
harte Arbeit und immer Kampf, dies Entreißen der
Beute aus dem Rachen der Bestie . . .“
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Der Hafen von Wesel wird 1896 in der ehemaligen
Lippemündungsstrecke angelegt. Die Kanalisierung
der Lippe unterbleibt dann zwar doch, aber noch im
Lippegesetz von 1926 steht als Aufgabe des damit
gegründeten Lippeverbandes: Erhaltung der Schiffbarkeit der unteren Lippe (gestrichen wurde diese
Aufgabe erst bei Novellierung des Gesetzes 1990).
Statt einer Lippekanalisierung entsteht der LippeSeitenkanal in zwei Abschnitten mit der Folge, dass
der mäandrierende Fluss bis heute vielfach erhalten
blieb.
Gegen 1900 erreicht der Bergbau von Süden her die
Lippe; in Lünen, Werne, Hamm und Dorsten werden
Schächte abgeteuft. 100 Jahre später laufen die
Anlagen aber auch teils schon wieder aus und werden anderweitig genutzt (Abb. 11).
Abbildung 10: Ufersicherung an der Lippe in 1951.
NUA-Seminarbericht Band 9
Lippe: Entwicklung, Visionen
Die Bevölkerung des explosionsartig gewachsenen
Ballungsraumes und die Industrie brauchen Wasser:
Wasserwerke, die bis in den Lipperaum Wasser liefern, entstehen im Ruhrtal.
Auch an der Lippe entstehen zu Anfang des 20. Jahrhunderts Wasserwerke. Sie gewinnen aber meist
nicht Uferfiltrat wie an der Ruhr, sondern das aus
mächtigen Sandschichten seitwärts teils von weither
zuströmende Grundwasser in Haltern, DorstenHolsterhausen und Wesel. 1930 wird der Halterner
Stausee als Speicher angelegt.
Das benutzte und verschmutzte Wasser muss als
Abwasser abgeführt und gereinigt werden; die
Kanalisation entsteht. Rieselfelder, z. B. der Stadt
Dortmund seit 1895 auf Heideflächen zwischen
Waltrop und Datteln, sind erste Schritte zur Abwasserreinigung. Das Abwasser wird nach der düngenden und reinigenden Bodenpassage über Fischteiche
in die Lippe geleitet.
Industrieanlagen (Abb. 12) wachsen nun auch direkt
am Fluss; sie nutzen Kühlwasser aus der Lippe.
Klärteiche gegen gar zu hohe Abwasserbelastung
werden angelegt.
Bedarf an elektrischem Strom entsteht und wächst
gewaltig an. Zunächst kann er noch aus Wasser
gedeckt werden: Im Zusammenhang mit dem Bau
des Datteln-Hamm-Kanales werden Wehr und Wasserkraftwerk Hamm errichtet; zugleich werden hier
seit 1914 die westdeutschen Kanäle aus der Lippe
gespeist.
Bald folgen Wärmekraftwerke, die Kühlwasser brauchen, als erstes 1917 das Gersteinwerk der VEW in
Stockum mit zunächst bescheidenen 20 MW Leistung. Andere folgen: in Lünen, Hamm-Schmehausen,
Marl, Bergkamen, einige Jahre lang mit dem Thorium-Hochtemperaturreaktor auch ein Kernkraftwerk.
Wegen der immer vielfältigeren Anforderungen an
die Wasserwirtschaft dieses Raumes wird 1926 nach
den guten Erfahrungen mit der Emschergenossenschaft im südlich gelegenen Emschergebiet und mit
dem Vorläufer Sesekegenossenschaft im frühzeitig
bergbaubetroffenen Sesekegebiet der Lippeverband
NUA-Seminarbericht Band 9
Abbildung 11: Förderturm mit Colani-Büro.
Foto: Lippeverband
gegründet. Grundsatz dabei ist, dass die Mitglieder,
die von der Wasserwirtschaft Vorteile haben oder sie
erschweren, in Selbstverwaltung die notwendigen
Maßnahmen durchführen sollen – der Staat
beschränkt sich auf die Aufsichtsfunktion. Die wichtigsten Aufgaben des Verbandes sind:
– Vorfluterhaltung und HW-Schutz (auch in Senkungsgebieten des Bergbaus ➙ Deiche, Pumpwerke zur Entwässerung tief liegender Flächen,
Verlegung von Gewässern).
– Abwasserreinigung ➙ nach und nach zahlreiche
Kläranlagen im gesamten westlichen Lippegebiet,
um Gewässer zu schützen und keine weiteren
Schmutzwasserläufe entstehen zu lassen.
Wo solche Schmutzwasserläufe schon entstanden
sind, wird der ganze Bach in einer Flusskläranlage
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Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung
tung des Bundes vereinbart. Diese Pumpwerke dienen der
– Schifffahrt und der
– Wasserversorgung aus den Kanälen, besonders
auch für Kraftwerke.
Der Lippe kann nun mehr Wasser verbleiben, ja sie
kann in Trockenzeiten nun sogar angereichert werden (Abb. 14, 15).
Der ländliche Raum des östlichen Lippegebietes
hatte sich seinerzeit der Eingliederung in den Verband entzogen. Wie war dort die Entwicklung der
letzten 75 Jahre verlaufen?
Abbildung 12: Kugeltanklager der Degussa in Marl.
Abbildung 13: Kanalüberführung des Dortmund-Ems-Kanales über die
Lippe in Olfen.
Fotos: Lippeverband
gereinigt, wie z. B. an der Sesekemündung. 1957
übernimmt der Lippeverband auch die Lippeunterhaltung in seinem Gebiet; das Land stellt dafür die
Haushaltsmittel bereit.
Um dem kleinen Fluss nicht den Atem bei den
immer weiter zunehmenden Anforderungen und
Nutzungen zu nehmen, schließen Bund und Land
1968 ein Verwaltungsabkommen. Darin wird der
Bau von Pumpwerken an den Schifffahrtskanälen
gemeinsam mit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
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Hier standen die Förderung der Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft und der Hochwasserschutz im Vordergrund. In den 60-er und 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts besteht erstmals die
Möglichkeit, durch den Einsatz von Maschinen und
Material eine dauerhafte Ufersicherung herzustellen.
Durch diesen massiven Ausbau gelingt es zwar, die
landwirtschaftliche Produktion in der Aue zu verbessern, als Lebensraum wird die Lippe jedoch schwer
getroffen. Die Vielfalt natürlicher Flüsse geht verloren. Sandbänke und tiefe Kolke gibt es kaum noch,
das Profil ist eintönig geworden.
Heute wird versucht, die Lippe auch als Lebensraum
wieder zu entwickeln. Es geht dabei nicht um die
Rückkehr in frühere Zeiten. Der Blick in die Vergangenheit dient zwar immer als Anhalt für das, was
wieder geschaffen werden soll. Doch auch Nutzungsansprüche müssen berücksichtigt werden. Vor
diesem Hintergrund wird im Rahmen des Lippeauenprogramms versucht, einen Ausgleich herbeizuführen. Wo immer möglich, werden landwirtschaftliche Nutzungen zurückgenommen oder aufgegeben.
Ein Beispiel dafür ist die Renaturierung der Lippe
im Bereich der Klostermersch bei Lippstadt-Benninghausen. Dort ist die Lippe wieder so breit und
flach, wie die alten Schilderungen beschreiben. Die
alte Vielgestaltigkeit ist wieder entstanden. Sogar
ganze Bäume liegen dort wieder in der Lippe. Sehr
schnell haben die Fische auf die neuen/alten Verhältnisse reagiert. So hat sich in der renaturierten
Strecke der Fischbestand etwa verfünffacht.
NUA-Seminarbericht Band 9
Lippe: Entwicklung, Visionen
Abbildung 14: Durch den Steinkohlebergbau sinkt die Landschaft ab. Über den Bau von Deichen und den Betrieb von Pumpwerken wird die Vorflut im Gewässer erhalten.
Grafik: Lippeverband
Gleichzeitig steht der Auenraum wieder bereit, um
beim Hochwasser die Fluten aufzunehmen. Bei
jedem Hochwasser werden auf den Flächen Nährstoffe festgelegt, so dass damit auch ein Beitrag zur
Gewässerreinhaltung geleistet wird. Viele kleine und
große Maßnahmen zur Renaturierung der Lippe folgen. Den Beteiligten ist es dabei auch wichtig, dass
die Menschen an dieser Entwicklung teilhaben können. Und die Menschen genießen diese neue Wildnis. Besuchergruppen lassen sich vom Charme der
Lippe begeistern.
Für die Zukunft besteht die Hoffnung, dass alle
Aspekte der Lippe ihre Berücksichtigung finden.
Anschrift der Verfasser
Abbildung 15: Ein Lippeufer im Wandel der Zeiten.
(Gestaltung: Dr. Krause)
Dipl.-Ing. Ulrich Detering
Staatliches Umweltamt Lippstadt
Lipperoder Straße 8
59555 Lippstadt
Dr.-Ing. Jürgen Ruppert
Lippeverband
Königswall 29
44137 Dortmund
NUA-Seminarbericht Band 9
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Lippe 2022
Lippe 2022
Die Lippe wird zum Markenzeichen.
Dies grüne Band sucht seinesgleichen.
Mit ihren second hand Fluss-Auen
ist sie recht freundlich anzuschauen.
Fischtreppen helfen zu vermehren,
was früher endete an Wehren.
Der Wassersport mit flinkem Boot
hält sich an Regeln und Gebot.
Die Städte nutzen Lippewellen,
um Wasser schöner darzustellen.
Der Mensch erlebt die Lippe mehr
jenseits von Hetze und Verkehr.
Das Wasser treibt an ihm vorbei
und macht die Seele wieder frei.
Und zwischen Quelle und der Mündung
fliesst reichliche Naturempfindung.
Gerhard Laukötter
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NUA-Seminarbericht Band 9