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2014/15-03
Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland
• Einladung zur Delegierten- und Mitglieder versammlung vom 18. März 2015
Coop Tagungszentrum, Muttenz, 19.30 Uhr
• Pragmatismus ist die einzige Option!
Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21
• Hält Frühfranzösisch, was es verspricht?
Warum eine umfassende Evaluation bereits jetzt
erforderlich ist
• Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt:
Was uns die Geschichte der schulischen Innovationen
lehren kann
2
Editorial
Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland
«Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.»
und Können angedeihen zu lassen. Deshalb werden solche Privatschulen, deren Daseinsberechtigung nicht etwa
bestritten wird, von Eltern schulpflichtiger Kinder und den dort berufstätigen
Personen bewusst ausgewählt.
Liebe Leserin, lieber Leser
In verschiedenen Printmedien wurde
unlängst über die Villa Monte berichtet.
Dabei handelt es sich um eine staatlich
anerkannte Privatschule, die 1983 im
Kanton Schwyz gegründet wurde und
deren Konzept sich als Weiterentwicklung der Montessori-Pädagogik versteht.
Im Zentrum des Modells der Villa Monte
steht, dass jeder Schüler selbst entscheidet, was, wann, wie und mit wem er
lernt. Das Tagesgeschehen entwickelt
sich spontan. Es gibt keine Lehrer im
eigentlichen Sinn, keine Stunden- oder
Lehrpläne, keine Hausaufgaben, keine
Prüfungen oder Noten. Die Kinder und
Jugendlichen sollen allein und von anderen Schülern lernen, indem sie spielen, sich unterhalten, anderen zusehen,
lesen, experimentieren. Man geht davon aus, dass Kinder selber wissen, was
gut für sie ist.
Mit diesem alternativen Ansatz entspricht die Villa Monte nicht dem traditionellen Bild von Schule, wo «Ältere»
in Beziehung zu den ihnen anvertrauten «Jüngeren» treten, um ihnen in einem strukturierten Unterricht Wissen
2008 wurde im Baselbiet via Initiative
der Versuch unternommen, Privatschulen den öffentlichen Schulen gleichzustellen. Die Abfuhr mit 80% Nein-Stimmen war deutlich und stellt im Kern ein
Bekenntnis des Souveräns zur Volksschule dar. Für den Erfolg des herkömmlichen helvetischen Bildungssystems,
seinen Schwächen zum Trotz, spricht
eine Reihe nüchterner Fakten: eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit, eine
bemerkenswerte Integrationsleistung,
regelmässige Triumphe an Berufsweltmeisterschaften oder eine herausragende akademische Publikationsrate.
Man möchte nun meinen, dass dementsprechend das bewährte Schweizer
Schulwesen nur behutsam mithilfe von
Feinjustierungen weiterentwickelt würde. Weit gefehlt! Seit Jahren wird uns
von Experten und Politikern eingetrichtert, wie reformbedürftig das in Wahrheit alles sei. Als Folge davon finden
unter anderem immer mehr Unterrichtskonzepte, die bis anhin klassische
Merkmale von Privatschulen darstellten, Eingang in die Volksschule.
Im Dezember berichtete der «TagesAnzeiger» über die Primarschule Obfelden, wo seit 8 Jahren sowohl Jahrgangs- als auch Mehrjahrgangs-Klassen mit altersdurchmischtem Lernen
(AdL) geführt werden; offenbar zur
Zufriedenheit aller Beteiligten. Doch
damit soll nun Schluss sein: Die Schule
stellt vollständig auf AdL um. Den Entscheid fällten Schulleitung und Schulpflege ohne Mitsprache der Lehrerschaft und der Eltern. Die ersten Lehrer
haben gekündigt, 200 Eltern formieren
sich zum Widerstand, der Kanton mag
sich nicht einmischen.
Der Schulpflegepräsident vertritt die
Auffassung, diese Umstellung sei ein
strategischer Führungsentscheid. Die
Eltern müssten ihnen vertrauen. Ein Einbezug der Lehrerschaft habe nie zur
Debatte gestanden, denn: «Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.» Offensichtlich nicht die Lehrpersonen. Der denkwürdigste Satz des
Schulpflegepräsidenten lautet: «In einer Mehrklasse kann man Heterogenität besser auffangen, da die Klasse wegen der Altersdurchmischung schon
heterogen ist.» Analog wäre das Einbrechen auf offenem Eis also weniger problematisch, wenn man bereits vorher
unterkühlt war. Si tacuisses …
Aus meiner Sicht ist im Grundsatz nichts
dagegen einzuwenden, wenn unkonventionelle Unterrichtsmodelle an öffentlichen Schulen Anwendung erfahren. Zwei gewichtige Vorbehalte bringe
ich jedoch an: Einerseits muss die Methodenfreiheit der Lehrkräfte respektiert werden und andererseits darf man
die Eltern der betroffenen Kinder und
Jugendlichen nicht einfach übergehen,
wenn es sich bei den geplanten Neuerungen um veritable Paradigmenwechsel handelt.
Andernfalls transformiert man eigenmächtig die Privatschulen von gestern
zu den öffentlichen Schulen von morgen – und womöglich auch umgekehrt.
Wer dies anstreben sollte, kann eine
transparente demokratische Auseinandersetzung nicht überspringen.
Roger von Wartburg
Präsident LVB
2014/15-03
Inhalt
2 Editorial: «Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.»
Von Roger von Wartburg
3 Inhalt/Impressum
4 Einladung zur DV/MV vom 18. März 2015
Impressum
lvb.inform 2014/15-03
Auflage 2700
Erscheint 4-5-mal jährlich
Herausgeber
Lehrerinnen- und Lehrerverein
Baselland LVB
4133 Pratteln
Kantonalsektion des Dachverbands
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz
LCH
Website: www.lvb.ch
Redaktion
LVB-Geschäftsstelle per Adresse
Michael Weiss
Sonnenweg 4, 4133 Pratteln
Tel 061 973 97 07
[email protected]
Abonnemente
Für Mitglieder des LVB ist das
Abonnement von lvb.inform im
Verbandsbeitrag enthalten.
Layout
Schmutz & Pfister, Grafik und Design
www.schmutz-pfister.ch
5 Protokoll der DV/MV vom 24. September 2014
Von Gabriele Zückert
12 Pragmatismus ist die einzige Option!
Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21
Von Michael Weiss und Roger von Wartburg
20 Perlenfischen
weitere Perlen auf S. 26, 40 und 52
Von Roger von Wartburg
22 Hält Frühfranzösisch, was es verspricht?
Warum eine umfassende Evaluation bereits jetzt erforderlich ist
Von Heinz Bachmann
28 Das pädagogische Quartett
Genau so!
Von Gabriele Zückert
32 Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt:
Was uns die Geschichte der schulischen Innovationen lehren kann
Von Philipp Loretz
38 Die Fleischkäsewerkstatt
Nach Lorenz Derungs
42 Lehrplan 21 und die Frage: Schweizer Schule - quo vadis?
Gastbeitrag von Beat Kissling
53 Strichwörtlich
Von Hanspeter Stucki
54 Stellenausschreibung für einen Posten in der LVB-Geschäftsleitung
Gestaltung, Textumbruch
Philipp Loretz
55 LVB-Informationen
Lektorat
Roger von Wartburg
58 «Bekenntnisse des Schulentwicklers Felix Walldorf» – Sechster Teil
Eine Fortsetzungsgeschichte von Michael Weiss
Druck
Schaub Medien AG, 4450 Sissach
62 Der letzte Schrei: Im Tunnel
Von Heinz Bachmann
3
Einladung zur
Delegierten– und Mitgliederversammlung des LVB
4
Mittwoch, den 18. März 2015
19.30 Uhr, Coop Tagungszentrum, Muttenz
Traktanden
1. Begrüssung, Übersicht, Stimmenzähler
Statutarische Geschäfte
Stimmberechtigt sind die Delegierten. Diese erhalten eine separate Einladung per Post.
2. Protokoll der DV vom 24. September 2014
3. Wahl in den Kantonalvorstand: Esther Schmid Manca (Vertretung des VTGHK)
Berufspolitische Geschäfte
Stimmberechtigt sind alle anwesenden Mitglieder.
4. Übersicht zu den laufenden Geschäften des LVB
5.
Hauptthema: Referat von Prof. Dr. Allan Guggenbühl:
Moderne Unterrichtskonzepte aus entwicklungspsychologischer Sicht
Eine kritische Betrachtung der Vorstellungen über Lehren und Lernen im
Geiste von Individualisierung, Selbstorganisation und Selbstreflexion der
Schülerschaft mitsamt deren Implikationen für den Lehrberuf.
6. Verabschiedung einer Resolution
7. Diverses
Im Anschluss an die DV/MV wird ein Apéro offeriert.
Münchenstein, 22.01.2015
Der Kantonalvorstand
2014/15-03
Protokoll DV/MV 1.2014/2015
vom Mittwoch, 24. September 2014, 19.30 – 22.15 Uhr,
Coop Tagungszentrum, Muttenz
Von Gabriele Zückert
LVB-Delegierte: total 96, anwesend 56
LVB-Mitglieder: ca. 100
Traktanden:
1. Begrüssung, Übersicht,
Stimmenzähler
Statutarische Geschäfte
2. Protokoll ausserordentliche DV
vom 27. Mai 2014
3. Jahresrechnung 2013/2014,
Revisionsbericht
4. Budget 2014/2015 inkl. Festlegung
der Mitgliederbeiträge
1. Begrüssung, Übersicht,
Stimmenzähler
Roger von Wartburg begrüsst die anwesenden Delegierten und Mitglieder.
Im Speziellen begrüsst er Bildungsdirektor Urs Wüthrich-Pelloli, Bruno
Rupp als Vertreter der Geschäftsleitung
LCH, die zahlreich anwesenden Ehrenmitglieder des LVB, anwesende Mitglieder der BKSK und die Referenten
Christine Le Pape Racine (PH FHNW),
Giuseppe Manno (PH FHNW), Rudolf
Wachter (Universitäten Basel und Lausanne) und Urs Kalberer (Lehrer, Didaktiker, Bildungs-Blogger).
Als Stimmenzähler werden Philippe Peter und Didier Moine einstimmig gewählt.
Antrag auf Änderung der Traktandenliste: R. von Wartburg beantragt aus
aktuellem Anlass zwei Ergänzungen
der Traktandenliste:
5. Wahlen in den Kantonalvorstand:
Neu: 5.1. Wahlen in den Kantonalvorstand. 5.2. Wahlen in die LCH-Delegiertenversammlung.
10. Verabschiedung einer Resolution:
Neu: Verabschiedung von zwei Resolutionen.
Beiden Änderungen der Traktandenliste wird einstimmig, ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen, zugestimmt.
Statutarische Geschäfte
Stimmberechtigt sind die Delegierten.
Vorsitz: Roger von Wartburg
5. Wahlen
6. Statutenanpassungen
Berufspolitische Geschäfte
7. Übersicht zu den laufenden Geschäften des LVB
8. Hauptthema: Zwei kontradiktorische
Referate zum Thema Frühfremd
9. Danksagung
10 Verabschiedung von 2 Resolutionen
11 Diverses
2. Protokoll ausserordentliche DV
vom 27. Mai 2014
Das Protokoll wird einstimmig genehmigt, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen.
budgetierte Ausgaben sind jedoch geringer ausgefallen als befürchtet. Die
Rechnung schliesst daher statt mit ca.
20'000 Fr. Verlust mit einer roten Null
ab.
3. Jahresrechnung 2013/2014,
Revisionsbericht
Bilanz: M. Weiss kommentiert ausgewählte Positionen.
Revisionsbericht: Er bescheinigt der
Rechnung ihre Richtigkeit.
Abstimmung: Die Jahresrechnung
2013/2014 wird einstimmig angenommen, keine Gegenstimmen, eine Enthaltung.
Vereinskasse: In der Vereinskasse ist
etwas weniger Geld, weil die Geschäftsleitung im letzten Jahr weniger
Arbeitsstunden als üblich mit dem
Kanton verrechnet, sondern direkt
ausgezahlt hat, weswegen das Geld
früher fällig wurde.
Jubilarenkasse: Sie ist ausgeglichen.
Kampfkasse: Sie hat sich wegen des
Sonderbeitrages gut entwickelt.
Rechtsschutzkasse: Die Ausgaben liegen im üblichen Rahmen. Ab nächstem Jahr werden allerdings keine
Lohnkosten (Ressort Beratung und
Rechtshilfe) mehr über diese Kasse abgerechnet. Die Obligationen, die aufgrund der Forderung der BLPK (siehe
Traktandum 4) aufgelöst wurden, erscheinen als Ertrag. Ein Gutachten betreffend den Stellenabbau auf der
Sek-I-Stufe wurde über diese Kasse
abgerechnet.
Erfolgsrechnung: Die Erfolgsrechnung stimmt in den meisten Positionen
gut mit dem Budget überein. Einige
M. Weiss dankt Christoph Straumann,
der noch einen Grossteil der Jahresrechnung erstellt hat.
4. Budget 2014/2015 inkl. Festlegung der Mitgliederbeiträge
Der LVB hat in den Jahren 1969 bis 1992
einen Sekretär beschäftigt und bei der
BLPK versichert. Im Zuge der Ausfinanzierung der BLPK muss der LVB nun die
Deckungslücke der Pensionskassenbeiträge von ca. 255’000 Fr. ausfinanzieren. An der a.o. DV vom Mai wurde
beschlossen, die in Obligationen angelegte Reserve der Rechtsschutzkasse
aufzulösen (rund 113'000 Fr.). Von diesem Geld werden Ende Jahr 105'000 Fr.
direkt an die BLPK überwiesen. Für die
Restschuld nimmt der LVB bei der BLKB
einen Kredit auf mit Defizitgarantie
des Kantons. Der Sekretär wurde allerdings auch vom swch (Schule und Weiterbildung Schweiz) beschäftigt und
zwar zu etwa 50%. Offiziell war bei
5
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der BLPK – wahrscheinlich damals der
Einfachheit halber – nur der LVB als
Arbeitgeber gemeldet, die PK-Beiträge wurden jedoch von beiden Vereinen anteilsmässig entrichtet. Dieser
Umstand geriet allerdings im Zuge der
diversen Wechsel innerhalb der LVBGL seit Anfang der 1990er Jahre in
Vergessenheit. Der LVB hat dem swch
nun die Forderung gestellt, die Hälfte
der Ausfinanzierung zu übernehmen,
was dieser abgelehnt hat. Ein Prozess
ist möglich. Der LVB muss noch abwägen, ob sich dies lohnt. Ein Loch ins
Budget reissen ausserdem die vielen
Frühpensionierungen. Es liegt ein
strukturelles Defizit von etwa 40'000
Fr. vor. Deswegen kann der LVB nicht
auf den bestehenden Sonderbeitrag
von 20 Fr. verzichten. Im schlechtesten
Fall muss nächstes Jahr der Sonderbeitrag auf 30 Fr. erhöht werden, im besten Fall hat der LVB nächstes Jahr 250
neue Mitglieder. Um die Mitgliedschaft im LVB auch finanziell attraktiver zu machen, ist die Geschäftsleitung in Absprache mit dem Kantonalvorstand eine Partnerschaft mit Sunrise
eingegangen. M. Weiss stellt die verschiedenen Angebote vor. Das wahrscheinlich attraktivste Angebot ist ein
Flat-Abo für 35 Fr. für Mobiltelefonie
(inkl. Gespräche, SMS, MMS und Internet). LEBE (Lehrerverein Bern) hat
durch dieses Angebot einen sprunghaften Mitgliederanstieg erlebt. Die
Geschäftsleitung erhofft sich den gleichen Effekt in Baselland und muntert
die Delegierten auf, sich weiterhin für
das Werben von Neumitgliedern einzusetzen, wobei das Sunrise-Angebot
ein zusätzliches Motivationspflaster
sein kann.
Budget: M. Weiss erläutert einige Positionen. Der Erlös aus Mitgliederbeiträgen wird höher ausgewiesen, weil
der Sonderbeitrag in die Kasse fliessen
wird. Die Auflösung der Reserve (Obligationen) in der Rechtsschutzkasse
wird wegen des Bezahlens der BLPK-
Schuld gleich wieder aufgebraucht.
Die Erlöse aus den Profitcentern des
LCH werden vorsichtiger budgetiert.
Die Kampfkasse bleibt auf ihrem Niveau (kein Sonderbeitrag), der Rechtsschutzkasse wird kein Personalaufwand mehr verrechnet, sie muss aber
eventuelle Prozesskosten gegen den
swch tragen. Das Budget weist ein Defizit von 200'000 Fr. aus.
Der KV beantragt aus obengenannten
Gründen die Erhebung eines Sonderbeitrages BLPK für das laufende Schuljahr von 20 Fr.
Die Delegierten genehmigen die Mitgliederbeiträge einstimmig, keine Gegenstimmen, 3 Enthaltungen.
Dem Budget 2015 wird einstimmig zugestimmt, keine Gegenstimmen, 4 Enthaltungen.
5. Wahlen
5.1. Wahl in den Kantonalvorstand
Adrian Marbacher, die neue Vertretung des BLVSS (Basellandschaftlicher
Verein für Sport in der Schule), wird
einstimmig, ohne Gegenstimmen und
Enthaltungen, in den Kantonalvorstand gewählt. R. von Wartburg heisst
ihn in diesem Gremium willkommen.
5.2. Wahlen in die LCH-Delegiertenversammlung
Einige Mitglieder der Geschäftsleitung sind in verschiedenen Gremien
des LCH vertreten und gleichzeitig
auch noch Delegierte des LCH. Um die
Geschäftsleitung zu entlasten, die Verantwortung breiter abzustützen und
Überschneidungen aufzuheben, hat
die Geschäftsleitung einen Aufruf gestartet, sich für diese Aufgabe zu melden. Auf den Aufruf haben sich 3 Interessierte gemeldet. Dennis Krüger
(Gym Liestal, neu), Susanne Niederer
(Sek Allschwil, neu), Urs Stammbach
(PS Lausen, neu) und Claudia Ziegler
(VSF, bisher) werden einstimmig, ohne
Gegenstimmen und ohne Enthaltungen, gewählt. R. von Wartburg wünscht
ihnen allen ein erfolgreiches Wirken in
ihrem Amt.
6. Statutenanpassungen:
R. von Wartburg erläutert die Gründe
der verschiedenen Statutenänderungen, die den Delegierten per Brief zugeschickt wurden. Im Anschluss wird
über die einzelnen Änderungen wie
folgt abgestimmt:
§ 11.1: Vereinssitz ist die Geschäftsstelle: Neu: Der Sitz des Vereins entspricht dem Sitz der Geschäftsstelle.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen.
§ 14.3i: Pensionierte als eigene Verbandssektion: Neu: i) pensionierte
LVB-Mitglieder.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen.
§ 18.1: Neuberechnung des Anspruchs
auf Delegiertensitze pro Sektion: Neu:
Auf je 20 beitragspflichtige Mitglieder einer Sektion sowie auf eine Restmitgliedschaft von mindestens 11 ist
ein Delegierter bzw. eine Delegierte
zu wählen. Jeder Sektion stehen mindestens 5 Delegiertensitze zu. Eine
Ausnahme bildet die Sektion der
pensionierten LVB-Mitglieder: Ihr
stehen unabhängig von ihrer Mitgliederzahl 3 Delegiertensitze zu.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen und mit einer Enthaltung, angenommen.
§ 18.2: nur aktive Lehrpersonen als
Delegierte (Ausnahme: Pensioniertensektion) Mit Ausnahme der drei
Vertretungen der Sektion der Pensionierten sowie der LVB-Ehren-
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mitglieder müssen Delegierte
Lehrpersonen im aktiven Schuldienst Baselland sein.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen bei zwei Enthaltungen, angenommen.
§ 22.1: Mitgliederzahl und Anspruch
auf Sitze im Kantonalvorstand: Neu:
22.1 Dem KV gehören maximal 22
Mitglieder an. Jede Verbandssektion hat Anspruch auf mindestens
einen Sitz im KV. Hinsichtlich der
restlichen Sitze wird eine ausgewogene Vertretung der Regionen
und Schulstufen angestrebt.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen und mit zwei Enthaltungen, angenommen.
§ 26.2: Anzahl Publikationen lvb.inform pro Geschäftsjahr: Neu: 26.2 Sie
erscheint in der Regel 4- bis 5-mal
pro Geschäftsjahr.
Die Änderung wird einstimmig, ohne
Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen.
Berufspolitische Geschäfte
Stimmberechtigt sind alle anwesenden LVB-Mitglieder.
7. Übersicht zu den laufenden
Geschäften des LVB
7.1. Wassersicherheit: Das AVS hat
im Juni 2014 allen Schulleitungen eine
Broschüre zur Wassersicherheit zukommen lassen. In zwei Ausgaben,
eine für die Volksschule und eine für
die Stufe Sek II, wird eine Übersicht
über Vorsichtsmassnahmen gegeben.
Es steht darin wörtlich, dass diese Mindeststandards unbedingt eingehalten
werden müssen. Das AVS hat aber weder ein Einführungsdatum, Hilfestellungen noch Übergangsbestimmungen zur Broschüre geliefert. An den
Schulen herrscht deswegen grosse
Verunsicherung. Der LVB erhielt viele
Anfragen. Der Jurist des LVB sagt, die
Broschüre sei juristisch relevant. Falls
die Lehrperson die Mindeststandards
nicht erfülle, könnte das bei einem
Vorfall bedeuten, dass der Lehrperson
Fahrlässigkeit vorgeworfen werde.
Der LVB empfiehlt daher, die beschriebenen Aktivitäten nur noch anzubieten, wenn man die Mindeststandards
erfüllt. Wo die Zeit für die nötigen
Weiterbildungen herkommen soll, ist
(nebst dem HarmoS-bedingten Weiterbildungsbedarf) ebenfalls nicht geklärt.
7.2. Information durch LVB-Delegierte an den Schulen: Der LVB ist
als Mitglied der ABP (Arbeitsgemeinschaft Basellandschaftlicher Personalverbände) offizieller Sozialpartner. Er
darf über die Fächli oder die Pinnwand
im Lehrerzimmer informieren, ebenfalls an Konventen. Es hat Schulorte
gegeben, an denen diese Abmachung
seitens der Schulleitung gebrochen
wurde. Die E-Mail-Adressen des Arbeitgebers zu benutzen, ist heikel.
Wenn man alle selber abtippt, dürfen
sie gebraucht werden. Einen Schulverteiler darf man nicht nutzen.
7.3 Rechte der Konvente: Eine
Schulleitung hat sehr stark in den Konvent eingegriffen und ihr nicht genehme Traktanden eigenmächtig gestrichen. Der LVB ist sich mit dem Bildungsdirektor einig, dass der Konvent das
entscheidende Mitspracheorgan der
Lehrerschaft ist. Traktanden werden
vom Konventsvorstand festgelegt. Die
Schulleitung darf darin nicht eingreifen, solange die Themen effektiv die
Schule betreffen. Es ist ausserdem auch
möglich, Traktanden in Abwesenheit
der Schulleitung zu besprechen.
7.4. Stellensicherung Sek I: Auf der
Sek I wird das Äquivalent von 200 Stellen abgebaut. Es handelt sich dabei
durchgängig um befristete Stellen.
Unbefristete Verträge müssen nicht
aufgelöst werden. Unter den befristet
Angestellten sind einige Härtefälle. Im
Paritätischen Ausschuss werden diese
Fälle am 8.10.14 diskutiert werden.
Anfangs September hat das RAV eine
Veranstaltung für diese Lehrpersonen
durchgeführt, die gemäss diversen
Rückmeldungen ein absoluter Ablöscher für die Anwesenden gewesen
sein muss. Die RAV-Vertretungen seien als arrogant empfunden worden.
Eine Wortmeldung aus dem Saal regt
an, auch junge Lehrpersonen als Härtefalle zu betrachten, die zum «falschen» Zeitpunkt ihre Ausbildung abgeschlossen und deswegen nur eine
befristete Anstellung bekommen hätten. Viele davon hätten gerade eine
Familie gegründet und seien auf das
Einkommen angewiesen.
7.5 Entlastung Primarlehrpersonen 6. Schuljahr: Die Resolution der
letzten DV, Mittelstufen-Primarlehrpersonen im Umfang von 3 Wochen
vom Unterricht zu entlasten, wenn sie
zum ersten Mal das 6. Schuljahr übernehmen, hat zu einem Teilerfolg geführt. In den nächsten 2 Jahren haben
die Schulleitungen für diese Klassenlehrpersonen je 2 Wochen Entlastung
zur Verfügung. Die ist nicht zuletzt ein
Erfolg für den Einsatz des LVB.
7.6. Weiterbildungen Sek I: Die Petition der Arbeitsgruppe des LVB für
fachlich bessere Ausbildungen an der
PH vor allem auch in den neuen Kombifächern hat bei der Petitionskommission des Landrates Erfolg gehabt.
Die Petition wird an den Landrat überwiesen, der seinerseits ein Postulat an
die Regierung überweisen soll. Abgestimmt wird darüber voraussichtlich
am 2. Oktober.
8
8. Hauptthema:
Zwei kontradiktorische Referate
zum Thema Frühfremd mit
anschliessender Publikumsdiskussion
Für die Pro-Seite sprechen:
• Christine Le Pape Racine (PH FHNW);
• Giuseppe Manno (PH FHNW)
Für die Contra-Seite sprechen:
• Rudolf Wachter (Universitäten Basel
und Lausanne);
• Urs Kalberer (Lehrer, Didaktiker,
Bildungs-Blogger)
R. von Wartburg leitet das Thema mit
einem satirischen Text von Andreas
Thiel aus dem «Nebelspalter» ein und
stellt die einzelnen Referenten kurz
vor.
Christine Le Pape Racine: Der Hauptfokus des Kurzreferats von Frau Le
Pape Racine liegt auf dem Wandel der
Gesellschaft (Stichwort Globalisierung), der es erforderlich mache, in der
Schweiz zwei Fremdsprachen zu können. Die Kinder hätten heute das Recht
und die Pflicht, zwei Fremdsprachen zu
lernen. Wenn die Fremdsprachen in
der Primarzeit angelegt würden, käme
jedes Kind zum Zug, andernfalls könnten auf der Oberstufe die Fremdsprachen abgewählt werden. Gleichzeitig
sei eine neue Didaktik der funktionalen Mehrsprachigkeit entstanden, die
alte Didaktik des getrennten Sprachenlernens sei überholt. Im Projekt Passepartout, einem didaktischen Entwicklungsprojekt, werde nun eine interkantonale Harmonisierung angestrebt.
Im Passepartout-Lehrplan seien drei
Bereiche verbindlich: 1. Die kommunikative Sprachhandlungsfähigkeit; 2.
das Bewusstsein für Sprachen und Kulturen; 3. der systematische Aufbau von
Sprachlernstrategien. Da es ein langjähriges Projekt sei, klappe vieles nicht
sofort. 2018 werde das Gesamtprojekt
evaluiert. Die Lehrmittel würden nach
einer ausgiebigen, zweijährigen Test-
phase eingeführt werden. Gemäss dem
Motto «Older is faster, younger is better», verbunden mit der Ergänzung
«nur unter bestimmten Bedingungen»,
ist Frau Le Pape Racine davon überzeugt, dass Frühfremdsprachen ihre
Berechtigung haben.
Giuseppe Manno: Sein Kurzreferat
fokussiert auf die Grundlagen des
Passepartout-Projekts. Eine Frage sei,
ob die frühe Einführung der Fremdsprachen überhaupt möglich sei. Es
gebe sowohl positive als auch negative
Erkenntnisse aus verschiedenen Studien. Eine eindeutige Antwort auf die
Frage gebe es bis anhin nicht. Viele
Studien bezögen sich auf andere Länder und es sei gefährlich, diese Resultate direkt auf helvetische Verhältnisse
zu übertragen. Studien im helvetischen
Kontext hätten praktisch keine Beachtung gefunden. Eine Innerschweizer
Studie habe im Klassenvergleich gezeigt, dass die verschiedenen Sprachen
voneinander profitieren und die
Deutschkompetenzen nicht darunter
leiden würden. Der Staat, so Manno,
würde nicht die Frage des Alters für
den Beginn des Fremdsprachenunterrichts als übergeordnete Frage behandeln, sondern die Umsetzung der Reform stehe im Vordergrund. Die Reform sei nicht abgeschlossen. Es sei
verfrüht, definitive Entscheide oder
Meinungen dazu zu äussern. Es gebe
noch Forschungslücken und da müsse
noch weiter empirisch geforscht werden. Die Studien müssten u.a. die angewandte Didaktik und die Rahmenbedingungen berücksichtigen. Die
Evaluationen müssten zuerst einmal die
Kompetenzen messen, nicht nur formale Aspekte wie die Grammatik oder das
Vokabular. Es sei relevanter, im Rahmen
der Mehrsprachendidaktik das mehrsprachige Repertoire der Schülerinnen
und Schüler zu betrachten.
Urs Kalberer: Als leidenschaftlicher
Sprachlehrer sei er als Kritiker der Früh-
fremdsprachen keinesfalls gegen den
Sprachunterricht als solchen. Er wehre
sich aber dagegen, wenn eine Generation von Schülerinnen und Schülern aus
ideologischen Gründen missbraucht
werde, das aktuelle Konzept über sich
ergehen lassen zu müssen. Das neue
Sprachenkonzept baue auf neuropsychologischen Untersuchungen auf.
Man sei dabei davon ausgegangen,
dass frühes Sprachenlernen effizienter
sei. Dabei handle es sich aber um eine
Fehlinterpretation, da es nicht vergleichbar sei, wenn ein Kind im Ausland (z.B. als Folge eines Umzugs) eine
Fremdsprache lerne oder nur während
2 bis 3 Lektionen pro Woche in der
Primarschule. Es sei zwar richtig, dass
junge Lernende ältere Lernende nach
einiger Zeit überholten, bei 2-3 Lektionen pro Woche müsse man allerdings
damit rechnen, dass dies erst nach 20
Jahren (!) Sprachunterricht der Fall
sein werde. Der naturalistische Spracherwerb, den er an einem Beispiel erläutert, sei ganz anders als derjenige
in der Schule. In verschiedenen Studien sei ausserdem die Lernstandsmessung auf derart tiefem Niveau angesetzt gewesen, dass nur ein gutes Resultat habe herausschauen können.
Studien aus aller Welt kämen zu anderen Schlussfolgerungen: Kurzer, kompakter und intensiver Unterricht gegen Ende der obligatorischen Unterrichtszeit bringe mehr.
Rudolf Wachter: Seine Motivation,
sich in die Diskussion um die Frühfremdsprachen einzuschalten, seien
viele Gespräche mit Lehrpersonen gewesen. Diese hätten berichtet, der
Unterricht bringe nicht das, was man
sich versprochen habe. Es sei effizienter und effektiver, wenn man später
damit anfange. R. Wachter meint,
eine Frühfremdsprache sei für ihn in
Ordnung, zwei jedoch seien zu viel, da
Deutschschweizer Kinder ja mit der
ersten Frühfremdsprache schon die
dritte Sprache lernen würden (neben
2014/15-03
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HEINZ ANTON MEIER
Dialekt und Hochdeutsch). Den Lehrpersonen solle klar sein: Jede Bewusstheit der Schülerinnen und Schüler
über ihre eigene Sprache helfe beim
Lernen einer anderen Sprache. Bei der
Interpretation verschiedener Studien,
so stelle er fest, müsse man vorsichtig
sein, teilweise würden regelrechte Gefälligkeitsgutachten im Nachhinein
erstellt, um die Einführung von Frühfremdsprachen zu legitimieren, so
geschehen im Kanton Zürich für Frühenglisch zu Buschors Zeiten. Bereits
damals habe er sich aus wissenschaftsethischen Gründen in die Debatte eingeschaltet. In den Studien werde aber
nicht erwähnt, wann denn die zweite
Fremdsprache folgen solle, dabei gehe
es im Kern genau um diese Frage. Ausgeklammert werde ebenfalls die Qualität, auf die das Kind für seinen Spracherwerb aufbauen könne. Eine Studie
von Bertolet, den er persönlich kenne
und als überaus seriösen Forscher
schätze, zeige auf, dass es schneller vorangehe, wenn man später beginne.
Dies liege darin begründet, dass gegen Ende der Schulzeit die Schülerinnen und Schüler über eine höhere
Kompetenz in der Erstsprache verfü-
gen und darauf aufbauen könnten.
Dann könnten sie die Sprache auch in
ihrer Funktionalität verstehen. Leider
habe aber das Gebot des gesunden
Menschenverstandes in der Wissenschaft zu wenig zu melden. R. Wachters konkreter Vorschlag lautet: Erste
Fremdsprache ab der 4. Klasse, die
zweite ab der 7. Klasse.
Publikumsdiskussion:
1. Publikumsfrage: Wie U. Kalberer
die Ausbildung der Lehrpersonen auf
Niveau C2 des europäischen Sprachenportfolios beurteile. U. Kalberer: Das
zu erreichen, sei wohl unmöglich. Und
dennoch müssten auf der Primarstufe
im Prinzip die «besten Leute» unterrichten. Die Ausbildung sei einfach
noch nicht auf dem Niveau. Dies könne
auch an dem nicht ausgereiften Lehrmittel liegen, meint jemand aus dem
Publikum. Mit Lehrmitteln der Oxford
und Cambridge Press erreichten andere Länder viel bessere Resultate betr.
DELF/DALF und First Certificate.
2. Publikumsfrage: Ob es z.B. möglich wäre, zusätzlich zum eigentlichen
Frühfremdsprachenunterricht ca. 25%
der übrigen Fächer wie Werken, Musik
etc. immersiv zu unterrichten. R. Wachter meint, das wäre sicher besser, aber
es würde wohl an der Praxis scheitern:
Wo finde man entsprechend qualifizierte Lehrpersonen?
3. Publikumsfrage: Der Fragende
hat in Yverdon auf der Sekundarstufe
Deutsch unterrichtet und die Kinder
hätten danach trotzdem kaum
Deutsch gekonnt. Da habe es auch
nichts genützt, dass er aus der
Deutschschweiz stamme und damit
Muttersprachler sei. R. Wachter: Die
Schüler seien halt sehr schnell demotiviert. Da helfe auch eine muttersprachliche Lehrperson nicht immer.
Ausserdem könne eine Lehrperson,
die die Zielsprache habe lernen müssen, sich besser in die Kinder einfühlen
und z.B. erkennen, weshalb genau
bestimmte Fehler gemacht würden.
Dass diese Lehrperson aber ausgezeichnete Kenntnisse der Zielsprache
haben müsse, stehe ausser Frage. Chr.
Le Pape Racine: Der Erfolg sei der
grösste Motivator. Wenn Kinder merken würden, dass sie vorwärts kommen, dann würden sie auch lernen.
10
Schlechte Noten in Tests und ständige
Fehlerkorrekturen dagegen hätten
einen negativen Effekt. Ausserdem
müsse der Inhalt des Unterrichts interessant sein. Das Lehrmittel «Mille
Feuilles» sei den entwicklungspsychologischen Schritten der Kinder didaktisch angepasst. Dazu komme, dass
nun immer mehr in Sprachen gut ausgebildete Lehrpersonen im Schuldienst stünden und damit die Frühfremdsprachen besser unterrichtet
werden könnten. Da sei es ohne Weiteres möglich, auch einmal in einem
anderen Fach etwas in Englisch oder
Französisch einzuführen.
4. Publikumsfrage: Eine Kindergartenmutter habe festgestellt, dass ihr
Kind in der 3. Klasse unter Stresssymptomen leide, seitdem die Stundentafel
in Baselland mit Frühfranzösisch noch
erweitert wurde. Was sagen die Referenten dazu? Chr. Le Pape Racine: Das
sei schon möglich, könne aber auch
auf andere Faktoren zurückzuführen
sein. Nachfrage: Hätte man dafür besser andere Stunden streichen sollen?
Chr. Le Pape Racine: Die Stundentafeln
in der Schweiz seien sehr unterschiedlich. Es gebe, auf die Dauer der Volksschule hochgerechnet, bis zu zwei
Jahre Unterschied in der Stundendotation. Das müsse man ansehen. Nachfrage: Ob sie persönlich der Meinung
sei, man hätte Frühfranzösisch der
Stundentafel hinzufügen oder etwas
Bestehendes damit ersetzen sollen.
Chr. Le Pape Racine: Das müsse man im
Einzelfall ansehen.
5. Publikumsvotum: Eine Lehrperson, die Frühfranzösisch unterrichtet
und die Sprache an sich liebt, stellt
lapidar fest, dass Preis und Leistung in
keinem Verhältnis stünden.
6. Publikumsfrage: Ob man die Kinder nicht «betrüge», wenn man die
Frühfremdsprache erst als spielerisch
und «gratis» verkaufe und auf der Sek I
ginge es dann auf einmal los mit intensivem Lernen? G. Manno: Er erachtet
diese Frage als nicht zeitgemäss. Wichtig sei, dass man die Didaktik der jeweiligen Stufe anpasse. Es stimme nicht,
wenn behauptet werde, dass das
Passepartout-Konzept ein «Laissezfaire» sei. Es sei ein kohärentes Konzept vorhanden. Im Lehrmittel «Mille
Feuilles» seien metasprachliche Betrachtungen vorgesehen. Es gebe ausserdem auch grammatikalische Betrachtungen.
7. Publikumsfrage: Die Lehrperson
stellt fest, dass aus vielen Gesprächen
mit anderen Lehrpersonen der Mittelstufe hervorgehe, dass nur etwa 8%
der Kinder nicht überfordert seien mit
zwei Fremdsprachen, notabene die
leistungsstärksten der Klasse. Für den
Rest seien zwei Fremdsprachen zu viel.
Auch gerade fremdsprachige Kinder
hätten grösste Mühe. Chr. Le Pape Racine: Man habe in grossangelegten
Studien festgestellt, dass Kinder mit
einer anderen Muttersprache in den
Frühfremdsprachen nicht schlechter
abschneiden würden als Schweizer Kinder. Natürlich gebe es immer Ausnahmen. Die Motivation für Frühfranzösisch sei auch aufgrund vieler negativer
Presseartikel, die die Kinder schliesslich
auch mitbekämen, gesunken.
R. von Wartburg bedankt sich bei den
Referenten und der Referentin. Ihnen
wird ein kleines Präsent überreicht.
9. Danksagung
Monika Rohner (BLVSS)
M. Weiss würdigt Monika Rohner, die
13 Jahre lang dem BLVSS als Präsidentin vorgestanden ist. Sie war massgeblich an der Lohnklage beteiligt, die die
Sportlehrpersonen auf Sek I und Sek II
in eine bessere Lohnklasse geführt
hat. 2003 hat sie den BLVSS unter die
Fittiche des LVB geführt und seither
Einsitz im Kantonalvorstand genommen. Ihr wird ein Blumenstrauss über-
reicht. M. Rohner bedankt für die Zeit
im Kantonalvorstand und für die Unterstützung des LVB für die Belange
der Sportlehrpersonen. Sie wünscht
der Geschäftsleitung, dem Kantonalvorstand und dem LVB als Ganzes weiterhin viel Kraft, Energie und Beharrlichkeit in allen Anliegen.
10. Verabschiedung von zwei
Resolutionen
10.1. Resolution Nr. 1
Thomas Bretscher hatte an der letzten
DV einen Resolutionsentwurf eingereicht, der nun angepasst zur Abstimmung kommt. R. von Wartburg erläutert kurz die einzelnen Punkte. Die
Resolution lautet wie folgt:
• Fortbildungskosten, die vom Arbeitgeber (Kanton) bzw. von der Schulleitung verordnet werden, müssen
zu 100% vom Arbeitgeber übernommen werden.
• Für Fortbildungen, die eine Nachqualifikation bedingen, um die bisherige Unterrichtsberechtigung im
betreffenden Schulfach zu erhalten
(Erhaltung und Sicherung der erreichten Berufsstellung), müssen
vom Arbeitgeber bezahlte Zeitgefässe (Lektionenentlastungen, bezahlte Stellvertretungen) zur Verfügung
gestellt werden, damit für die Lehrkräfte weiterhin ein 100%-Pensum
bzw. das bisherige Unterrichtspensum möglich ist. Die Fortbildungszeit und Fortbildungskosten dürfen
nicht wie bisher aus Spar- und Traditionsgründen auf die Lehrkräfte abgewälzt werden.
• Kleinere Fortbildungen, die bei der
HARMOS-Umsetzung notwendig
sind, müssen im Rahmen der bisherigen EAF bewältigt werden können und vom Arbeitgeber bezahlt
werden. Sollten aber die Weiterbildungen nicht im Rahmen der EAF
2014/15-03
11
abgewickelt werden können, so
muss der Arbeitgeber zusätzliche
bezahlte Zeitressourcen zur Verfügung stellen.
• Der Umfang der Fortbildungen, welche für HARMOS-bedingte Nachqualifikationen erforderlich ist, wird
kantonal einheitlich und nach Absprache mit den Sozialpartnern festgelegt.
Die Resolution wird einstimmig, ohne
Gegenstimmung und Enthaltungen,
angenommen.
10.2. Resolution Nr. 2
R. von Wartburg erläutert die Resolution, die folgendermassen lautet:
Mit der geplanten Gemeindestrukturreform sollen die Gemeinden künftig
befugt sein, die Löhne der Gemeindelehrkräfte in erheblichem Mass selbst
zu bestimmen. Der LVB lehnt solche
«Ortszulagen», die im letzten Jahrhundert mit gutem Grund abgeschafft
wurden, ohne Wenn und Aber ab:
• Es darf nicht sein, dass der Kanton
und seine Gemeinden auf dem Buckel der am schlechtesten entlöhnten Lehrpersonenkategorie sparen!
• Es kann nicht sein, dass in Zeiten
einer angestrebten Harmonisierung
der Bildung durch eine Kommunalisierung der Anstellungsbedingungen der Lehrkräfte strategisch exakt
in die Gegenrichtung marschiert
wird!
• Es darf nicht sein, dass Kanton und
Gemeinden sich für ihre Sparideen
ausgerechnet einen typischen Frauenberuf aussuchen!
• Es darf nicht sein, dass das Unterrichten in kleinen Gemeinden noch
unattraktiver wird, als es heute
schon ist (lange Arbeitswege, unsi-
chere Pensen, veraltete oder fehlende Infrastruktur)!
• Es darf nicht sein und es ist nicht im
Interesse der Kinder, dass durch einen sinnlosen Wettbewerb die Gemeinden damit anfangen, sich gegenseitig bewährte Lehrkräfte abzuwerben und dadurch eine höhere
Fluktuation an den Schulen hervorrufen!
• Es kann nicht im Interesse des Kantons und der kleinen Gemeinden
sein, wenn es in Zukunft noch
schwieriger wird, für ohnehin wenig
attraktive Standorte gut qualifizierte Lehrkräfte zu gewinnen! So ein
Ansinnen steht in fundamentalem
Widerspruch zu einem der Kernanliegen der Volksschule: Dass jedes
Kind aus jeder Gemeinde ein Anrecht hat auf stufengerecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer!
Der LVB sagt daher klar Nein zu einer
Kommunalisierung der Löhne der Primar- und Musikschullehrkräfte und
wird jeden in diese Richtung gehenden Versuch mit aller Vehemenz bekämpfen.
Eine Lehrperson möchte, dass statt
von «kleinen Gemeinden» von «ärmeren Gemeinden» die Rede sein soll.
Die Resolution wird mit dieser Anpassung einstimmig, ohne Enthaltungen
und Gegenstimmen, angenommen.
11. Diverses
Eine Wortmeldung bemängelt, dass
für den Hauptteil zu wenig Zeit vorhanden gewesen sei, vor allem für die
Fragen an die Gäste. R. von Wartburg
erwidert, dass die Tagesaktualität die
zeitliche Planung oft überhole – aktuell z.B. mit der projektierten Gemeindestrukturreform, welche die zweite
Resolution erforderlich gemacht habe.
Die Geschäftsleitung müsse ausserdem
schon so aus den unzähligen parallel
bestehenden Baustellen das Allerwichtigste herausfiltern, so gut es gehe. Mit
nur zwei Versammlungen pro Jahr sei
das keine einfache Aufgabe, eine Erhöhung der Anzahl Versammlungen
wäre aber wohl auch nicht im Interesse der Mitglieder. Die Geschäftsleitung
nehme die Anregung mit für künftige
Planungen.
R. von Wartburg bedankt sich bei allen
Anwesenden für die Teilnahme und
schliesst damit die Sitzung.
Im Anschluss an die DV/MV wird ein
Apéro offeriert.
12
Pragmatismus ist die einzige Option!
Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21
Von Michael Weiss und Roger von Wartburg
Die grosse Kontroverse
Trotz seines Umfangs ist der Lehrplan
21 wohl eines der in der Deutschschweiz
am intensivsten diskutierten Schriftstücke überhaupt. Auch der LVB hat sich in
den vergangenen eineinhalb Jahren
fundiert und kritisch damit auseinandergesetzt, sich beim Kanton und beim
LCH in die Vernehmlassung eingebracht
und diverse Artikel dazu publiziert.1
Sofern die durch den Baselbieter Landrat am 2. Oktober 2014 überwiesene
Parlamentarische Initiative
nicht zu einem anderen
Ergebnis führen wird, steht
die Einführung des Lehrplans 21 in unserem Kanton bald bevor: Bereits
kommenden Sommer an
den Primarschulen, 2018
auch an den Sekundarschulen. Entscheidend für eine
gangbare Einführung ist
aus Sicht des LVB ein in
jeder Hinsicht pragmatischer Umgang mit dem
Lehrplan und dem damit
verbundenen Kompetenzkonzept, und zwar von
allen Beteiligten. Sollten
Schulleitungen, Bildungsverwaltung und Pädagogische Hochschulen dazu
nicht Hand bieten, wird
dieses ambitiöse Unternehmen endgültig scheitern.
Die Meinungen zum neuen Werk könnten konträrer nicht sein: Während die
einen die Ansicht vertreten, der Lehrplan 21 schreibe ohnehin nur die gelebte Praxis an den Schweizer Schulen nieder, sehen andere im Lehrplan 21 einen
fundamentalen Paradigmenwechsel,
ohne sich freilich darin einig zu sein, ob
dieser die Volksschule zum Guten oder
zum Schlechten verändern wird.
Die Feststellung, dass nicht wenige Exponenten der Bildung ihre diesbezügliche Einschätzung den Erwartungen
ihres Publikums anpassen, macht die
Situation nicht übersichtlicher. Wenig
vertrauensbildend wirkt ausserdem die
höchst widersprüchliche Kommunikation der einzelnen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren. Dies weckt den
Verdacht, dass die politisch Verantwortlichen selber nicht so richtig wissen, was sie da in Gang gesetzt haben.
Hinter den vorgefertigten Textbausteinen der jeweiligen Einflüsterer tut sich
jedenfalls allzu oft eine erschreckend
ausladende inhaltliche Leere auf.
Pragmatismus als einzige Option
Das Projektmanagement des Lehrplans
21, dessen Konzeption und die damit
verbundene Kommunikation waren
insgesamt ungenügend bis schlecht.
Deshalb ist die fundierte Kritik, die von
verschiedener Seite aufgekommen ist,
auch absolut gerechtfertigt.
Sofern der Lehrplan 21 auf politischem
Wege nicht doch noch gänzlich abgeschossen wird, dann wird in den einzel-
nen Kantonen letztendlich aber wohl
gar nicht primär der Lehrplan 21 an
sich, sondern noch stärker der konkrete Umgang mit ihm, verbunden mit
kantonalen Ausdifferenzierungen und
Anpassungen, darüber entscheiden,
ob seine Einführung gelingen kann
oder nicht. Der LVB ist überzeugt davon, dass einzig und allein ein in jeder
Hinsicht pragmatischer Umgang mit
dem Lehrplan 21 und der Kompetenzorientierung Aussicht auf Erfolg haben
kann.
6 Leitsätze des LVB und daraus
abgeleitete Botschaften
Was dies beinhaltet, soll im Folgenden
anhand von sechs Leitsätzen aufgezeigt werden. Aus diesen leiten sich
dann entsprechende Botschaften an
die Schulleitungen, die Bildungsverwaltung, die Pädagogischen Hochschulen und die Lehrmittelverlage ab.
Leitsatz 1: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan
21 gehört zuallererst die Einsicht
und das Bekenntnis, dass mit dem
Begriff der Kompetenz nichts
beschrieben wird, was nicht seit
eh und je als Merkmal eines guten
Unterrichts gegolten hat.
Kernpunkt der meisten Auseinandersetzungen um den Lehrplan 21 ist die
Kompetenzorientierung, die auch in
der nun freigegebenen Fassung des
Lehrplans konsequent beibehalten
wurde.
Im überarbeiteten Lehrplan 21 wird
die Kompetenzorientierung folgendermassen erklärt:
«Beschrieben Lehrpläne lange Zeit,
welche Inhalte Lehrerinnen und Lehrer
unterrichten sollen, beschreibt der
Lehrplan 21, was Schülerinnen und
Schüler am Ende von Unterrichtszyklen wissen und können sollen. Dies geschieht durch die Formulierung fachli-
2014/15-03
13
Es wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, die Stoffpläne
früherer Zeiten seien allein in der Absicht geschrieben worden, zu
definieren, was Lehrerinnen und Lehrer lehren sollten, nicht aber,
um darzulegen, was Schülerinnen und Schüler wissen, können und
verstehen sollten!
cher und überfachlicher Kompetenzen,
die die Schülerinnen und Schülerin in
den Fachbereichen erwerben. Die dem
Lehrplan zugrundeliegende Kompetenzorientierung nimmt zentrale Aspekte eines aktuellen Bildungs- und
Lernverständnisses auf. Danach bedeutet schulische Bildung – insbesondere
auf der Volksschulstufe – die kontinuierliche, durch Lehrpersonen und Lehrmittel unterstützte Aneignung von
Wissen und Fähigkeiten. Damit bleibt
auch für den vorliegenden Lehrplan
die kulturelle Dimension von Wissen
und fachlicher Bildung zentral. Wissen
als Kompetenz wird in einem breiten
Sinne verstanden: als direkt nutzbares
Verfügungswissen, als Reflexionswissen und als Orientierungswissen. Die
dem Lehrplan zugrunde liegende Idee
der Kompetenzorientierung bedeutet
keine Abkehr von einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und Kulturbildung, sondern im Gegenteil deren
Verstärkung und Festigung durch ein
auf Verständnis, Wissensnutzung und
Können hin orientiertes Bildungsverständnis.»
Wir heben noch einmal hervor: Verstärkung und Festigung einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und
Kulturbildung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin
orientiertes Bildungsverständnis soll
also der Grundgedanke der Kompetenzorientierung sein.
Darüber, wie dieser Grundgedanke
umgesetzt werden soll, finden sich im
Lehrplan 21 ebenfalls Aussagen:
«Kompetenzorientiert
unterrichten
heisst, spezifische Inhalte und Gegenstände so auszuwählen und als Lerngelegenheiten zu gestalten, dass erwünschte Kompetenzen daran erworben oder gefestigt werden können.
Die Lehrperson als zentrale Akteurin
stellt auf der Basis von Lehrplan und
Lehrmitteln Überlegungen an, welche
Wissens- und Könnensziele sich anhand
welcher Fachinhalte und Themen im
Unterricht auf welchem Niveau bearbeiten lassen. Darauf basierend gestaltet sie Lernumgebungen und Unterrichtseinheiten, die geeignet sind, dass
Schülerinnen und Schüler daran die
relevanten Kompetenzen erwerben
können. Dabei schenkt sie den Voraussetzungen in der Klasse bzw. der Lerngruppe hohe Beachtung. Qualitativ
gute Lehrmittel und Lernmedien, gehaltvolle und fachdidaktisch durchdachte Aufgaben und Gegenstände
sowie vielfältig eingesetzte Methoden
sind die Grundlage für die Planung und
Umsetzung eines solchen Unterrichts.
Kompetenzorientiert
unterrichten
heisst über die Stoffvorgaben hinaus
explizit an die Wissensstrukturen und
Fähigkeiten denken, die an einem Inhalt, einer Aufgabe erschlossen oder
sich daran aufbauen, festigen oder anwenden lassen. Kompetenzorientierter
Unterricht beginnt bei der Unterrichtsplanung und endet idealerweise bei
der Vergegenwärtigung, ob die angestrebten geistigen Vorstellungen, Begriffe und Fähigkeiten auch tatsächlich
durch die Schülerinnen und Schüler
erworben wurden. […]»
Unterricht wirklich ausmacht, und
während man frühere Begriffe durch
neue ersetzt, merkt man gar nicht,
dass sich zwar der Begriff, nicht aber
der Inhalt verändert hat. Es wird doch
niemand ernsthaft behaupten wollen,
die Stoffpläne früherer Zeiten seien
allein in der Absicht geschrieben worden, zu definieren, was Lehrerinnen
und Lehrer lehren sollten, nicht aber,
um darzulegen, was Schülerinnen und
Schüler wissen, können und verstehen
sollten!
Die Erklärung erscheint unmittelbar
einleuchtend, allerdings findet man
auch nach längerem Hinsehen und
Nachdenken keinen einsichtigen
Grund, warum die so definierte Art
des Unterrichtens «kompetenzorientiertes» Unterrichten und nicht einfach «gutes» Unterrichten genannt
wird. Dieselbe Definition könnte auch
zu Rate gezogen werden, wenn es darum ginge, lernzielorientierten Unterricht zu definierten, wobei es nicht
einmal eine Rolle spielt, ob diese Lernziele nun operationalisiert sind oder
nicht.
Aus Sicht des LVB hätte sich von Anfang
an jegliche Kontroverse über die Kompetenzorientierung erübrigt, wenn klar
gewesen wäre, dass mit dem Begriff
«Kompetenz» hier dasselbe gemeint ist
wie in der Alltagssprache: das tatsächliche Beherrschen und Anwendenkönnen von Gelerntem. In diesem Falle
liesse sich der Kompetenzbegriff einordnen als eine Art Synonym für «Fähigkeiten und Fertigkeiten». Und
wenn dem so wäre, dann würde dieser
Kompetenzbegriff exakt dem entsprechen, was jede seriöse Lehrperson
in ihrem Unterricht schon immer angestrebt hat.
So kommt jeder neue pädagogische
Begriff mit dem Anspruch daher, nun
endlich das zu beschreiben, was guten
Dennoch scheint das Beharren auf dem
Kompetenzbegriff (der insbesondere
im Bereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» mehr hinderlich als nützlich ist)
dem merkwürdigen Glauben zu entspringen, Schülerinnen und Schüler
hätten bislang Dinge, die im Unterricht
behandelt wurden, nur darum nicht
gewusst, verstanden oder gekonnt,
weil der Lehrplan dies nicht explizit
verlangt hat. Es genügt aber nicht,
mehrere tausend mit «Die Schülerinnen und Schüler können …» beginnende Sätze in einen Lehrplan hineinzuschreiben, um sicherzustellen, dass die
Kinder und Jugendlichen dann auch
tatsächlich etwas können.
Das Problem ist nun aber, dass wir im
internationalen schulischen Kontext
14
auf eine bereits länger andauernde
Historie des Kompetenzbegriffs zurückblicken können, die einen mit
grosser Sorge um die Qualität unseres
Bildungssystems erfüllen muss. Seit
der Veröffentlichung des ersten Entwurfs des Lehrplans 21 hat der LVB
immer wieder darauf hingewiesen. In
der Bildungspolitik nämlich entstammt
der Begriff der Kompetenz einem Konzept der OECD, in welchem es darauf
ankommt, Schülerinnen und Schüler
im Sinne einer grösstmöglichen Ökonomisierung der Bildung als Humankapital in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig zu machen. Die Zauberwörter heissen Nützlichkeit, Effizienz,
Kalkulierbarkeit, Normierung, Messbarkeit, Kontrolle.
denkompetenzen unterzuordnen, weil
angenommen wird, dass die globale
Wirtschaft von künftigen Erwerbstätigen diese Eigenschaften am ehesten
benötigt. In anderen Ländern (USA,
Deutschland, Frankreich, Österreich)
hat man mit entsprechend kompetenzorientierten Lehrplänen teilweise bereits seit den 1990er Jahren Erfahrungen gesammelt – und krebst mittlerweile vielerorts ernüchtert zurück,
weil man feststellt, dass solche Konzepte zu einer Aushöhlung der Bildung führen. Dass man derartige Fakten in der helvetischen Debatte um
die Ausrichtung des Lehrplans 21 permanent aussen vor gelassen hat, ist
überaus stossend.
Leitsatz 2: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört, dass man das zu
Erreichende mit den geltenden
Rahmenbedingungen in Einklang
bringt.
Solange die Rahmenbedingungen
(Pflichtstundenzahlen, Klassengrössen,
Ansehen des Lehrerberufs, Qualität der
Lehrmittel, Unterricht durch oftmals
nicht adäquat ausgebildete Lehrkräfte, immer höhere Bildungsansprüche
auch für traditionell «einfache» Berufe) gleich bleiben oder sogar schlechter werden, lässt sich das, was die
Schule zu leisten imstande ist, nicht
mehr weiter steigern. Daran kann
auch der Lehrplan 21 nichts ändern.
PIXABAY
Effizienz und Messbarkeit:
Das Rezept der OECD
In so einem Konzept hat sich inhaltliche Bildung gänzlich dem Erwerb so
genannter «fachunabhängiger Kompetenzen» wie Personalkompetenz,
Sozialkompetenz und allerlei Metho-
Die Forderungen, die der Lehrplan 21
hinsichtlich Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Methodenvielfalt, Umgang
mit Heterogenität, Beurteilung sowie
Einbezug überfachlicher Kompetenzen an den Unterricht stellt, sind mit
den heutigen Rahmenbedingungen
bestenfalls teilweise erfüllbar. Auch
institutionalisierte Kooperationsformen, wie sie aktuell an etlichen Schulen umgesetzt werden, reduzieren den
Vorbereitungsaufwand der einzelnen
Lehrperson nicht, wie bereits im entsprechenden Artikel im lvb.inform
2013/14-03 ausgeführt wurde.2
Leitsatz 3: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört, dass die Lehrkraft
einzelne Kompetenzen und
Kompetenzstufen den tatsächlichen Gegebenheiten ihrer
jeweiligen Klasse entsprechend
anpasst und nicht auf unerreichbare Zielformulierungen behaftet
wird.
Liest man den Lehrplan 21 durch, so
stösst man immer wieder auf Kompetenzen oder Kompetenzstufen, die so
offen formuliert sind, dass eine echte
Kompetenz im betreffenden Gebiet
allenfalls auf einem akademischen Niveau erreichbar wäre. Hierzu einige
Beispiele:
• Die Schülerinnen und Schüler können die persönlichen Lese-/Hör und
Seherfahrungen mit literarischen
Texten den anderen verständlich
mitteilen. (Deutsch, 1. Zyklus)
• Die Schülerinnen und Schüler können sich auf offene Aufgaben einlassen, Beziehungen erforschen,
Vermutungen formulieren und Lösungsalternativen suchen. (Mathematik, 2. Zyklus)
• Die Schülerinnen und Schüler können darlegen, wie Demokratie entstanden ist, wie sie sich weiterentwickelt hat und sich von anderen
Regierungsformen unterscheidet.
(RZG, 3. Zyklus)
Solche Forderungen (alle drei Beispiele gehören übrigens zu den Grundanforderungen des Lehrplans!) müssen
dem Stand und dem Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler entsprechend eingegrenzt, konkretisiert
und vorbereitet werden. Selbst dann
sind sie jedoch überaus anspruchsvoll
und können nicht den Unterrichtsall-
2014/15-03
15
«Lehrpersonen brauchen die Freiheit, ihre persönlichen Begabungen und Interessen einzubringen, damit sie eine Beziehung aufbauen können. Sie sind keine Programmvollstrecker, sondern eher
Künstler.» (Allan Guggenbühl)
tag dominieren. Es darf nicht übersehen werden, dass solch anspruchsvolle
Kompetenzen auch im Lehrplan 21 die
Ausnahme darstellen, und dementsprechend auch im Unterricht als solche behandelt werden müssen.
Leitsatz 4: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört es, bewährte
Formen der Wissensvermittlung
weder zu diskreditieren noch
über Bord zu werfen.
Sucht man im Lehrplan 21 nach Hinweisen darüber, wie Unterricht lernwirksam gestaltet werden kann, so
findet man dazu folgende Aussage:
«Unterrichtsmethoden und Organisationsformen ermöglichen den Lehrpersonen auf die heterogenen Voraussetzungen und Bedürfnisse der
Lernenden und die Zusammensetzung
der Klasse bzw. der Lerngruppe einzugehen. Sie variieren passend zu den
Unterrichtszielen die Lehr- und Lernformen, die Inszenierungsmuster und
den Unterrichtsverlauf. Variable Unterrichtsarrangements machen eine
Differenzierung vor allem über die
Sozialform und das Ausmass an Fremdbzw. Selbststeuerung möglich. Beispiele von Unterrichtsformen, denen
bei guter Aufgabenqualität und Lernunterstützung ein hohes Potenzial für
zielerreichendes Lernen zuzuschreiben
ist, sind frontaler Klassenunterricht,
Planarbeit, Lerntagebücher, Formen
des kooperativen Lernens, Entdeckendes Lernen oder Projekte, der Einbezug
von Spielelementen in Lernumgebungen, aber auch die Variation von Lernmedien oder die Nutzung von innerund ausserschulischen Lernorten.»
Jede Lehrerin und jeder Lehrer sammelt mit zunehmender Dauer ihrer
Berufstätigkeit vielfältige Erfahrungen darüber, welche Unterrichtsformen in welchen Situationen funktionieren und welche nicht. Dies hängt
natürlich vom Unterrichtsgegenstand
und der unterrichteten Klasse ab,
ebenso aber auch von der Persönlichkeit der Lehrkraft.
Auch mit dem Lehrplan 21 muss Unterricht so geplant und durchgeführt
werden, dass die unterrichtende Lehrperson sich mit der Art, wie sie unterrichtet, wohlfühlt. Der LVB wiederholt diese Kernbotschaft immer und
immer wieder: Authentische Vielfalt
ist besser als verordnete Einfalt. Der
Psychologe Allan Guggenbühl schreibt:
«Lehrpersonen brauchen die Freiheit,
ihre persönlichen Begabungen und
PIXABAY
Interessen einzubringen, damit sie
eine Beziehung aufbauen können. Sie
sind keine Programmvollstrecker, sondern eher Künstler.»3
Unterrichtsmethoden, die sich bewährt haben, sollen keinesfalls wegen
des Lehrplans 21 achtlos über Bord
geworfen werden. Roland Reichenbach von der Universität Zürich formulierte es unlängst so: «Mein Wunsch ist
es in der Tat, dass man dem Bewährten mehr Beachtung schenkt. […] Dass
man Methoden und Lerntechniken
mit Begriffen wie progressiv und konservativ etikettiert, ist Unfug.»4
Wenig zielführend ist in diesem Zusammenhang, wie derzeit in Sachen
Schulentwicklung extrem einseitig in
Richtung individualisierendes, selbstorganisiertes und kooperatives Lernen
gepusht wird, während gleichzeitig
Unterricht im Klassenverband – beispielsweise das fragend-entwickelnde
Unterrichtsgespräch – pauschal als
vollkommen rückständig und nutzlos
gebrandmarkt wird.
So wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, sich
selbst zu organisieren und kooperativ
zu arbeiten, so wichtig es auch ist, ihre
individuellen Bedürfnisse zu berück-
PIXABAY
«Vielfalt hat noch nie einen Konflikt ausgelöst. Erst wenn die Vielfalt nicht mehr anerkannt wird, droht ein Konflikt.» (Donall O'Riagain)
16
Dass, wie man hört, bereits private Anbieter von Schule zu Schule
ziehen, um ihre ausladenden «Kreuzchenbögen» feilzubieten,
lässt wenig Gutes erahnen.
sichtigen, so heikel ist es auch, die Organisation der Schule vollständig diesen Zielen unterzuordnen. Allan Guggenbühl weist darauf hin, dass in
einem hochgradig individualisierenden, binnendifferenzierenden Unterricht «[…] die Klasse von den Schülern
nicht als Lerngemeinschaft erlebt
wird. Die meisten Kinder lernen, weil
sie sich mit der Klassengemeinschaft
identifizieren. Sie lernen, weil alle es
tun. Haben sie individuelle Lernziele,
dann fällt die Klasse als Orientierungsgrösse weg, der Stoff wird sozial irrelevant. […] Die Idee des individuumzentrierten Unterrichts ist, dass die
Schüler ihre Lernziele eigenständig
definieren und Lernprozesse selber
organisieren. Auf diese Weise seien sie
auch motiviert zu lernen. […] Für viele
Kinder gilt dies nicht. Der Schulstoff
ist für sie persönlich nicht relevant. Sie
sind mit sich selbst beschäftigt und
werden durch schulfremde Themen
absorbiert. Sie können mit dem Freiraum nicht umgehen […]. Ich kritisiere, dass man die Wichtigkeit einer
Klasse unterschätzt. Kinder gehen
wegen ihrer Kolleginnen und Kollegen zur Schule. Der Stoff ist oft ein
Nebenprodukt des sozialen Geschehens.»5
Leitsatz 5: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört eine handhabbare,
zweckmässige und altersgerechte
Beurteilungspraxis.
Neben der Leistungsbeurteilung in den
einzelnen Fächern, die im Kanton
Baselland in der Laufbahnverordnung
geregelt wird, legt der Lehrplan 21 ein
grosses Gewicht auf die Bewertung der
so genannten überfachlichen Kompetenzen. Diese sind unterteilt in personale Kompetenzen (Selbstreflexion,
Selbstständigkeit und Eigenständigkeit), soziale Kompetenzen (Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und
Umgang mit Vielfalt) sowie methodische Kompetenzen (Sprachfähigkeit,
Informationen nutzen und Aufgaben/
Probleme lösen). Jede dieser neun
Kompetenzen wird durch bis zu acht
Teilkompetenzen beschrieben, so dass
für eine Bewertung der überfachlichen Kompetenzen schliesslich 56 Teilkompetenzen zu bewerten wären.
Nachdem es Basel-Stadt bereits «geschafft» hat, einen Beurteilungsbogen für den Kindergarten zu kreieren,
der diesen Detaillierungsgrad sogar
noch übertrifft, erscheint es dringend
geboten, darauf hinzuweisen, dass
PIXABAY
2014/15-03
17
niemandem damit gedient ist, wenn
für die Beurteilung allein der überfachlichen Kompetenzen pro Schulkind 56 Kreuze gesetzt werden müssen. Dass, wie man hört, bereits private Anbieter von Schule zu Schule
ziehen, um ihre ausladenden «Kreuzchenbögen» feilzubieten, lässt wenig
Gutes erahnen. Die vier bis acht Teilkompetenzen, welche jede der neun
überfachlichen Kompetenzen beschreiben, müssen daher vielmehr als
Indikatoren gesehen werden, anhand
derer die neun überfachlichen Kompetenzen bewertet werden können.
Ebenfalls bedenklich ist die Tendenz,
dass selbst Vierjährige im Kindergarten
– deren Lehrpersonen teilweise schon
froh sind, wenn die Kinder alleine auf
die Toilette gehen können – zunehmend nach ähnlichen Kriterien beurteilt werden sollen wie erwachsene
Arbeitnehmende: «Das Kind erledigt
Aufgaben termingerecht und vollständig.» / «Das Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt.»
Die Journalistin Barbara Achermann
spürte dem Phänomen der neuartigen
Kindergarten-Beurteilung mithilfe standardisierter Lernberichte nach und
schrieb unter Berufung auf eine Kindergartenlehrperson: «Beim Elterngespräch würden die Lernberichte mitunter zu grotesken Situationen führen.
Anstatt dass man darüber rede, wie
sich das Kind in der Gruppe verhalte
oder weshalb es motorische Schwierigkeiten habe, werde über unwichtige
Details diskutiert. Etwa darüber, weshalb das Kreuzchen bei der Frage «Das
Kind kann auf einem Bein stehen und
hüpfen» nicht weiter rechts stehe.»6
Leitsatz 6: HarmoS und der
Lehrplan 21 sind kein Freipass für
einen Totalumbau unseres Schulsystems.
Der demokratisch legitimierte Auf-
PIXABAY
trag zur Harmonisierung der öffentlichen Schule beinhaltet wohl die Erstellung eines interkantonalen Lehrplans, nicht aber eine Umstellung des
Schulsystems auf eine gänzlich neue
Didaktik. Eine solche im Windschatten
von HarmoS und Lehrplan 21 einführen zu wollen, wäre ein unlauterer und
verantwortungsloser Umgang mit der
vom Volk erteilten Direktive.
Mit Sorge stellt der LVB daher fest,
wie die Idee des Konstruktivismus im
pädagogisch-didaktischen Diskurs immer mehr an Boden gewinnt. Diese
philosophische Vorstellung, dergemäss der Mensch von seiner Aussenwelt kein objektives Bild erhalten
kann, sondern sich von ihr sein eigenes, subjektives Bild konstruieren
muss, wird im schulischen Zusammenhang dahingehend (miss)gedeutet,
dass es nicht möglich sei, einem Menschen das selbst erfahrene Wissen
über die Welt weiterzugeben. Stattdessen setzt man in der konstruktivistischen Pädagogik vollumfänglich auf
das Selbst-Entdecken von Wissen und
sieht darin die einzig wahrhafte Möglichkeit des Wissenserwerbs.
Konsequenterweise wird daher in ei-
ner als «modern» verstandenen
Fremdsprachendidaktik mehrheitlich
darauf verzichtet, den Wortschatz
oder grammatikalische Strukturen
systematisch einzuführen und zu festigen, sondern darauf vertraut, dass
sich diese ähnlich wie beim Muttersprachenerwerb bei den Lernenden
von selbst aufbauen. Warum der Erwerb einer Fremdsprache in der Schule nicht mit dem Erwerb der Muttersprache vergleichbar ist, wurde bereits an anderer Stelle erörtert.7
Neuerdings macht sich nun auch in
der Mathematik und in den Fächern
des Bereichs «Natur, Mensch, Gesellschaft» die Tendenz breit, Erkenntnisse nur noch dann «zuzulassen», wenn
sie auf eigenem Entdecken der Lernenden beruhen. Die Vorstellung,
dass Schülerinnen und Schüler in der
Lage sein könnten, wesentliche Erkenntnisse (z.B. den Satz des Pythagoras oder das Auftriebsgesetz) wirklich neu zu entdecken, ist jedoch vollkommen absurd; wäre dies möglich,
hätte es nicht 200'000 Jahre Menschheitsgeschichte erfordert, bis diese
Entdeckungen Realität wurden.
Natürlich kann man den Schülerinnen
18
Unsere Botschaft an die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung ist es daher, vorderhand keine zusätzlichen Schulentwicklungsprojekte zu lancieren, und zwar nicht, weil all diese grundsätzlich unnötig wären, sondern weil sie zum jetzigen Zeitpunkt
das System Schule zu überlasten drohen.
und Schülern bis zu einem gewissen
Grad «eigene» Entdeckungen ermöglichen. Das dazu nötige Setting gleicht
allerdings eher der Situation, in der
man jemandem eine Schaufel in die
Hand drückt, ihn dort hinstellt, wo
man zuvor den Schatz vergraben hat,
und ihn dann anweist, an jener Stelle
zu graben.
Wenn auch nicht bestritten werden
soll, dass ein solches Schatzheben hin
und wieder reizvoll und lehrreich sein
kann, so sollte doch dringend davon
Abstand genommen werden, selbstentdeckendes Lernen zur einzig funktionierenden Lehrmethode emporzustilisieren und den Lehrerinnen und
Lehrer ihre Rolle als Wissensvermittler
abzusprechen.
Die Botschaft an die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung
Die Umstellung auf 6 Jahre Primarschule respektive 3 Jahre Sekundarschule
sowie einen neuen Lehrplan beschert
allen Schulbeteiligten in den kommenden Jahren mehr als genug Arbeit. Unsere Botschaft an die Schulleitungen
und die Bildungsverwaltung ist es daher, vorderhand keine zusätzlichen
Schulentwicklungsprojekte zu lancieren, und zwar nicht, weil all diese
grundsätzlich unnötig wären, sondern
weil sie zum jetzigen Zeitpunkt das System Schule zu überlasten drohen.
primär auf die Erfüllung eines Anspruchs nach einer wie auch immer
verstandenen Kompetenzorientierung
aufzubrauchen, sondern wieder vermehrt darauf zu achten, dass der Unterrichtsstoff systematisch, in bewältigbaren Einheiten, und vor allem mit
ausreichendem und den Bedürfnissen
der Heterogenität und der methodischen Vielfalt Rechnung tragendem
Übungsmaterial versehen ist.
Die Botschaft an die Pädagogischen Hochschulen
Unsere Botschaft an die Pädagogischen Hochschulen ist es, ihren Studierenden einen ähnlich pragmatischen
Umgang mit dem Lehrplan 21 nahezulegen, wie ihn auch der LVB hier propagiert, und in jedem Fall von einer
Fixierung auf ein rein konstruktivistisches Lernverständnis abzusehen.
Die Botschaft an die Lehrmittelverlage
Unsere Botschaft an die Lehrmittelverlage schliesslich ist es, ihre Energie bei
der Erstellung neuer Lehrmittel nicht
Juni/50_Der_letzte_Schrei_LVB_1314-04.pdf;
gische_Kooperation_LVB_1314-03.pdf
http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01-
Vom Nutzen sinnlosen Wissens (September
3
August/16_lvb.inform_1314-01.pdf; Kritik an
2014): http://www.lvb.ch/docs/
Luzerner Zeitung, 03.01.2015
«Natur, Mensch, Gesellschaft» (August 2013):
magazin/2014_2015/01-August/13_Reichen-
4
http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01-
bach_Forneck_und_die_Tiere_in_Afrika_
formen», reformiert.info, 09.09.2014
August/22_lvb.inform_1314-01.pdf; Ist das
LVB_1415-01.pdf; For knowledge itself is power
5
überhaupt ein Lehrplan? (August 2013): http://
no more (September 2014): http://www.lvb.ch/
Luzerner Zeitung, 03.01.2015
1
Fragen zum Kompetenzbegriff (August 2013):
Schüler brauchen klare Leitfiguren, Neue
«Kritik ja – aber nicht ständig neue ReSchüler brauchen klare Leitfiguren, Neue
www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01-Au-
docs/magazin/2014_2015/01-August/17_For_
6
gust/24_lvb.inform_1314-01.pdf; Die offizielle
knowledge_is_power_no_more_LVB_1415-01.
19.11.2014
Stellungnahme des LVB (November 2013):
pdf; Eingebettet in ein Pädagogisches Quartett
7
http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/02-
(September 2014): http://www.lvb.ch/docs/
www.lvb.ch/de/Aktuell/News/2014/06-23_Com-
November/06_inform1314-02-Stellungnahme_
magazin/2014_2015/01-August/34_Das_paeda-
munique-Bild-Harm.php, sowie das Protokoll
LP21.pdf; Die Evolution der Bildungsharmoni-
gogische_Quartett_LVB_1415-01.pdf
der LVB-DV/MV vom 24.9.2014 in diesem Heft
sierung (Januar 2014): http://www.lvb.ch/docs/
2
magazin/2013-2014/03-Januar/30_Evolution_
Kooperation»: Klarstellung des Kantons
mal y pense» aus dem lvb.inform 2013/14-04:
HarmoS_LP21_LVB_1314-03.pdf; Kompetenz vs.
dringend erforderlich!, lvb.inform 13/14-03,
http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/04-
Wissen als Kurzgeschichte (Juni 2014): http://
online auf http://www.lvb.ch/docs/
Juni/25_Fruehfremd_LVB_1314-04.pdf110
www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/04-
magazin/2013-2014/03-Januar/11_Paedago-
Die BKSD-Broschüre «Pädagogische
Hilfe, die Schule brennt, annabelle 21/14,
siehe LVB-Newsletter vom 23.06.2014, http://
und den Artikel «Früh fremd? Honni soit qui
2014/15-03
19
20
Perlenfischen
Von Roger von Wartburg
Bei den Perlen der vorliegenden Ausgabe handelt es sich samt und sonders um Antworten
von Akteuren aus dem Bildungsbereich auf Fragen von Journalisten oder auf Zuschriften.
Die geneigte Leserschaft ist eingeladen, sich ihr Urteil darüber zu bilden, wem sie aufgrund
der getätigten Äusserungen am meisten Vertrauen und Glauben zu schenken vermag.
Perle 1: Was bedeutet Autorität im Lehrerberuf?
Ein Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach, erschienen am 13. Januar 2015
im österreichischen «Standard».
«Das sogenannte Leben hat einen sehr guten Ruf, die sogenannte Schule weniger. Die pädagogische Forderung
nach «Lebensnähe» der Schule bleibt unkritisch bejaht.
Doch von welchem Leben wird gesprochen? Von der Alkoholsucht meines Vaters, der Depression meiner Mutter, der
Nullbockstimmung meiner Freunde, dem Humbug der Medien, die ich stundenlang konsumiere? Für nicht wenige
Kinder und Jugendliche ist die Schule nahezu der einzig
wirklich verlässliche Ort in deren Leben – oder könnte und
sollte es sein. Wer für die Schule lernt, lernt jedenfalls etwas. Und in der Regel wesentliche Bestandteile unserer
Wissenskultur. Zweifellos ist richtig, dass man mit sicherlich
90 Prozent der Wissensgegenstände, die in der Schule gelernt werden, im sogenannten Leben – das offenbar nur
ausserhalb oder nach der Schule stattfindet – konkret rein
nichts «anfangen» kann. Bildung, so meinte Hans Blumenberg, ist kein Arsenal, sondern ein Horizont. Mit einem
Horizont können Sie nichts anfangen. Es geht bei dieser
Metapher um Einsicht in die Dinge und die Welt. Und es ist
immer gut, wenn Menschen einen «weiten Horizont» haben, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilen können, nicht nur aus jener des unmittelbaren Nutzens.
[…] Der Lehrer und die Lehrerin – in allen Schulstufen – geniessen gerade in Südkorea, das sehr konfuzianisch geprägt
ist, eine hohe gesellschaftliche Anerkennung, gerade weil
die Schule eine hohe gesellschaftliche Anerkennung erfährt
und nicht als notwendiges Übel gegen das sogenannte Leben positioniert wird. Wenn man in Südkorea sagt: «Er
redet wie ein Lehrer», dann heisst das nicht, dass diese
Person sich oberlehrerhaft benimmt, obwohl sie eigentlich
nur eine universelle Dilettantin ist, sondern dass man von
ihr etwas lernen kann. […] Nur ist mir bewusst, dass die
tatsächliche Praxis und die Theorien des Lernens auch etwa
in Korea zwei Paar Schuhe sind. Das sollte einen aber nicht
davon abhalten, davon zu lernen. Ich glaube, dass wir im
Neokonfuzianismus interessante Einsichten finden über die
Bedeutung der «Bildsamkeit», der Bereitschaft, sich auf
etwas einzulassen, ohne zu fragen, was es «bringt». […]
Päd-Agogik meint die Führung von Kindern und Jugendlichen. Zur Führungsmetaphorik haben wir speziell im
deutschsprachigen Bereich sicher ein ambivalentes, teilweise gestörtes Verhältnis. Das ist auch verständlich. Doch geführt werden muss sowieso, das weiss jeder, der je einmal
vor einer Klasse gestanden ist. Die […] Alternativmetaphern kaschieren den Führungsaspekt, im Grunde wird die
unumgängliche Verantwortung des Pädagogen kaschiert.
«Führung» wie «Begleitung» sind Wegmetaphern, bei der
ersten ist klar, wer das Ziel des Weges kennt, bei der zweiten offenbar nicht mehr. Wenn das Kind dann am falschen
Ort ankommt, ist der Lehrer auch nicht wirklich verantwortlich, denn er hat ja bloss Lernprozesse «begleitet».
Auch wenn jemand, der sich als «Lernbegleiter» versteht,
trotzdem sehr guten Unterricht gestalten kann. Das ist klar.
[…] Will man sachlich über Autorität sprechen, so ist es
sinnvoll, zwischen Autorität als Anerkennungsverhältnis,
autoritärem Verhalten und der sogenannten autoritären
Persönlichkeit zu unterscheiden. Pädagogisch zu bejahen
ist sicher nur das erste Verständnis. Sich von jemanden etwas sagen zu lassen, erklären und zeigen zu lassen, heisst,
diese Person hinsichtlich dieser Sache als Autorität anzuerkennen. Das geschieht immer wieder auch unfreiwillig, das
ist klar. Autoritäres Verhalten ist hingegen meist ein Zeichen dafür, dass diese Anerkennung verweigert worden
ist. Eine Lehrperson mag autoritäres Verhalten zeigen,
genau weil sie diese Anerkennung nicht erfährt, sei es vermeintlich oder tatsächlich. Das ist problematisch. Nicht nur
für die Schüler. Daher ist es sträflich, Fragen der Führung
und Autorität in der Lehrerbildung zu vernachlässigen. Die
«autoritäre Persönlichkeit» zeichnet sich durch rigiden
Konventionalismus und die Neigung, «Schwächere» zu un-
2014/15-03
21
terdrücken und sich «Stärkeren» zu unterwerfen, aus. Pädagogische Autorität hat das Ziel, sich aufzulösen: Es gehört zur Bildung des Menschen, sich von Autoritäten auch
zu befreien. Diese Emanzipation ist konstitutiv für die Fähigkeit, ein eigenes Leben zu führen. […] Wir wissen, dass
die Person des Lehrers oder der Lehrerin zentral ist, etwa
für den Lernerfolg der Schüler, aber das hat wenig oder
nichts mit den «Persönlichkeitszügen» zu tun. Es gibt sehr
introvertierte und sehr extrovertierte Lehrpersonen, beide
können hervorragende oder auch weniger gute Arbeit leisten. Entscheidend ist eher, dass sie sich als «Person» einbringen, als Lehrerin oder Lehrer. Ich glaube, eine Lehrperson «taugt» dann pädagogisch, wenn sie vier Dinge immer
wieder zu zeigen und leisten vermag: dass sie das, was sie
lehrt, für wichtig hält; dass sie will, dass die Schüler diesen
Gegenstand lernen; dass sie auch zeigt, dass die Schüler das
lernen können; und dass sie zeigt, dass sie ihnen dabei hilft
und tatsächlich hilft. Mehr kann sie nicht tun. Wenn der
Schüler merkt: Die findet wichtig, was sie sagt, sie will, dass
ich es lerne, und sie glaubt auch, dass ich es lernen kann
und will mir dabei helfen, dann ist dieser Schüler zu beneiden. Wenn er sich dann immer noch nicht auf die Sache
einlässt, dann ist das früher oder später tatsächlich allein
sein Problem. Nur, die Lehrerin darf ihn trotzdem nicht aufgeben. Darin besteht das Ethos der Lehrperson. […] Bildungsreformen sind meist ein Ausdruck davon, dass widersprüchliche Konstellationen der Gesamtgesellschaft «behandelt» werden (müssen). Doch Problembehandlung
heisst nicht Problemlösung. Daher rufen Reformen, wie es
Niklas Luhmann formuliert hat, vor allem ein Bedürfnis ins
Leben: den Ruf nach weiteren Reformen. Die Reformitis ist
eine globale Entzündung, die man nicht mit einfachen Therapien wegbringt. Die Probleme wandeln sich, aber die
Problemlagen werden bleiben, das ist sicher.»
Weitere Perlen auf S. 26, 40 und 52
HEINZ ANTON MEIER
22
Hält Frühfranzösisch, was es verspricht? Warum eine
umfassende Evaluation bereits jetzt erforderlich ist
Von Heinz Bachmann
überhaupt zulässt, kann
nicht aufgeschoben werden. Weil jedes Kind nur
eine Schulzeit hat.
Es ist wahr: Erst seit zweieinhalb Jahren wird Französisch im Kanton Baselland
bereits ab der 3. Primarklasse unterrichtet. Deshalb kann man geneigt
sein, noch einige Jahre ins
Land ziehen lassen zu
wollen, bevor eine erste
Evaluation dieser Neuerung
vorgenommen wird. Wahr
ist aber auch, dass die Zahl
an kritischen und ablehnenden Meldungen, die
Lehrpersonen, Schulleiter
und nicht zuletzt auch
Eltern schulpflichtiger
Kinder an den LVB richten,
eindeutig zu hoch ist, um
sie zu ignorieren. Es geht
nicht um Polemik und erst
recht nicht um Vorwürfe
an die Primarlehrpersonen.
Die Klärung der Frage aber,
ob das bestehende Setting
mitsamt der propagierten
Didaktik und dem entsprechenden Lehrmittel einen
erfolgreichen Unterricht
Fallbeispiel M.
Der 10-jährige M. gehört zum ersten
Jahrgang, welcher im Kanton BaselLandschaft nach der neuen Stundentafel unterrichtet wird. Seit der dritten Klasse «taucht» er mit dem Lehrmittel «Mille feuilles» ins «Französisch-Sprachbad». Im Moment hat er
folglich etwa einen Drittel aller Franzlektionen seiner obligatorischen Schulzeit bereits – wie soll man sagen? – …
genossen? … erlebt? … hinter sich?
Ende November legt M. seinen Eltern
eine mehrseitige «summative Evaluation», ein offizielles Dokument des
Lehrmittels, zur Unterschrift vor. Das
Prädikat «erreicht» ist angekreuzt.
Damit könnten sich die Eltern theoretisch zufrieden geben. Sie könnten
aber auch genauer hinschauen, was
denn da in der 5. Primarklasse – und
damit im dritten Französisch-Lernjahr
– verlangt wird und wie gut diese Anforderungen erfüllt werden.
Lernstrategien für authentische
Texte
Beim Studieren des Evaluationsbogens stösst man nach dem Durchlesen
der Aufträge auf einen «authentischen» französischen Text, welchen
die Kinder zu bearbeiten hatten. «Solche Texte sind nicht eigens für das
Französischlernen geschrieben worden», erklärt der Lehrmittelverlag interessierten Eltern in einer Informationsbroschüre.
Das bringt es mit sich, dass Sprache
und Wortschatz «authentischer» Texte sehr anspruchsvoll und dem Lernstand der Kinder nicht im Geringsten
angepasst sind. Die Lernenden sollen
mit verschiedenen Lernstrategien den
Text entschlüsseln – sagt die Theorie.
«Verlag, AutorInnen, Behörden wie
auch die meisten Lehrpersonen sind
überzeugt, dass Französisch-Lernen
mit «Mille feuilles» die Kinder motiviert, ihren Interessen optimal entgegenkommt und sie schnell zu wirksamem Handeln in der Fremdsprache
befähigt», verspricht der Verlag.
Hinter der Fassade
Die 5. Klasse von M. hatte also im Rahmen der «summativen Evaluation»
den Auftrag, dem schwierigen französischen Text wichtige Informationen
zu entnehmen und diese in einer Tabelle aufzulisten. Ausserdem galt es,
auf Französisch einige Fragen zu beantworten und schliesslich mit den
gewonnen Informationen einen kurzen eigenen Text zu verfassen. 21
Punkte hätten die Kinder maximal
sammeln können, so war es in der Vorlage des Lehrmittels vorgesehen. Für
das Prädikat «erreicht» wären mindestens 12 Punkte erforderlich gewesen.
Auf dem Evaluationsbogen von M.
war der Bewertungsteil allerdings
überklebt worden. Offensichtlich hatte sich die Lehrperson veranlasst gesehen, den Bewertungsmassstab dem
Leistungsvermögen der Klasse anzupassen:
• Der Teil mit dem von den Fünftklässlern verfassten Text wurde gar nicht
erst bewertet – wahrscheinlich deshalb, weil die schriftlichen Aussagen
vieler Kinder schlicht nicht bewertbar waren.
• Zudem wurde in der klasseninternen
Bewertung der Massstab so abgeändert, dass bereits deutlich weniger
als die Hälfte der mit den reduzierten Anforderungen erreichbaren
Punkte das Prädikat «erreicht» sicherte. In Punkten ausgedrückt: Nur
wer 2 und weniger Punkte (!) erreicht hatte, wurde mit dem Prädikat «nicht erreicht» konfrontiert.
2014/15-03
23
Es wäre, vorsichtig ausgedrückt, nicht
zielführend, in der Primarschule die
Überprüfung der Zielerreichung übertrieben «nachsichtig» zu betreiben,
weil so Druck und Verantwortung einseitig auf die Abnehmerschulen gelegt würden. Gleichzeitig würde diese
Form der Rückmeldung absolut falsche Signale an die Lernenden aussenden: «Für die Erwachsenen ist es in
Ordnung, wenn ich nur ganz wenig
kann.»
PIXABAY
Hinschauen heisst die Devise
Nur Einzelfälle oder mehr als
das?
Fallbeispiele wie dasjenige von M.
werden dem LVB zur Kenntnis gebracht. Handelt es sich hierbei nur um
Einzelfälle? Dann müsste man in diesen
Einzelfällen genau hinschauen, was
schiefläuft oder gelaufen ist und wie
Verbesserungen zu erreichen wären.
Was aber, wenn diese Berichte ein repräsentatives Abbild widerspiegeln?
Wer ein echtes Interesse an gelingendem Unterricht hat, muss gewillt sein,
dieser Frage umfassend nachzugehen.
Die Interessen der Anspruchsgruppen
Eltern und Lehrpersonen haben ein
gemeinsames Interesse daran, dass die
Kinder die für das Ende der Schulzeit
festgelegten Kompetenzen erreichen.
Primarschulkinder, Eltern und Lehrpersonen müssen davon ausgehen
können, dass die festgelegten Kompetenzen mit den zur Verfügung gestellten Mitteln auch tatsächlich erreichbar sind.
Ein erfüllbarer Auftrag?
Aufgrund der Rückmeldungen, welche
den LVB erreichen, muss zwingend die
Frage gestellt werden, ob der Lehrauftrag unter den herrschenden Rahmenbedingungen (Frühfremdsprachen-Didaktik, Lektionendotation, Lehrmittel)
überhaupt erfüllbar ist.
Wenn ja, müssten am Ende der neu 6
Jahre dauernden Primarschule (mit
insgesamt 10 Jahreslektionen Französischunterricht) die Kompetenzen zu
mehr als der Hälfte erfüllt sein, denn
gesamthaft stehen gemäss Stundentafel für das Fach Französisch bis Ende
der obligatorischen Schulzeit nicht
mehr als 19 Jahreslektionen zur Verfügung.
Hinschauen heisst die Devise!
Das Lehrmittel «Mille feuilles» nimmt
für sich die vielzitierte «Kompetenzorientierung» in Anspruch. Konsequenterweise kann es daher nicht angehen,
in einer von den Verfassern des Lehrmittels eigens zur Verfügung gestellten Lernkontrolle die Bewertung so
anzupassen, dass eine Schülerleistung,
in welcher so gut wie keine Kompetenzen erreicht werden, noch als «erfüllt»
dargestellt wird. Da sind Eltern und
Lehrpersonen gleichermassen zu genauem Hinschauen verpflichtet!
Verunsicherung allenthalben
Den LVB erreichen von verschiedenen
Seiten besorgte Rückmeldungen zur
Wirksamkeit des Frühfranzösisch-Unterrichts. Dass die Verunsicherung bei
den Lehrpersonen gross ist, zeigte
nicht zuletzt auch die LVB-Delegierten- und Mitgliederversammlung vom
24. September 2014 zu diesem Thema.1
Am Lernerfolg ihrer Kinder interessierte Eltern ihrerseits beklagen, dass
sie ihr Kind beim Lernen kaum aktiv
unterstützen können. Sobald ein Kind
nämlich (z.B. aus Überforderung) seine Motivation verliert und zu Ausweichstrategien Zuflucht nimmt, nützen die Empfehlungen der Autoren
den besorgten Eltern nicht mehr viel.
Ratschläge an die Eltern wie «dem
Fach Interesse entgegen bringen»
oder «wertschätzend zur Kenntnis
nehmen, was das Kind alles schon verstehen, sagen und schreiben kann»,
wirken dann eher zynisch und das eingeforderte «Vertrauen in die Tatsache, dass Fehler das spätere Erlernen
der richtigen Form in keiner Weise
beeinträchtigen» könnte in diesem
Zusammenhang auch dahingehend
interpretiert werden, dass das Kind im
Stich gelassen wird.
Der LVB stellt zur Diskussion:
Könnte es sein, dass …
• die schwierigen «authentischen»
Texte in «Mille feuilles» die Mehrheit der nicht ausgesprochen sprach-
24
begabten Kinder überfordern und
demotivieren?
• ein wesentlicher Anteil der Kinder
im Primarschulalter nicht über das
Sozial- und Lernverhalten verfügt,
welches die aktuelle Frühfremdsprachen-Didaktik voraussetzt?
• der dem Erstsprachenerwerb der
Kleinkinder nachempfundene didaktische Ansatz des «Sprachbades» in einer Klasse von 20 oder
mehr Primarschülern mit einer Lehrperson, dotiert mit zwei bis drei Wochenlektionen, nicht wie gewünscht
und versprochen funktioniert?
• viele Lehrpersonen Selbstschutz-Strategien anwenden, um nicht erklären
zu müssen, dass die von Wissenschaftlern, Autoren, Bildungspolitik
und Behörden gepushte FrühfremdDidaktik in der Praxis nicht wie in
Aussicht gestellt umsetzbar ist?
Wie mit unbefriedigenden
Lernfortschritten umgehen?
Nicht erreichte Kompetenzen sind ein
Zeichen dafür, dass Handlungsbedarf
besteht. Betrifft dies Einzelfälle, muss
individuell nach den Ursachen geforscht und nach Hilfestellungen gesucht werden. Sollte es sich aber um
ein verbreitetes oder gar flächendeckendes Problem handeln, stehen die
Lehrpersonen aller Schulstufen in der
Verantwortung.
tragen und etwaige Schwächen der
Frühfremdthematik als Berufsstand
selbstbewusst aufzuzeigen.
Sekundarlehrpersonen
Die Sekundarlehrpersonen werden
erstmals im Schuljahr 2016/17 neue
Schülerinnen und Schüler übernehmen, die im Fach Französisch gemäss
der neuen Stundentafel 10/19 (also
rund 53%) des Unterrichts bereits in
der Primarschule absolviert haben. Sie
sind davon abhängig, dass der Lernstand der Kinder der eingesetzten
Unterrichtszeit entspricht.
Falls die Erfahrungen der Primarlehrpersonen den Schluss nahelegen, dass
die Kompetenzen nicht erreicht werden können, liegt es im Interesse der
Sekundarlehrpersonen, die Primarlehrerschaft in ihren Forderungen um
eine Verbesserung der Situation zu
unterstützen.
Lehrpersonen der Sekundarstufe II
Die Lehrpersonen der Sekundarstufe
II bauen ihren Unterricht auf den in
der obligatorischen Schulzeit erworbenen Kompetenzen auf. Sollten diese nicht wie erwartet abrufbar sein,
hätte dies zur Folge, dass die Kompetenzen der Sekundarstufe II auch nicht
mehr erreichbar wären.
Es ist daher angezeigt, dass sich auch
die Fremdsprachen-Lehrpersonen der
Sekundarstufe II für die Thematik interessieren, sich einmischen und ihre Einschätzungen zum Ausdruck bringen.
Solidarität der Lehrpersonen aller
Stufen notwendig
Ein solidarischer Auftritt der Lehrpersonen aller Stufen ist auch deshalb unverzichtbar, weil der potenziell drohende Schaden für den Berufsstand
immens ist. Falls die Strategie der Frühfremdsprachen tatsächlich nicht die
gewünschten Resultate zeitigen sollte,
muss der Auftrag bereits an der Basis,
also auf der Primarstufe, frühzeitig zurückgewiesen werden.
Arrangiert sich aber jede Stufe irgendwie mit dem scheinbar Unabwendbaren, dann droht ein Szenario, in welchem sich die einzelnen Schulstufen
am Ende gegenseitig die Verantwortung für nicht erreichte Kompetenzen
zuschieben.
Die Interessen von Politik,
Experten und Lehrmittelautoren
Natürlich wünschen sich auch diese
Exponenten, dass die Schülerinnen
und Schüler die geforderten Kompetenzen erreichen. Insofern unterscheiden sich die Interessen dieser Gruppe
Primarlehrpersonen
Die Primarlehrpersonen sollten sich dagegen zur Wehr setzen, wenn ihnen
mit der Frühfremdsprachen-Didaktik
ein nicht erfüllbarer Auftrag erteilt
worden ist. Dieser Widerstand müsste
solidarisch getragen werden, denn
auf individueller Ebene ist die Gefahr
gross, dass einzelne Lehrpersonen unter Druck geraten (siehe SelbstschutzStrategien).
Beginnen müsste die Primarlehrerschaft damit, die eigenen Erfahrungen zu dokumentieren, zusammenzu-
PIXABAY
Aussagekräftige Wirksamkeitsstudien für die neue Frühfremdsprachen-Didaktik fehlen.
2014/15-03
25
Ein solidarischer Auftritt der Lehrpersonen aller Stufen ist auch
deshalb unverzichtbar, weil der potenziell drohende Schaden für
den Berufsstand immens ist.
Selbstschutz-Strategien der Lehrpersonen
Selbstschutz-Strategien der Lehrpersonen wären als logische Reaktion eines Berufsstandes auf die behördliche
Indoktrination der letzten Jahre zu verstehen. Lehrpersonen, welche sich aufgrund ihrer Berufs- und Lebenserfahrung kritisch zu gewissen Entwicklungen wie Frühfremd geäussert haben, mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie
als reformfeindlich, rückständig oder ausgebrannt etikettiert wurden, oder dass ihnen vorgeworfen wurde, sie
hätten die Fremdsprachen-Didaktik eben nicht verstanden und nicht richtig umgesetzt. Vor diesem Hintergrund
wäre es gut nachvollziehbar, dass Lehrpersonen versuchen, sich mit den Gegebenheiten irgendwie zu arrangieren.
«Nachsichtige» Leistungsbeurteilung
Lehrpersonen, welche Schülerleistungen mit «nicht erreicht» beurteilen, enttäuschen die betroffenen Kinder,
setzen sich Angriffen besorgter Eltern aus und müssen damit rechnen, in die Kritik ihrer Vorgesetzten zu geraten.
Mit reduzierten Anforderungen, grosszügigen Korrekturen und «sanften» Bewertungsmassstäben kann man
diesem Druck ausweichen.2
Ungenügende Rahmenbedingungen selber «nachbessern»
Ein Teil der Französisch-Lehrpersonen ergänzt «Mille feuilles» mit in der Frühfremd-Didaktik verpönten «konventionellen» Mitteln: Vokabular lernen, Verben konjugieren, Grammatikübungen etc. und versucht auf diese Art,
einen den Lernjahren entsprechenden Lernfortschritt zu gewährleisten.
nicht von den weiter oben beschriebenen Interessen der Eltern und Lehrpersonen.
Man muss sich aber vor Augen führen,
dass die Frühfremdsprachen-Didaktik
flächendeckend eingeführt wurde,
ohne dass dazu aussagekräftige Wirksamkeitsstudien vorliegen würden. Ein
solches Vorgehen wäre in der Medizin
unvorstellbar. Im Bereich therapeutischer Behandlungen muss jede neue
Methode mit einer sogenannten Doppelblindstudie unter Einbezug Tausender von Patienten bestätigt werden.
Erst wenn sich in einer Langzeitstudie
erwiesen hat, dass die neue Methode
besser ist als die bisherigen, darf sie
flächendeckend eingeführt werden.
Die Verfechter der Frühfremdsprachen
haben sich die Sache bedeutend einfacher gemacht. Beträchtliche Summen
wurden in den Umbau des Fremdsprachenkonzepts investiert. Nachdem
man jahrelang kritische Lehrpersonen
faktisch mit einem Denkverbot belegt
hat (bei Missachtung drohte zwar nicht
Gefängnis, aber immerhin Demontage
der beruflichen Reputation), haben
Misserfolgsmeldungen tendenziell keine Existenzberechtigung.
Der LVB wendet sich an die BKSD
Um abschliessend beurteilen zu können, ob es sich hinsichtlich der beim
LVB eingehenden Rückmeldungen in
der Tat um den Ausdruck eines «Systemfehlers» handelt, muss man die
Erfahrungen der Primarlehrpersonen
ernst nehmen und sie entsprechend
befragen.
Da der LVB davon ausgeht, dass auch
die BKSD an einem erfolgreichen
Fremdsprachen-Unterricht interessiert
ist, konfrontierte die LVB-Geschäftsleitung den Bildungsdirektor am 17. Dezember 2014 mit der Thematik. Der LVB
schlug Urs Wüthrich-Pelloli vor, eine
von LVB und BKSD gemeinsam getragene Umfrage unter den Primarlehrpersonen zu lancieren, um ein möglichst breit abgestütztes Bild zu erhal-
ten. Nur zwei Tage später schickte der
LVB einen konkreten Vorschlag für die
Befragung an die BKSD.
Als Reaktion hat die BKSD zu einer
Standortbestimmung mit den Sozialpartnern am 12. Februar 2015 eingeladen. Bei dieser Gelegenheit soll unter
anderem geklärt werden, zu welchem
Zeitpunkt, mit welchem Absender
und mit welchen Fragestellungen eine
Erhebung durchgeführt werden kann.
Der Bildungsdirektor signalisiert, dass
er persönlich eine gemeinsam konzipierte und breit abgestützte Trägerschaft favorisiert. Der LVB begrüsst
diese Haltung. Wir werden zu gegebener Zeit über die Ergebnisse der Gesprächsrunde informieren.
1
siehe Protokoll in diesem Heft
2
vgl. dazu auch: http://www.lvb.ch/docs/
magazin/2012-2013/04-Mai/LVB-inform_1213-04_web_S30-35_Kurzgeschichte.pdf
26
Perlenfischen
Perle 2: «Lehrpersonen werden nicht drangsaliert»
In Perle 2 wurde D-EDK-Präsident Christian Amsler von Barbara Achermann befragt; erschienen
unter der Überschrift «Lehrpersonen werden nicht drangsaliert» in der «Annabelle» vom 14.
Januar 2015:.
«Annabelle: Sie haben früher als Lehrer gearbeitet. Wieso gaben Sie den Beruf auf?
man muss darauf achten, dass die Bildungsverwaltung
nicht stärker anwächst. Das wäre keine gute Entwicklung.
Christian Amsler: Weil es mich immer auch interessiert
hat, Verantwortung zu übernehmen, die über die Klassenführung hinausgeht.
Renommierte Erziehungswissenschafter haben ein Memorandum unterschrieben: «Stopp der Reformhektik im Bildungswesen! Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung!» Es braucht viel, bis Professoren mit solch deutlichen
Worten an die Öffentlichkeit treten. Was sagen Sie dazu?
Es gibt Lehrer, die sagen, die Schule sei ein Boot, das alle
steuern wollen, aber niemand wolle rudern. Auch Sie ruderten früher und sind heute am Steuer.
Tatsächlich war ich früher Ruderer, aber auf dem Rhein. Es
braucht beides, Leute an der Basis und im Kader. Die Schlüsselpersonen sind die Lehrerinnen und Lehrer. Aber Menschen bewegen sich eben auch weiter und übernehmen
Verantwortung in einer Schulleitung oder einem Erziehungsdepartement, und das finde ich gut.
Schulverwaltungen wachsen, im Schulzimmer hingegen
wird gespart: Klassen werden grösser, Lehrer müssen mehr
Stunden geben. In St. Gallen werden kranke Lehrer sogar
erst nach drei Tagen vertreten. Da läuft doch etwas falsch.
Das bezweifle ich. In Schaffhausen, wo ich dem Erziehungsdepartement vorstehe, stimmt das jedenfalls nicht. Aber
Ich freue mich, wenn sich Leute engagiert für etwas einsetzen. Ich stelle aber fest, dass sich die Forschung häufig diametral widerspricht. Es gibt zahlreiche Professoren, die finden, die Schule sei gut unterwegs. Auch ich bin dieser Meinung. Im Übrigen ist der Lehrplan 21 keine Reform, sondern
eine konsequente Weiterschreibung der bestehenden Lehrpläne.
Früher war der Lehrplan eine Art Leitplanke für den Unterricht, heute umfasst er 470 Seiten und über 2000 Teilkompetenzen. Wenn meine Chefin mir meine Arbeit derart pingelig vorschreiben würde, ich nähme den Hut.
Ein Lehrplan ist kein Buch, das Sie jeden Tag hervornehmen
und wo Sie dann abhaken, was Sie erledigt haben. Der Lehrplan ist vielmehr ein Kompass. Aber anders als früher wird
HEINZ ANTON MEIER
2014/15-03
27
«Heute kann leider jede Bagatelle zu einem Rechtsfall werden und
muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles
dokumentieren können.» (Christian Amsler)
nicht nur der Stoff beschrieben, den man durchzunehmen
hat, die Schüler müssen ihr Wissen auch konkret anwenden
können.
Aber nochmal: Die Lehrerin muss beurteilen, ob ein vierjähriges Kind Aufgaben termingerecht und vollständig
erledigt.
Einige Lehrer beklagen sich, dass ihnen die Behörden vorschreiben, was, wie, wann und wo zu tun ist.
Das finde ich sehr gut.
Die Unterrichts- und Methodenfreiheit ist in der Schweiz
absolut gewährleistet. Die Lehrpersonen werden weder
drangsaliert noch in ein Korsett gezwängt. Fragen Sie mal
in den Schulen, wie oft die Lehrer in einen solchen Lehrplan
reinschauen. Das ist ganz selten.
Aber Herr Amsler, es kann doch nicht Sinn und Zweck eines
Lehrplans sein, dass man ihn nicht beachtet.
Selbstverständlich muss man ihn beachten und ihn von Zeit
zu Zeit hervornehmen.
Abgesehen vom neuen Lehrplan ärgern sich die Lehrerinnen
und Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, über die Evaluationsbögen, mit denen sie jedes Kind anhand von Kreuzchen beurteilen müssen. Macht da ein Bericht oder ein Gespräch nicht einfach mehr Sinn?
Man kann auf der Basis von solchen Bögen wunderbare Gespräche führen. Ich glaube aber, wir müssen tatsächlich aufpassen, dass wir nicht alles mit Tests, Checks und Evaluationsbögen hinterlegen.
Kindergärtnerinnen in verschiedenen Kantonen müssen 72
Antworten zu jedem Kind ankreuzen, unter anderem: «Das
Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig.»
Eine Kindergärtnerin sagte mir, sie finde es falsch die Kinder
auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen.
Das ist eine einzelne Äusserung. Rund um die Diskussion
über Beurteilung und Bewertung gibt es viele verschiedene
Meinungen. Es stimmt, wirtschaftsnahe Kreise fordern von
der Schule, dass man die Kinder genau einordnen kann, andere fordern die Abschaffung der Noten. Die Wahrheit liegt
irgendwo dazwischen.
Sie finden solche Bewertungsbogen also gut und kindsgerecht?
Absolut. Ich finde es wichtig, dass man die verschiedenen
Aspekte eines Kindes beleuchtet und nicht nur Noten gibt.
Auftrittskompetenz, soziale Interaktion und so weiter. Wir
haben in Schaffhausen ein förderorientiertes Beurteilungssystem entwickelt, das diverse Kantone übernommen haben.
In diesem Alter können sich einige Kinder noch nicht einmal alleine den Po abwischen.
(Lacht) Da gehen die Meinungen eben auseinander. Ich
finde, dass man ein Kindergartenkind nach verschiedenen
Aspekten beurteilen kann. Übrigens können sich auch Kindergartenkinder schon wunderbar selber einschätzen.
Was geschieht mit all den Blättern? Die werden vermutlich
ausgefüllt, ausgewertet und später irgendwo abgespeichert?
Ja, und das hat auch seine Richtigkeit. Heute kann leider
jede Bagatelle zu einem Rechtsfall werden und muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles
dokumentieren können. Diese administrativen Tätigkeiten
sind deshalb sehr wichtig. Früher gab es das weniger, weil
die Eltern den Lehrern mehr vertrauten.
Vertrauen ist ein gutes Stichwort. Manche Lehrer sagen,
die Behörden würden ihnen misstrauen, deshalb die vielen
Vorschriften. Ein Beispiel unter vielen: Als Lehrer darf man
mit den Kindern nicht mehr in die Badi ohne Rettungsschwimmerbrevet.
Das Badi-Problem ist eben auch entstanden, weil man
Rechtsfälle hatte. Es kam zu tragischen Vorfällen und daraus wurde dann eine neue Regel abgeleitet. Merkblätter,
Reglemente und Gesetze nehmen eben zu, wenn die Eltern
mit dem Rechtsanwalt zu uns kommen.
Aber es wäre doch genau die Aufgabe der Behörde, dafür
zu sorgen, dass die Lehrer unbelastet mit den Kindern in
die Berge, ans Wasser oder auf eine Velotour gehen können. Stattdessen verbieten sie auch noch das Schoggistängeli auf der Schulreise.
Wie gesagt, diese Regeldichte schaue ich als generelles gesellschaftliches Problem an. Sie nimmt tendenziell zu und
das ist eine bedenkliche Entwicklung. Ich stimme ihnen zu,
die Lehrpersonen brauchen Freiheiten, aber sie müssen sich
auch an Regeln halten. Denn als Behörde haben wir auch
eine Aufsichtspflicht.
Weitere Perlen auf S. 40 und 52
28
Das pädagogische Quartett: Genau so!
Von Gabriele Zückert
Samira Sonnenberg: «Oh, ist das
schön! Endlich finde ich wieder einmal
die Zeit für einen Lunch im Restaurant
mit meinen Kolleginnen. Meine Kinder
haben heute nämlich ihren Skitag. Das
nenne ich doch Luxus für alleinerziehende, teilzeitarbeitende Mütter!»
(lacht)
Gerda Lunati (abwinkend): «Ach, wisst
ihr, wenn es bei mir nicht reicht, dann
schiesse ich halt selber noch etwas ein.
Die meisten Instrumente und auch viele Tücher gehören mir. Auf diese Weise
schenke ich dem Kindergarten halt ab
und zu etwas. Es kommt ja den Kindern
zugute.»
Roberta Nordstern: «Ich komme jeden
Dienstag hierher. Aber klar, du musst
ja deine Kinder betreuen. In meinem
Alter ist das längst kein Thema mehr.
(lächelnd) Und ich gestehe, dass mir
das auch nicht im Geringsten fehlt.»
Samira Sonnenberg (sarkastisch): «Oh
ja, genau so sollten wir es alle machen
... Und dann wundert man sich, wenn
es nicht mehr Geld für den Kindergarten gibt! Fünf Jahre lang mussten wir
für ein Ersetzen der kaputten Kinderstühle kämpfen! Zahlreiche Kinder hatten sich bereits Holzsplitter daran eingefangen. Und das gleiche Prinzip gilt
doch auch für unsere Arbeitsplätze zu
Hause. Jede von uns muss in den eigenen vier Wänden eine Infrastruktur
unterhalten, welche zu grossen Teilen
beruflichen Zwecken dient. Und bezahlen tun wir alles aus dem eigenen
Sack. Der Kanton hat da schon seit
Jahrzehnten taube Ohren. Ich finde
das eine Sauerei!»
Samira Sonnenberg (die Stirn in Falten
legend): «Das ist wirklich Stress pur,
wenn ich den ganzen Tag arbeite und
meine Kinder dann noch zum Mittagessen kommen. (seufzt) Aber auch die
werden ja mal grösser.»
Roberta Nordstern (in die Runde fragend): «Sagt mal, reicht bei euch das
Geld vom Materialbudget auch nicht
mehr aus? Ich muss mich Ende Jahr immer sehr heftig nach der Decke strecken. Vor allem viele Spiele und Spielsachen muss ich ersetzen. Ständig geht
etwas kaputt.»
Samira Sonnenberg (Zustimmung signalisierend): «Genau so ist es. Das liegt
halt daran, dass die Kinder mehr Zeit
im Kindergarten verbringen, wodurch
auch alle Materialien stärker beansprucht werden. Ausserdem lässt bei
vielen Kindern die Sorgfalt zu wünschen übrig. (einen kindlichen Tonfall
nachahmend) «Frau Sunnebärg, das
isch kaputt. Chasch es neus chaufe?»
So geht das. Ich war schon mehrmals
bei der Schulleitung deswegen. Aber
die Gemeinden hätten kein Geld,
heisst es dann.»
Corinna Nova (erstaunt): «Reicht das
denn wirklich nicht? Wir haben doch
1500 Franken zur Verfügung. Das ist
doch viel für ein Jahr, oder nicht?»
Roberta Nordstern (beipflichtend):
«Genau so ist es! Ich musste mir mit 60
Jahren noch extra das Internet einrichten lassen und einen eigenen Computer anschaffen. Ohne E-Mail funktioniert ja anscheinend heute gar nichts
mehr. Und zahlt die Schule etwas daran? Nein!»
Gerda Lunati (relativierend): «Das ist
doch alles halb so schlimm. Den Computer brauchst du ja sicher auch noch
für Privates, oder? Also ich leiste das
gerne für unsere Schule. Allerdings,
wenn ich jetzt einen neuen Computer
bräuchte, dann würde es eng. Ich arbeite ja nur Teilzeit und verdiene nicht
gerade viel.»
Roberta Nordstern (bestimmt): «Den
Internetanschluss werde ich nächstes
Jahr wieder abschalten lassen. Als Pensionierte brauche ich das nicht mehr.
Da fällt mir ein: Will jemand von euch
dann meinen Computer haben?»
Corinna Nova (Robertas Anfrage ignorierend und sich stattdessen an Samira
wendend): «Du, ich habe gehört, dass
wir in Zukunft keine heilpädagogischen Förderstunden mehr bekommen
wegen der Schülerpauschalen. Auch
die Einführungsklasse wird abgeschafft. Es sei zu teuer für die Gemeinde. Sie konzentrierten sich nun auf
Deutsch als Zweitsprache. Deswegen
müssten wir eine Weiterbildung machen, damit wir das auch noch übernehmen können. (sorgenvoll) Ob ich
davon auch betroffen sein werde? Theoretisch hätte ich ja noch Zeit dafür, da
ich nicht Vollzeit arbeite. Aber nur
schon das Hin- und Herfahren zwischen meinen zwei Arbeitsorten und
die Präsenzzeiten an den beiden Schulen sprengen den Rahmen. Wie soll ich
da noch einen CAS machen? Und mehr
verdiene ich danach ja wohl auch nicht,
oder?»
Samira Sonnenberg (die Augen zusammenkneifend): «Moment, Moment,
Moment! Wovon sprichst du? Wer sagt
und verordnet all das?»
Corinna Nova: «Na unsere Schulleitung! Die wollen nur noch maximal
zwei Lehrpersonen pro Klasse haben.
Und da es keine Einführungsklasse
mehr geben wird, sei das die logische
Folge: Die Kindergartenlehrpersonen
und die Primarlehrerinnen sollen alles
abdecken können. Es gibt bei uns deswegen auch keine neuen Teilzeitstellen mehr.»
Samira Sonnenberg (ärgerlich): «Ha! In
Winterthur haben sich genau aus diesem Grund keine Leute für den neuen
Schulversuch gemeldet. Teilzeitler können das ganz einfach nicht leisten! Mir
scheint, hier schlägt die Teilautonomie
wieder einmal voll durch: Das ist doch
kein Versuch mehr, wenn er gerade
2014/15-03
29
von Anfang an flächendeckend eingeführt wird! Und dieser Kanton bezeichnet sich auch noch explizit als familienfreundlich. Genau so wurde es jedenfalls im Qualitätsleitbild hervorgehoben: die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Aber diese Botschaft dringt
wohl nicht zu allen Schulleitungen
durch. Wenigstens kommt unsere
Schulleitung nicht auch noch auf die
Idee, ständig neue Präsenzzeiten zu
verordnen. Da könnte ich gerade einpacken mit meinen drei verschiedenen
Jobs …»
Corinna Nova: «Ja, genau so ist es, das
sehe ich gleich, obwohl ich noch nicht
so lange dabei bin wie ihr. Ich arbeite
ja in zwei Gemeinden zu je 40%, da
ich nirgendwo eine Vollstelle finden
konnte. Eigentlich bin ich im Nachhinein nicht unglücklich darüber, denn,
ehrlich gesagt, nach der Ausbildung
habe ich mich nicht sicher genug gefühlt, um schon alleine eine Klasse zu
übernehmen. Leider mussten wir
eben selbst das Abschlusspraktikum
an der PH zu dritt machen... Jetzt kann
ich wenigstens an zwei Orten Erfahrungen sammeln. Allerdings, wie
schon gesagt, stosse ich an Grenzen,
wenn es um Konvente und Präsenzzeiten geht. Nervig ist, dass an der einen
Schule die Konvente an jenen Tagen
stattfinden, an denen ich dort nicht
arbeite und an der anderen Schule ist
es gerade umgekehrt. Das mache ich
sicher nur noch dieses Jahr so!»
Gerda Lunati (aufmunternd): «Ach
komm, du bist ja noch so jung, da hast
du sicher noch die Energie für so etwas. Wenn du erst mal über 50 bist
wie ich, sieht es anders aus. Mir reichen meine 60% vollständig. Ich brauche meine freien Tage, um mich von
den lieben Kleinen zu erholen.»
Roberta Nordstern (zu Corinna):
«Weisst du, ich bin ja wirklich ein alter
Hase in diesem Job und habe immer
noch Freude daran. Aber seit der Einführung der Blockzeiten macht mir
der Lärmpegel wirklich schwer zu
schaffen. Wenn alle Kinder ganz im
Spiel aufgehen, ist es einfach sehr
laut. Sogar die Kinder selbst beschweren sich zuweilen. Da nützen auch Nischen und Flüsterphasen nichts. Wenn
ein Drache in die Puppenecke eindringt ist, dann geht es in Gottes Namen so richtig rund …»
Samira Sonnenberg: «Genau so ist es!
(lacht kurz auf) Ich habe seinerzeit mit
zwei Stunden Kindergarten am Stück
angefangen: Präsenzzeit, Kreis, Pause,
Freispiel, Präsenzzeit, fertig. Dann
wurden es drei, mittlerweile sind es
vier Stunden am Stück. Aber an den
Rahmenbedingungen hat sich überhaupt nichts geändert: Gleicher Raum,
gleiches Material, gleich viele Kinder,
gleich viel Geld und keine Pause für
die Lehrerin. Und da wundern sich
dann die Gärtner, dass die Gartenbeete vor dem Kindergarten nicht mehr
so gepflegt werden wie früher. Ich
habe schlicht und einfach die Zeit und
die Energie dafür nicht mehr!»
Corinna Nova: «Machen das denn
nicht die Gärtner?»
Samira Sonnenberg: «Wenn du nicht
ausschliesslich Immergrün und Schotter drin haben willst, sondern vielleicht auch noch Blumen und Kräuter,
dann musst du dich selber darum kümmern. Wir mussten das so mit dem
Chefgärtner vereinbaren. Auch bei
den Gärtnern wird halt gespart …»
Gerda Lunati (auf einmal ihre Zurückhaltung ablegend): «Also ich bin ja
sonst nicht so eine, die immer jammert
und sich beschwert, aber hier muss
selbst ich sagen: Genau so ist es! Stossend finde ich, dass auch beim Putzpersonal gespart wird. Bei uns haben
sie vor einigen Jahren Putzstunden
gestrichen, aber die Kinder sind ja
jetzt länger im Kindergarten. Dadurch
wird es logischerweise auch dreckiger.
Ich sage euch, eigentlich müsste man
jeden einzelnen Tag so richtig gründlich «durchreinigen». Unsere «Putzperle» kommt aber nur zwei Mal die
Woche.»
Roberta Nordstern (resigniert): «Tja,
das müssen halt jetzt auch noch wir
erledigen … Wird ja immer besser:
Gärtnerin, Putzfrau und so ganz nebenbei sind wir auch noch Lehrkräfte.
Und neu, nicht zu vergessen: auch Sekretärinnen! Den ganzen Papierkram
werde ich auf alle Fälle nicht vermissen.»
Samira Sonnenberg (in die Gänge
kommend): «Genau so ist es! Die Administration frisst viel Zeit auf. Aber
das ist in anderen Berufen genau
gleich. Die Bürokratisierung ist ein
Fass ohne Boden. Dass wir Berichte
schreiben müssen, finde ich ja grundsätzlich gar nicht so schlecht. Wirklich
schrecklich sind aber diese elenden
Kreuzchenlisten! Und müsst ihr eigentlich auch jeden Elternbrief vorgängig an die Schulleitung schicken?
Auch so ein Auswuchs der geleiteten
Schulen… Als ob wir das nicht alleine
verantworten könnten. Bei Ausflügen
verstehe ich es ja noch. Aber der ganze Rest?»
Corinna Nova: «Das finde ich aber
schon gut. Die Schulleitung sagt mir
dann immer, ob der Brief in Ordnung
ist und ob Fehler drin sind. So dringt
nichts nach aussen, was vielleicht
peinlich sein könnte.»
Samira Sonnenberg (etwas boshaft):
«Also bei uns finden sich die Fehler
immer in jenen Schreiben, welche die
Schulleitung selber verfasst hat …»
Corinna Nova (unbeirrt): «Aber wisst
ihr, wovor ich wirklich Respekt habe?
Elterngespräche!»
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Gerda Lunati (beschwichtigend): «Ja,
da kann ich mich noch gut daran erinnern, wie ich mich damals gefühlt
habe als Berufsanfängerin. Wenn du
willst, können wir uns mal zusammensetzen und die Gespräche zu zweit
vorbereiten. Ausserdem gibt es ja auch
Kurse zu diesem Thema.»
Samira Sonnenberg (irritiert): «Aber
hattet ihr das denn nicht im Semi, äh,
während dem Studium? Und hast du
keine Mentorin vor Ort, die dir da
hilft?»
Corinna Nova: «Ja, wieso?»
Samira Sonnenberg (energisch): «Weil
das zur Klassenlehrerfunktion gehört!»
Corinna Nova: «Meine Kollegin hat gesagt, sie übernehme ihrem Anstellungsgrad gemäss nur noch 60% und ich
müsse die anderen 40% durchführen.»
Samira Sonnenberg: «Da würde ich sie
aber noch einmal darauf ansprechen.
Schau einfach, dass es mit der EAF nicht
überbordet!»
Corinna Nova (unsicher): «Also theoretisch haben wir es in der Ausbildung
schon angesprochen, aber... Und eine
Mentorin? Nein, so etwas gibt es an
den beiden Schulen nicht. Ich nehme
an, aus finanziellen Gründen. Aber
danke, Gerda, für dein Angebot. Ich
nehme es gerne an.»
Corinna Nova (hilflos): «EAF?»
Das Essen wird serviert.
Ein Handy spielt die Titelmelodie aus
«Pirates of the Caribbean». Samira
geht ran.
Samira Sonnenberg: «Jetzt aber guten
Appetit! Ich muss richtig reinhausen,
denn am Nachmittag habe ich noch
eine Sitzung mit meinem pädagogischen Team. Und das dauert dann jeweils lange.»
Corinna Nova: «Ich bin natürlich gerade wieder in zwei verschiedenen Teams
an meinem beiden Schulen. Ist ein bisschen schwierig, Termine zu finden.
Aber wenigstens muss ich dort nicht
etwas Aktives leisten. Nur zuhören und
präsent sein reicht.»
Roberta Nordstern (die Stirn runzelnd):
«Wie das?»
Corinna Nova: «Naja, als Nicht-Klassenlehrperson habe ich eh nichts zu bestimmen.»
Samira Sonnenberg (nachhakend):
«Aber sagtest du nicht gerade, du
müsstest Elterngespräche führen?»
Samira Sonnenberg (ungläubig): «Ja
habt ihr denn kein Zeitbudget gemacht
für das neue Schuljahr? (schnauft hörbar durch die Nase) Ich glaube, das erkläre ich dir ein anderes Mal. Mein
Mittagessen wird kalt.»
Samira Sonnenberg: «Ja, hallo? Was ist
passiert? Du meine Güte! Ja, ich komme sofort. (ganz blass geworden, sich
an die Runde richtend) Mein Sohn liegt
im Spital in Grindelwald. Er hat sich das
Bein gebrochen. (die Augen aufreissend) Oh Gott, und jetzt muss ich mich
noch um die Stellvertretung kümmern!
Unsere Schulleitung hat uns mitgeteilt,
dafür seien wir selber verantwortlich,
auch bei Krankheit oder Unfall.»
Gerda Lunati (mit aufgerissenen Augen): «Wie bitte!?»
Roberta Nordstern (kühl): «Genau so –
sollte es eben nicht sein.»
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Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt: Was uns die
Geschichte der schulischen Innovationen lehren kann
Von Philipp Loretz
Wir leben in einer Zeit …
«Wir leben in einer Zeit, meine Damen und Herren», pflegt der Kabarettist Piet Klocke jeweils zu sagen. Wir
leben in einer Zeit, liebe Leserinnen
und Leser, …
Sei es Wissenschaft, Kunst,
Literatur, Musik, Philosophie, Ökonomie oder eben
Pädagogik: Die Geschichte
lehrt uns, dass wir jeweils
erst im Nachhinein erkennen können, welche Innovationen sich für die weitere
Zukunft als bahnbrechend
erwiesen, und welche
anderen zwar einen enormen Einfluss auf ihre jeweilige Zeit ausgeübt
haben, danach aber umso
schneller wieder in Vergessenheit gerieten oder allenfalls in Nischen zu überleben vermochten.
Entsprechend vorsichtig
sollten wir demnach sein,
bevor wir uns entscheiden,
zugunsten eines bestimmten neuen Konzepts alles
Bewährte voreilig über
Bord zu werfen.
•in der sich riesige Pickups mit leeren
Ladeflächen in enge Parklücken zwängen und von ihren Lenkern schlangenartig verlassen werden;
• in der Steingärtchen wie Pilze aus
dem Boden schiessen und ihren Besitzern schon nach kurzer Zeit verwittert und grau «entgegenleuchten»;
• in der sich geladene Gäste fünf Minuten vor Partybeginn per Whatsapp
abmelden und spontan doch lieber
den neusten Blockbuster ansehen
wollen;
• in der Menschen trotz ihres jugendlichen Alters gesenkten Hauptes durch
die Strassen wandeln und dabei ein
leuchtendes Display streicheln.
Was Mambo und Sprachlabor
gemeinsam haben
In den 80er Jahren bescherte der Streifen «Dirty Dancing» den Tanzschulen
einen Rekordansturm. Mambo avancierte über Nacht zu dem Modetanz.
Wer etwas auf sich hielt, wollte lernen,
die Hüften so elegant und lasziv zu
rollen wie Johnny und Baby.
Das audiolinguale Sprachenlernen seinerseits bescherte zur gleichen Zeit
den damaligen Multimediafirmen Rekordaufträge. Das Sprachlabor avancierte sprunghaft zu der Unterrichtsmethode. Wer etwas auf sich hielt,
verschwand mit seinen Klassen regelmässig in den Katakomben des Schulhauses und ermöglichte den Schülerinnen und Schülern, Französisch und
Englisch so elegant und korrekt zu
beherrschen wie Muttersprachler und
Dolmetscherinnen – angeblich.
Hier die begeisterte experimentierfreudige Lehrperson am Schalten und
Walten, dort die in kleinen Boxen eingepferchten Lernenden, versteckt unter riesigen Pilotenkopfhörern, ständig bemüht, die richtige Antwort ins
Mikrofon zu stammeln, bevor die verrauschte Stimme die nächste Frage
stellte. Ob der ständigen Gefahr, Opfer eines weiteren Lauschangriffes der
Lehrkraft zu werden, ob der monotonen roboterhaften Drillübungen, ob
der surrealen Szenerie fühlten sich so
manche Versuchsobjekte wie Laborratten in einem Science Fiction-Film.
Und in ihrer Fantasie mutierte der technikbegeisterte Versuchsleiter vorne am
Schaltpult langsam zu Doctor No.
Studiert man die heutigen Kursprogramme der einschlägigen Tanzschulen, sind sie immer noch da, die klassischen Tänze wie Walzer, Foxtrott, Tango, Samba, Rumba, Jive und wie sie alle
heissen. Doch Mambo? Der einstige
Modetanz ist verschwunden. Grund:
mangelnde Nachfrage.
Das gleiche Schicksal ereilte auch das
Sprachlabor. Die angekündigte überlegene Wirkung blieb aus. Die vollmundigen Versprechungen der Bildungsexperten entpuppten sich als Irrtum. Die
hohe Reparaturanfälligkeit generierte
immense Folgekosten. Die vermeintliche Errungenschaft wurde sang- und
klanglos wieder entsorgt. Hunderttausende von Steuerfranken waren buchstäblich «neutralisiert» worden.
Ab in die Werkstatt!
Kaum war die Welle des programmierten Unterrichts verebbt, folgte in den
1990ern ein Revival der Reformpädagogik in Form von Werkstattunterricht. Wer etwas auf sich hielt, liess
seine Schülerinnen und Schüler mindestens einmal pro Monat «werkstätteln».
Die Bildungsexperten von damals
glaubten einmal mehr, das Ende des
methodischen Regenbogens gefun-
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Die Bildungsexperten von damals glaubten einmal mehr, das Ende
des methodischen Regenbogens gefunden zu haben.
den zu haben – allen voran der
Schweizer Reformpädagoge Jürgen
Reichen. Er war überzeugt, dass der
Werkstattunterricht alle zentralen
Forderungen der Reformpädagogik
in sich vereinen würde.
Kombiniert man das Mantra des Lehrplans 21 «Die Schülerinnen und Schüler können» mit Reichens Formulierungen, tönt das in etwa so:
• Die SuS «können ihren Lernweg
selbst bestimmen».
• Die SuS können ihr Wissen selbständig erarbeiten.
• Die SuS können «die Lebensbedeutsamkeit des Lernens» erkennen.
• Die SuS können in einer «fördernden Lernatmosphäre» lernen.
• Die SuS lernen, «andere besser zu
verstehen und sich solidarisch-unterstützend zu verhalten».
• Die SuS können sich «Fähigkeiten
und Arbeitstechniken» aneignen
und anwenden.1
Zweifellos bietet eine abwechslungsreiche und bedarfsgerecht eingesetzte
Lernwerkstatt den Lernenden eine
Fülle von Lernmöglichkeiten. Nüchtern
betrachtet handelt es sich beim Werkstattunterricht ganz einfach um einen
von vielen möglichen Wegen, die nach
Rom führen können – aber nicht zwingend müssen.
Nichtsdestotrotz schütteten manche
Lehrpersonen das Kind mit dem Bade
aus und stellten fast ausschliesslich auf
Werkstattunterricht um. Das rief einen Satiriker, dessen Name leider unbekannt ist, auf den Plan, der die damals herrschenden Glaubenssätze
nicht so tierisch ernst nahm. Entstanden ist die «Fleischkäsewerkstatt»,
welche den übertriebenen reformpädagogischen Ansatz ad absurdum
führte. Lorenz Derungs entwickelte
die Satire weiter, indem er den Aufträgen die jeweilige pädagogische Legitimation spendierte .2
HEINZ ANTON MEIER
Does it ring a bell?
Heute – 25 Jahre später – touren die
Schul-ent-wickler erneut durchs ganze
Land. Für teures Geld – ein zweitägiger Kurs für 50 Lehrpersonen schlägt
mit satten 8400 Franken zu Buche –
verkaufen sie den Praktikerinnen und
Praktikern in verordneten Weiterbildungen Rezepte, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen sollen,
«am gesellschaftlichen Leben» teilzunehmen und ein «selbstbestimmtes
Leben» zu führen.3
Vergleicht man das aufgepeppte Wording der Kursziele mit Reichens Formulierungen, der seinerseits bei Freinet
(1896-1966), Gaudig (1860-1923) und
Montessori (1870-1952) abgeschaut
hatte, wird rasch einmal klar, dass sich
hinter der neumodischen Wortakroba-
tik einmal mehr altbekannte reformpädagogische Konzepte aus dem letzten Jahrhundert verbergen. Dazu zwei
Beispiele:
Letztes Jahrhundert: Die Schülerinnen
und Schüler lernen, «andere besser zu
verstehen und sich solidarisch-unterstützend zu verhalten.»
Auf der Höhe der Zeit: «Die Schülerinnen und Schüler werden darin gefördert, mit kooperativen Lernformen
respektvoll miteinander umzugehen
und produktiv zusammenzuarbeiten.»
Letztes Jahrhundert: «Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich Fähigkeiten und Arbeitstechniken anzueignen
und diese anzuwenden.»
Im Kompetenzenjargon der 2010er
Jahre: «Die Schülerinnen und Schüler
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Es wäre [...] kurzsichtig und naiv, würde man aufgrund von Effektstärken – welche auf Durchschnitten der Durchschnitte von Durchschnitten beruhen – versuchen, die unterschiedlichen Unterrichtskonzepte gegeneinander auszuspielen.
erwerben sich ein Repertoire an Lernkompetenzen und Lernstrategien und
passen die Bausteine ihres Lernkompetenzen-Curriculums an die eigenen
Bedürfnisse an.»4
Das «neue Professionsverständnis»
Das Zauberwort, das den Nerv des aktuellen Zeitgeistes offenbar optimal
zu treffen scheint, heisst kooperativ.
Auf der Website eines einschlägigen
Anbieters von Weiterbildungskursen
taucht der Begriff sage und schreibe
über 100 (!) Mal auf, das zugehörige
Nomen «Kooperation» nicht mitgerechnet.
Wer also dem «veränderten gesellschaftlichen Umfeld» Rechnung tragen will, orientiert sich am «neuen
Professionsverständnis» und kooperiert bzw. lässt kooperieren, und zwar
ausgiebig.
• Für besonders gelungene Gruppenarbeiten ist ab sofort das Placemat
das Mittel der Wahl.
• Für besonders aktivierende Partnerarbeiten ist heute ein Lerntempoduett fällig.
• Für besondere Erfolge beim vernetzten Denken sorgt neu die Strukturlegetechnik.
Einzelne Methoden werden gar verbindlich in Schulprogramme aufgenommen – um eine nachhaltige Schulentwicklung zu gewährleisten. Mit
einem einseitigen Methodensteinbruch ist langfristig jedoch niemandem gedient. Selbst die besten Gerichte verleiden, wenn man sie zu oft vorgesetzt bekommt.
Die Fokussierung auf einen Koffer voller Unterrichtsmethoden, von denen
der Autor dieses Artikels einige als
abwechslungsreich, kreativ, anregend
und wirksam, andere jedoch als eher
weniger ertragreich erachtet, erstaunt.
Obwohl es sich bei den trendigen Be-
griffen wie Y-Charts, Partnerpuzzle
oder Positives Fokussieren oft um alten Wein in neuen Schläuchen handelt, erwecken die Kursleiter trotz
gegenteiliger Beteuerung den Eindruck, …
• dass sich Schüler in den letzten Jahrzehnten kaum Ziele unter Einbezug
ihrer Sinne gesetzt hätten;
• dass Schülerinnen in bisherigen
Lernpartnerschaften die Zeit wenig
effizient genutzt hätten;
• dass Lernende nur selten über ihre
Eigenschaften – seien sie nun positiv
oder negativ – nachgedacht hätten.
Natürlich ist es begrüssenswert, wenn
Weiterbildungen im methodisch-didaktischen Bereich helfen, den persönlichen Fundus aufzufrischen und
zu erweitern. Problematisch wird es
aber dann, wenn ein singuläres Unterrichtskonzept so dargestellt wird, als
wäre es allen anderen Methoden weit
überlegen. Zu bedenken ist in diesem
Zusammenhang auch, dass mit einer
Fixierung auf bestimmte Methoden die
Verantwortung für einen erfolgreichen Unterricht vollumfänglich der
Lehrperson zugeschrieben wird – denn
würde diese es «nur richtig machen»,
dann ginge es doch fast von alleine – ist
der Betrachter zu denken versucht.
Selbstverständlich gebührt der Lehrkraft ein gewichtiger Anteil an gelingendem Unterricht, ohne das Zutun
der Lernenden jedoch stellt sich kein
Lernzuwachs ein.
Mit Hattie lässt sich alles
beweisen
Um zu beweisen, dass eine bestimmte
Methode wirksamer und überlegener
sein soll, berufen sich deren Verfechter immer wieder auf die Megastudie
von John Hattie. Dieser teilt die 138
gemessenen Wirkungsfaktoren hinsichtlich des kognitiven Lernens in
fünf Bereiche ein (s. Tabelle).
Effektstärke nach Hattie
Das Kooperative Lernen, dem viele aktuelle Bildungsforscher eine überlege-
d < 0.00
Massnahme senkt den Erfolg
0.00 ≤ d < 0.20
kein Effekt bzw. unbedeutende Effekt
0.20 ≤ d < 0.40:
kleiner Effekt
0.40 ≤ d < 0.60
moderater Effekt
d ≥ 0.60
grosser Effekt
Interpretation der Effektstärke d von Massnahmen
d = 0.01
offener Unterricht
d = 0.04
altersdurchmischtes Lernen
d = 0.22
individualisierendes Lernen
d = 0.41
kooperatives Lernen vs. heterogene Klassen
d = 0.54
kooperatives Lernen vs. kompetitives Lernen
d = 0.59
kooperatives Lernen vs. individuelles Lernen
d = 0.72
Lehrer-Schüler-Verhältnis
d = 0.74
reziprokes Lernen
d = 0.75
Klarheit der Instruktion
kein bzw. unbedeutender Effekt
moderater Effekt
grosser Effekt
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Die situationsgerechte Methodenvielfalt stellt letzlich sicher, dass
alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Rechnung kommen und
vom Unterricht profitieren.
ne Wirkung beimessen, verfügt über
moderate Effektstärken im Bereich
von 0.41 bis 0.59 – abhängig vom jeweiligen Setting.
Zum Vergleich
Die Werte für reformpädagogische
Konzepte befinden sich allesamt im
untersten Bereich der Skala und haben
gemäss Hattie eine unbedeutende
bzw. gar keine Wirkung. In den Worten
des Tenniskommentators Heinz Günthardt ist das «äusserst bescheiden».
Grosse Effekte hingegen attestieren
Hatties Berechnungen unter anderem
dem Lehrer-Schüler-Verhältnis, dem
Reziproken Lernen und der Klarheit
der Instruktion.
Korrelation vs. Kausalität
Wer nun aber hingeht und die Schule
mit Hilfe solcher Hitparadenlisten entwickeln will, betreibt «Fast-Food-Hattie». 5 Georg Lind weist darauf hin,
dass «man […] aus Testdaten und auch
aus Meta-Analysen, die darauf aufbauen, keine Politik ablesen» 6 kann
und Hans Brügelmann gibt zu bedenken, dass «Durchschnittsbefunde aus
(Meta)Metaanalysen […] hilfreiche Hypothesen liefern können – aber keine
Vorschriften.»7
Hattie ist sich der Beschränkungen seiner Studie grundsätzlich bewusst und
warnt in der Einleitung explizit davor,
Korrelation mit Kausalität (Effektivität) gleichzusetzen. 8 Für die Nichtstatistiker unter Ihnen lässt sich der Unterschied zwischen den beiden Begriffen mit diesem erhellenden Beispiel
veranschaulichen: In Schweden wurde
über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg eine Korrelation zwischen der
Anzahl neugeborener Kinder und der
Anzahl Störche festgestellt. Wer Korrelation mit Kausalität verwechselt,
kommt daher zum Schluss, dass es tatsächlich der Storch ist, der die kleinen
Kinder bringt.
Obwohl Hattie die Problematik der
Gleichsetzung von Korrelation und
Kausalität erkannt hat, ist es ihm
gleichwohl nicht gelungen, sie im Rah-
men seiner Arbeit konsequent zu vermeiden: «In den übrigen Kapiteln
setzt er sich selbst […] über diese Warnung methodisch und intellektuell
hinweg. Er steigert diese naive Gleichsetzung sogar noch, indem er Korrelationsstatistiken graphisch in «Effektivitäts-Barometer» übersetzt, aus denen
Lehrer und Bildungspolitiker direkt
Handlungsanleitungen ablesen können sollen.»9
Auf den gesunden Mix kommt es
an!
Es wäre also kurzsichtig und naiv, würde man aufgrund von Effektstärken –
welche auf Durchschnitten der Durchschnitte von Durchschnitten beruhen
– versuchen, die unterschiedlichen Unterrichtskonzepte gegeneinander auszuspielen. Genausowenig zielführend
ist es, einzelne Methoden hochzujubeln
und damit die didaktisch-methodische
Vielfalt ohne Not zu beschneiden.
Es ist selbstverständlich, dass Menschen zusammenarbeiten müssen.
Dazu braucht es ein gesundes Mass an
Sozialkompetenzen. Genauso selbstverständlich ist es, dass nicht alle mit
allen gut zusammenarbeiten können.
Sympathien und Antipathien gehören
zum Leben wie Freude und Trauer.
Es gibt Schüler, die aufblühen, wenn sie
zeitweilen in einer gelungenen Gruppenkonstellation arbeiten können. Andere nehmen die Einladung zum sozialen Faulenzen (Social loafing)10 dankend
an. Auch dem jeweiligen Entwicklungsstand und Reifegrad der Lerngruppe ist
in diesem Kontext unbedingt Beachtung zu schenken. Pubertierende ticken
anders als ABC-Schützen oder angehende Maturi und Maturae.
PIXABAY
Es gibt eher autodidaktisch veranlagte
Schülerinnen, welche alleine äusserst
effizient vorankommen und durch permanent verordnete Zusammenarbeit
ausgebremst, gar demotiviert werden.
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«Ein angemessener Mix – mit jeweils hochwertigen Anteilen –
bleibt eine beständige Aufgabe für uns Lehrer.» (Michael Felten)
Andere – oft schwächere Schüler –
fühlen sich in Phasen des selbstorganisierten Lernens einsam, verlieren die
Orientierung und kommen in der Folge kaum voran.
Und schliesslich gibt es auch Schülerinnen, die sich im sorgsam gelenkten
Klassenunterricht bestens entfalten
und den dynamischen Wechsel der direkten Instruktion schätzen.
So banal es klingt: Die situationsgerechte Methodenvielfalt stellt letzlich
sicher, dass alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Rechnung kommen und
vom Unterricht profitieren. Oder würden Sie sich von einem Arzt behandeln
lassen, der lediglich über einen Hammer verfügt? Er würde Sie zwangsläufig für einen Nagel halten.
Michael Felten formuliert es so: «Der
eine Lehrer macht zu viel langweiligen
Frontalunterricht, der andere zu oft
ineffektive Freiarbeit, ein dritter zu
häufig Gruppenarbeit auf banalem
Niveau. Ein angemessener Mix – mit
jeweils hochwertigen Anteilen – bleibt
eine beständige Aufgabe für uns Lehrer.»11
Was darf es denn kosten?
Der Weiterbildungsindustrie gelingt
es regelmässig, Selbstverständlichkeiten dermassen spektakulär aussehen
zu lassen, dass sie mit Erfolg als bahnbrechende Innovationen verkauft
werden. Dieses Marketing hat seinen
Preis. Während das AVS bei der Investition in die Fachlichkeit zu oft knausert12 , stellt es für Schulentwicklungsprojekte üppige Beträge zur Verfügung.
Im Rahmen des Programms «Schulen
besuchen Schulen» reisen zur Zeit ganze Kollegien quer durch die Schweiz.
Der Auftrag dabei lautet: Lasst euch
von innovativen Schulen inspirieren!
Den interessierten Besucherinnen und
Besuchern werden dabei ausschliesslich folgende Unterrichtskonzepte präsentiert:
die Einrichtung der neu geschaffenen
Räume schlagen mit zusätzlichen Millionenbeiträgen zu Buche.
• selbständiges Lernen in Lernlandschaften
• individuell gesteuertes Lernen in
Lernateliers
• reflektierendes Lernen mit Hilfe von
Lernjournalen und Lerncoaches
• und natürlich kooperatives Lernen in
Gruppen.
Der Film «Dirty Dancing», der dem eingangs erwähnten Mambo zum Durchbruch verholfen hatte, gehört zu den
erfolgreichsten Low-Budget- Produktionen der Filmindustrie. Mit nur fünf
Millionen Dollar Produktionskosten
spielte er 214 Millionen ein.13 Man darf
gespannt sein, wie viel die «neuen»
Unterrichtskonzepte «einspielen» werden. Klar ist jedoch, dass es sich hierbei nicht um eine Low-Budget-Produktion handelt.
Diese Konzentration auf eine einzige
Unterrichtsphilosophie mit Stossrichtung Selbstorganisation und Individualisierung lässt sich der Kanton eine
Stange Geld kosten. Die folgende Aufstellung verdeutlicht, welche Beträge
in die Erstellung von sogenannten pädagogischen Profilen an den einzelnen
Schulstandorten fliessen.
Wenn nur zehn Schulen im Kanton ihre
Schule auf diese Art entwickeln, kostet
das die Steuerzahler immerhin eine
Viertelmillion. Die Folgekosten für die
allfällige bauliche Anpassungen und
Abschliessende Fragen …
• Wie kommt es, dass um eine einzige
Lehr- und Lernmethode über Nacht
ein derartiger Rummel entstanden
ist?
• Wie ist es möglich, dass sich eine einzige Beratungsfirma sprunghaft an
die Spitze der Weiterbildungsindustrie setzen konnte?
• Wie lässt sich erklären, dass dieselbe
Firma den Schulleitungen auch gera-
35 LP
20 LP
10'500
6'000
1'050
600
Weiterbildung
Einführung in das Kooperative Lernen
Kurskosten für 2 Tage
8'400
4'400
Weiterbildung extern à 2 Tage
Pädagogische Kooperation umsetzen
Pädagogisches Profil definieren
Kurskosten
Seminarhotel
8'400
6'300
4'400
3'600
34'650
19'000
Schulen besuchen Schulen
Kosten für die Stellvertretungen
Annahme: 3 Lektionen pro Lehrperson
Reisespesen:
Annahme: 30 CHF pro Lehrperson
Total
2014/15-03
37
de die entsprechenden Evaluationsinstrumente zur Verfügung stellt,
mit welchen die korrekte Anwendung der von ihr vermarkteten Produkte überprüft werden kann?
• Weshalb investiert der Kanton so
kräftig in diese Produkte?
… und Fakten
• Ende 2013 hat das AVS die Schulleitungen flächendeckend mit der Broschüre «Pädagogische Kooperation»
ausgestattet. Obwohl der Bildungsdirektor nach vier Monaten zähen
Nachbohrens öffentlich klargestellt
hat, dass es sich dabei «in keiner
Weise um eine Vorgabe des Kantons
oder eine verbindliche Instruktion
handelt»14 , werden Schulen an mehreren Standorten ganz im Geiste dieser Broschüre umgestaltet.
• Der Verband Schulleiterinnen und
Schulleiter Schweiz VSLCH (http://
www.vslch.ch) macht auf seiner Website keinen Hehl daraus, dass er in
«Kooperation» (sic!) mit der oben
erwähnten Beratungsfirma Weiterbildungsseminare anbietet.
• Unter den Beraterinnen und Beratern finden sich Ex-Schulleiterinnen
und -Schulleiter, welche an ihren
ehemaligen Schulen die genannten
Unterrichtskonzepte bereits zum
Mass aller Dinge erklärt haben.
• Und ebendiese Schulen werden im
Rahmen des vom Kanton finanzierten Projektes «Schulen besuchen
Schulen» rege besucht.
1
http://methodenpool.uni-koeln.de/werkstatt/
werkstatt_begruendung.html
2
http://www.mittelschulvorbereitung.ch/
contentLD/DE/Div40WerkstattFl.pdf
3
aufgrund eines selbstauferlegten Werbever-
bots wird der entsprechende Link nicht
angegeben
10
Als soziales Faulenzen – social loafing – be-
zeichnet man in der Psychologie die Tendenz
der Menschen, sich in Gruppen weniger
anzustrengen, um ein gemeinsames Ziel zu
erreichen, als wenn sie allein dafür verantwortlich sind. http://lexikon.stangl.eu/4851/
soziales-faulenzen/
4
dito
11
5
Klaus Zierer, Übersetzer der deutschen
tenzen allein erarbeiten?, www.zeit.de/
Michael Felten, Sollen Schüler ihre Kompe-
Ausgabe der Hattie-Studie «Lernen sichtbar
gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/unterricht-
machen», http://visible-learning.org/de/
freiarbeit-frontalunterricht-gruppenarbeit
kritik-an-der-hattie-studie-visible-learning/
6
Georg Lind, Psychologe, http://visible-lear-
12
Michael Weiss, http://www.lvb.ch/docs/
magazin/2014_2015/02-Dezember/08_Ideolo-
ning.org/de/kritik-an-der-hattie-studie-visible-
gie_statt_Fachlichkeit_LVB_1415-02.pdf
learning/
13
7
Hans Brügelmann, Grundschulpädagoge,
http://www.planet-wissen.de/sport_freizeit/
tanzen/gesellschaftstanz/portraet_dirtydan-
http://visible-learning.org/de/kritik-an-der-
cing.jsp
hattie-studie-visible-learning/
14
8, 9
Georg Lind, http://www.uni-konstanz.de/
ag-moral/pdf/Lind-2013_meta-analysen-alswegweiser.pdf
http://www.baselland.ch/fileadmin/
baselland/files/docs/ekd/mitekd/mitbksd_2014-09-01_schreiben.pdf
38
Die Fleischkäsewerkstatt
Nach Lorenz Derungs (www.mittelschulvorbereitung.ch)
Die pädagogische Legitimierung der jeweiligen Postenarbeit ist kursiv dargestellt.
1.
Entscheide dich zuerst, ob du den Fleischkäse zeichnen, beschreiben, essen oder jemandem
schenken willst. (Individualisierungsphase)
2.
Halte ein Stück Fleischkäse nahe an dein Ohr. Berichte uns dann, was du hörst. (audiokognitives Verbalisieren)
3.
Zähle die Löchlein auf deinem Fleischkäse. (additiv-kalkulatorisches Zahlenverständnis festigen, Follow-up der Mathematisierwerkstatt «Natürliche Zahlen von 1 bis 100 in der konventionellen Reihenfolge ordnen»)
4.
Schliesse die Augen und versuche, zuerst durch Tasten, dann durch Riechen zu erkennen,
was sonst noch auf deinem Teller liegt. Halte das Ergebnis schriftlich fest. (Selbstbeurteilung
der taktilen und nasalen Imaginationskompetenz)
5.
Plane selber eine Exkursion in den Garten mit dem Ziel, zwei kleine Ästchen zu beschaffen.
Führe diese Exkursion aus. In einer nächsten Phase versuchst du dann, nach Art der Chinesen den Fleischkäse zu essen. Formuliere deine Erfahrungen in einem Bericht. (Multikulturalisierungsintention)
6.
Falte eine Scheibe Fleischkäse zweimal und schneide daraus einen Scherenschnitt. (Simulation einer manuellen Werkstatt)
7.
Lege je eine Portion Fleischkäse an die Sonne und an den Schatten. Beobachte eine Stunde
lang genau. Liste deine Beobachtungen in einer tabellarischen Darstellung auf. Welche
Gesetzmässigkeiten kannst du feststellen? (Hermeneutisches Prinzip)
8.
Schneide aus einer dünnen Tranche Fleischkäse einen Kreisring, wobei r = 7mm und
R = 60mm sei. Falls du nun die dazu verbrauchte Menge Fleischkäse berechnen möchtest,
benötigst du die Formel A = π(R2 – r2). Die Dichte von Fleischkäse ist 1.234 g/cm3. Wenn du
aber lieber mit dem Computer arbeitest, schiebe die Scheibe Fleischkäse in das CD-ROMLaufwerk. Versuche dann, alle mit dem Suchwort «Fleischkäse» bei «Googus» gefundenen
Einträge auf die Scheibe zu brennen. (Virtualisieren von Realien)
9.
Überlege, warum es wohl Fleischkäse und nicht Käsefleisch heisst. (Fächerübergreifendes
Moment)
10.Informiere
dich in der Klasse, wer eine Hauskatze und wer ein Zwergkaninchen besitzt.
Lege nun zuerst einer Katze, dann einem Kaninchen das Stück Fleischkäse vor. Berichte
vom unterschiedlichen Verhalten des Karnivoren (Katze) und des Herbivoren (Kaninchen).
Informiere dich nun weiter in der Klasse, wer Vegetarier ist. Wiederhole dann den Versuch,
indem du das Stück Fleischkäse zuerst dem/der fleischfressenden, dann dem/der fleischverachtenden KameradIn vorsetzt. Lässt sich eine Analogie finden? (anthropomorphistischer
Behaviorismus)
11.Verstecke den Fleischkäse irgendwo im Gruppenraum. Rufe dann «Where is the beefchee-
se?» Ist ein Unterschied im Verhalten derjenigen festzustellen, die in einem teuren Lernstudio das Frühenglisch besucht haben? (Active Immersion Transfer)
2014/15-03
39
12.Nimm
deinem Nachbarn unbemerkt den Fleischkäse aus dem Teller und ersetze ihn durch
deinen rechten Schuh. Beschreibe die Reaktion. Notiere, was er sagt. (Get together Feldexperiment)
13.Stecke
deine Gabel in den Fleischkäse. Miss nun mit dem Transporteur den Einstichwinkel
und vergleiche mit deinen Kameraden. Ist ein signifikanter Unterschied zwischen Rechtsund Linkshänder festzustellen? (psychologisierende Geometrisierfähigkeit)
14.Iss
fünf Kilo Fleischkäse. Arbeite nun, wenn du ein Mädchen bist, mit einem Jungen, oder
wenn du ein Junge bist, mit einem Mädchen zusammen. Versuche so herauszufinden, ob
dem Schwein, bevor es zu Fleischkäse verarbeitet wurde, männliche oder weibliche Hormone verfüttert worden waren. (praktizierter Sexualkundeunterricht)
15.Stelle
das Fleischkäse-Essen pantomimisch dar. (Identifikationsmöglichkeit im Rollenspiel)
16. Beobachte
genau, wie dein Gegenüber isst. Schildere in kurzen Sätzen. Vermeide Wörter
wie schmatzen, rülpsen, reinhauen, schlingen, schlürfen, vollschlagen oder gar fressen,
weil diese deine Kameradin oder deinen Kameraden verletzen könnten. (Einführung der
Political Correctness)
17.Stelle eine Schreibung mit dem Titel «Ich bin ein Fleischkäse» her. (Follow-up der Alphabe-
tisierungswerkstatt «Buchstaben sicher erkennen»)
PIXABAY
40
Perlenfischen
Perle 3: «Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt»
«Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt» – so lautet der Titel von Perle 3, einem Interview mit
Markus Möhl, Unternehmer und Präsident der Berufsschule Lenzburg, welches in der «Aargauer
Zeitung» vom 15. Januar 2015 abgedruckt wurde.
«Bildung, wie sie an der Volksschule vermittelt werden
muss, wird zum sinnentleerten Selbstzweck, weil sie in der
Praxis nicht mehr nutzbar ist. […] Nicht die Schule läuft
falsch, sondern die Vorgaben für die Bildung zielen nicht
auf die Lebens- und Wirtschaftstauglichkeit der Jugendlichen. Das Bildungssystem orientiert sich heute weitgehend
am einzelnen Kind und seiner individuellen Förderung. Das
ist grundsätzlich richtig und sozial. Doch mit steigender
Schülerzahl sind Lehrkräfte mit den zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen kaum in der Lage, Hochbegabte,
Verhaltensauffällige und Lernzielbefreite individuell zu
fördern. […] Wir haben heute häufiger Lehrlinge im Betrieb, die nach der Sekundarschule die Grundrechenoperationen nicht können, nicht wissen, was eine Summe ist, für
den Zahlenbereich über 10 den Taschenrechner brauchen
und ernst zu nehmende Schreib- und Lesedefizite aufweisen. Zudem sind immer mehr Jugendliche nicht mehr belastbar. […] Durch individuelle Lernziele und vermehrt
selbstgesteuertes Lernen erleben sie kaum, was Scheitern
bedeutet. […] In der Lehre und der Berufsschule werden
sie dann mit der Realität […] konfrontiert. Das führt in den
Lehrbetrieben immer wieder zu Schwierigkeiten. Mit der
Individualisierung werden grundsätzlich die Interessen des
Einzelnen über das Wohl der Gesellschaft gesetzt. Das fördert den Egoismus und schadet letztlich allen. […] Nun soll
auch im Aargau der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt
werden. Schüler mit einem Handicap können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden sämtliche Leistungen relativiert. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil
er seine Leistung ohne Hilfsmittel erbringen muss. […] Wir
HEINZ ANTON MEIER
2014/15-03
41
wissen als Abnehmer nicht mehr, was ein Sekundarschüler
mit einem Schnitt von 5,0 wirklich kann. Was bleibt, ist der
Eignungstest. Er ist heute bei vielen Firmen die Regel. An
der Berufsschule müssen Lernateliers eingerichtet werden,
wo Stoff vermittelt wird, der eigentlich an die Volksschule
gehört. Anspruchsvollere Berufe wie etwa Elektriker haben
Durchfallquoten an den Lehrabschlussprüfungen im Bereich von 30 Prozent. […] Die Maturitätsquote im Aargau
ist in den letzten Jahren gestiegen. Nachdem die Jugendlichen nicht automatisch intelligenter werden, kann eine
Erhöhung der Quote nur bedeuten, dass man die Eintrittshürden und die Ansprüche senkt. Und wenn mittelmässige
Schüler an die Kanti gehen, dann sinkt auch das Niveau in
den Berufsschulen. Und die Matur ist in der Regel ja nicht
das Endziel: Die Maturanden drängen an überfüllte Hochschulen und belegen zu Hunderten Studienrichtungen wie
«Internationale Beziehungen», für die ein Markt fehlt. Der
Zusammenhang zwischen Maturitätsquote und Jugendarbeitslosigkeit wurde ja bereits nachgewiesen. Andererseits
wird es immer schwieriger, schulisch gute Jugendliche zu
finden, die einen Beruf lernen wollen. […] Ich glaube, die
aktuellen bildungspolitischen Reformen gehen von einem
idealisierten Menschen- und Gesellschaftsbild aus. Es ist
auch im Jahre 2015 kaum so, dass alle Schülerinnen und
Schüler gerne zur Schule gehen, gern lernen, sich selber
Ziele setzen, selber einen Sinn in dem sehen, was sie machen und lernen. […] Nehmen wir die Praxis als Massstab,
stellen wir noch vor der Einführung des Lehrplans 21 fest:
Die Schüler verfügen zwar über vielfältige Kompetenzen,
aber es mangelt an den «Basics». Wir brauchen Jugendliche, die rechnen und schreiben können. […] Was theoretisch wunderbar tönt, in der Praxis aber nicht umsetzbar
und anwendbar ist, ist weder sozial noch gerecht. Das gilt
für die Lehrerbildung, die Lehrtätigkeit auf allen Stufen,
die Schule und die Jugendlichen.»
Weitere Perle auf S. 52
42
Lehrplan 21 und die Frage: Schweizer Schule – quo vadis?
Dritter Teil und letzter Teil eines dreiteiligen Gastbeitrags von Dr. phil. Beat Kissling; Psychologe, Erziehungswissenschaftler, Kantonsschullehrer und Beirat der «Gesellschaft für Bildung und Wissen»
Kurzer Rückblick
Im ersten Teil des Gastbeitrags wurde
zunächst danach gefragt, warum die
Schweizer Schulen während der letzten 25 Jahre einer laufenden Reformkaskade unterworfen wurden, obwohl der Schweiz noch 1989 in einem
OECD-Bericht viel Anerkennung und
Lob für die hohe Qualität ihres Bildungswesens ausgesprochen worden
war.
Die entscheidenden Fragen
Der Lehrplan 21 hat viele kritische Fragen zur Stossrichtung der aktuellen
und zukünftigen Schulentwicklung
aufkommen lassen. Zwischenzeitlich
sind daraus in verschiedenen Kantonen Volksinitiativen gegen die Einführung dieses Lehrplans hervorgegangen, die von Eltern und Lehrpersonen
lanciert worden und teilweise bereits
zustande gekommen sind. Dieser dreiteilige Gastbeitrag hat zum Ziel, der
verbreiteten Skepsis eine Stimme zu
geben, indem genauer ausgeleuchtet
wird, was von diesem nationalen Einheits-Lehrplan 21 für die Zukunft der
Schweizer Volksschule zu erwarten ist.
Im Kern soll zwei wesentlichen Fragen
nachgegangen werden:
• Ist damit zu rechnen, dass für Schule und Unterricht ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel stattfinden soll?
• Entspricht der mit dem Lehrplan 21
einzuschlagende Weg den Vorstellungen der Schweizer Bevölkerung,
die sich 2006 mit Annahme des Bildungsrahmenartikels für eine gewisse Harmonisierung der kantonal verantworteten Schulsysteme aussprach
(letztlich die zentrale Argumentation der Lehrplan-21-Promotoren)?
Anschliessend wurde das Geheimnis
dieses international anerkannten Erfolgs dargelegt: nämlich die Gestaltung des Unterrichts auf der Basis eines Menschenbildes, das Lehren und
Lernen als hochgradig sozial vermitteltes, wertebasiertes Geschehen auffasst, sowie die besondere Disposition
von uns Menschen zur «geteilten Intentionalität», zur gemeinsamen Zuwendung zu einer Sache und somit zur
interaktiven Zusammenarbeit in Klassen. Weiterhin wurde aufgezeigt, dass
dieses interpersonale Verständnis von
Unterricht, welches von entsprechend
geschulten Lehrpersonen umgesetzt
wurde, auf der langen europäischen
Bildungstradition fusst.
Vor dem Hintergrund dieser Erfolgsgeschichte unseres Schulwesens (nicht
nur der Volksschulen) erörterte der
zweite Teil des Gastbeitrags die Frage
nach der Bilanz der letzten 25 Reformjahre und dem aktuellen Zustand des
Schweizer Volksschulwesens. Diverse
Hiobsbotschaften aus Schulen, schulpsychologischen Diensten, Pädagogischen Hochschulen, Kinderarztpraxen
und kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten haben Zweifel aufkommen lassen, ob mit unserer Jugend in der Schule wirklich alles noch
zum Besten steht.
Als weitere problematische Entwicklung wurde der Wandel der früher
volksnahen demokratischen Schulaufsicht (Schulpflegen, -räte, -kommissio-
nen) zu einer Topdown-Steuerung der
Schulen durch eine kleine Verwaltungselite angesprochen. Dieser Wandel hat dazu geführt, dass Bürgerinnen und Bürger heute grösste Mühe
haben, die Vorgänge in ihrem Schulwesen zu verstehen.
Wie weiter thematisiert wurde, hat
sich der Entdemokratisierungstrend
während der 1990er Jahre in verschiedenen Entwicklungen fortgesetzt:
zunächst «dank» dem Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor mit seiner Ökonomisierungskur für das
Schweizer Schulwesen, dann durch
den Anschluss der Schweiz an das utilitaristisch orientierte Bologna-Hochschulsystem und schliesslich durch die
buchstäbliche Unterwerfung des
Schweizer Volksschulwesens unter das
OECD-Programm der PISA-Studien.
Sämtliche «Reformen» oder Neuorientierungen dieser Art geschahen praktisch immer an Parlament und Volk
vorbei. Diesen Vorgang hat Hans Zbinden, renommierter SP-Bildungspolitiker und -experte, nachdrücklich aufgezeigt; auf ihn wurde mehrfach Bezug genommen. Auch die Darlegung
des realen Inhalts des Bildungsrahmenartikels (2006) offenbarte, dass
die Schweizer Bevölkerung keinen
nationalen Bildungsstandards und
keinem Lehrplan 21, sondern einer geringfügigen formalen Angleichung
der kantonalen Bildungssysteme zugestimmt hat.
Der letzte Teil dieses Beitrags geht
nun auf die Kernaspekte von Theorie
und Praxis im Lehrplan 21 konkret ein.
Manches, was bislang angedeutet
wurde, soll nun vertieft beleuchtet
werden, damit die beiden Ausgangsfragen beantwortet werden können.
Wozu die ominöse Kompetenzorientierung?
Wer auf irgendeiner Ebene des Schul-
2014/15-03
43
Begründet wird [...] die Notwendigkeit, Kompetenzen als standardisierte Indikatoren von Schülerleistungen zur Norm zu erheben
(siehe die Worte Reussers), um das «träge Wissen» loszuwerden,
das bis anhin in den Schulen gelehrt worden sei.
wesens tätig ist, weiss um die besondere Bedeutung des Schlagwortes
«Kompetenzorientierung». Kein neuer Lehrplan wird heute auf irgendeiner Stufe des Bildungswesens erstellt,
ohne die «Kompetenzorientierung»
zur unabdingbaren Grundlage, zum
eigentlichen «didaktischen Leitbegriff»1 zu erklären. Offenbar verbirgt
sich dahinter ein wesentlicher Kern
des Lehrplans 21, vielleicht auch schon
seiner Vorgeschichte.
Tatsächlich bestätigt Kurt Reusser,
Präsident des Fachbeirats zum Lehrplan 21 und Professor für Pädagogische Psychologie und Didaktik in
Zürich, denn auch seine besondere
Relevanz: «Die Idee der Kompetenzorientierung ist zwar keineswegs
neu, sondern folgt aus der Überlegung, dass Schule nicht träges Buchwissen, sondern auch in Alltagssituationen anwendbares Wissen vermitteln
soll. Dennoch ist eine konsequente
Kompetenzorientierung kennzeichnend für einen grundlegenden Reformprozess im Bildungssystem.»2
An dieser Aussage ist besonders interessant, dass die Kompetenzorientierung direkt zusammenhängt mit der
Eliminierung vieler Inhalte, die bisher
im Curriculum der Lehrpläne enthalten waren, zugunsten von direkt nutzbarem Alltagswissen. Ausserdem
macht Reusser klar, dass die Kompetenzorientierung die treibende Kraft
hinter den aktuellen Reformvorgängen (nicht erst beim Lehrplan 21) ist.
Das Paradoxe ist nur, dass kaum jemand im Bildungswesen in der Lage
ist, präzise den Kompetenzbegriff
überhaupt zu definieren. Er erhält den
Charakter eines Containerbegriffs. Im
Zweifelsfall wird immer auf die Definition des deutschen Erziehungswissenschaftlers Franz Weinert verwiesen.
Diese ist jedoch so schwer fassbar, dass
sie keine wirkliche Klärung ermöglicht.
Im deutschsprachigen Raum hat Kompetenz eine positive Konnotation,
nämlich als eine Fähigkeit, die auf
komplexen Voraussetzungen aufbaut,
und zwar auf Schulung, Sachkenntnissen, Erfahrung usw. Man spricht von
einem Arzt, Handwerksmeister oder
Musiker mit einer hohen fachlichen
oder künstlerischen Kompetenz, von
einem Politiker mit einer besonderen
rhetorischen Kompetenz, von einem
Rektor oder Manager mit einer eindrücklichen Führungskompetenz usw.
Wohl niemand würde von einer Kompetenz sprechen in Bezug auf Tätigkeiten wie Stühle aneinanderreihen,
einen Kochlöffel rühren, die Türe öffnen, sich die Schuhe anziehen zu können usw., da es sich hierbei um simple
Fertigkeiten handelt, die sich jeder
Mensch ohne grossen Aufwand im
Laufe seiner Kindheit beiläufig aneignet.
Wenn man nun der Frage genauer
nachgeht, woher Kompetenz als «didaktischer Leitbegriff» stammt und in
unser reformorientiertes Bildungsverständnis eingeflossen ist, findet man
in sämtlichen Publikationen, die darauf eine Antwort geben, den Hinweis
auf die PISA-Studien (ab 2000), was
bedeutet, dass er von der OECD herstammt. In den Erläuterungen zu PISA
ist allenthalben die Rede von Kompetenzen bzw. Kompetenzstufen, die
durch die internationalen PISA-Tests
überprüft würden. Begründet wird
dort die Notwendigkeit, Kompetenzen als standardisierte Indikatoren
von Schülerleistungen zur Norm zu
erheben (siehe die Worte Reussers),
um das «träge Wissen» loszuwerden,
das bis anhin in den Schulen gelehrt
worden sei.
Kompetenzorientierung: Inhalte
schwinden, Fachlichkeit dämmert!
Somit muss davon ausgegangen werden, dass mit der Kompetenzorientie-
rung der Unterricht in unseren Schulen inhaltlich wesentlich reduziert und
banalisiert wird. Denn selbstverständlich ist vieles, was in der Schule gelehrt
wird, nicht ständig im Alltag direkt
nutzbar zu machen und doch grundlegend, um immer komplexeres Wissen und anspruchsvollere Fähigkeiten
aufzubauen.
Zur Einsicht, dass die Konsultationsversion des Lehrplans 21 mit dieser
neuen Kompetenzorientierung einen
frappanten Bildungsabbau beinhaltete, waren viele verschiedene Lehrkräfte und Fachschaften, die genauer hinschauten, gelangt. Sie stellten fest,
dass im Vergleich zu den alten Lehrplänen die Anforderungen an die
Schüler eines Jahrganges enorm aufgeweicht und sogenannte Minimalkompetenzen formuliert worden waren, die teilweise fast peinlich erschienen.
In der neuen, überarbeiteten Version
wurden angesichts der lauten Kritik
diesbezüglich einige Modifikationen
vorgenommen, zum Beispiel die Reduktion der zu erreichenden Kompetenzen von über 4000 auf rund 400.
Die Frage ist nur, ob diese Modifikationen überhaupt relevant sind, solange die grundsätzliche Kompetenzorientierung als solche bestehen bleibt.
Zum «trägen Wissen» (Wortlaut der
OECD und Kurt Reussers) scheinen
auch die Inhalte der Fachdisziplinen
im Lehrplan 21 zu zählen, also der Wissensaufbau, der notwendig ist, um
einen soliden Zugang zu einer Disziplin zu erhalten. Traditionelle Fachdisziplinen wie Geografie und Geschichte
wurden zu bunten Gefässen wie «Räume, Zeiten, Gesellschaften» zusammengemischt – paradoxerweise ohne
einen sorgfältigen Aufbau in jedem
Fachbereich zu gewährleisten, aber
mit hochtrabenden Kompetenzansprüchen versehen, die vollkommen
44
HEINZ ANTON MEIER
jenseits der Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler liegen.
Um ein Beispiel exemplarisch herauszugreifen: «Die Schülerinnen und
Schüler können die Entstehung der
Schweiz schildern und in einen europäischen Zusammenhang stellen (insbesondere unter Berücksichtigung von
Demokratie und politischen Prozessen).»3 Gerne würde man fragen, wie
viele Erwachsene in der Schweiz – ob
Akademiker oder nicht – in der Lage
wären, diese Kompetenz sachlich fundiert zu erbringen. Der Lehrplan
strotzt vor solchen Kompetenzansprüchen, sodass für jede erfahrene Lehrperson der Schluss evident ist, dass
hier eine grosse Diskrepanz zwischen
«Sein und Schein» etabliert wird.
Ein auf Gymnasialniveau unterrichtender Kollege, ein Historiker, hat nach
der Lektüre dieses Themengefässes im
Lehrplan 21 mit Blick auf sein Fachgebiet Geschichte konstatiert:
• sämtliche Inhalte würden gegenüber der Erarbeitungsmethode zurücktreten;
• die Auswahl an Themen erscheine
für einen Historiker vollkommen
willkürlich;
• das Geschichtsbild, das mit dem intendierten Unterricht vermittelt werde, sei zusammenhanglos;
• kein fachbezogenes, systematisches
Herangehen werde ersichtlich;
• kein Sinn für die Grundelemente der
Wissenschaftlichkeit könne auf diese Weise bei den Schülern aufgebaut werden.
Als Bilanz darf man sich fragen, wie
viele Schülerinnen und Schüler nach
Abschluss der Volksschule mit einem
Lehrplan 21 noch einen guten Anschluss an eine weiterführende Schule
bzw. Ausbildung finden können,
wenn es ihnen auf der ganzen Linie an
fachlich konsistentem Wissen fehlt.
Kompetenzorientierung: der
Schlüssel zur Test«kultur»
Es ist fraglich, dass der primäre Sinn der
Kompetenzorientierung tatsächlich im
Ziel begründet sein soll, prinzipiell
möglichst alle Inhalte loszuwerden.
Viel naheliegender ist der Schluss – insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass es die OECD über die
PISA-Studien war, die diese Umorientierung der Lehrpläne und der Unterrichtskultur auf Kompetenzen veran-
lasst hat –, dass die «Entrümpelung»
der Lehrpläne von wesentlichen Inhalten als Folge der Kompetenzorientierung vor allem einem Ziel dient: der
Standardisierung des schulischen Lernens, um Vergleichbarkeit zwischen
Schülern, Klassen, Schulen und Ländern mittels Tests überhaupt erst herzustellen.
Die Informationsseite des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung in Berlin bestätigt diesen Verdacht zu den
Zielen der PISA-Studien: «Mit PISA
wollen sich die Teilnehmerstaaten regelmässig ein Bild davon machen, wie
gut es ihren Schulen gelingt, Schülerinnen und Schüler auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Im Mittelpunkt steht dabei weniger
das Faktenwissen der Jugendlichen,
PIXABAY
Kompetenzorientierung: der Schlüssel zur Test«kultur»
2014/15-03
45
sondern es werden Basiskompetenzen
untersucht, die in modernen Gesellschaften für eine Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben notwendig sind. Es
wird gefragt, inwieweit Jugendliche
diese Kompetenzen erwerben.»4 Was
hier fehlt, ist die ausdrückliche Erwähnung, dass die Testresultate zum Abschneiden von Schülern eines Landes
natürlich vor allem in Rankingplätzen,
also im Vergleich, ausgedrückt werden.
Es leuchtet ein, dass bei mittlerweile
65 OECD-Ländern, die an den PISAStudien (Ländervergleichstests) beteiligt sind, Vergleiche überhaupt nur
schwerlich vorgenommen werden
können. Schon bei sehr viel weniger
Ländern stellt sich die Herausforderung, wie ein Test konzipiert werden
kann, der angesichts der höchst unterschiedlichen, nicht kompatiblen Bildungstraditionen brauchbar (im Sinne
von repräsentativ) ist.
Die logische Lösung, um alle sozusagen «über einen Leisten schlagen» zu
können – darum geht es schlussendlich –, besteht darin, inhaltsneutrale
(unabhängig von Kultur und Geschichte der Länder) und möglichst einfache,
leicht in Testaufgaben umsetzbare
Fähigkeiten und Fertigkeiten als Ziel
von Unterricht zu definieren. Dies sind
eben Kompetenzen.
Somit ist klar, dass dieses PISA-inspirierte Verständnis von Kompetenzen
nicht jenem differenzierten Verständnis entsprechen kann, das im deutschsprachigen Raum besteht. Die kompetenzbasierten Testaufgaben können,
um ihren Sinn zu erfüllen, lediglich
formalistische Fertigkeiten prüfen
oder müssen so geartet sein, dass deren Lösungen aus dem Text oder beiliegendem Material mit einer gewissen Lesefertigkeit herauszulesen sind
(für gute Schülerinnen und Schüler
sehr irritierend, weil sie verständnislos
nach komplexeren Lösungsanforderungen suchen).
Da Testkulturen in Europa kaum eine
Tradition haben und die öffentlichen
US-Schulen, die damit schon sehr lange «beglückt» werden, in Europa
nicht gerade ein hohes Ansehen geniessen, drängt sich die Frage auf, wie
es dazu kam, dass hier ein tatsächlicher Paradigmenwechsel hin zu Tests
initiiert werden konnte. Sehr vieles
spricht dafür, dass es der sogenannte
PISA-Schock (die «Bildungskatastrophe») durch das internationale Ranking war, der viele Staaten angesichts
ihrer internationalen Blossstellung
daran hinderte, die Aussagekraft und
Validität der Tests zu hinterfragen und
sie stattdessen veranlasste, sich den
wiederkehrenden PISA-Testschlaufen
willig zu fügen.
Seither lässt sich – mancherorts offenbar auch mit einem gewissen politischen Kalkül – der bildungspolitische
Trend in vielen europäischen Ländern
beobachten, zunehmend PISA als
grundsätzlichen SchulentwicklungsMassstab zu adaptieren und in ihren
Schulen das «Teaching to the test» allmählich salonfähig zu machen – auch
in der Schweiz.
Die PISA-Betriebs-Governance:
Kompetenzen – Output –
Qualitätskontrolle – Monitoring –
Steuerung
Bisher ist klar geworden: Der eine vordringliche Sinn von Kompetenzorientierung als neuer didaktischer Leitbegriff ist die Etablierung einer ausgeprägten Testkultur nach dem Modell
PISA. Dies wird auch evident durch die
Umstellung der Bildungsarbeit auf
«Output»- anstelle von «Input»-Orientierung.
Auf Deutsch heisst dies: Hat man früher alle Bemühungen zur Optimie-
rung von Unterricht und Schule in die
Gewährleistung optimaler Lehrvoraussetzungen (also bestens ausgebildeter und unterstützter Lehrkräfte;
gut arbeitender Kollegien; hochstehender Lehrmittel; optimaler, selbst
gewählter Weiterbildungsmöglichkeiten; hilfreicher räumlicher Verhältnisse usw.) gelegt, dreht sich mittlerweile vorrangig alles um die sogenannte
«Qualität», die «gesichert» werden
müsse – und dies vor allem durch laufende Tests der Schülerleistungen
bzw. ganzer Schulen, das Etablieren
eines zertifizierten Qualitätsmanagements mit sogenannt professioneller
Steuerung, obligatorische Weiterbildungen im PISA-inspirierten Sinne
usw.
In verschiedenen Kantonen ist man
seit einigen Jahren mit Eifer daran gegangen, den Schüler-«Output» mit
einer ganzen Testkaskade «PISA-tauglich» zu machen. So veröffentlichte
das Amt für Volksschule des Kantons
St. Gallen 2014 ein «Strategiepapier
Lern- und Testsystem». 5 Darin werden
die «Lehrplan-21-kompatiblen Lernund Testsysteme» vorgestellt. Dazu
gehören folgende, altersspezifische
Varianten von Tests: «LernLOT», «Lernlupe», «Lernpass», «Stellwerk 8»,
«Stellwerk 9» und «Jobskills». Sie sollen mehrmals jährlich von der zweiten
bis zur neunten Klasse zur Anwendung kommen.
Bereits heute wird z.B. auf der Primarschulstufe von der zweiten bis zur
sechsten Klasse das Testverfahren
«Klassencockpit» 6 mehrmals pro Jahr
durchgeführt. Bis Ende Primarschulzeit bedeutet dies, dass jede Klasse
alleine für die Tests mehrere Tausend
Franken kostet. In allen Dokumenten
der verschiedenen Ämter findet sich
dieselbe Begründung für die Notwendigkeit dieser laufenden Tests im Rahmen der sogenannten Qualitätssicherung: «Bei der Sicherung und Entwick-
46
Qualitätssicherung hat allenthalben Konjunktur, ihr eigener Nutzen wird aber nie qualifiziert bzw. evaluiert.
lung von Schulqualität stellen Leistungsmessung im Verbund mit Qualitätsevaluation (Input, Prozess) ein
wichtiges Instrument dar. Sie messen
den Output.»7
ling-System, das die Menschen, sprich
die Lehrerschaft, unter Generalverdacht stellt, sie würden sich nicht
«weiterentwickeln» wollen ohne eine
gewisse Gängelung.
Das Konzept «Qualitätsmanagement»
für die Schule verdankt die Schweiz
vor allem den «Reformen» Ernst
Buschors in den 1990er Jahren, der es
nicht nur beim Umdefinieren von Unterricht und Bildung zu einem marktwirtschaftlichen Gut beliess, sondern
auch gleich noch die ganze Verwaltung konzerntauglich machte (New
Public Management). Seither wird es
bekanntlich jeder Schule topdown
verordnet, sich einer Qualitätsmanagement-Zertifizierung zu unterziehen, wodurch mittlerweile ein ganzer
Markt an privaten Qualitätsmanagement-Instituten entstanden ist, die
eine beträchtliche Menge an Steuergeldern verschlingen. Es gibt wohl in
der Schweiz kaum eine öffentliche
Schule mehr, die sich diesem neuen
Regime noch nicht hat fügen müssen.
In Finnland, dessen Schulleistungen
durch PISA regelrecht berühmt wurden, das aber auf solcherlei Testkultur
ausdrücklich verzichtet, wird das Gegenteil gemacht, nämlich der Lehrerschaft für ihre wertvolle Tätigkeit eine
besondere Wertschätzung entgegengebracht, indem ihr viel Vertrauen für
eigenständiges Arbeiten eingeräumt
wird. 8
Man fragt sich, wie die Schweizer
Schulen früher ohne dieses betriebswirtschaftliche, von privaten Profiteuren mentorierte Ökonomiekorsett
ausgekommen sind und sogar international höchst angesehen waren. Ein
interessantes Paradoxon darf hierbei
nicht unerwähnt bleiben: Qualitätssicherung hat allenthalben Konjunktur,
ihr eigener Nutzen wird aber nie qualifiziert bzw. evaluiert.
Der politische Sinn von Tests und Qualitätsmanagement wird offensichtlich,
wenn im Zusammenhang mit der
Schulentwicklung bzw. «-reform» die
entsprechend geschulten Verwaltungsbeamten vom «Monitoring» sprechen,
das für sie erforderlich sei, um zusammen mit der Politik das Bildungswesen
gut «steuern» zu können. Im Prinzip
geht es grundsätzlich um ein sehr umfassendes, hierarchisiertes Control-
Für die Schulpraxis bedeutet alles bisher Dargestellte nichts Gutes, zumal
offensichtlich eine Banalisierung der
Bildungsinhalte und somit der Bildung
überhaupt unausweichlich ist. Ebenso
fatal erscheint die zunehmende Bevormundung und Gängelung der Lehrpersonen. Leider umfasst die Kompetenzorientierung weitere Aspekte, die noch
Bedenklicheres zutage fördern, wenn
man die mit ihr proklamierte «Neue
Lernkultur» genauer ins Auge fasst.
Konstruktivistisch-systemtheoretische Pädagogik oder der Schüler
als «autopoietisches System»9
In den bisherigen Ausführungen wurde
immer wieder deutlich, dass der
«grundlegende Reformprozess» mit
Kompetenzorientierung etc. längst begonnen hat und nicht erst mit dem
Lehrplan 21 relevant wird. Deshalb
glaubt Kurt Reusser beteuern zu können, mit der neuen kompetenzorientierten Didaktik im Lehrplan 21 werde
es keinen speziell neuen Abbau der
Wissensvermittlung geben, noch eine
Entwertung der Rolle der Lehrperson
oder der Instruktion, noch einen didaktischen Paradigmenwechsel oder neues
Unterrichtsverständnis.10
In Wirklichkeit wird mit dem Lehrplan
21 die neue PISA-Schulnorm ausdrück-
lich ins scheinbare Recht gesetzt und
ermöglicht einen viel effizienteren
Hebel «von oben», den Reformprozess
zu beschleunigen und radikaler durchzusetzen. Zur Frage, was der Lehrplan
21 mit sich bringe, sagt Reusser: «Das
theoretisch breit akzeptierte, mit den
Leitideen der Kompetenzorientierung
im Einklang stehende kognitiv- und
sozialkonstruktivistische Verständnis
von Unterricht und Lernen wird durch
die neue Entwicklung eher noch verstärkt, als dass sich die Anforderungen
grundlegend änderten.»11
Im Klartext bedeutet dies: mit dem
Lehrplan 21 mehr freie Fahrt, mehr ungebremstes Agieren auch in der Lehrerbildung, wo die neue Generation
von Lehrkräften dann entsprechend
reformtüchtig getrimmt werden kann.
Mit seinem Hinweis auf die besondere
Rolle des Konstruktivismus und dessen
enge Verknüpfung mit der Kompetenzorientierung für die «Neue Lernkultur» spricht Reusser den letztlich problematischsten Kern des ganzen zur
Diskussion stehenden Reformprozesses an. Auch dieser von Reusser als zentral angeführter Begriff des Konstruktivismus wird in der Bildungsdebatte
schon seit langem so unscharf verwendet, dass für viele Lehrpersonen unklar
bleibt, was es eigentlich genau damit
auf sich hat.
Eigentlich ist der Konstruktivismus
eine erkenntnistheoretische Auffassung, die besagt, wir Menschen könnten die Wirklichkeit, so wie sie ist, niemals wirklich annähernd objektiv erfassen, sondern würden stets in
unserer subjektiven (also individuellen) Konstruktion von Wirklichkeit befangen bleiben. Es gibt gemässigte
Varianten des Konstruktivismus, die
eine gewisse zwischenmenschliche
Vermittlungsfähigkeit zur eigenen
Wahrnehmung der Wirklichkeit zulassen, die also übertragen auf Schule
2014/15-03
47
HEINZ ANTON MEIER
48
Gemäss Radikalem Konstruktivismus gibt es keinen Unterschied
zwischen einer wissenschaftlichen Erkenntnis und einer Alltagstheorie, sie können lediglich als Konkurrenztheorien gelten!
und Unterricht der Meinung sind,
durch Gedankenaustausch, durch Vermittlung seitens der Lehrperson, könnten die Schüler sich der Wirklichkeit
(gemeinsam) annähern, auch wenn
jeder stets ein Stück weit in seiner eigenen Vorstellungswelt verhaftet
bleibt.
Die Variante des Radikalen Konstruktivismus, insbesondere vertreten
durch die Psychologen Paul Watzlawick oder Ernst von Glasersfeld, den
Physiker und Kybernetiker Heinz von
Foerster oder die chilenischen Biologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana und Francisco Varela,
stellen die eigentliche Relevanz von
Realität jenseits der menschliche Konstruktionen von Realitäten und Welten (es gibt so viele wie Menschen) in
Abrede, da wir ohnehin keinen Zugang dazu hätten. Laut dieser Variante ist Vermittlung zwischenmenschlich
unmöglich und somit jegliche Art von
Instruktion (das, was man bisher unter
Unterricht im Wesentlichen verstand)
nicht nur falsch, sondern schon fast
Gewalt am Schüler.
Jeder Mensch sei ein lebendes «autopoietisches System», das sich laufend
selbst reproduziere und organisiere,
sprich in der Schule gänzlich seinen
ureigenen, nicht vermittelbaren Lernprozess voranbringen müsse. Aus Sicht
des Radikalen Konstruktivismus beinhaltet Lehren per se eine Arroganz
gegenüber dem «Belehrten», weil diesem ja die Sicht des Lehrenden aufgezwungen werde, wo doch er/sie eine
eigene Realitätskonstruktion vor Augen habe und deshalb nichts mit der
«Lehrerversion» anfangen könne.
Sieht man sich den unterrichtsreformerischen Trend innerhalb der aktuellen Schulentwicklung an, insbesondere ablesbar an dem, was an Pädagogischen Hochschulen und an Weiter- und
Fortbildungen gelehrt wird, sowie
anhand der neuen Lehrmittel für den
Lehrplan 21 oder auch angesichts von
ganzen Versuchsschulen, die unter allerlei reformpädagogischen Etiketten
«verkauft» werden (Gemeinschaftsschule, Mosaikschule etc.), so zeigt
sich, dass sich leider die radikale Variante des Konstruktivismus durchgesetzt hat.
Das ganze heutige Sammelsurium an
«Reformvokabular» – regelrechte Ikonen des «grundlegenden Reformprozesses» – werden plötzlich absolut
verständlich vor ebendiesem konstruktivistischen Hintergrund: Individualisierung; Binnendifferenzierung; Selbstgesteuertes oder Selbstreguliertes
oder Selbstorganisiertes Lernen; die
neue Lehrerrolle als Coach, Lernberater, -moderator, -partner, Lernprozessüberwacher etc. Die neue «Reformdidaktik» sieht ja vor, möglichst jegliche
Art von eigentlichem Unterricht im
Sinn von Lehre zu verbannen und
stattdessen ausschliesslich «Lerngelegenheiten» durch passende «Lernumgebungen» zu schaffen, also mit entsprechenden Lernprogrammen, Lehrmitteln, verschiedenen neuen Medien,
Kompetenzrastern, Lerntagebüchern,
Tests, Checklisten usw.
Der Kern des Ganzen besteht darin,
dass die Schüler als «autopoietische
Systeme» ihren «Lernprozess», mit Hilfe all dieser Selbstorganisations«Tools» selber steuern und verantworten müssen. Der Lehrperson fällt praktisch ausschliesslich eine Verwaltungsfunktion zu. Wenn noch von
Lehren überhaupt die Rede ist, dann
höchstens in dieser Weise: «Lehren ist
nicht die Vermittlung und Lernen
nicht die Aneignung eines extern vorgegebenen «objektiven» Zielzustandes, sondern Lehren ist die Anregung
des Subjekts, seine Konstruktionen
von Wirklichkeit zu hinterfragen, zu
überprüfen, weiter zu entwickeln, zu
verwerfen, zu bestätigen etc.»12
Anders formuliert: Unterricht beinhaltet neu die vollkommene Individualisierung (jeder sein eigenes Programm
verfolgend) im Schulzimmer, wo die
einzelnen Schülermonaden nur gelegentlich zusammen «driften» und ansonsten als «Selbstunternehmer» bzw.
«Prozessmanager» sich alleine an
Kompetenzrastern, Lernjobs, Lerntagebüchern usw. abarbeiten.
So gesehen ist Klassenunterricht, gemeinsames Lernen, ein Klären von
«korrekten» oder «falschen» Lösungen
problematisch, da ja ein Sachverhalt
aus Sicht des einen oder anderen ganz
verschieden beurteilt wird und niemand, zuletzt die Lehrperson, behaupten darf, ihr fachliches Urteil treffe zu.
Man muss sich vergegenwärtigen: Gemäss Radikalem Konstruktivismus gibt
es keinen Unterschied zwischen einer
wissenschaftlichen Erkenntnis und einer Alltagstheorie, sie können lediglich
als Konkurrenztheorien gelten!
Dass es sich bei diesen Ausführungen
nicht um eine persönliche, allenfalls
etwas zugespitzte Darstellung handelt, dokumentiert die Stellungnahme
aus dem berufenen Munde Hermann
Fornecks, Rektor der Pädagogischen
Hochschule Nordwestschweiz und zugleich Mitglied des Fachbeirats für den
Lehrplan 21. In seiner Replik auf ein
NZZ-Interview mit Roland Reichenbach, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, in
dem dieser das «Selbstgesteuerte Lernen» kritisch kommentierte und vor
allem auch problematisierte, die Pädagogischen Hochschulen würden diese
Form des Lernens fast schon als heilige
Offenbarung lehren, entgegnete und
erläuterte Forneck, bei dieser professionellen und innovativen Form des
Lernens würden die Lehrpersonen
«von den einfachen Wissensvermittlungs-Funktionen» entlastet und die
«stoffliche Vermittlung auf apersonale Medien übertragen.»13
2014/15-03
49
Natürlich wird diese konstruktivistische Didaktik bei den Lehrpersonen
niemals so radikal umgesetzt und auch
unter den Dozenten an den Pädagogischen Hochschulen wird nicht ungebrochen unisono Instruktion und die
Arbeit mit ganzen Klassen rundweg
verteufelt, aber insgesamt ist die
Marschrichtung trotzdem ziemlich dezidiert so vorgegeben.
Die reformierte Schulpraxis und
ihre Zukunft: schöne neue Welt
der «Chancengerechtigkeit»
Wie Unterricht heute schon und mit
dem Lehrplan 21 noch unerbittlicher
aussehen wird, schildert ein Lehrerkollege (selber auf Gymnasialstufe unterrichtend), dessen Tochter aktuell die
dritte Klasse einer Primarschule besucht: Der Lehrer seiner Tochter erteilt
der Klasse den Auftrag, individualisiert in ihren Übungsheften die Erweiterung des Zahlraums von 100 auf
1000 zu erarbeiten. Sie erhalten dafür
ein Übungsheft mit Aufgaben, anhand derer sie selbst den erweiterten
Zahlenraum entdecken sollen. Anstelle von kleinschrittig aufbauenden Rechenbeispielen handelt es sich in diesem Lehrmittel um lauter «Aufgaben-
PIXABAY
Konstruktivismus: Jedes Kind soll seinen
eigenen Weg finden.
stöckli», die ständig erfordern, dass
die Schülerinnen und Schüler neue
Lösungsstrategien erkennen bzw. selber erfinden müssen.
in den ersten Schuljahren den «Schulverleider» haben – ein Phänomen, das
früher äusserst selten zu beobachten
war.
Die Tatsache, dass die Lernenden in
den Lehrmitteln keine strukturierenden Aufgabenstellungen und so etwas
wie einen «roten Faden» finden können, was ihnen einen gewissen Halt
durch eine gut erkennbare Systematik
geben würde, sei explizit gewollt, sagt
mein Kollege. Die neue Didaktik verlange nach «offenen Aufgaben»14 , die
unterschiedliche Schwierigkeitsgrade
anbieten und verschiedene Lösungsideen zulassen würden. Dies entspricht
ganz dem konstruktivistischen Grundsatz, jedes Kind solle seinen eigenen
Weg (Konstruktion) finden, Aufgaben
zu lösen.
Es ist leicht nachvollziehbar, was diese
letztlich banalisierende und entpersonalisierende «Neue Lernkultur», die
auf dem ganzen geschilderten Reformarsenal aufbaut, bewirkt – bereits
ohne Lehrplan 21, umso schlimmer mit
ihm: Sehr gute Schülerinnen und Schüler (zumeist mit einem unterstützenden familiären Hintergrund) kommen
mit allem zurecht, selbst mit dieser
geistigen Isolierung und Vereinzelung,
die impliziert ist. Schon leistungsmässig lediglich gute bis mittelmässige
Schülerinnen und Schüler plagen sich
mit Motivationsproblemen, insbesondere wenn sie auf Schwierigkeiten stossen, nicht weiterkommen und nicht
ständig in der Lehrerkolonne anstehen
wollen.
Als dieser Lehrer seiner Klasse kürzlich
zu Wochenbeginn in Mathematik bis
zu 20 Seiten im Übungsheft zu lösen
aufgab, war sein Kommentar dazu:
«Jeder macht, soweit er kommt.» Tatsächlich überliess er die Schülerinnen
und Schüler – Drittklässler! – ihrem
Schicksal, selber während der Woche
mit der «individualisierten» Aufgabenstellung über die Runden zu kommen
– schliesslich sei es ja an ihnen, ihren
Lernprozess zu regulieren15 , d.h. dass
sie «ihre eigenen Lernstrategien entwickeln und anwenden und ihre Lernprozesse eigenständig überwachen und
regulieren» sowie darüber reflektieren
und sich letztlich selbst beurteilen sollen. Gerne würde man sich den Studenten zeigen lassen, der sein Studieren
auf diese Weise «reguliert».
Obwohl der besagte Kollege eine sehr
angesehene Lehrperson und seine
Tochter ein aufgewecktes und vifes
Mädchen ist, geht sie äusserst ungern
zur Schule, wie er mir nach dieser Schilderung betroffen gestand. Wen
wundert‘s! Sie steht stellvertretend
für viele Kinder, die heutzutage schon
Paradoxerweise nehmen die Promotoren dieser «Neuen Lernkultur» für sich
in Anspruch, eine besonders motivierende Form des Lernens umzusetzen,
wo durch Selbstverantwortung und
Selbsteinschätzung (also «Prozessmanagement») sozusagen von selbst ein
«Empowerment» stattfinde.16 Für die
schwachen Schülerinnen und Schüler
ist dieses «Lernsetting» in Wirklichkeit
schlicht eine Katastrophe, da sie komplett auf sich selbst, auf ihr Unvermögen und auf ihr fehlendes Zutrauen
zurückgeworfen sind. Sie arbeiten entweder nur dasjenige ab, was sie ohnehin schon können, produzieren viel
Leerlauf oder zappeln nervös herum
oder betätigen sich letztlich «auf der
negativen Seite». Für Letztere können
dann Kinderärzte Diagnosen und entsprechend sedierende Psychopharmaka bereitstellen.
Mit der konsequenten Umsetzung
dieser Unterrichtsform beginnt das
frühe Splitting in eine extreme Leis-
50
Die Schweizer Bevölkerung hat 2006 mit dem Bildungsrahmenartikel niemals auch nur im Ansatz dieser OECD-Schulkonzeption
zugestimmt, die geradewegs auf eine Zweiklassengesellschaft in
der Bildung hinführt.
tungsschere schon von der ersten
Klasse an. Bald gibt es dann die «Sonderbegabten», die als Elite besonders
gefördert werden und Klassen überspringen können – und andere, die
kaum bildungsfähig sind, da sie mit
dem «Selbstorganisierten Lernen»
nicht zurechtkommen und ihnen den
Wert von Bildung auch nicht mehr vermittelt wird.
Eltern, die es sich leisten können, geben zunehmend ihre Kinder in Privatschulen, wie dies in den angelsächsischen Ländern schon lange der Fall ist.
Dies ist der Weg in die schulische
Zweiklassengesellschaft – keine typische Errungenschaft der egalitären
politischen Kultur der Schweiz.
Gab es früher bei uns in gesellschaftskritischen Kreisen (68er) noch eine
breite Diskussion rund um die ungerechten unterschiedlichen Voraussetzungen, welche die Kinder von zuhause mitbringen (Stichwort Chancenungleichheit), und bemühte man sich
damals mittels «kompensatorischer
Erziehung» um mehr ausgleichende
Gerechtigkeit, also um eine Milderung
dieser Ungleichheit, oder standen die
unterschiedlichen Niveaus in der
Oberstufe in der Kritik, da sie die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft zementieren würden (alles Argumente einer echt sozial engagierten Linken), wird heute im Namen
eines weiteren kryptischen Begriffs,
nämlich der «Chancengerechtigkeit»,
der Entsolidarisierung der Gesellschaft der Weg geebnet, wie wir es
aus der US-Gesellschaft kennen.
Jedes Kind, jeder Jugendlicher soll sozusagen als Schmied seines eigenen
Glücks in der Schule den «Struggle for
life» beginnen und selber bestimmen,
wie viel ihm das Lernen wert ist, ob er
Tellerwäscher bleiben oder Millionär
werden will, um die verlogene Illusion
des «American dream» zu bemühen.
Darauf läuft die «Chancengerechtigkeit» hinaus, zumal jedem Kind theoretisch alle Karrierestufen offenstehen.
ebendiesem Reformarsenal an unseren Schulen implementiert worden.
Mit dem Lehrplan 21 würde all dies
sozusagen gänzlich sanktioniert.
Diese neoliberale Vision von Schule
erscheint sicherlich vielen Leserinnen
und Lesern masslos übertrieben, fast
einer Verschwörungstheorie gleich.
Tatsächlich lassen die Lehrpersonen
natürlich ihre Schülerinnen und Schüler trotz anderslautender Weiterbildung und Schulreform nicht kaltblütig
alleine mit ihren Schwierigkeiten – sie
hätten sonst wohl kaum den Pädagogenberuf gewählt. Und trotz «Neuer
Lernkultur» werden sie ihre Schüler
möglichst lange nachhaltig zu unterstützen versuchen – der gesunde Menschenverstand und das Engagement
für die anvertraute Jugend gebietet
dies.
Die Herkunft der ganzen pädagogisch-didaktischen (oder eher ideologischen) Konzeption, die im Lehrplan
21 enthalten ist, kann, wie z.B. wichtige verantwortliche Berater des Lehrplans 21 wie Kurt Reusser offen zugeben, wesentlich auf den Einfluss der
PISA-Studien und somit auf das Betreiben der OECD zurückgeführt werden.
Dabei ist zu bedenken, welchen Bezug
dieses politisch nicht gerade neutrale
Wirtschaftsgremium zu Bildung hat:
Es ist das Verständnis des Menschen
bzw. des Schülers als «Humankapital»,
womit der zentrale Zugang der OECD
zu Schule und Unterricht benannt ist.
Aber wie lange besteht der Freiraum
noch angesichts eines laufend enger
werdenden Korsetts, das dank jahrelanger Aushebelung des öffentlichen,
demokratischen Diskurses erst möglich wurde? Deshalb darf man den Initianten der aktuellen kantonalen Initiativen für ihr Engagement herzlich
danken.
Lehrplan 21 als OECD-Import –
keine bekömmliche Errungenschaft
Es war Ziel dieses Artikels, die Marschrichtung des Schweizer Bildungswesens, insbesondere der Volksschule, im
Zusammenhang mit dem Grossprojekt
«Nationaler Lehrplan 21» möglichst
umfassend auszuleuchten und somit
dem Unbehagen in der Lehrerschaft
und in der Bevölkerung generell möglichst viele konkrete, dokumentierte
Anhaltspunkte dafür zu geben. Die
daraus erwachsene Analyse hat gezeigt, dass kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel mit der Einführung
des Lehrplans 21 zu erwarten ist. Dafür ist schon viel zu lange zu viel von
Die Untersuchung der verschiedenen
Elemente der «Neuen Lernkultur» wie
Kompetenzorientierung, Qualitätsmanagement, Tests und Outputorientierung usw. bis hin zur konstruktivistisch-systemischen Pädagogik mit allen Aspekten der Fragmentierung des
Lernens in Klassen und der geistigen
und emotionalen Isolierung der Kinder hat offenbart, dass hiermit eine
Art des Lernens («Unterricht» kann
man es kaum noch nennen) zur Norm
etabliert wird, die das pure Gegenteil
ist von derjenigen Form des Unterrichtens, wie sie aus der europäischen Bildungstradition hervorgegangen ist
und seine Bestätigung in vielen Einsichten der modernen Human- und
Sozialwissenschaften findet.
Die praktischen Auswirkungen dieser
«Neuen Lernkultur» sind heute zwar
längst sichtbar, aber bisher viel zu wenig öffentlich bekannt gemacht und
zur Diskussion gestellt worden. Es ist
zu hoffen, dass die kantonalen Initiativen gegen den Lehrplan 21 diesem
Umstand ein Ende bereiten und insbesondere den Eltern den Mut geben,
2014/15-03
51
Erst eine ehrliche öffentliche Debatte über die wahren Grundlagen und Zielsetzungen dieser sehr zweifelhaften OECD-Agenda
würde aufzeigen, wie die Schweizer Bevölkerung wirklich darüber
denkt.
ihren Erfahrungen mit dieser «Neuen
Lernkultur» Ausdruck zu verleihen,
statt an den schulischen Schwierigkeiten ihrer Kinder zu verzweifeln und
diese ausschliesslich sich selbst oder
ihren Söhnen und Töchtern zuzuschreiben.
Die Schweizer Bevölkerung hat 2006
mit dem Bildungsrahmenartikel niemals auch nur im Ansatz dieser OECDSchulkonzeption zugestimmt, die geradewegs auf eine Zweiklassengesellschaft in der Bildung hinführt und
letztlich zu einer laufenden Schwächung unseres ursprünglich ausgezeichneten öffentlichen Schulwesens
führen wird, was unserer egalitären
politischen Kultur vollkommen zuwi-
1
Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als
derläuft – dies zugunsten eines boomenden privaten Bildungsmarkts, bei
dem das gute Geschäft und nicht die
Sicherung «guter Bildung für alle» an
erster Stelle steht.
halb muss klar festgestellt werden,
dass die «Neue Lernkultur» im Sinne
des Lehrplans 21 in keiner Weise dem
Wunsch der Schweizer Öffentlichkeit
entsprechen kann.
Es sei jedermann ans Herz gelegt, diesen Bildungsrahmenartikel mit Bundesratserläuterungen selber genau
nachzulesen. Der Artikel wurde augenscheinlich politisch umgedeutet
bzw. mit einem «Spin» versehen und
dann medial aufgebläht, sodass mit
dem demokratisch gefällten Entscheid
die Scheinberechtigung geliefert wurde, um eine bildungspolitische Agenda auf den Weg zu bringen, deren
Implikationen der Bevölkerung in
Wirklichkeit verborgen blieben. Des-
Erst eine ehrliche öffentliche Debatte
über die wahren Grundlagen und Zielsetzungen dieser sehr zweifelhaften
OECD-Agenda würde aufzeigen, wie
die Schweizer Bevölkerung wirklich
darüber denkt. Wieso haben die Promotoren von HarmoS und Lehrplan 21
diese Öffentlichkeit in grösstmöglichem Masse gemieden? Die Bevölkerung ist nun am Zug, sie halt selber
herzustellen.
8
vgl. Pasi Sahlberg on the Finnish Education
14
Roman Giger: Selbstreguliertes Lernen im
Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der
System: https://www.youtube.com/watch?x-yt-
Mathematikunterricht. Masterarbeit an der
Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzo-
cl=85114404&x-yt-
Pädagogischen Hochschule Zürich, 2010, S. 14
rientierung, Heft 3/2014, S. 325
ts=1422579428&v=1CLdY9AAqI4, 25.1.2015
15
2
Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als
9
Autopoiesis steht für den Prozess der
Roman Giger: Selbstreguliertes Lernen im
Mathematikunterricht. Masterarbeit an der
Pädagogischen Hochschule Zürich, 2010, S. 12
Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der
Selbsterschaffung und -erhaltung irgendeines
Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzo-
Systems. Es handelt sich um ein biologisches,
rientierung, Heft 3/2014, S. 321
mit der Systemtheorie arbeitendes Konzept,
16
das die Selbstorganisation und -erhaltung von
Weiterbildung e.V. (ibbw): Individuell fördern,
Lebewesen oder eben von «lebenden
kompetenzorientiert lehren und lernen.
Systemen» erklären will.
Göttingen, 2012, S. 8-23
3
Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkon-
ferenz, Konsultation Lehrplan 21: Räume,
Zeiten, Gesellschaften mit Geografie,
Geschichte Kompetenzaufbau, S. 13
10
vgl. Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als
Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der
4
https://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/
grundlagen.htm#Gegenstand, 27.1.2015
5
http://www.schule.sg.ch/home/volksschule/
Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzorientierung, Heft 3/2014, S. 325 & 332
11
Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als
unterricht/test_und_lernsysteme/_jcr_content/
Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der
Par/downloadlist_1/DownloadListPar/
Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzori-
download.ocFile/Strategiepapier_Lern-%20
entierung, Heft 3/2014, S. 332
und%20Testsysteme_2014.pdf
12
6
siehe z. B.: http://www.sz.ch/documents/
Leistungsmessungen.pdf
7
Amt für Volksschulen und Sport AVS, Kanton
Schwyz: Leistungsmessungen.
Rolf Werning: Konstruktivismus. Eine
Anregung für die Pädagogik?, in: Pädagogik ,
H. 7/8, 1998, S. 39/40
13
Herman Forneck: «Professionalisierung statt
Innovationsabstinenz», NZZ, 31. Juli 2014
vgl. Institut für berufliche Bildung und
52
Perle 4: «Sollen Schüler ihre Kompetenzen selber
erarbeiten?»
Perle 4 schliesslich ist die Antwort Michael Feltens in der «ZEIT» vom 15. Januar 2015 auf die Schulfrage: «Sollen Schüler ihre Kompetenzen allein erarbeiten?»
«Ich bin Lehrer – und ziemlich verunsichert. Wenn es nach
meiner Schulbehörde ginge, dürfte ich die Schüler kaum
direkt unterrichten. Sie sollen die geforderten Kompetenzen weitgehend eigenständig erarbeiten. Mir scheint aber,
dass meine Klassen am effektivsten vorankommen, wenn
ich das Lernen in der Gruppe wie auch bei jedem Einzelnen
selbst steuere. Bin ich betriebsblind oder einfach nur altmodisch?
HEINZ ANTON MEIER
M.F.: Vermutlich sind Sie einfach unerschrocken praxisorientiert – und damit ein Stück weit avantgardistisch. Ihre
Beobachtung spiegelt jedenfalls das wider, was für die Unterrichtsforschung mittlerweile ausser Frage steht – und
irgendwann auch in die letzte Amtsstube durchsickern
muss: Dass nämlich der Lernerfolg der Schüler vor allem
von den Führungs- und Beziehungsqualitäten der Lehrperson abhängt. Selbständigkeit ist das Ziel aller Bildung – der
Weg dahin indes braucht viel kognitive Aktivierung und
feinfühlige Lenkung. Anhängern eines smart learning mag
dieser Befund sauer aufstossen. Es klang aber auch zu
schön: Dass es Kindern am besten tue, wenn der Lehrer sich
auf freundliche Begleitung beschränke, nur Moderator von
Lerngelegenheiten sei. Dass es die Eigenverantwortlichkeit
junger Menschen fördere, ihrer Individualität entgegenkomme, wenn sie ihre «eigenen Lernwege finden», ihre
«Lernbiographie selbst gestalten» könnten. Ähnlich anmutig wie der Werbeslogan für ein neues Erfrischungsgetränk:
«Du entscheidest selbst, wann Sommer ist.» Narziss fühlt
sich gebauchpinselt, das Ich triumphiert. Nur liegt die Tücke
eben im Detail. Abiturienten mag pädagogische Zurückhaltung beflügeln, Pubertierende aber verlieren dabei
wichtige Orientierung – und mancher Schulanfänger prägende Anfangsjahre. Zu viel Freiarbeit, zu frühe Individualisierung – das führt schnell dazu, dass Kinder sich allein
gelassen fühlen und zu oberflächlich lernen. Besonders
pikant: Die pädagogische Selbstlerneuphorie geht gerade
zu Lasten der schwächeren Schüler, von denen man angeblich doch «jeden mitnehmen», «keinen zurücklassen»
möchte (Schereneffekt). Der schulische Selbständigkeitstrend bedeutet für viele Heranwachsende nämlich
weniger Freiheit als Überforderung und Verarmung. Denn
ihr menschliches Gegenüber, der bildende Erzieher, kann
in einer Weise Echo, Ermutigung und Herausforderung verkörpern, wie dies Arbeitsblätter oder Aufgabenkataloge
niemals vermögen – und auch kein gleichaltriger Mitschüler. Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist ein
anderer Mensch, sagt Joachim Bauer. Gerade in der Pubertät wollen Paula oder Paul spüren, dass sie dem Erwachsenen als Einzelne etwas wert sind – nicht als Nummer in einer Liste von Lernameisen. Dann mögen sie sich auch für
ein uninteressantes Fach erwärmen, stellen sich auch einer
anstrengenden Aufgabe, akzeptieren auch eine schlechte
Note. Natürlich ist der Gedanke verführerisch, dass sich
Selbstständigkeit am besten durch Selbstständigkeit erreichen lasse. Und sei es, weil man als Lehrer gerne von den
täglichen Disziplin- und Motivationsmühen entlastet wäre.
Aber im Licht der Forschung erweist sich derlei erzieherisches Münchhausentum als Selbsttäuschung, als gedanklicher Kurzschluss, ist letztlich pädagogischer Kitsch. In Bildungs- und Erziehungsfragen ist der Weg eben nicht das
Ziel – und er ist auch nicht linear. Eine Schlüsselqualifikation wie Selbstmanagement erfordert einen langen Vorlauf
– mit viel sorgfältiger Anleitung und vielfältiger Übung,
der Erfahrung und Erweiterung eigener Kompetenz sowie
der Reflektion über erfolgreiches Lernen. Sicher: Ohne das
«Selbst» der Schüler geht gar nichts – aber dieses ist eben
auch bei einer spannenden Erzählung des Lehrers beteiligt,
bei einer interessanten Erklärung, bei einer humorvoll oder
ernst gelenkten Plenumsdebatte. Deshalb ist das Prinzip
Direkte Instruktion (direct teaching) so effizient wie motivierend: Weil es kein nervtötender Paukermonolog ist,
sondern ein dynamischer Wechsel von Anknüpfen an Bekanntem, gemeinsamem Erschliessen und individuellem
Erproben von Neuem, Austausch und Vernetzung im Plenum, sowie abschliessendem Training in Eigenregie oder in
Kleingruppen. Nicht, dass Sie das als Plädoyer für vorschnelle Selbstzufriedenheit missverstehen. Der eine Lehrer
macht zu viel langweiligen Frontalunterricht, der andere
zu oft ineffektive Freiarbeit, ein dritter zu häufig Gruppenarbeit auf banalem Niveau. Ein angemessener Mix – mit
jeweils hochwertigen Anteilen – bleibt eine beständige
Aufgabe für uns Lehrer.»
2014/15-03
Strichwörtlich
53
Von Hanspeter Stucki
HEINZ ANTON MEIER
Lehrer F.G. beim
Versuch, den Anspruch
auf Individualisierung
mit der Höchstzahl für
Klassengrössen in
Einklang zu bringen.
54
Stellenausschreibung für einen Posten in der
LVB-Geschäftsleitung per 01.08.2015
Liegt Ihnen die Zukunft des Lehrerberufs am Herzen?
Sind Sie an bildungs- und berufspolitischen Fragen interessiert?
Möchten Sie sich in Ihrem Berufsverband verstärkt engagieren?
Dann sind Sie vielleicht unser neues Mitglied der LVB-Geschäftsleitung!
Im Zuge der Nachfolgeregelung für Heinz Bachmann ist ein Platz innerhalb unserer
Geschäftsleitung per 01.08.2015 neu zu besetzen.
Als Mitglied der LVB-Geschäftsleitung haben Sie die Möglichkeit, das kantonale Bildungswesen auf allen
Ebenen fundiert kennenzulernen und im Rahmen der Sozialpartnerschaft Einfluss auf Entscheidungen zu
nehmen. Sie arbeiten Sie in einem motivierten Team von fünf Mitgliedern, welche jeweils ein eigenes Ressort
verantworten. Ihr Pensum umfasst ca. 30 bis 35%.
Die einzelnen Tätigkeitsfelder sowie der exakte Anstellungsgrad können mit den anderen Geschäftsleitungsmitgliedern ausgehandelt werden. Ihre Funktion ist entwicklungsfähig. In der Regel unterrichten Mitglieder
der LVB-Geschäftsleitung weiterhin im Teilzeit-Pensum.
Zu ihren Aufgabenbereichen gehört in jedem Fall:
• Mitarbeit bei der strategischen und operativen Verbandsführung
• Teilnahme an Sitzungen von Geschäftsleitung und Kantonalvorstand sowie an Delegierten- und Mitgliederversammlungen
Optionale Aufgabenbereiche können sein:
• Ressort Beratung und Rechtshilfe (Einarbeitungszeit und Übernahme der Verantwortung nach Absprache)
• Layouten der Verbandszeitschrift lvb.inform (mit InDesign)
• Unterhalten der Verbands-Website www.lvb.ch
• Verfassen von Artikeln für die Verbandszeitschrift lvb.inform
• Organisation verschiedener Verbandsanlässe
• Mitarbeit in Arbeitsgruppen und Projektausschüssen
Eine mehrjährige erfolgreiche Unterrichtstätigkeit wird vorausgesetzt. Zur optimalen Ergänzung der LVBGeschäftsleitung sind Ihnen Freude an Kommunikation und sprachliche Gewandtheit eigen. Unsere Organisationsstruktur erfordert ein hohes Mass an Eigenverantwortlichkeit, Belastbarkeit, Diskretion und die Bereitschaft, sich in unterschiedliche Themen einzuarbeiten. Sie sind in der Lage, einen regen E-Mail-Verkehr zu
bewältigen.
Wir bieten Ihnen eine attraktive Führungsaufgabe zu interessanten Konditionen (Basis Sekundarstufe I) in
einem überaus vielfältigen Umfeld.
Für weitere Auskünfte steht Ihnen Roger von Wartburg, Präsident LVB, gerne zur Verfügung:
Tel. 079 261 84 63, [email protected].
Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen senden Sie bitte bis 15. März 2015 an:
per Post:
LVB-Geschäftsstelle, Sonnenweg 4, 4133 Pratteln
elektronisch:[email protected]
2014/15-03
LVB-Informationen
Aufruf zur Meldung allfälliger Missbräuche beim Check 3
PIXABAY
Seit dem Schuljahr 2013/2014 werden in den Kantonen der beiden Basel, Aargau und Solothurn bereits in der 3.
Klasse standardisierte Leistungsmessungen (Check 3) durchgeführt. Die Teilnahme war bis anhin offiziell freiwillig, faktisch wurden viele Lehrpersonen aber durch die Schulleitung zur Teilnahme verpflichtet. Ab dem Schuljahr
2016/2017 soll der Check 3 dann obligatorisch und flächendeckend eingeführt werden.
Immer wieder haben sich sowohl die Lehrerverbände des Bildungsraums Nordwestschweiz als auch der LCH nicht
nur skeptisch gegenüber flächendeckenden Leistungstests per se geäussert, sondern auch stets auf die Gefahren
hingewiesen, welche daraus drohen (Schulrankings, medialer Pranger für einzelne Schulstandorte oder gar für
einzelne Lehrerinnen oder Lehrer). Was vielleicht vordergründig interessant und gewinnbringend für Lehrerinnen und Lehrer zu sein scheint – erhalten sie doch eine Fülle von Auswertungen und Analysen über die eigene
Klasse und die einzelnen Schülerinnen und Schüler – kann leicht zu einer gefährlichen Tretmine werden. Dies
nämlich dann, wenn die hochsensiblen Daten und Auswertungsergebnisse nicht mit der notwendigen Sensibilität
behandelt und beispielsweise leichtfertig der Öffentlichkeit präsentiert werden, ohne sich dabei über die Folgen
im Klaren zu sein.
Aufgrund der Erfahrungen, die unter anderem auch im nahen Ausland (Österreich und Deutschland) gemacht
wurden, hat der LCH in Zusammenarbeit mit den Kantonalverbänden eine Liste der möglichen Folgen und
unerwünschten Nebeneffekte zusammengestellt.
Sollte im Umgang mit den Resultaten des Checks 3 verantwortungslos gehandelt oder gar Missbrauch betrieben
werden, ruft der LVB sein Mitglieder auf, dies der Geschäftsleitung zu melden!
Im Folgenden sind die heikelsten Punkte aufgelistet:
Teaching to the test:
• Inhaltliche Schwerpunkte werden vermehrt auf das Messbare und die Fragen der Tests konzentriert (teaching
to the test).
• Schulleitung und Behörde erwarten, dass Zeugnisnoten mit den Testergebnissen übereinstimmen sollen.
Personalführung:
• Nutzung der Testergebnisse durch die Schulleitung im Sinne von Drohungen (Verbesserungen bis...) und für die
MA-Beurteilung.
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Rankings:
• Klasseninternes Ranking von Schülerinnen und Schülern wird ermuntert und erlaubt.
• Schulhausinternes Ranking von Schülerinnen und Schülern.
• Schulhausinternes Ranking von Klassen.
• Kolleginnen und Kollegen machen Resultate schulhausintern öffentlich und setzen damit andere unter Druck.
• Schulhausinternes Ranking von Lehrerinnen und Lehrern durch die Schulleitung oder Behörden.
• Kolleginnen und Kollegen machen eigene Resultate öffentlich (Eltern, u.a.) und setzen damit andere Lehrerinnen und Lehrer unter Druck.
• Öffentliches Ranking von Klassen in Medien, im Internet oder durch Gerüchte.
• Öffentliches Ranking von Lehrerinnen und Lehrern in Medien, im Internet oder durch Gerüchte.
• Öffentliches Ranking von Schulen durch Medien, im Internet oder durch die Bildungsverwaltung.
• Schulleitungen machen eigene Daten öffentlich und setzen andere damit unter Druck.
• Öffentliches Ranking von Gemeinden durch Bildungsverwaltung, durch Medien oder im Internet.
Datenweitergabe:
• Nicht anonymisierte Besprechung im Team ohne vorherigen Beschluss.
• Weitergabe von und/oder Einsicht in Einzeldaten an lokale Behörde.
• Weitergabe von und/oder Einsicht in Einzeldaten an die externe Evaluation.
• Information der Eltern über die Schulergebnisse oder die Klassendaten durch die Schulleitung.
• Kolleginnen und Kollegen machen eigene Resultate extern öffentlich (Eltern, u.a.).
• Information der Medien durch die Schulleitungen (andere Schulen werden unter Druck gesetzt).
• Information der Medien durch die Behörden (andere Behörden werden unter Druck gesetzt).
• Erfolgreiche Gerichtsklage durch Eltern, Medien, Politik, etc. auf Herausgabe der Daten.
• Datenlecks, erfolgreiche Hackerangriffe, Viren, etc. (analog Server Bundesinstitut für Bildungsforschung Bifie
in Österreich).
Wassersicherheit: Information der SLK vom 21. Januar 2015
Die Schulleitungskonferenz SLK der Gymnasien des Kantons Baselland hat seit August 2014 die nötigen Abklärungen zum Thema Wassersicherheit unternommen. Eine Arbeitsgruppe der SLK hat den Rechtsinstanzen die in
der Folge überarbeitete Unterlage «Weisungen über die Durchführung von Reisen und Lagern an den Gymnasien» zur Prüfung vorgelegt. Diese Prüfung ist positiv ausgefallen.
Ab sofort gilt für die Planung und Durchführung von Sonderveranstaltungen die neue Unterlage «Weisungen
über die Durchführung von Reisen und Lagern an den Gymnasien» (SLK vom 17.05.2007, letzte Änderungen am
08.12.2014). Die Unterlage «Wassersicherheit für die Sekundarstufe II / Gymnasien» vom Juni 2014 ist ab sofort
ungültig.
Anmerkung der LVB-Geschäftsleitung:
Die Freude darüber, dass sich diese heikle Situation für die Gymnasiallehrpersonen hat entschärfen lassen, ist
dadurch getrübt, dass die Lehrkräfte der Volksschule weiterhin auf eine ähnlich taugliche Lösung warten. Bis es
soweit ist, muss den Lehrerinnen und Lehrern aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit leider weiterhin
dringend empfohlen werden, die in der AVS-Broschüre «Wassersicherheit für die Volksschule» beschriebenen
Aktivitäten nicht anzubieten, sofern sie die in derselben Broschüre aufgelisteten Standards nicht erfüllen. Der
Arbeitgeber steht in der Pflicht, dieser untragbaren Situation Abhilfe zu schaffen. Von alleine wird sich dieses
Problem nicht lösen.
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«Bekenntnisse des Schulentwicklers Felix Walldorf»
Sechster Teil
Eine Fortsetzungsgeschichte von Michael Weiss
Es war alles andere als einfach, Jasmin in dieser Situation
wieder zu beruhigen. Immer wieder musste ich sie dahingehend beschwören, dass Reto drauf und dran gewesen sei,
das Pilotprojekt der Limowelten zu bodigen, was ich allein
schon mit dem Gedanken an Samuel niemals hätte zulassen
können. Mehrfach musste ich ihr versichern, dass Reto kein
böser Mensch sei und mit Sicherheit niemals mir oder jemand anderem aus unserer Familie etwas antun würde,
sondern dass es sich bei ihm halt um einen tragischen Fall
handle, welcher die Konzepte einer zeitgemässen Pädagogik nicht verstanden habe oder nicht verstehen wolle.
Schliesslich war nicht Jasmin, sondern ich es, der keine Ruhe
mehr fand. Was wusste Reto? Mit wem stand er noch in
Kontakt? Hatte er gar noch Vertraute an unserer Schule?
Was würde er als Nächstes tun? Hatte ich irgendetwas übersehen? Handelte es sich hierbei um Retos letztes verzweifeltes Aufbäumen oder war das der Anfang von meinem
Ende?
Als ich kurz wegdämmerte, träume ich davon, wie ich Reto
erschlug, immer wieder auf ihn eintrat, bis er sich nicht
mehr bewegte. Aber als ich seinen leblosen Körper zurücklassen wollte, brachte ich ihn nicht mehr von meinen Füssen
weg. Jeder Schritt geriet zur unerträglichen Anstrengung.
Schliesslich erwachte ich – mit rasendem Puls und schmerzenden Beinen.
Ich hielt es im Bett nicht mehr aus und stand auf. Um mich
irgendwie zu beschäftigen, ging ich in die Küche und machte mich an den Abwasch, der stehen geblieben war. Im Abtropfbecken lag noch das Fleischmesser, und ich wunderte
mich, wofür Jasmin als Vegetarierin es wohl benutzt haben
mochte. Vielleicht hatte sie es ja hervorgeholt, als Reto am
Abend in der Tür erschienen war.
Ich wusch das Geschirr, trocknete ab und setzte mich, obwohl es inzwischen halb drei Uhr nachts war, noch etwas
vor den Fernseher. Da ich aber auf angeblich heisse Handyvideos genauso wenig Lust verspürte wie auf Mike Shiva
oder Bernd das Brot, gab ich es schliesslich auf und begab
mich zurück ins Bett.
Mit Kopfschmerzen und ein wenig später als üblich erschien
ich am anderen Morgen in der Schule. Ich merkte schnell,
dass etwas nicht stimmte. Vor meinem Büro warteten bereits Jacqueline, Toni und Timo auf mich. Timo war geradezu grün im Gesicht. Wir gingen in mein Büro.
«Irgendetwas ist nicht gut», sagte ich, um das Schweigen
zu brechen.
«Dein Sohn, Felix …», begann Timo, aber die Stimme versagte ihm.
Ich erschrak. «Was hat er angestellt?»
«Er hat ein Enthauptungsvideo gezeigt. Vor der ganzen
Klasse!», antwortete Jacqueline sichtlich betroffen.
«Ein Enthauptungsvideo!?»
«Er sollte einen Vortrag halten», ergänzte Timo mit erstickter
Stimme. «Über die Terrorgruppe Islamischer Staat. Ich habe
ihm das erlaubt, weil du ja gesagt hast, die Schüler sollen
gänzlich frei wählen, was sie lernen wollen. Und ich bin das
Vortragsthema auch mit ihm durchgegangen. Er sollte sich
mit den Religionen und Ethnien der Region, die heute vom
IS beherrscht wird, auseinandersetzen. Er sollte die politische
Situation in diesen Regionen analysieren und etwas über
deren Vorgeschichte erzählen. Stattdessen hat er …»
«Wir haben sein Handy konfisziert», ergänzte Jacqueline. «Er
scheint eine ziemlich grosse Menge seiner Zeit in das Sammeln solcher Videos investiert zu haben.»
«Warum ist dir denn das nicht früher aufgefallen?», herrschte ich Timo an.
«Er hat ja immer fleissig gearbeitet. Und wenn man ihn gefragt hat, hat er gesagt, alles laufe gut, er komme gut voran
und brauche keine Hilfe.»
«Grossartig. Du hast also nicht gemerkt, was er da tut. Wozu
bist du denn sein Lehrer?»
«Felix», entgegnete Jacqueline, «sie haben es alle nicht gemerkt. Timo nicht, aber Alexandra, Jan und Daria genauso
wenig. Er hat sie alle getäuscht.»
«Ja aber dieses Video? Wie konntest du zulassen, dass er das
vorführt? Bist du denn nicht eingeschritten?»
«Es ging alles so schnell», stammelte Timo. «Bis ich herausgefunden habe, wie man das Gerät abstellt, war der Film
schon grösstenteils durch. Ich habe der Klasse dann zugerufen, sie sollen nicht hinschauen, aber das hat nichts genützt. Einige haben sogar gejubelt! Stell dir das vor!»
«Naja, vielleicht war es ja dann doch gar nicht so schlimm»,
hoffte ich.
«Zwei Kinder sind in Ohnmacht gefallen und drei weitere
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mussten sich übergeben!», widersprach Jacqueline energisch. «Wir haben sofort den kantonspsychologischen
Dienst verständigt. Zwei Psychologinnen kümmern sich so
gut es geht um die Klasse. Aber jetzt müssen wir die Eltern
verständigen. Und das ist deine Aufgabe!»
«Ja, klar …», murmelte ich. Ein Brief der Schulleitung würde ja wohl genügen, dachte ich mir, und dass es mein Stiefsohn gewesen war, der diesen Film gezeigt hatte, würde
ich ja nicht unbedingt erwähnen müssen. Allerdings, da
machte ich mir keine Illusionen, würde sich wohl auch so
nicht vermeiden lassen, dass das bald ganz Sulzwil wissen
würde.
«Wo ist Samuel jetzt?», wollte ich wissen.
«Auch er wird psychologisch betreut.»
«Und wann kommt er wieder nach Hause?»
«Das muss die zuständige Psychologin entscheiden.»
Ich dachte an Jasmin und daran, wie ich ihr das Ganze
beibringen sollte.
Wir besprachen, wie es weitergehen sollte. Timo wurde
für den Rest des Tages vom Unterricht freigestellt. Toni
sollte das Kollegium informieren und Jacqueline kümmerte sich zusammen mit den beiden Psychologinnen um die
Betreuung der Schülerinnen und Schüler. Ich begann, einen Brief an die Eltern aufzusetzen.
Weit sollte ich dabei nicht kommen. Schon kurze Zeit später meldeten sich die ersten Eltern telefonisch bei mir.
Während die einen um Rat baten, was sie mit ihren Kindern nun tun sollten, ergingen sich andere in wüsten Beschimpfungen, einige drohten mir bereits mit rechtlichen
Schritten.
Schliesslich stellte ich mein Telefon auf das Sekretariat um
und wies die Sekretärin an, keine Auskünfte mehr zu geben und auf die für morgen geplante schriftliche Information zu verweisen. Doch inzwischen waren die ersten Eltern bereits auf dem Schulgelände und verlangten, zu mir
vorgelassen zu werden. Mit dem Hinweis, ich müsse jetzt
den Krisenstab leiten und könne keine Einzelauskünfte
erteilen, liess ich sie von unserer Sekretärin abwimmeln.
während ich darum bemüht war, bis zum kommenden Tag
keine weiteren Informationen mehr herauszugeben, hatte Toni Müller, ohne Rücksprache mit mir, der Presse bereits bereitwillig Auskünfte erteilt.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Journaille auch bei
meiner Frau anrufen würde. Ich versuchte, dem zuvorzukommen und rief meinerseits zuhause an. Jasmin ging
nicht ans Telefon. Ich versuchte es auf ihrem Handy, ebenfalls erfolglos. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Normalerweise würde Samuel um diese Zeit nach Hause kommen,
Jasmin müsste also dort sein. Ich verliess mein Büro und
wollte mich schon zum Auto begeben, um heimzufahren,
als mir Jasmin, mit Benjamin an der Hand, im Schulhausflur
entgegenkam.
Jasmin schien einigermassen gefasst. Wie sich herausstellte, war sie von der Schulpsychologin angerufen worden.
Sie hatte, da es kurz vor Mittag war, noch Benjamin aus
dem Kindergarten abgeholt und war dann hierher gekommen. Ich führte Jasmin zu dem Zimmer, in dem Samuel
betreut wurde und nahm Benjamin zu mir. Wir verblieben
so, dass ich Benjamin am Nachmittag wieder in den Kindergarten bringen sollte.
Ich spazierte mit Benjamin auf den Pausenhof.
«Wie gefällt es dir eigentlich im Kindergarten?», fragte ich
ihn.
«Eigentlich gut», sagte er. «Aber als wir die Kaninchen
noch hatten, war es noch schöner.»
«Warum habt ihr denn keine Kaninchen mehr?»
«Die hat der Fuchs geholt, hat Frau Kohler gesagt.»
«So ein böser Fuchs!», sagte ich.
«Der Fuchs ist nicht böse», widersprach Benjamin. «Er ist
ein Fleischfresser. Er muss Fleisch fressen.»
«Das stimmt natürlich auch. Aber traurig ist es trotzdem,
oder?»
«Ja, schon.»
«Hast du eigentlich schon etwas gegessen?», fragte ich ihn.
Tatsächlich waren wir auf eine derartige Situation in keiner
Weise vorbereitet. Bereits vor dem Mittag berichteten die
ersten lokalen Online-Medien von den Vorfällen, und
«Nein, Mami hat heute überhaupt keine Zeit gehabt. Aber
ich habe Hunger.»
60
«Worauf hast du denn am meisten Lust?»
«Chicken Nuggets mit Pommes Frites!»
Wir fuhren zusammen in den nahegelegenen McDonald's,
verspeisten zwei Portionen Chicken Nuggets mit Pommes
Frites und Ketchup, wobei Benjamins Appetit einiges ausgeprägter war als meiner. Anschliessend fuhren wir zum Kindergarten. Ich liess Benjamin aussteigen und lenkte den Wagen zurück an meine Schule.
Dort waren inzwischen auch Frau Stücki-Baldegger, unsere
Schulratspräsidentin, und einige weitere Mitglieder des
Schulrats eingetroffen, um eine Krisensitzung abzuhalten.
Diese hatte bereits begonnen, als ich eintraf.
«Die grösste Gefahr», meinte Stücki-Baldegger, «besteht darin, dass man jetzt in der Presse einen Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der Unterrichtsform, innerhalb derer
er sich zugetragen hat, konstruiert. Wenn es heisst, dass die
Kinder in den Limowelten nicht richtig beaufsichtigt und solche Vorfälle durch diese Unterrichtsform geradezu heraufbeschworen würden, können wir das ganze Projekt abblasen.»
«Was schlägst du vor?», fragte ich.
«Wir müssen unmissverständlich darlegen, dass Samuel unter
extremen Gewaltfantasien leidet und momentan in keiner
Regelschule mehr unterkommen kann, unabhängig von der
jeweiligen Unterrichtsform. Im jetzigen Zustand ist er eine
akute Bedrohung für seine Mitschülerinnen und Mitschüler.»
«Aber das ist doch absurd! Meinst du, er ist der einzige Schüler, der sich solche Videos anschaut?»
«Felix, so leid es mir tut, aber es geht jetzt nicht vorrangig
um deinen Sohn, sondern um unsere Schule. Das Einzelschicksal hat hinter das grössere Ganze zurückzutreten. Natürlich
können wir den Fall herunterspielen, aber dann sehe ich
schwarz für das Projekt Limowelten. Du weisst ja, Serge und
die ganze politische Rechte warten nur auf eine Gelegenheit,
unser Lernen in Motivationswelten zu zerfetzen.»
«Trotzdem. Samuel ist in dieser Unterrichtsform regelrecht
aufgeblüht. Er hat einfach eine Dummheit begangen, mehr
nicht. Deswegen ist er doch noch lange kein Gewaltverbrecher!»
«Was meinen die anderen?», fragte Stücki-Baldegger in
die Runde.
«Persönlich bin ich davon überzeugt, dass das Integrationspotential der Limowelten dasjenige des gewöhnlichen Unterrichts bei weitem übertrifft», meldete sich Toni zu Wort.
«Daher meine ich, dass hier auch für Samuel weiterhin Platz
sein muss.»
«Die ersten Eltern haben damit gedroht, ihr Kind aus der
Limoweltenklasse herauszunehmen, wenn Samuel nicht entfernt wird», wandte Jacqueline ein.
«Und wenn schon!», entgegnete Toni. «Es gab doch, soviel
ich weiss, viel mehr Anmeldungen, als wir überhaupt berücksichtigen konnten.»
«Mit Betonung auf gab», erwiderte Jacqueline. «Aber nach
dieser Affäre könnte es bald ganz anders aussehen, vor allem wenn die Eltern befürchten müssen, dass es nicht bei
diesem einen Vorfall bleibt.»
«Liebe Kolleginnen und Kollegen», erwiderte ich, «ich sehe
das Problem. Aber ich möchte euch Folgendes sagen: Als ich
vorletztes Jahr erstmals die Idee der Motivationswelten hier
im Schulrat vorgestellt habe, habe ich, und das gebe ich
offen zu, insbesondere auch gehofft, für Samuel eine Unterrichtsform zu finden, die zu ihm passt. Und trotz des Vorfalls heute Morgen bin ich weiterhin der Ansicht, dass Samuel tatsächlich perfekt in die Limowelten passt. Wenn ihr
mir jetzt sagt, dass es dort für ihn keinen Platz mehr haben
soll, wäre das für mich der Beweis, dass die Limowelten nicht
funktionieren. Und dann gibt es für mich auch keinen Grund
mehr, das Projekt weiterzuziehen. Teuer genug ist es ja ohnehin.»
Während alle noch darüber nachdachten, wie es nun weitergehen sollte, klopfte es. Frau Flückiger, die Bildungsdirektorin, stiess zu uns. Wir rekapitulierten ihr gegenüber
den bisherigen Verlauf der Krisensitzung.
«Geschätzte Damen und Herren», meinte Frau Flückiger
schliesslich, «ich sage Ihnen jetzt zwei Dinge, die nicht für
das Protokoll bestimmt sind. Erstens: Ich bin lange genug
Politikerin gewesen, um ein gefestigtes Vertrauen darin entwickelt zu haben, dass sich jedes Problem von alleine löst,
wenn man es lange genug aussitzt. Schon in ein paar Wochen kräht kein Hahn mehr danach, was Herr Walldorfs Sohn
sich einmal in pubertierendem Übermut geleistet hat. Und
zweitens: Wir haben mittlerweile so viel Geld in das Limoweltenprojekt investiert, dass es einerseits unmöglich ist,
daraus wieder auszusteigen, und andererseits auf eine weitere kleine Investition auch nicht mehr ankommt. Wir finanzieren deshalb für Herrn Walldorfs Sohn eine Heilpädago-
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gin, die ihn während des Unterrichts beobachtet und auf ihn
aufpasst. Das Kind bleibt in der Klasse. Wenn wir das geschickt kommunizieren, werden sich auch die Eltern schnell
wieder beruhigen und die ganze Aufregung des heutigen
Tages verwandelt sich in einen Sturm im Wasserglas. Meine
Damen, meine Herren: Ich wünsche noch einen schönen
Nachmittag!»
Ich schaute auf die Uhr: Der Kindergarten war bereits vorüber, und dabei hatte ich doch mit Jasmin abgemacht, dass
ich Benjamin abholen würde! Ich rief im Kindergarten an
und gab Bescheid, dass ich gleich kommen würde. Frau Kohler meinte, das sei nicht so schlimm, sie müsse ohnehin noch
aufräumen und saubermachen. Und Benjamin sei ja ein Braver.
Als ich im Kindergarten ankam, sass Benjamin tatsächlich
ganz friedlich in einer Ecke und baute aus Legosteinen eine
grosse Rakete. Um mich bei Frau Kohler dafür erkenntlich zu
zeigen, dass sie ihn noch so lange gehütet hatte, half ich ihr
noch ein wenig beim Saubermachen, und so kamen wir ins
Gespräch.
«Ist Benjamin denn immer so brav?»
«Normalerweise schon. Er ist im Allgemeinen ein zufriedenes Kind und kann sich gut alleine beschäftigen. Manchmal
ist er etwas schüchtern, wenn er auf andere zugehen soll,
aber ich finde, er macht auch da Fortschritte.»
«Er hat mir heute aus dem Kindergarten erzählt. Scheinbar
hat der Fuchs die Kaninchen gefressen. Er vermisse die Kaninchen, sagte er, und deswegen dachte ich natürlich, er
wäre jetzt wütend auf den Fuchs. Benjamin fand aber, ein
Fuchs müsse halt Kaninchen fressen, da könne man nichts
machen. Haben Sie ihm das so gesagt?»
Frau Kohler senkte die Stimme und sah auf einmal sehr bedrückt aus. «Ja, das habe ich so erzählt, diese Geschichte mit
dem Fuchs. Aber die Wahrheit ist eine andere: Als ich letzten
Mittwochmorgen die Kaninchen füttern wollte, lagen sie
mit abgeschnittenen Köpfen im Stall. Wie krank muss jemand sein, der so etwas tut? Aber offenbar passiert so etwas
ja häufiger, als man meint.»
Mir fiel das Fleischmesser von letzter Nacht wieder ein, und
ich fühlte, wie meine Knie zu zittern anfingen. Ich verabschiedete mich hastig von Frau Kohler, packte Benjamin und
fuhr mit ihm nach Hause.
Fortsetzung im nächsten lvb.inform.
62
Im Tunnel
Von Heinz Bachmann
P, ein 35-jähriger Lehrer, sitzt wie jeden Morgen im Zug von seinem Wohnort Basel zu seiner Arbeitsstelle im
oberen Baselbiet. Er hat diesen Arbeitsweg bewusst so gewählt. In den
25 Minuten kann er sich gedanklich auf
den Arbeitstag einstellen. Er hört dabei über seine Sennheiser-Kopfhörer
ruhige Musik und richtet seinen Blick
auf die über ihm vorbeiziehenden Höhenzüge des Juras oder des ferneren
Schwarzwalds. Wenn Lärmschutzwände die freie Sicht versperren, schliesst
er die Augen und hängt seinen Gedanken nach.
P ist gerne Lehrer. Er liebt die abwechslungsreiche Arbeit mit den Kindern. In
diesem Beruf kann er seine Kreativität
bei der Gestaltung der Lektionen einbringen und seine Flexibilität bei immer neuen sozialen Herausforderungen unter Beweis stellen. P ist froh,
einen Beruf auszuüben, der ihm das
Gefühl gibt, etwas Sinnvolles zu tun:
jungen Menschen dabei zu helfen, Bildung und eine gewisse Arbeitsethik zu
erwerben und sich damit auf ein gelingendes Leben vorzubereiten.
In letzter Zeit finden vermehrt düstere Gedanken Eingang in P‘s Bewusstsein. Entwicklungen im Bildungswesen lassen ihn befürchten, dass die von
ihm für unverzichtbar gehaltene Freiheit in der Unterrichtsgestaltung bedroht ist. P gehört zu jenen Lehrpersonen, welche möglichst viel Zeit dafür einsetzen möchten, den Lernenden
einen methodisch vielfältigen, fordernden Unterricht zu bieten. Kompetenzorientierung, selbstorganisiertes
Lernen und einiges mehr erscheinen
ihm als Konzepte, die er auf seine Art
längst verinnerlicht hat, die ihn aber
in der Absolutheit, wie sie ihm heute
von aussen her aufgedrängt werden,
befremden.
Die Fahrgeräusche des Zuges haben
sich verändert, draussen reflektieren
PIXABAY
PIXABAY
Tunnelwände die Lichter der vorbeirauschenden Eisenbahnwagen.
In P‘s Gedankengänge drängt sich eine
Erinnerung an ein Kabarettprogramm
von Vince Ebers, in dem es um den Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft ging: Die Religion arbeitet
mit Behauptungen und fordert Glauben ein. Die Wissenschaft muss Beweise vorlegen, die einer Überprüfung
standhalten. Und dann gibt es da noch
die Esoterik. Ein Esoteriker kann gemäss Ebers in fünf Minuten mehr behaupten, als ein Wissenschaftler in einem ganzen Leben widerlegen kann.
Aktuell gepushte Konzepte für Schulentwicklung, so kommt es P zunehmend vor, machen Versprechungen,
welche wohl am ehesten Ebers‘ Definition von Esoterik entsprechen.
Draussen fliegen noch immer Tunnelwände vorbei. P hat bisher nie darauf
geachtet, wie lange der Zug jeweils
durch den Adlertunnel fährt. Es scheint
ihm aber, der Zug müsste längst in
Liestal sein. Da kommt P Dürrenmatts
Kurzgeschichte «Der Tunnel» in den
Sinn: Ein Zug fährt in einen Tunnel ein,
wird immer schneller und rast schliesslich – für längere Zeit ohne dass die
Passagiere dies bemerken würden –
unaufhaltsam in den Abgrund. Dürrenmatt beendet die verstörende Geschichte mit dem Satz: «Gott liess uns
fallen, und so stürzen wir denn auf ihn
zu.»
P’s Interregio hat noch immer nicht
Liestal erreicht, unvermindert begrenzt
die Tunnelverkleidung den Blick. «Der
Tunnel passt zur aktuellen Schulentwicklung», schiesst auf einmal ein boshafter Gedanke durch P‘s Hirn, «ungebremst in den Abgrund.» P konsultiert
die Uhr auf seinem iPhone. Der Zug ist
in Basel fahrplanmässig abgefahren
und müsste dementsprechend in drei
Minuten Sissach erreichen. Da kann
doch etwas nicht stimmen! Ist es das
Handy? Die Geschwindigkeit des Zuges? Der Tunnel?
Die anderen Fahrgäste spielen mit zugestöpselten Ohren auf ihren Handys her-
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um, lesen Zeitung oder dösen. Niemand
ausser P scheint sich zu beunruhigen.
ters; in dieser Auffassung weiss sich P
mit vielen Berufskollegen einig.
«Der Schulentwicklungs-Tunnel», durchfährt es P, «was für eine Allegorie! Beschleunigung total: Integration, Frühfremdsprachen, Kompetenzorientierung, selbstgesteuertes Lernen, Konstruktivismus, Individualisierung über
alles. Sind die Schulentwicklungs-Turbos womöglich Zauberlehrlinge, welche die Abwesenheit des Meisters
nutzen?» P versucht in Gedanken, das
Gedicht abzurufen:
Im Moment aber besteht P‘s vordringlichstes Problem darin, dass er in einem Zug sitzt, der in einem endlosen
Tunnel zu verschwinden droht. Die
anderen Passagiere sitzen weiterhin
unbekümmert auf ihren Plätzen. P hat
sich unterdessen von seinem Sitznachbarn versichern lassen, dass sein Handy die Uhrzeit richtig anzeigt. Der
Nachbar hat auch missmutig bestätigt, dass der Interregio nach Luzern
fahre – und sich dann wieder seinem
Tablet zugewandt.
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben!
Seine Wort' und Werke
Merkt' ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu' ich Wunder auch.
Ein erneuter Blick auf sein Handy bestätigt P, dass der Interregio noch einmal vier weitere Minuten durch den
Tunnel gerast ist, ohne dass ein Licht
am Ende in Sicht gekommen wäre.
Sitzt er im falschen Zug? Nur: Wo, mit
Abfahrtsort Basel, gibt es einen so langen Eisenbahntunnel? Seine Überlegungen werden zunehmend hektischer.
Wie endet eigentlich Goethes Zauberlehrling?
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist gross!
Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los.
"In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid's gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister."
Die Schulentwicklungs-Hektik bedürfte
auch der ordnenden Hand eines Meis-
Mit P‘s Ruhe ist es nun endgültig vorbei. Er macht sich auf, den Zugbegleiter zu suchen oder nötigenfalls beim
Lokführer in Erfahrung zu bringen,
was es denn mit diesem langen Tunnel
für eine Bewandtnis habe.
Der Gang durch den Zug bestätigt P‘s
surreale Befürchtungen. Auf dem
Weg in Richtung Lokomotive sitzen im
nächsten Wagen Schulleiter, welche in
Arbeitsgruppen diskutieren. In einem
Abteil geht es offensichtlich um die
flächendeckende Einführung der pädagogischen Kooperation an den Schulen. P spricht einen ihm persönlich
bekannten Schulleiter an und macht
diesen auf seine Wahrnehmung aufmerksam, wonach sich der Zug seit
mehr als 30 Minuten in einem Tunnel
befinde. «Das macht nichts. Wir arbeiten gerade daran, grosse Entwicklungen im Schulbereich umzusetzen.
Neue Herausforderungen zwingen
uns dazu und die Pädagogischen
Hochschulen liefern uns die aktuellsten Erkenntnisse. In diesem Projektstadium kommt es uns gelegen, dass wir
ungestört arbeiten können und nicht
von äusseren Eindrücken abgelenkt
werden», antwortet der Mann freundlich und wendet sich wieder der Diskussion in seiner Arbeitsgruppe zu.
Anscheinend geht es gerade um das
Thema «Umgang mit Widerständen
im Kollegium», wie ein auf das Abteilfenster geklebtes Flipchart-Blatt zeigt.
Die Schulleitungsmitglieder sind damit beschäftigt, in einem Brainstorming mögliche Führungsmassnahmen
zu sammeln.
Der Schulentwicklungs-Interregio rast
ungebremst durch den Tunnel. Mit einem Gefühl der Beklemmung setzt P
seinen Weg in Richtung Lokomotive
fort. In den nächsten Wagen befinden
sich offensichtlich die Arbeitsplätze
der Reformplaner und Bildungspolitiker. Da also wird die Schule der Zukunft entworfen. Das erkennt P an den
Stichworten auf den Plakaten, welche
auch hier über die Fenster geklebt sind.
In jedem Abteil gilt die Auseinandersetzung einem anderen Schwerpunkt:
«Frühfremdsprachen – wie weiter?»;
«Niveaudifferenzierung des Lehrplans
21»; «Integration in der Kostenfalle?»;
«Leistungsbeurteilung im kompetenzorientierten Unterricht?» liest P auf
weiteren Papieren.
Niemand nimmt von P Notiz. Auch in
diesen Abteilen scheint sich keiner daran zu stören, dass sich der Zug noch
immer im Tunnel befindet. Auch hier
vermitteln alle den Eindruck der Normalität. Niemanden scheint die lange,
rasende Fahrt durch den Tunnel weiter zu kümmern. Die Plakate auf den
Abteilfenstern vermitteln P den Eindruck, dass zum Zweck der Gestaltung
der Schule der Zukunft ein Blick nach
draussen nicht vorgesehen ist.
Den Zugbegleiter vermag P nicht zu
finden. Schliesslich erreicht er die Lokomotive. Gemäss dem Prinzip «Gläserne Verwaltung» ist der Durchgang
zum Führerstand nicht abgesperrt.
Es überrascht P nicht sonderlich, als er
sieht, dass der Führerstand leer ist.
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Kontakte
Lehrerinnen- und Lehrerverein
Baselland LVB
4133 Pratteln
Kantonalsektion des LCH
Dachverband Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz
Website www.lvb.ch
[email protected]
Präsident
Roger von Wartburg
Rebgutstrasse 12
4614 Hägendorf
Tel 079 261 84 63
[email protected]
Geschäftsführer & Vizepräsident
Michael Weiss
Sonnenweg 4
4133 Pratteln
Tel 061 973 97 07
[email protected]
Aktuariat
Gabriele Zückert
Rheinstrasse 51
4410 Liestal
Tel 061 599 48 51
[email protected]
Beratung & Rechtshilfe
Heinz Bachmann
Madlenweg 7
4402 Frenkendorf
Tel/Fax 061 903 96 08
[email protected]
Publikationen & Pädagogik
Philipp Loretz
Bürenweg 6
4206 Seewen
Tel 061 911 02 77
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