HISTORIE Ihr Ansprechpartner Nico Wendt Tel. 03421 721052 [email protected] DONNERSTAG, 16. APRIL 2015 | SEITE 16 Nach Feierabend ging es auf die Bühne Zu Schulbeginn läutete die kleine Kirchenglocke Taura – Ein kleines Dorf im Wandel der Geschichte (Teil 2) Melodien und ihre Torgauer Geschichten TORGAU. Es war zwischen 1955 und 1960, als mein Vater beim „Elbe-Elster-Theater“ Wittenberg arbeitete und als Organisationsleiter die Künstler mit dem betriebseigenen Bus „Hannibal“ nach den verschiedenen Abstecherorten begleitete, so auch nach Torgau. Ich war damals ein junger Bursche und freute mich, wenn mein Vater mich in einigen Vorstellungen in die damalige Bernhard-Kellermann-Halle (heute Aula des Torgauer Gymnasiums) mitnahm. Nach einiger Zeit zeigte sich bei mir ein besonderes Interesse für Opern und Operette. Einmal erlebte ich den griechischen Tenor Alexander Remo als amerikanischen Marineleutnant in der Oper „Madame Butterfly“. Da A. Remo etwas korpulent war, passte ihm keine Uniform. Das störte im Zuschauersaal kaum einen, wenn er dann in Zivil sang und spielte. Das Publikum war in erster Linie von Remos Stimme und Charme angetan und besonders von seiner Arie „Leb wohl, mein Blütenreich“. Viele werden sich noch an Manfred Uhlig erinnern, der in der DDR ein bekannter Unterhaltungskünstler wurde. Begonnen hatte seine Karriere am Theater, später auch in Wittenberg. In der Bernhard-Kellermann-Halle erlebte ich ihn in vielen Rollen als Operetten-Buffo. In Erinnerung geblieben ist er für mich in der Rolle des Sigismund Sülzheimer und dem Chorgesang „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist“. Sehr oft kam von der Oper Leipzig der Tenor Gundfried Speck und sang im Kreiskulturhaus in Begleitung des Kreisorchesters Torgau viele bekannte Lieder. Gundfried Speck musste vor jedem Auftritt erst einmal seine Stimme ölen, wie er selbst formulierte und trank etwa zwei Doppelte Wodka. Und dann sang er beispielsweise das „Valencia“-Lied, aus „Gasbarone“ „Dunkel rote Rose, bring ich schöne Frau“ oder von Robert Stolz „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frauen“. In unserem Altkreis Torgau gab es einen Malermeister, der bei den Leuten den Zimmern einen neuen Anstrich gab oder sie tapezierte. Nach Feierabend sang er mit Begleitung des Kreisorchesters. Alle, die ihn kannten, nannten ihn Caruso. Nicht zu vergessen „Ja, ja, der Chiantiwein, der lädt uns alle ein“, eine bekannte Filmmelodie, schmetterte er dahin. Auch andere junge Talente waren in den 70er- und 80er-Jahren in unserem Kreis schnell bekannt geworden, wie zum Beispiel Gabriele Holtorff mit ihrer schönen Schlagerstimme. Das erste Mal hörte ich von ihr den Hit: „Mit 17 hat man noch Träume“, obwohl sie gerade mal 15 oder 16 Jahre jung war, aber wer wusste das schon. Ich parodierte damals den berühmten amerikanischen Jazztrompeter und Sänger Louis Armstrong, auch Onkel Satschmo genannt. Im Duett sang ich mit G. Holtorff „Lula Luu lei...“. Auch mein Bruder Leo sang mal in einer Veranstaltung den Titel von Vico Torriani „1000 Mandolinen“. Ich parodierte auch den Filmschauspieler Theo Lingen, der in dem Film „Frau Luna“ mit dem Fahrrad daherkam und sang: „Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe“. Nach meiner Parodie fragte mich eine Dame aus dem Publikum: „Herr Fiege, sind Sie nicht verheiratet?“ Es gab damals noch viele Gesangstalente wie Günter Schneidewind, der heute noch im Männerchor dabei ist, die Geschwister Kschichow, die Gebrüder Boche und Obst. Die Letzteren singen heute noch bei Veranstaltungen und erinnern die Leute an neue aber auch alte Schlagermelodien, wie „Mit 17 fängt das Leben erst an“. Günther Fiege Gabriele Holtorff mit „Extrem-Band“ 1978. Die damaligen Mitglieder (v.l.n.r): Frank Bogedain, Hans-Jürgen Kurandt, Klaus Schönfelder und der Leiter Hans-Joachim Baß. Foto/Quelle: Fiege Klassenbild aus dem Schuljahr 1951/52 – aufgenommen in Taura. TAURA. Ursprünglich fand der Gottesdienst der katholischen Christen und dem Dorfgeistlichen in einer einfachen Hütte statt. Der erste massive Kirchenbau, damals noch abgelegen vom Ortskern, am heutigen Elsbach, erfolgte wahrscheinlich anno 1344. Unmittelbar neben dem Gotteshaus befand sich der Pfarrhof mit Wohnung, Scheune und Stall sowie dazugehörende zwei Hufe Gemeindeland. Dieses konnte vom Pfarrer bewirtschaftet werden, was ihm als Vergütung zugutekam. Im 16. Jahrhundert kam es aus Einsparungsgründen zur Zusammenlegung der Kirchengemeinden Beckwitz, Taura und Staupitz. In Beckwitz blieb das Pfarramt und dessen Pfarrer samt dem Küster waren fortan auch für die beiden Kirchen der genannten Nachbarorte zuständig. Mit Turmknopf und Wetterhahn Aus dem Tauraer Pfarrhof wurde ein reiner Bauernhof. Im 30-jährigen Krieg (1618–1648) brannte das gesamte Dorf mit der Kirche ab. Erst um 1700, als Taura die schrecklichen Folgen eines langen Vernichtungskrieges überwunden hatte, gab es wieder ein neu errichtetes Kirchengebäude. Noch fehlte der Turm, der erst 1740 angebaut worden war und mit Turmknopf und Wetterhahn komplettiert wurde. Erstmalig läuteten im Dort am Heiderand die Kirchenglocken! Viel später, nämlich erst 1859 wurde eine Orgel von Meister Geißler in Eilenburg für 400 Taler eingebaut. Die ersten Kirchenglocken hat man im 1. Weltkrieg (1914–1918) ausgebaut und für die Rüstungsindustrie eingeschmolzen. Erst 1920 wurde das Geläut durch zwei Stahlglocken aus dem Lauchhammerwerk wieder ersetzt. In all den Jahren nagte der Zahn der Zeit an der Substanz der Kirche. Stürme, zuweilen auch unwetterartig, beschädigten die Bedachung. Deshalb waren 1835, 1868 und 1904 Reparaturarbeiten unumgänglich. 1983 hatte man sogar einen Schaden am Turmdach mithilfe eines Bergsteigers behoben. Die heutige ansehnliche, vom Friedhof und der Feierhalle umgebene Dorfkirche wurde zuletzt 1991/92 umfassend restauriert. Durch Fördermittel und Spenden konnte dieses Vorhaben realisiert werden. Dem Einsatz des Kirchenrates unter Leitung von Elfriede Schmidt und weiterer Helfer ist es zu verdanken, dass anlässlich der 800Jahr-Feier des Ortes 1998 eine Renovierung im Inneren der Kirche erfolgte. 2001 wurde auch in der Sakristei gemalert und Dieter Weiße, ein Fachmann und Mitglied des Kirchenrates, baute unentgeltlich eine Gasheizung ein. Im gleichen Jahr stand die Instandsetzung der 150 Jahre alten Orgel an. 49 000 DM mussten aufgebracht werden. Durch die Unterstützung vom Regierungspräsidium, der Landeskirche und der Kreissparkasse, aber auch durch einen beträchtlichen Teil der Kirchengemeinde konnte dies in die Tat umgesetzt werden. Ab 1523 begann unter der Leitung des Kurfürsten Johann der Beständige der Aufbau der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Sach- Foto: Quelle Paul Hampel sen. Dies war auch für Taura die Voraussetzung des Wandels vom katholischen zum evangelischen Glauben. Nach der Auflösung des Pfarramtes 2008 in Beckwitz gehört das Heidedorf zum Kirchspiel Schildau. Der Beginn des freiwilligen Volksschulunterrichtes ist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert zu suchen. Die Lehrer waren der Kirche treu ergebene Handwerker. Es gab noch kein Schulgebäude. Die Kinder lernten zuerst lesen und dann schreiben. 1709 hatte Taura bei hier 37 lebenden Familien bereits ein Schulhaus. Als dieses 1876 baufällig wurde, errichtete man an der gleichen Stelle für 10 000 Reichsmark das heutige Schulgebäude. Ausgeführt vom örtlichen Bauunternehmer Friedrich Schöche. Hofraum war klein und eng Eine Gebäudehälfte bestand aus Wohnräumen für den Schulmeister und in der anderen Hälfte befand sich ein Klassenraum. Die Toiletten waren im Außenbereich. Der Hofraum klein und eng. 1897 besuchten bei 330 Einwohnern 89 Kinder die kleine Dorfschule. 1899 gab es bereits eine Schulsparkasse. Die Schüler kamen in Holzpantoffeln zum Unterricht, dessen Beginn um 8 Uhr mit der kleinen Kirchenglocke eingeläutet wurde. Der zeitgleiche Unterricht in einem Klassenzimmer gestaltete sich wie folgt: 1. Schuljahr: Buchstaben üben auf der Schiefertafel mit dem Griffel; 2. Schuljahr: Leises Rechnen auf der Rückseite der Schiefertafel; 3. und 4. Schuljahr: Selbstständig mit Bindewörtern Sätze bilden und mit dem Holzfederhalter mit Tinte aufschreiben; 7. und 8. Schuljahr: Rechnen an der Tafel. Die Mädchen wurden in Handarbeit unterrichtet. Der Lehrer war der Schulmeister, Organist in der Kirche sowie Ortschronist. Der Unterricht war streng preußisch. Undisziplinierte Schüler erhielten Schläge mit dem Rohrstock auf die Handflächen oder auf den Hosenboden. 1945 nach der Beendigung des 2. Weltkrieges war Taura, bedingt durch Evakuierung aus bombengefährdeten Städten, Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten, überbevölkert. Zum Schulbeginn am 1. Oktober besuchten 100 Kinder die einklassige Grundschule. Ab 1. 9. 1946 kam eine 2. Lehrkraft und ab dem 2. Schulhalbjahr führte man das Pflichtfach Russisch ein. Ab 1. Dezember 1949 gab es endlich einen zweiten Klassenraum! Ab 1951 mussten die Kinder der Schuljahre 7 und 8 in die Zentralschule nach Sitzenroda. 1952 folgten die Schuljahre 5 und 6. Ab 1959 gab es für das 7. und 8. Schuljahr den Polytechnischen Unterricht in der Schmiede von Willy Hönemann. Ab 1968 mussten auch den Schulweg nach Sitzenroda die Schuljahre 3 und 4 antreten und 1970 folgten schließlich die Schuljahre 1 und 2. Nun war für Tauras Schüler die Grundschule in Sitzenroda, die Polytechnische Oberschule in Schildau und die erweiterte Oberschule in Torgau. 1970 wurde Tauras Schule für immer geschlossen, geblieben ist das Schild: „Alte Schule“. Paul Hampel Angst vor russischen Panzerspitzen Aus wilder Flucht wurde „Familienausflug“ Am 24. April 1945 kam in Neußen der Befehl zur Räumung Auszüge aus der Schulchronik Langenreichenbach beschreiben die Lage im Frühjahr 1945 NEUSSEN. Bei der Räumung von Torgau waren die Lager des Heeresproviantmagazins (jetzt Getreide AG) noch vollgefüllt. Es ging darum, dass dem Feind die Vorräte nicht in die Hände fielen. Die Bestände wurden deshalb an die Bevölkerung verteilt. Aus Neußen mussten die Landwirte mit ihren Pferdewagen wegen der Jabos die Waren nachts im Dunkeln abholen. Die Verteilung erfolgte dann durch den Bürgermeister auf seinem Grundstück. Eine ganze Reihe von Einwohnern stand an einem Nachmittag vor der Ausgabestelle, als plötzlich ein Jagdbomber auftauchte, aus Richtung Kirche angeflogen kam und mit der Bordkanone in die Gruppe schoss. Zum Glück hatte er zu hoch gezielt und in den Giebel des Auszugshauses geschossen. Es gab nur Schäden am Haus und unbedeutende Verletzungen. Ständig Fliegerangriffe Für die Menschen konnte es schlimmer nicht mehr kommen. Bei guten Sichtverhältnissen musste ständig mit Fliegerangriffen gerechnet werden. Etwa ab 20. April war plötzlich Ruhe in der Luft. Den Menschen war es unheimlich. Kein Jagdbomber tauchte mehr auf. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Woran keiner mehr geglaubt hatte: Plötzlich waren die ständigen Tieffliegerangriffe der Amerikaner/ Engländer vorbei. Russische Tiefflieger haben wir über unserem Gebiet überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Jetzt kochte die Gerüchteküche. Es hieß, dass die Amerikaner nun mit den Deutschen gemeinsam gegen die Sowjetunion vorgehen. Es war wohl nur ein Wunsch der vor der Vernichtung stehenden Nazis. Als die Flieger uns nicht mehr attackierten, wurde eines Tages durch Neußen, in Richtung Treptitz durch den Wald, eine große Kolonne Menschen getrieben. Nach dem Aussehen und dem körperlichen Zustand nach zu urteilen waren es KZ-Häftlinge. Um einen Kontakt mit den Einwohnern zu verhindern und damit niemand die Häftlinge aus der Nähe sehen konnte, wurden vom SS-Begleitkommando die Leute von der Straße und den Höfen vertrieben. Keiner durfte sich blicken lassen. Am 24. April kam in Neußen der Befehl zur Räumung. Die Einwohner waren bereits Tage vorher vom NSDAP-Ortsgruppenleiter Lehrer Scheibe und vom Bürgermeister informiert worden, damit jeder die notwendigen Sachen packen konnte. Da keiner wusste, was kommt und weil vor allem auch nur wenig mitgenommen werden konnte, haben die Leute viele Sachen, wie Geschirr u. a. sicher verpackt auf ihren Grundstücken vergraben. Als frühmorgens gegen 6 Uhr die Glocken läuteten, zogen die Neußener Einwohner mit Pferde-, Kuh- und Ochsengespannen, die Wagen beladen mit einigen Habseligkeiten, aus dem Dorf in Richtung Westen. Zum Glück herrschte ein angenehmes, frühlingshaftes Wetter. Zu dieser Zeit hörte man bereits im Osten Kanonendonner. Es wurde gemeldet, dass die russischen Panzerspitzen Bad Liebenwerda erreicht hätten und damit gerechnet werden muss, dass diese in einigen Stunden die Elbe erreichen. Die Verteidigung sollte an der Elbe aufgebaut werden. Unter den Menschen herrschte große Angst und Verzweifelung. Sollte es hier eventuell zur letzten großen Schlacht kommen? Bei der Räumung von Neußen bestand für den Volkssturm der Einsatzbefehl weiter, da unsere Einheit den Ort zu sichern hatte. Wir trugen Zivil und hatten zur Kennzeichnung eine Armbinde mit dem Aufdruck „Volkssturm“. Als Bewaffnung hatten wir nur einige Karabiner. Versprochene Ma- schinenpistolen und Panzerfäuste bekamen wir nicht mehr. Unsere Einheit bestand aus acht Mann, überwiegend ältere Jahrgänge. Am frühen Morgen bezog dann auch eine Flakbatterie am Ortsrand von Neußen Stellung, um die aus östlicher Richtung erwarteten russischen Panzer zu bekämpfen. Der Kommandeur, ein Hauptmann, führte noch kernige Reden und Durchhalteparolen wie: „Bei uns kommt keiner durch“, „Wir haben noch alle zurückgeschlagen“. Mit „Kettenhunden“ gedroht Nach einigen Stunden wurden jedoch die Zugmaschinen vor die Geschütze gespannt und die Truppe verschwand in Richtung Westen. Im Dorf versuchten einzelne Wehrmachttrupps in die Häuser einzudringen, um sich Fahrräder und Zivilsachen zu beschaffen. So konnten wir als Volkssturmeinheit einige von ihnen vom Gehöft der Schmiede Pechstein vertreiben. Da jeder von uns ein Fahrrad hatte, wollten die Soldaten auch uns die Räder wegnehmen, da sie für ihre Fahrzeuge keinen Treibstoff mehr hatten und die Flucht zu Fuß antreten mussten. Wir konnten sie damit abschrecken, indem wir mit den „Kettenhunden“ drohten. Die „Kettenhunde“ waren bei der Truppe sehr gefürchtet, da besonders zu Kriegsende Soldaten, die sich von der Truppe entfernt hatten, gnadenlos, ohne Gerichtsurteil, erschossen wurden. Wir waren zu dieser Zeit ja noch der Ansicht, dass sich vor den Russen nun verstärkt die deutschen Truppen in unser Gebiet zurückziehen müssten und hier die Front aufbauen. Das war jedoch ein Aberglaube. Es gab überhaupt keine deutsche Front mehr in unserem Gebiet. Deutschland hatte keine Reserven mehr, um eine Front aufzubauen. Die Soldaten hatten sich in kleinen Trupps über die Elbe abgesetzt. „Rette sich , wer kann“ war die Losung. Fortsetzung folgt. Walter Winkler LANGENREICHENBACH. Am Nachmittag entschlossen wir uns, nach Langenreichenbach zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin trafen wir ein Fuhrwerk aus Torgau. Der Fahrer teilte mit, dass die Russen in der Elbestadt wären. Nun kehrten alle nach Wildschütz wieder um. Ich zog mit meiner Frau weiter, da wir bereits unser Gepäck einem Bauern mitgegeben hatten. In Langenreichenbach war alles ruhig. Nur Soldaten beschlagnahmten auch hier Fahrräder, Gespanne und Lebensmittel. Eine Menge Flüchtlinge aus der Elberegion lagerte im Dorf. Ich blieb im Schulhaus. So wurde zum Glück aus der Flucht ein Familienausflug nach Wildschütz mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack. Die Flucht hätte für die meisten fast tragisch geendet, da die Vorbereitungen mehr als mangelhaft waren. Vor allem die Mütter mit den kleinen Kindern und die alten Leute konnte man bedauern. So war unter den Flüchtlingen aus Torgau die Frau eines Regierungsrates mit einem sieben Tage alten Säugling. Die Mutter hatte noch Fieber. Am nächsten Morgen waren viele wieder da. Im Laufe des 26. /27. April kehrten die meisten Flüchtlinge aus Schöna, Röcknitz, Zschepa, Hohburg, Thammenhain und Doberschütz wieder zurück. Viele hatten versucht, bei Wurzen oder Eilenburg über die Mulde zu kommen. Die Amerikaner ließen aber keinen hinüber. Am 26. April unternahm ein Eisenbahner eine Erkundungsfahrt nach Torgau. Er sagte, dass sich die gefangenen Russen und Ostarbeiter bewaffnet hätten und in Torgau raubten und plünderten. Den Leuten auf der Straße nähmen sie Uhren, Schmucksachen und Fahrräder fort. Ein Mann, der sich wehrte, wurde erschossen. Deshalb entstand wahrscheinlich auch das Gerücht, dass die Russen in Torgau wären. Auf dem Rückweg traf der Eisenbahner amerikanische Truppen auf dem Marsch gen Elbe. Der Sohn unserer Bekannten wurde in Mockrehna entwaff- Zerstörte Elbbrücke in Torgau. net und sollte nach Eilenburg ins Gefangenenlager. Er machte sich dünne und kam am 26. April hier an. Die Freude war groß. Trotz strengen Verbots wurde am 26. April auf dem Kirchturm in Langenreichenbach die weiße Fahne gehisst. Am 27. April hängten fast alle Häuser im Unterdorf und auch viele Häuser im Oberdorf die weiße Fahne hinaus. Lächerlich und beschämend. Am 27. April erschienen die ersten amerikanischen Truppen im Dorf. Acht Autos mit ungefähr 35 Mann hielten vor der Schule, kamen aber nicht herein. Viele Kinder umstanden die Autos, von meinem Jungen forderten sie ein Glas Wasser. Leider drängten sich auch viele Erwachsene um die Autos, um mit den Amerikanern zu sprechen. Am 28. April fuhren zwei Negersoldaten durchs Dorf. In den Tagen und Nächten vorher holten Fuhrwerke Lebensmittel aus Torgau. Das Brot wird knapp, es fehlt an Mehl. Das lieferte bisher die Dampfmühle in Torgau. Das Dorf hat augenblicklich mehr als die doppelte Einwohnerzahl. Soeben höre ich, dass sich der Amtsvorsteher Wolf mit Frau und Tochter erschossen haben soll. Die Amerikaner wollten ihn abholen. Auch in Audenhain sollten Quelle: Archiv Bräunlich sie den Plesse und Leisker verhaftet haben. Hier im Ort sollen sich die Amerikaner nach Leuten erkundigt haben, die Braunhemden getragen haben. Zwei Neger bei Hanke, Geschützdonner im Süden. Die Gefahr der Einquartierung rückt am 28. April näher. Die Schule ist besonders gefährdet. Man muss sich nach einem Notquartier umsehen. Ich verteile Kisten und Pakete von Verwandten und Bekannten im Unterdorf. Die Lehrer in Mockrehna und Oberaudenhain müssen in 15 Minuten die Schule räumen, auch der Tierarzt und die Molkerei. Russen in einem großen Auto fahren durchs Dorf und plündern. Der 1. Mai ist kalt und regnerisch. Wieder erscheint fremdes Volk und fordert Lebensmittel. Zwei Nordafrikaner kommen durch die Häuser und suchen Schnaps. In der Schule lassen sie sogar eine Rotweinflasche zurück, da ihnen der Wein nicht schmeckt. Schlangen nach Brot. Es gibt wieder Strom! Abends hören wir durchs Radio die erschütternde Nachricht, der Führer sei im Kampf um Berlin gefallen. Gerüchte: Die Russen besetzen Torgau sowie einen Streifen von 15 Kilometern westlich der Elbe. Fortsetzung folgt. Aus Schulchronik, notiert von Rektor Willi Stiller
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