Lippe: Entwicklung, Visionen Anhang Die Lippe und ihre Aue – historische Entwicklung, Landschaft und Besiedlung Ulrich Detering, Jürgen Ruppert Die Lippe ist seit gerade 2000 Jahren historisch greifbar, ihre Aue zeigt uns Besiedlungsspuren seit der Altsteinzeit. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die wesentlichen Entwicklungslinien seit der Eiszeit gleichsam holzschnittartig herauszuarbeiten und sie durch einige farbigere Situationsschilderungen anzureichern. Vergleicht man die Lippe mit anderen Nebenflüssen des Rheines wie Neckar, Main oder Mosel, so zeigt sie sich als relativ klein: ihr Einzugsgebiet umfasst mit knapp 5000 km2 nur etwa das Fünffache der Fläche Berlins. Ringsum erstrecken sich – gegen den Uhrzeigersinn – die Einzugsgebiete von Weser, Ems, Issel, Rhein, Emscher und Ruhr. Die Lippe entwässert den Südteil der westfälischen Tieflandsbucht; im Osten strömen ihr Seitengewässer vom Egge-Gebirge und Haarstrang zu; im Westen führt sie das Wasser des zentralen und südlichen Münsterlandes über die Stever ab. Ihre Länge von rund 230 km entspricht einer Stunde Fahrzeit mit dem IntercityExpress; ihr Gefälle von 123 m, also weniger als die Höhe eines modernen Kraftwerkskamins, erweist sie als ausgesprochenen Flachlandfluss. Wenn man sich der Frage nähern will, wie die Lippe natürlicherweise ausgesehen haben könnte, so muss man sich mit der Entstehungsgeschichte des Flusses beschäftigen. Interessant ist, dass die Lippe vor der letzten Eiszeit wenige Kilometer westlich von Lippstadt nach Norden floss und sich etwa bei Rheda-Wiedenbrück mit der Ems vereinigte (Abb. 1). Erst seit dem Ende der letzten Eiszeit (Weichsel-Kaltzeit, ca. 11 500 bis 11 000 Jahre vor heute) fließt die Lippe in westlicher Richtung zum Rhein. Für die Flussentwicklung bedeutet das: Das Alluvium ist wenig ausgeprägt, der anstehende Mergel ist nur in geringer Mächtigkeit mit Sand und Kies überdeckt und tritt in einigen Schwellen auch zutage. Die Auen sind häufig verhältnismäßig schmal abgegrenzt. Nach der Eiszeit entwickeln sich über Tundraformen allmählich offene Waldlandschaften. Weitere Kenntnisse aus der keltischen und germanischen Frühzeit stehen kaum zur Verfügung. Bekannt Abbildung 1: Nach der letzten Eiszeit änderte Lippe ihren Verlauf und trennte sich von der Ems. Darstellung: M. Bunzel-Drüke NUA-Seminarbericht Band 9 151 Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung Erde-Lager in Anreppen 25 000 ausgewachsene Eichen verbraucht. Bei einem Kronendurchmesser von zehn Metern sind dann hierzu allein 200 Hektar Waldfläche notwendig gewesen. Abbildung 2: Das Gefecht bei Spellen am 12. September 1595. ist lediglich, dass allmählich auch die höheren Lagen der Aue besiedelt, die Wälder hier und dort ausgelichtet und die Landschaft so mehr und mehr genutzt wurde. Spätestens in der Bronzezeit wurde der Bedarf an Brennstoffen größer. Dies dürfte zu einem weiteren Rückgang der Wälder geführt haben. Das Gebiet war durch lockere Besiedlung geprägt. Cherusker siedelten im Quellgebiet der Lippe und um die unweit östlich gelegene altgermanische Kultstätte der Externsteine, Bructerer im eigentlichen Lippegebiet, Usipeter im Bereich der Mündung. Die Flussaue war sumpfig und unwegsam, nur einzelne Nord-Süd-Wege durchzogen sie. Man geht oder reitet eher über die Höhenwege (z. B. den Haarweg im Süden). Transporte gehen zu Wasser über die Lippe als West-Ost-Transportweg; der Fluss bietet ganzjährig eine recht gute Wasserführung. Auch die Römer nutzen diesen Weg und haben sicherlich auch in kleinem Umfang wasserbauliche Maßnahmen durchgeführt: Sie versorgen bei ihrem Versuch, Germanien bis zur Elbe in ihr Reich einzubeziehen, ihre Lager ausgehend von Xanten über Dorsten-Holsterhausen, Haltern, Oberaden, Anreppen – dazwischen lagen wohl noch weitere – über das Wasser. Diese Holz-Erde-Lager bedeuteten einen erheblichen Holzverbrauch: So wurden für das Holz- 152 Nach der Völkerwanderungszeit ist die Region sächsisches Siedlungsgebiet, das „springende Ross“ gehört bis heute zum Landeswappen in NordrheinWestfalen und Niedersachsen. In den Sachsenkriegen betreibt Karl der Große die Christianisierung im Sachsenland und zugleich die Ausweitung des Frankenreiches. 799 wird Paderborn karolingische Pfalz, 805 Bischofssitz. Klöster widmen sich der Missionierung und fördern zugleich die Landeskultur. Dabei wird auch die Antriebskraft des Wassers genutzt: Erste Mühlen entstehen an Bächen, nach und nach auch am Fluss; natürliche Mergelschwellen werden durch Wehre erhöht, um durch mehr Aufstau mehr Energie zu nutzen. Ab dem 13. Jahrhundert wird die Nutzung besonders zwischen Lippstadt und Lünen verstärkt. Die Mühlen werden oft ohne Hochwasserentlastungen betrieben. Um einen besseren Nutzen zu erreichen, werden die Rechte häufig missbraucht und die Wasserstände im Oberwasser erhöht. Zwischen 1847 und 1884, also in 36 Jahren, vermerkt der Chronist nicht weniger als 24 Überflutungen der Aue durch Sommerhochwasser im Bereich. Nach und nach werden Städte gegründet oder wachsen heran. Lippstadt, älteste Gründungstadt in Westfalen, wird 1185 von Bernhard II gegründet. Ab 1239 wird auch Paderborn als Stadt bezeichnet. Lippeabwärts bilden sich mit Lünen (1216), Hamm (1226), Haltern (1239), Wesel (1241) und Dorsten (1251) in kurzer Zeit fünf weitere Städte heraus. Diese Siedlungen sind an Flussübergängen, also Handelswegen entstanden, teils Brücken, teils Fähren verbinden die Ufer. 1372 wird die Fähre Ahsen als Lehen genannt. Also war auch im Mittelalter nicht vergessen, dass Wasser für Transporte brauchbar ist – nicht nur quer zum Fluss. Die Städte leben vom zunehmenden Handel, mehrere werden Hansestädte. Freilich kennzeichnen die Städte auch die wachsende Bedeutung von Territorialgrenzen; Jahrhunderte lang bildet die Lippe die Südgrenze des Bistums Münster. Wie könnte der Fluss damals ausgesehen haben? NUA-Seminarbericht Band 9 Lippe: Entwicklung, Visionen Abbildung 3: Die Lippe in Bad Lippspringe unterhalb der Quelle in 1672. Abbildung 2 zeigt das Gefecht bei Spellen am 12. September 1595 im Bereich der Mündung der Lippe in den Rhein. Erkennbar ist, dass die geschlagenen Truppen in Richtung Norden fliehen und dabei die Lippe durchqueren. In heutiger Zeit wäre das mit solch schwerer Rüstung nicht möglich, die Fliehenden müssten ertrinken. Damals aber, so belegen weitere Quellen, war die Lippe dort so flach, dass man sie durchwaten konnte. Dafür war sie mit etwa 140 Meter ein mehrfaches breiter als heute. Dieser für Naturflüsse typische Zustand, nämlich flache und breite Profile zu haben, wird auch in historischen Bildern deutlich: Abbildung 3 zeigt die Lippe unterhalb der Quelle in Bad Lippspringe um 1672. Erkennbar sind drei breite Arme. Ähnlich sind auch die Verhältnisse in Boke aus dem gleichen Jahr (Abb. 4). Nach Angaben kundiger Forscher sind die alten Stiche in etwa maßstäblich. Weiterhin erfolgt Schifffahrt auf der Lippe auch längs als West-Ost-Verbindung. Freilich wird sie zunehmend durch Zölle an den zahlreichen Territorialgrenzen erschwert. Aufwärts gegen die Strömung NUA-Seminarbericht Band 9 Abbildung 4: Lippe bei Boke in 1672. muss vielfach getreidelt werden. Zum Treideln braucht man Menschen, Pferde und Leinen. Leinpfade werden durchgehend angelegt; sie müssen von den Anliegern unterhalten werden. In Flurkarten finden sich bis heute Hinweise auf die Schifffahrt: „Vor der Schiffswende“ in Hamm-Haaren oder „Schepphort“ in Dorsten sind Beispiele. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden bessere Schifffahrtsbedingungen der Lippe vor allem seitens der Weseler Kaufmannschaft gefordert. Auf Grund der Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten konnte man sich jedoch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Abbildung 6 zeigt ein Plakat, welches zu einer Ausstellung im Lippstädter Heimatmuseum einlädt. Es zeigt einen Umschlagplatz für Güter, die auf der Lippe bis Lippstadt transportiert wurden. In Lippstadt erinnern heute noch Straßennamen wie etwa „Lagerplatz“ an diese Nutzung des Flusses. Was wird verschifft? Preußische Salzschiffe sollen heimlich auch andere Kaufmannsware „nemblich schinken, wacholder-bieren, reiß, früchte, bretter, 153 Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung Abbildung 5: Sandtransport auf der Lippe bei LippstadtBenninghausen. korn, lein, kohlen, eysen, mehl und buchweitzen hinauf und hinunter mitfahren“ haben lassen. Obwohl die Lippe auf Grund der hohen Quellschüttungen ein recht gute Wasserführung für die Schifffahrt hat, waren die vielen flachen Bereiche ein unangenehmes Hindernis. Häufig muss das Frachtgut umgeladen werden. Bei Dorsten entsteht 1767 das Kohlhaus Gahlen am Ende des „Gahlener Kohlenwegs“. Die Ruhr war noch nicht schiffbar und die (Ruhr-)kohle wurde äußerst mühsam mit Ochsenkarren von Bochum, Witten, Hattingen und Blankenstein bis hier zum Verschiffen gebracht. Die Straßen waren vielfach in einem jämmerlichen Zustand. Erst zwischen 1810 und 1813 wurde als neuzeitliche Straße die Chaussee Wesel–Wulfen–Haltern als Teil der Heerstraße Paris–Hamburg angelegt. (Nicht viel mehr als 100 Jahre später entstehen dann schon die ersten Autobahnen!) Aber zunächst bleiben wir noch im 19. Jahrhundert, welches ja auch schon durch schleunige Entwicklung geprägt ist: Die Lippe liegt nun nach dem Wiener Kongress 1815 gänzlich in Preußen. Eine Stromund Uferordnung für die Lippe dient seit 1817 als Grundlage für die Unterhaltung des Flusses, entsprechend den damaligen Nutzungen. Nach 1815 werden Vorarbeiten zu einem Lippe-Ems-Kanal unternommen: zwischen Lippstadt–Wiedenbrück und Hamm– Drensteinfurt/Davensberg–Münster zogen Militär- 154 Abbildung 6: Hafenszene aus Lippstadt. geografen Vermessungslinien. Zwischen 1820 und 1830 wurde die Lippe selbst zum durchgehenden Schifffahrtsweg ausgebaut; Schleusen entstehen an allen Wehren zwischen Vogelsang und Lippstadt. Als der preußische Baukondukteur Wehner 1820 die Lippe bereiste, findet er zwischen Neuhaus und Boke einen Fluss vor, den wir heute als naturnah bezeichnen würden. Folgendes hält er in seinem Erfahrungsbericht fest: „. . . (kann man sich) leichtlich eine Vorstellung von dem verwilderten Zustand derselben machen . . . die Ufer sind abwechselnd mit Weidenwuchs und mit Bäumen bestanden, von welchen letzteren viele abgehauen und zum Theil, andere sogar ganz in den Strom gestürzt sind. Mitten in demselben findet man einzelne Weidensträuche in schönstem Wachsthume und desgleichen mehrere der Schiffahrt entgegenstehende Hindernisse, so daß wir mit möglichster Vorsicht uns durchwinden mussten, um nicht umgeworfen zu werden . . . Die Lippe . . . hatte an den seichtesten Stellen bei dem damaligen Wasserstande 13 bis 14 Zoll (0,34 bis 0,36 Meter) Wasser. Nach . . . Erkundungen soll sie noch 6 bis 7 Zoll (0,16 bis 0,18 Meter) kleiner werden.“ Nach 1845 entstehen im Lippegebiet Eisenbahnstrecken, sogar zügig als recht dichtes Netz. Sie laufen dem begrenzten Schifffahrtsweg zunächst den Rang ab. Dabei ist zu bedenken, dass die wachsenden Schiffsgrößen auf der Lippe wegen der von NUA-Seminarbericht Band 9 Lippe: Entwicklung, Visionen H. Wehner angeführten Probleme nur noch zeitweilig verkehren konnten. Erhöhter Holzbedarf für Bergbau führt zu weiterem Abholzen von Waldflächen. 1850 erhält die Meliorations-Sozietät Boker Heide (später Verband Boker Heide) das Recht, über den Boker Kanal unterhalb der Alme-Mündung erhebliche Wassermengen zur Bewässerung abzuleiten. Auch andere Bewässerungsgenossenschaften entstehen. Die trockenen Heideflächen (Ausläufer der sandigen Senne) werden im landwirtschaftlichen Ertrag deutlich verbessert. Stärkeren Einfluss auf die Gestaltung von Fluss und Aue nahmen die Vorhaben zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse. Während für die Schifffahrt lediglich Hindernisse entfernt werden sollten, hatte die Melioration andere Ziele: „das erste und wichtigste anzuwendende Mittel ist die Begradigung des Flusses . . . diese Krümmungen schaden der Vorflut auch dadurch, dass sie dem Wasser die Kraft rauben, sich ein gehörig tiefes und weiteres Flussbett selbst zu schaffen.“ (MICHAELIS 1864) Wie stark sich die Landschaft durch unterschiedliche Nutzungsformen änderte, ist in Bildern zu erkennen. Abbildung 7 zeigt die Lippe bei Paderborn-Sande um 1837. Auffallend ist der hohe Anteil von Heideflächen. Der gleiche Kartenausschnitt zeigt um 1954, dass die Heideflächen bis auf kleine Reste verschwunden sind (Abb. 8). Die Möglichkeit der Bodenverbesserung durch den Einsatz von Kunstdünger hat diese nährstoffarmen Standorte verschwinden lassen. Klar erkennbar ist, dass die Flächen im Bereich der Lippeaue überwiegend als Grünland genutzt werden. Das Bild „Lipperode" von Ernst Miesler entsteht um 1910 (Abb. 9). Der Standort des Malers lässt sich recht genau rekonstruieren, denn die beiden Kirchtürme von Lippstadt-Lipperode sind im Hintergrund erkennbar. Auf den Feldern wird das Getreide geerntet, es ist also Hochsommer, die Zeit der niedrigen Wasserstände. Trotzdem ist die Lippe relativ hoch im Gelände. An den Böschungen erkennt man NUA-Seminarbericht Band 9 Abbildung 7: Landnutzung im Bereich der Lippe bei Paderborn-Sande um 1837 (erarbeitet durch NZO-GmbH). Abbildung 8: Landnutzung im Bereich der Lippe bei Paderborn-Sande um 1954 (erarbeitet durch NZO-GmbH). Sandablagerungen. Der gleiche Abschnitt zeigt heute einen begradigten Fluss, der deutlich schmaler ist. Die Sohle liegt erheblich tiefer in der Landschaft. Die technischen Möglichkeiten, einen veränderten Fluss in einem naturfremden Zustand fest zu halten, sind deutlich geringer als heute. Der hohe Anteil an Handarbeit macht die Arbeit schwer, die immer wieder auftretenden „Schäden“ bringen die Menschen um den Lohn der Arbeit. Aus dieser Zeit stammt ein Aufsatz des Heimatdichters Heinrich Luhmann, der in dem Lippedorf Hultrop in der heutigen Gemeinde Lippetal lebte. Er beschreibt darin die Arbeit der Wasserbauer, die damals Kripper genannt wurden. 155 Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung Im Westen wächst währenddessen südlich der Lippe das Industriegebiet auf der Grundlage von Kohle und Stahl heran. Massengüter sollen nun transportiert werden; dafür reichen die Eisenbahnen nicht. Großräumig werden Kanalprojekte entworfen und nach jahrzehntelanger heftiger Diskussion dann auch in wenigen Jahren verwirklicht. Der erste ist 1899 der Dortmund-Ems-Kanal, 1914 folgen DattelnHamm- und Rhein-Herne-Kanal, 1915 das erste Teilstück des Mittellandkanales. Zunächst soll auch die Lippe kanalisiert werden; hierzu gehört der Plan eines Doppelhebewerkes in Olfen als Verbindung zum Dortmund-Ems-Kanal. Abbildung 9: Die Lippe bei Lippstadt-Lipperode um 1910, Gemälde von Ernst Miesler. Wir wollen ihn ein Stück auf seinem Spaziergang von Süden her in Richtung Lippe begleiten. „Zur nördlichen Tiefe hin zieht sich in grüner Breite ein Wiesengürtel, einem Flusse zu beiden Ufern folgend. Es ist ein tückisch Wasser, das mit Gras und Blumen seine Falschheit schön umkleidet. Nicht sehr breit, ist es von einer Tiefe, die der sengenste Sommer nicht ausgetrunken hat. Die fröhlich schadlose Wildheit seiner Bergbrüder fehlt ihm. In Kolken und Strudeln verbeißt sich seine Gier. Größe hat es nur, wenn ihm der Himmel zu viel gibt. Dann braust es über die weidenumbuschten Ufer, die es im engen Bett fressend unternagt und unterwölbt hat, schlägt die Maht auf den Wiesen und Feldern und wagt sich bis an die Hausgärten . . . Überall da, wo der Fluss die Wiesen zernagte und die Ufer unterwölbte, mussten sie seine Wildheit zurückdämmen. Sie füllten den Grund, den er, sein altes Recht verletzend, begehrlich überschritten hatte, mit Dornen und Reisig aus, rammten Pfähle hindurch und vernagelten sie so mit dem Grunde... dann machte eine Grasnarbe die wiedereroberte Stelle mit der Wiese des Ufers gleich hoch, zum Wasser hin aber wurde aus der Tiefe eine Flechtmauer aufgezogen, sie vor den beißenden Zähnen des Untiers zu schützen. Solcherart war die Tätigkeit der Kripper. Es war harte Arbeit und immer Kampf, dies Entreißen der Beute aus dem Rachen der Bestie . . .“ 156 Der Hafen von Wesel wird 1896 in der ehemaligen Lippemündungsstrecke angelegt. Die Kanalisierung der Lippe unterbleibt dann zwar doch, aber noch im Lippegesetz von 1926 steht als Aufgabe des damit gegründeten Lippeverbandes: Erhaltung der Schiffbarkeit der unteren Lippe (gestrichen wurde diese Aufgabe erst bei Novellierung des Gesetzes 1990). Statt einer Lippekanalisierung entsteht der LippeSeitenkanal in zwei Abschnitten mit der Folge, dass der mäandrierende Fluss bis heute vielfach erhalten blieb. Gegen 1900 erreicht der Bergbau von Süden her die Lippe; in Lünen, Werne, Hamm und Dorsten werden Schächte abgeteuft. 100 Jahre später laufen die Anlagen aber auch teils schon wieder aus und werden anderweitig genutzt (Abb. 11). Abbildung 10: Ufersicherung an der Lippe in 1951. NUA-Seminarbericht Band 9 Lippe: Entwicklung, Visionen Die Bevölkerung des explosionsartig gewachsenen Ballungsraumes und die Industrie brauchen Wasser: Wasserwerke, die bis in den Lipperaum Wasser liefern, entstehen im Ruhrtal. Auch an der Lippe entstehen zu Anfang des 20. Jahrhunderts Wasserwerke. Sie gewinnen aber meist nicht Uferfiltrat wie an der Ruhr, sondern das aus mächtigen Sandschichten seitwärts teils von weither zuströmende Grundwasser in Haltern, DorstenHolsterhausen und Wesel. 1930 wird der Halterner Stausee als Speicher angelegt. Das benutzte und verschmutzte Wasser muss als Abwasser abgeführt und gereinigt werden; die Kanalisation entsteht. Rieselfelder, z. B. der Stadt Dortmund seit 1895 auf Heideflächen zwischen Waltrop und Datteln, sind erste Schritte zur Abwasserreinigung. Das Abwasser wird nach der düngenden und reinigenden Bodenpassage über Fischteiche in die Lippe geleitet. Industrieanlagen (Abb. 12) wachsen nun auch direkt am Fluss; sie nutzen Kühlwasser aus der Lippe. Klärteiche gegen gar zu hohe Abwasserbelastung werden angelegt. Bedarf an elektrischem Strom entsteht und wächst gewaltig an. Zunächst kann er noch aus Wasser gedeckt werden: Im Zusammenhang mit dem Bau des Datteln-Hamm-Kanales werden Wehr und Wasserkraftwerk Hamm errichtet; zugleich werden hier seit 1914 die westdeutschen Kanäle aus der Lippe gespeist. Bald folgen Wärmekraftwerke, die Kühlwasser brauchen, als erstes 1917 das Gersteinwerk der VEW in Stockum mit zunächst bescheidenen 20 MW Leistung. Andere folgen: in Lünen, Hamm-Schmehausen, Marl, Bergkamen, einige Jahre lang mit dem Thorium-Hochtemperaturreaktor auch ein Kernkraftwerk. Wegen der immer vielfältigeren Anforderungen an die Wasserwirtschaft dieses Raumes wird 1926 nach den guten Erfahrungen mit der Emschergenossenschaft im südlich gelegenen Emschergebiet und mit dem Vorläufer Sesekegenossenschaft im frühzeitig bergbaubetroffenen Sesekegebiet der Lippeverband NUA-Seminarbericht Band 9 Abbildung 11: Förderturm mit Colani-Büro. Foto: Lippeverband gegründet. Grundsatz dabei ist, dass die Mitglieder, die von der Wasserwirtschaft Vorteile haben oder sie erschweren, in Selbstverwaltung die notwendigen Maßnahmen durchführen sollen – der Staat beschränkt sich auf die Aufsichtsfunktion. Die wichtigsten Aufgaben des Verbandes sind: – Vorfluterhaltung und HW-Schutz (auch in Senkungsgebieten des Bergbaus ➙ Deiche, Pumpwerke zur Entwässerung tief liegender Flächen, Verlegung von Gewässern). – Abwasserreinigung ➙ nach und nach zahlreiche Kläranlagen im gesamten westlichen Lippegebiet, um Gewässer zu schützen und keine weiteren Schmutzwasserläufe entstehen zu lassen. Wo solche Schmutzwasserläufe schon entstanden sind, wird der ganze Bach in einer Flusskläranlage 157 Anhang: Detering & Ruppert: Historische Entwicklung tung des Bundes vereinbart. Diese Pumpwerke dienen der – Schifffahrt und der – Wasserversorgung aus den Kanälen, besonders auch für Kraftwerke. Der Lippe kann nun mehr Wasser verbleiben, ja sie kann in Trockenzeiten nun sogar angereichert werden (Abb. 14, 15). Der ländliche Raum des östlichen Lippegebietes hatte sich seinerzeit der Eingliederung in den Verband entzogen. Wie war dort die Entwicklung der letzten 75 Jahre verlaufen? Abbildung 12: Kugeltanklager der Degussa in Marl. Abbildung 13: Kanalüberführung des Dortmund-Ems-Kanales über die Lippe in Olfen. Fotos: Lippeverband gereinigt, wie z. B. an der Sesekemündung. 1957 übernimmt der Lippeverband auch die Lippeunterhaltung in seinem Gebiet; das Land stellt dafür die Haushaltsmittel bereit. Um dem kleinen Fluss nicht den Atem bei den immer weiter zunehmenden Anforderungen und Nutzungen zu nehmen, schließen Bund und Land 1968 ein Verwaltungsabkommen. Darin wird der Bau von Pumpwerken an den Schifffahrtskanälen gemeinsam mit der Wasser- und Schifffahrtsverwal- 158 Hier standen die Förderung der Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft und der Hochwasserschutz im Vordergrund. In den 60-er und 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts besteht erstmals die Möglichkeit, durch den Einsatz von Maschinen und Material eine dauerhafte Ufersicherung herzustellen. Durch diesen massiven Ausbau gelingt es zwar, die landwirtschaftliche Produktion in der Aue zu verbessern, als Lebensraum wird die Lippe jedoch schwer getroffen. Die Vielfalt natürlicher Flüsse geht verloren. Sandbänke und tiefe Kolke gibt es kaum noch, das Profil ist eintönig geworden. Heute wird versucht, die Lippe auch als Lebensraum wieder zu entwickeln. Es geht dabei nicht um die Rückkehr in frühere Zeiten. Der Blick in die Vergangenheit dient zwar immer als Anhalt für das, was wieder geschaffen werden soll. Doch auch Nutzungsansprüche müssen berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen des Lippeauenprogramms versucht, einen Ausgleich herbeizuführen. Wo immer möglich, werden landwirtschaftliche Nutzungen zurückgenommen oder aufgegeben. Ein Beispiel dafür ist die Renaturierung der Lippe im Bereich der Klostermersch bei Lippstadt-Benninghausen. Dort ist die Lippe wieder so breit und flach, wie die alten Schilderungen beschreiben. Die alte Vielgestaltigkeit ist wieder entstanden. Sogar ganze Bäume liegen dort wieder in der Lippe. Sehr schnell haben die Fische auf die neuen/alten Verhältnisse reagiert. So hat sich in der renaturierten Strecke der Fischbestand etwa verfünffacht. NUA-Seminarbericht Band 9 Lippe: Entwicklung, Visionen Abbildung 14: Durch den Steinkohlebergbau sinkt die Landschaft ab. Über den Bau von Deichen und den Betrieb von Pumpwerken wird die Vorflut im Gewässer erhalten. Grafik: Lippeverband Gleichzeitig steht der Auenraum wieder bereit, um beim Hochwasser die Fluten aufzunehmen. Bei jedem Hochwasser werden auf den Flächen Nährstoffe festgelegt, so dass damit auch ein Beitrag zur Gewässerreinhaltung geleistet wird. Viele kleine und große Maßnahmen zur Renaturierung der Lippe folgen. Den Beteiligten ist es dabei auch wichtig, dass die Menschen an dieser Entwicklung teilhaben können. Und die Menschen genießen diese neue Wildnis. Besuchergruppen lassen sich vom Charme der Lippe begeistern. Für die Zukunft besteht die Hoffnung, dass alle Aspekte der Lippe ihre Berücksichtigung finden. Anschrift der Verfasser Abbildung 15: Ein Lippeufer im Wandel der Zeiten. (Gestaltung: Dr. Krause) Dipl.-Ing. Ulrich Detering Staatliches Umweltamt Lippstadt Lipperoder Straße 8 59555 Lippstadt Dr.-Ing. Jürgen Ruppert Lippeverband Königswall 29 44137 Dortmund NUA-Seminarbericht Band 9 159 Lippe 2022 Lippe 2022 Die Lippe wird zum Markenzeichen. Dies grüne Band sucht seinesgleichen. Mit ihren second hand Fluss-Auen ist sie recht freundlich anzuschauen. Fischtreppen helfen zu vermehren, was früher endete an Wehren. Der Wassersport mit flinkem Boot hält sich an Regeln und Gebot. Die Städte nutzen Lippewellen, um Wasser schöner darzustellen. Der Mensch erlebt die Lippe mehr jenseits von Hetze und Verkehr. Das Wasser treibt an ihm vorbei und macht die Seele wieder frei. Und zwischen Quelle und der Mündung fliesst reichliche Naturempfindung. Gerhard Laukötter 160 NUA-Seminarbericht Band 9
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