2014/15-03 Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland • Einladung zur Delegierten- und Mitglieder versammlung vom 18. März 2015 Coop Tagungszentrum, Muttenz, 19.30 Uhr • Pragmatismus ist die einzige Option! Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21 • Hält Frühfranzösisch, was es verspricht? Warum eine umfassende Evaluation bereits jetzt erforderlich ist • Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt: Was uns die Geschichte der schulischen Innovationen lehren kann 2 Editorial Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland «Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.» und Können angedeihen zu lassen. Deshalb werden solche Privatschulen, deren Daseinsberechtigung nicht etwa bestritten wird, von Eltern schulpflichtiger Kinder und den dort berufstätigen Personen bewusst ausgewählt. Liebe Leserin, lieber Leser In verschiedenen Printmedien wurde unlängst über die Villa Monte berichtet. Dabei handelt es sich um eine staatlich anerkannte Privatschule, die 1983 im Kanton Schwyz gegründet wurde und deren Konzept sich als Weiterentwicklung der Montessori-Pädagogik versteht. Im Zentrum des Modells der Villa Monte steht, dass jeder Schüler selbst entscheidet, was, wann, wie und mit wem er lernt. Das Tagesgeschehen entwickelt sich spontan. Es gibt keine Lehrer im eigentlichen Sinn, keine Stunden- oder Lehrpläne, keine Hausaufgaben, keine Prüfungen oder Noten. Die Kinder und Jugendlichen sollen allein und von anderen Schülern lernen, indem sie spielen, sich unterhalten, anderen zusehen, lesen, experimentieren. Man geht davon aus, dass Kinder selber wissen, was gut für sie ist. Mit diesem alternativen Ansatz entspricht die Villa Monte nicht dem traditionellen Bild von Schule, wo «Ältere» in Beziehung zu den ihnen anvertrauten «Jüngeren» treten, um ihnen in einem strukturierten Unterricht Wissen 2008 wurde im Baselbiet via Initiative der Versuch unternommen, Privatschulen den öffentlichen Schulen gleichzustellen. Die Abfuhr mit 80% Nein-Stimmen war deutlich und stellt im Kern ein Bekenntnis des Souveräns zur Volksschule dar. Für den Erfolg des herkömmlichen helvetischen Bildungssystems, seinen Schwächen zum Trotz, spricht eine Reihe nüchterner Fakten: eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit, eine bemerkenswerte Integrationsleistung, regelmässige Triumphe an Berufsweltmeisterschaften oder eine herausragende akademische Publikationsrate. Man möchte nun meinen, dass dementsprechend das bewährte Schweizer Schulwesen nur behutsam mithilfe von Feinjustierungen weiterentwickelt würde. Weit gefehlt! Seit Jahren wird uns von Experten und Politikern eingetrichtert, wie reformbedürftig das in Wahrheit alles sei. Als Folge davon finden unter anderem immer mehr Unterrichtskonzepte, die bis anhin klassische Merkmale von Privatschulen darstellten, Eingang in die Volksschule. Im Dezember berichtete der «TagesAnzeiger» über die Primarschule Obfelden, wo seit 8 Jahren sowohl Jahrgangs- als auch Mehrjahrgangs-Klassen mit altersdurchmischtem Lernen (AdL) geführt werden; offenbar zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Doch damit soll nun Schluss sein: Die Schule stellt vollständig auf AdL um. Den Entscheid fällten Schulleitung und Schulpflege ohne Mitsprache der Lehrerschaft und der Eltern. Die ersten Lehrer haben gekündigt, 200 Eltern formieren sich zum Widerstand, der Kanton mag sich nicht einmischen. Der Schulpflegepräsident vertritt die Auffassung, diese Umstellung sei ein strategischer Führungsentscheid. Die Eltern müssten ihnen vertrauen. Ein Einbezug der Lehrerschaft habe nie zur Debatte gestanden, denn: «Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.» Offensichtlich nicht die Lehrpersonen. Der denkwürdigste Satz des Schulpflegepräsidenten lautet: «In einer Mehrklasse kann man Heterogenität besser auffangen, da die Klasse wegen der Altersdurchmischung schon heterogen ist.» Analog wäre das Einbrechen auf offenem Eis also weniger problematisch, wenn man bereits vorher unterkühlt war. Si tacuisses … Aus meiner Sicht ist im Grundsatz nichts dagegen einzuwenden, wenn unkonventionelle Unterrichtsmodelle an öffentlichen Schulen Anwendung erfahren. Zwei gewichtige Vorbehalte bringe ich jedoch an: Einerseits muss die Methodenfreiheit der Lehrkräfte respektiert werden und andererseits darf man die Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht einfach übergehen, wenn es sich bei den geplanten Neuerungen um veritable Paradigmenwechsel handelt. Andernfalls transformiert man eigenmächtig die Privatschulen von gestern zu den öffentlichen Schulen von morgen – und womöglich auch umgekehrt. Wer dies anstreben sollte, kann eine transparente demokratische Auseinandersetzung nicht überspringen. Roger von Wartburg Präsident LVB 2014/15-03 Inhalt 2 Editorial: «Im pädagogischen Bereich ist klar, wer entscheidet.» Von Roger von Wartburg 3 Inhalt/Impressum 4 Einladung zur DV/MV vom 18. März 2015 Impressum lvb.inform 2014/15-03 Auflage 2700 Erscheint 4-5-mal jährlich Herausgeber Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland LVB 4133 Pratteln Kantonalsektion des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH Website: www.lvb.ch Redaktion LVB-Geschäftsstelle per Adresse Michael Weiss Sonnenweg 4, 4133 Pratteln Tel 061 973 97 07 [email protected] Abonnemente Für Mitglieder des LVB ist das Abonnement von lvb.inform im Verbandsbeitrag enthalten. Layout Schmutz & Pfister, Grafik und Design www.schmutz-pfister.ch 5 Protokoll der DV/MV vom 24. September 2014 Von Gabriele Zückert 12 Pragmatismus ist die einzige Option! Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21 Von Michael Weiss und Roger von Wartburg 20 Perlenfischen weitere Perlen auf S. 26, 40 und 52 Von Roger von Wartburg 22 Hält Frühfranzösisch, was es verspricht? Warum eine umfassende Evaluation bereits jetzt erforderlich ist Von Heinz Bachmann 28 Das pädagogische Quartett Genau so! Von Gabriele Zückert 32 Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt: Was uns die Geschichte der schulischen Innovationen lehren kann Von Philipp Loretz 38 Die Fleischkäsewerkstatt Nach Lorenz Derungs 42 Lehrplan 21 und die Frage: Schweizer Schule - quo vadis? Gastbeitrag von Beat Kissling 53 Strichwörtlich Von Hanspeter Stucki 54 Stellenausschreibung für einen Posten in der LVB-Geschäftsleitung Gestaltung, Textumbruch Philipp Loretz 55 LVB-Informationen Lektorat Roger von Wartburg 58 «Bekenntnisse des Schulentwicklers Felix Walldorf» – Sechster Teil Eine Fortsetzungsgeschichte von Michael Weiss Druck Schaub Medien AG, 4450 Sissach 62 Der letzte Schrei: Im Tunnel Von Heinz Bachmann 3 Einladung zur Delegierten– und Mitgliederversammlung des LVB 4 Mittwoch, den 18. März 2015 19.30 Uhr, Coop Tagungszentrum, Muttenz Traktanden 1. Begrüssung, Übersicht, Stimmenzähler Statutarische Geschäfte Stimmberechtigt sind die Delegierten. Diese erhalten eine separate Einladung per Post. 2. Protokoll der DV vom 24. September 2014 3. Wahl in den Kantonalvorstand: Esther Schmid Manca (Vertretung des VTGHK) Berufspolitische Geschäfte Stimmberechtigt sind alle anwesenden Mitglieder. 4. Übersicht zu den laufenden Geschäften des LVB 5. Hauptthema: Referat von Prof. Dr. Allan Guggenbühl: Moderne Unterrichtskonzepte aus entwicklungspsychologischer Sicht Eine kritische Betrachtung der Vorstellungen über Lehren und Lernen im Geiste von Individualisierung, Selbstorganisation und Selbstreflexion der Schülerschaft mitsamt deren Implikationen für den Lehrberuf. 6. Verabschiedung einer Resolution 7. Diverses Im Anschluss an die DV/MV wird ein Apéro offeriert. Münchenstein, 22.01.2015 Der Kantonalvorstand 2014/15-03 Protokoll DV/MV 1.2014/2015 vom Mittwoch, 24. September 2014, 19.30 – 22.15 Uhr, Coop Tagungszentrum, Muttenz Von Gabriele Zückert LVB-Delegierte: total 96, anwesend 56 LVB-Mitglieder: ca. 100 Traktanden: 1. Begrüssung, Übersicht, Stimmenzähler Statutarische Geschäfte 2. Protokoll ausserordentliche DV vom 27. Mai 2014 3. Jahresrechnung 2013/2014, Revisionsbericht 4. Budget 2014/2015 inkl. Festlegung der Mitgliederbeiträge 1. Begrüssung, Übersicht, Stimmenzähler Roger von Wartburg begrüsst die anwesenden Delegierten und Mitglieder. Im Speziellen begrüsst er Bildungsdirektor Urs Wüthrich-Pelloli, Bruno Rupp als Vertreter der Geschäftsleitung LCH, die zahlreich anwesenden Ehrenmitglieder des LVB, anwesende Mitglieder der BKSK und die Referenten Christine Le Pape Racine (PH FHNW), Giuseppe Manno (PH FHNW), Rudolf Wachter (Universitäten Basel und Lausanne) und Urs Kalberer (Lehrer, Didaktiker, Bildungs-Blogger). Als Stimmenzähler werden Philippe Peter und Didier Moine einstimmig gewählt. Antrag auf Änderung der Traktandenliste: R. von Wartburg beantragt aus aktuellem Anlass zwei Ergänzungen der Traktandenliste: 5. Wahlen in den Kantonalvorstand: Neu: 5.1. Wahlen in den Kantonalvorstand. 5.2. Wahlen in die LCH-Delegiertenversammlung. 10. Verabschiedung einer Resolution: Neu: Verabschiedung von zwei Resolutionen. Beiden Änderungen der Traktandenliste wird einstimmig, ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen, zugestimmt. Statutarische Geschäfte Stimmberechtigt sind die Delegierten. Vorsitz: Roger von Wartburg 5. Wahlen 6. Statutenanpassungen Berufspolitische Geschäfte 7. Übersicht zu den laufenden Geschäften des LVB 8. Hauptthema: Zwei kontradiktorische Referate zum Thema Frühfremd 9. Danksagung 10 Verabschiedung von 2 Resolutionen 11 Diverses 2. Protokoll ausserordentliche DV vom 27. Mai 2014 Das Protokoll wird einstimmig genehmigt, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. budgetierte Ausgaben sind jedoch geringer ausgefallen als befürchtet. Die Rechnung schliesst daher statt mit ca. 20'000 Fr. Verlust mit einer roten Null ab. 3. Jahresrechnung 2013/2014, Revisionsbericht Bilanz: M. Weiss kommentiert ausgewählte Positionen. Revisionsbericht: Er bescheinigt der Rechnung ihre Richtigkeit. Abstimmung: Die Jahresrechnung 2013/2014 wird einstimmig angenommen, keine Gegenstimmen, eine Enthaltung. Vereinskasse: In der Vereinskasse ist etwas weniger Geld, weil die Geschäftsleitung im letzten Jahr weniger Arbeitsstunden als üblich mit dem Kanton verrechnet, sondern direkt ausgezahlt hat, weswegen das Geld früher fällig wurde. Jubilarenkasse: Sie ist ausgeglichen. Kampfkasse: Sie hat sich wegen des Sonderbeitrages gut entwickelt. Rechtsschutzkasse: Die Ausgaben liegen im üblichen Rahmen. Ab nächstem Jahr werden allerdings keine Lohnkosten (Ressort Beratung und Rechtshilfe) mehr über diese Kasse abgerechnet. Die Obligationen, die aufgrund der Forderung der BLPK (siehe Traktandum 4) aufgelöst wurden, erscheinen als Ertrag. Ein Gutachten betreffend den Stellenabbau auf der Sek-I-Stufe wurde über diese Kasse abgerechnet. Erfolgsrechnung: Die Erfolgsrechnung stimmt in den meisten Positionen gut mit dem Budget überein. Einige M. Weiss dankt Christoph Straumann, der noch einen Grossteil der Jahresrechnung erstellt hat. 4. Budget 2014/2015 inkl. Festlegung der Mitgliederbeiträge Der LVB hat in den Jahren 1969 bis 1992 einen Sekretär beschäftigt und bei der BLPK versichert. Im Zuge der Ausfinanzierung der BLPK muss der LVB nun die Deckungslücke der Pensionskassenbeiträge von ca. 255’000 Fr. ausfinanzieren. An der a.o. DV vom Mai wurde beschlossen, die in Obligationen angelegte Reserve der Rechtsschutzkasse aufzulösen (rund 113'000 Fr.). Von diesem Geld werden Ende Jahr 105'000 Fr. direkt an die BLPK überwiesen. Für die Restschuld nimmt der LVB bei der BLKB einen Kredit auf mit Defizitgarantie des Kantons. Der Sekretär wurde allerdings auch vom swch (Schule und Weiterbildung Schweiz) beschäftigt und zwar zu etwa 50%. Offiziell war bei 5 6 der BLPK – wahrscheinlich damals der Einfachheit halber – nur der LVB als Arbeitgeber gemeldet, die PK-Beiträge wurden jedoch von beiden Vereinen anteilsmässig entrichtet. Dieser Umstand geriet allerdings im Zuge der diversen Wechsel innerhalb der LVBGL seit Anfang der 1990er Jahre in Vergessenheit. Der LVB hat dem swch nun die Forderung gestellt, die Hälfte der Ausfinanzierung zu übernehmen, was dieser abgelehnt hat. Ein Prozess ist möglich. Der LVB muss noch abwägen, ob sich dies lohnt. Ein Loch ins Budget reissen ausserdem die vielen Frühpensionierungen. Es liegt ein strukturelles Defizit von etwa 40'000 Fr. vor. Deswegen kann der LVB nicht auf den bestehenden Sonderbeitrag von 20 Fr. verzichten. Im schlechtesten Fall muss nächstes Jahr der Sonderbeitrag auf 30 Fr. erhöht werden, im besten Fall hat der LVB nächstes Jahr 250 neue Mitglieder. Um die Mitgliedschaft im LVB auch finanziell attraktiver zu machen, ist die Geschäftsleitung in Absprache mit dem Kantonalvorstand eine Partnerschaft mit Sunrise eingegangen. M. Weiss stellt die verschiedenen Angebote vor. Das wahrscheinlich attraktivste Angebot ist ein Flat-Abo für 35 Fr. für Mobiltelefonie (inkl. Gespräche, SMS, MMS und Internet). LEBE (Lehrerverein Bern) hat durch dieses Angebot einen sprunghaften Mitgliederanstieg erlebt. Die Geschäftsleitung erhofft sich den gleichen Effekt in Baselland und muntert die Delegierten auf, sich weiterhin für das Werben von Neumitgliedern einzusetzen, wobei das Sunrise-Angebot ein zusätzliches Motivationspflaster sein kann. Budget: M. Weiss erläutert einige Positionen. Der Erlös aus Mitgliederbeiträgen wird höher ausgewiesen, weil der Sonderbeitrag in die Kasse fliessen wird. Die Auflösung der Reserve (Obligationen) in der Rechtsschutzkasse wird wegen des Bezahlens der BLPK- Schuld gleich wieder aufgebraucht. Die Erlöse aus den Profitcentern des LCH werden vorsichtiger budgetiert. Die Kampfkasse bleibt auf ihrem Niveau (kein Sonderbeitrag), der Rechtsschutzkasse wird kein Personalaufwand mehr verrechnet, sie muss aber eventuelle Prozesskosten gegen den swch tragen. Das Budget weist ein Defizit von 200'000 Fr. aus. Der KV beantragt aus obengenannten Gründen die Erhebung eines Sonderbeitrages BLPK für das laufende Schuljahr von 20 Fr. Die Delegierten genehmigen die Mitgliederbeiträge einstimmig, keine Gegenstimmen, 3 Enthaltungen. Dem Budget 2015 wird einstimmig zugestimmt, keine Gegenstimmen, 4 Enthaltungen. 5. Wahlen 5.1. Wahl in den Kantonalvorstand Adrian Marbacher, die neue Vertretung des BLVSS (Basellandschaftlicher Verein für Sport in der Schule), wird einstimmig, ohne Gegenstimmen und Enthaltungen, in den Kantonalvorstand gewählt. R. von Wartburg heisst ihn in diesem Gremium willkommen. 5.2. Wahlen in die LCH-Delegiertenversammlung Einige Mitglieder der Geschäftsleitung sind in verschiedenen Gremien des LCH vertreten und gleichzeitig auch noch Delegierte des LCH. Um die Geschäftsleitung zu entlasten, die Verantwortung breiter abzustützen und Überschneidungen aufzuheben, hat die Geschäftsleitung einen Aufruf gestartet, sich für diese Aufgabe zu melden. Auf den Aufruf haben sich 3 Interessierte gemeldet. Dennis Krüger (Gym Liestal, neu), Susanne Niederer (Sek Allschwil, neu), Urs Stammbach (PS Lausen, neu) und Claudia Ziegler (VSF, bisher) werden einstimmig, ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltungen, gewählt. R. von Wartburg wünscht ihnen allen ein erfolgreiches Wirken in ihrem Amt. 6. Statutenanpassungen: R. von Wartburg erläutert die Gründe der verschiedenen Statutenänderungen, die den Delegierten per Brief zugeschickt wurden. Im Anschluss wird über die einzelnen Änderungen wie folgt abgestimmt: § 11.1: Vereinssitz ist die Geschäftsstelle: Neu: Der Sitz des Vereins entspricht dem Sitz der Geschäftsstelle. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen. § 14.3i: Pensionierte als eigene Verbandssektion: Neu: i) pensionierte LVB-Mitglieder. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen. § 18.1: Neuberechnung des Anspruchs auf Delegiertensitze pro Sektion: Neu: Auf je 20 beitragspflichtige Mitglieder einer Sektion sowie auf eine Restmitgliedschaft von mindestens 11 ist ein Delegierter bzw. eine Delegierte zu wählen. Jeder Sektion stehen mindestens 5 Delegiertensitze zu. Eine Ausnahme bildet die Sektion der pensionierten LVB-Mitglieder: Ihr stehen unabhängig von ihrer Mitgliederzahl 3 Delegiertensitze zu. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen und mit einer Enthaltung, angenommen. § 18.2: nur aktive Lehrpersonen als Delegierte (Ausnahme: Pensioniertensektion) Mit Ausnahme der drei Vertretungen der Sektion der Pensionierten sowie der LVB-Ehren- 2014/15-03 7 mitglieder müssen Delegierte Lehrpersonen im aktiven Schuldienst Baselland sein. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen bei zwei Enthaltungen, angenommen. § 22.1: Mitgliederzahl und Anspruch auf Sitze im Kantonalvorstand: Neu: 22.1 Dem KV gehören maximal 22 Mitglieder an. Jede Verbandssektion hat Anspruch auf mindestens einen Sitz im KV. Hinsichtlich der restlichen Sitze wird eine ausgewogene Vertretung der Regionen und Schulstufen angestrebt. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen und mit zwei Enthaltungen, angenommen. § 26.2: Anzahl Publikationen lvb.inform pro Geschäftsjahr: Neu: 26.2 Sie erscheint in der Regel 4- bis 5-mal pro Geschäftsjahr. Die Änderung wird einstimmig, ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen, angenommen. Berufspolitische Geschäfte Stimmberechtigt sind alle anwesenden LVB-Mitglieder. 7. Übersicht zu den laufenden Geschäften des LVB 7.1. Wassersicherheit: Das AVS hat im Juni 2014 allen Schulleitungen eine Broschüre zur Wassersicherheit zukommen lassen. In zwei Ausgaben, eine für die Volksschule und eine für die Stufe Sek II, wird eine Übersicht über Vorsichtsmassnahmen gegeben. Es steht darin wörtlich, dass diese Mindeststandards unbedingt eingehalten werden müssen. Das AVS hat aber weder ein Einführungsdatum, Hilfestellungen noch Übergangsbestimmungen zur Broschüre geliefert. An den Schulen herrscht deswegen grosse Verunsicherung. Der LVB erhielt viele Anfragen. Der Jurist des LVB sagt, die Broschüre sei juristisch relevant. Falls die Lehrperson die Mindeststandards nicht erfülle, könnte das bei einem Vorfall bedeuten, dass der Lehrperson Fahrlässigkeit vorgeworfen werde. Der LVB empfiehlt daher, die beschriebenen Aktivitäten nur noch anzubieten, wenn man die Mindeststandards erfüllt. Wo die Zeit für die nötigen Weiterbildungen herkommen soll, ist (nebst dem HarmoS-bedingten Weiterbildungsbedarf) ebenfalls nicht geklärt. 7.2. Information durch LVB-Delegierte an den Schulen: Der LVB ist als Mitglied der ABP (Arbeitsgemeinschaft Basellandschaftlicher Personalverbände) offizieller Sozialpartner. Er darf über die Fächli oder die Pinnwand im Lehrerzimmer informieren, ebenfalls an Konventen. Es hat Schulorte gegeben, an denen diese Abmachung seitens der Schulleitung gebrochen wurde. Die E-Mail-Adressen des Arbeitgebers zu benutzen, ist heikel. Wenn man alle selber abtippt, dürfen sie gebraucht werden. Einen Schulverteiler darf man nicht nutzen. 7.3 Rechte der Konvente: Eine Schulleitung hat sehr stark in den Konvent eingegriffen und ihr nicht genehme Traktanden eigenmächtig gestrichen. Der LVB ist sich mit dem Bildungsdirektor einig, dass der Konvent das entscheidende Mitspracheorgan der Lehrerschaft ist. Traktanden werden vom Konventsvorstand festgelegt. Die Schulleitung darf darin nicht eingreifen, solange die Themen effektiv die Schule betreffen. Es ist ausserdem auch möglich, Traktanden in Abwesenheit der Schulleitung zu besprechen. 7.4. Stellensicherung Sek I: Auf der Sek I wird das Äquivalent von 200 Stellen abgebaut. Es handelt sich dabei durchgängig um befristete Stellen. Unbefristete Verträge müssen nicht aufgelöst werden. Unter den befristet Angestellten sind einige Härtefälle. Im Paritätischen Ausschuss werden diese Fälle am 8.10.14 diskutiert werden. Anfangs September hat das RAV eine Veranstaltung für diese Lehrpersonen durchgeführt, die gemäss diversen Rückmeldungen ein absoluter Ablöscher für die Anwesenden gewesen sein muss. Die RAV-Vertretungen seien als arrogant empfunden worden. Eine Wortmeldung aus dem Saal regt an, auch junge Lehrpersonen als Härtefalle zu betrachten, die zum «falschen» Zeitpunkt ihre Ausbildung abgeschlossen und deswegen nur eine befristete Anstellung bekommen hätten. Viele davon hätten gerade eine Familie gegründet und seien auf das Einkommen angewiesen. 7.5 Entlastung Primarlehrpersonen 6. Schuljahr: Die Resolution der letzten DV, Mittelstufen-Primarlehrpersonen im Umfang von 3 Wochen vom Unterricht zu entlasten, wenn sie zum ersten Mal das 6. Schuljahr übernehmen, hat zu einem Teilerfolg geführt. In den nächsten 2 Jahren haben die Schulleitungen für diese Klassenlehrpersonen je 2 Wochen Entlastung zur Verfügung. Die ist nicht zuletzt ein Erfolg für den Einsatz des LVB. 7.6. Weiterbildungen Sek I: Die Petition der Arbeitsgruppe des LVB für fachlich bessere Ausbildungen an der PH vor allem auch in den neuen Kombifächern hat bei der Petitionskommission des Landrates Erfolg gehabt. Die Petition wird an den Landrat überwiesen, der seinerseits ein Postulat an die Regierung überweisen soll. Abgestimmt wird darüber voraussichtlich am 2. Oktober. 8 8. Hauptthema: Zwei kontradiktorische Referate zum Thema Frühfremd mit anschliessender Publikumsdiskussion Für die Pro-Seite sprechen: • Christine Le Pape Racine (PH FHNW); • Giuseppe Manno (PH FHNW) Für die Contra-Seite sprechen: • Rudolf Wachter (Universitäten Basel und Lausanne); • Urs Kalberer (Lehrer, Didaktiker, Bildungs-Blogger) R. von Wartburg leitet das Thema mit einem satirischen Text von Andreas Thiel aus dem «Nebelspalter» ein und stellt die einzelnen Referenten kurz vor. Christine Le Pape Racine: Der Hauptfokus des Kurzreferats von Frau Le Pape Racine liegt auf dem Wandel der Gesellschaft (Stichwort Globalisierung), der es erforderlich mache, in der Schweiz zwei Fremdsprachen zu können. Die Kinder hätten heute das Recht und die Pflicht, zwei Fremdsprachen zu lernen. Wenn die Fremdsprachen in der Primarzeit angelegt würden, käme jedes Kind zum Zug, andernfalls könnten auf der Oberstufe die Fremdsprachen abgewählt werden. Gleichzeitig sei eine neue Didaktik der funktionalen Mehrsprachigkeit entstanden, die alte Didaktik des getrennten Sprachenlernens sei überholt. Im Projekt Passepartout, einem didaktischen Entwicklungsprojekt, werde nun eine interkantonale Harmonisierung angestrebt. Im Passepartout-Lehrplan seien drei Bereiche verbindlich: 1. Die kommunikative Sprachhandlungsfähigkeit; 2. das Bewusstsein für Sprachen und Kulturen; 3. der systematische Aufbau von Sprachlernstrategien. Da es ein langjähriges Projekt sei, klappe vieles nicht sofort. 2018 werde das Gesamtprojekt evaluiert. Die Lehrmittel würden nach einer ausgiebigen, zweijährigen Test- phase eingeführt werden. Gemäss dem Motto «Older is faster, younger is better», verbunden mit der Ergänzung «nur unter bestimmten Bedingungen», ist Frau Le Pape Racine davon überzeugt, dass Frühfremdsprachen ihre Berechtigung haben. Giuseppe Manno: Sein Kurzreferat fokussiert auf die Grundlagen des Passepartout-Projekts. Eine Frage sei, ob die frühe Einführung der Fremdsprachen überhaupt möglich sei. Es gebe sowohl positive als auch negative Erkenntnisse aus verschiedenen Studien. Eine eindeutige Antwort auf die Frage gebe es bis anhin nicht. Viele Studien bezögen sich auf andere Länder und es sei gefährlich, diese Resultate direkt auf helvetische Verhältnisse zu übertragen. Studien im helvetischen Kontext hätten praktisch keine Beachtung gefunden. Eine Innerschweizer Studie habe im Klassenvergleich gezeigt, dass die verschiedenen Sprachen voneinander profitieren und die Deutschkompetenzen nicht darunter leiden würden. Der Staat, so Manno, würde nicht die Frage des Alters für den Beginn des Fremdsprachenunterrichts als übergeordnete Frage behandeln, sondern die Umsetzung der Reform stehe im Vordergrund. Die Reform sei nicht abgeschlossen. Es sei verfrüht, definitive Entscheide oder Meinungen dazu zu äussern. Es gebe noch Forschungslücken und da müsse noch weiter empirisch geforscht werden. Die Studien müssten u.a. die angewandte Didaktik und die Rahmenbedingungen berücksichtigen. Die Evaluationen müssten zuerst einmal die Kompetenzen messen, nicht nur formale Aspekte wie die Grammatik oder das Vokabular. Es sei relevanter, im Rahmen der Mehrsprachendidaktik das mehrsprachige Repertoire der Schülerinnen und Schüler zu betrachten. Urs Kalberer: Als leidenschaftlicher Sprachlehrer sei er als Kritiker der Früh- fremdsprachen keinesfalls gegen den Sprachunterricht als solchen. Er wehre sich aber dagegen, wenn eine Generation von Schülerinnen und Schülern aus ideologischen Gründen missbraucht werde, das aktuelle Konzept über sich ergehen lassen zu müssen. Das neue Sprachenkonzept baue auf neuropsychologischen Untersuchungen auf. Man sei dabei davon ausgegangen, dass frühes Sprachenlernen effizienter sei. Dabei handle es sich aber um eine Fehlinterpretation, da es nicht vergleichbar sei, wenn ein Kind im Ausland (z.B. als Folge eines Umzugs) eine Fremdsprache lerne oder nur während 2 bis 3 Lektionen pro Woche in der Primarschule. Es sei zwar richtig, dass junge Lernende ältere Lernende nach einiger Zeit überholten, bei 2-3 Lektionen pro Woche müsse man allerdings damit rechnen, dass dies erst nach 20 Jahren (!) Sprachunterricht der Fall sein werde. Der naturalistische Spracherwerb, den er an einem Beispiel erläutert, sei ganz anders als derjenige in der Schule. In verschiedenen Studien sei ausserdem die Lernstandsmessung auf derart tiefem Niveau angesetzt gewesen, dass nur ein gutes Resultat habe herausschauen können. Studien aus aller Welt kämen zu anderen Schlussfolgerungen: Kurzer, kompakter und intensiver Unterricht gegen Ende der obligatorischen Unterrichtszeit bringe mehr. Rudolf Wachter: Seine Motivation, sich in die Diskussion um die Frühfremdsprachen einzuschalten, seien viele Gespräche mit Lehrpersonen gewesen. Diese hätten berichtet, der Unterricht bringe nicht das, was man sich versprochen habe. Es sei effizienter und effektiver, wenn man später damit anfange. R. Wachter meint, eine Frühfremdsprache sei für ihn in Ordnung, zwei jedoch seien zu viel, da Deutschschweizer Kinder ja mit der ersten Frühfremdsprache schon die dritte Sprache lernen würden (neben 2014/15-03 9 HEINZ ANTON MEIER Dialekt und Hochdeutsch). Den Lehrpersonen solle klar sein: Jede Bewusstheit der Schülerinnen und Schüler über ihre eigene Sprache helfe beim Lernen einer anderen Sprache. Bei der Interpretation verschiedener Studien, so stelle er fest, müsse man vorsichtig sein, teilweise würden regelrechte Gefälligkeitsgutachten im Nachhinein erstellt, um die Einführung von Frühfremdsprachen zu legitimieren, so geschehen im Kanton Zürich für Frühenglisch zu Buschors Zeiten. Bereits damals habe er sich aus wissenschaftsethischen Gründen in die Debatte eingeschaltet. In den Studien werde aber nicht erwähnt, wann denn die zweite Fremdsprache folgen solle, dabei gehe es im Kern genau um diese Frage. Ausgeklammert werde ebenfalls die Qualität, auf die das Kind für seinen Spracherwerb aufbauen könne. Eine Studie von Bertolet, den er persönlich kenne und als überaus seriösen Forscher schätze, zeige auf, dass es schneller vorangehe, wenn man später beginne. Dies liege darin begründet, dass gegen Ende der Schulzeit die Schülerinnen und Schüler über eine höhere Kompetenz in der Erstsprache verfü- gen und darauf aufbauen könnten. Dann könnten sie die Sprache auch in ihrer Funktionalität verstehen. Leider habe aber das Gebot des gesunden Menschenverstandes in der Wissenschaft zu wenig zu melden. R. Wachters konkreter Vorschlag lautet: Erste Fremdsprache ab der 4. Klasse, die zweite ab der 7. Klasse. Publikumsdiskussion: 1. Publikumsfrage: Wie U. Kalberer die Ausbildung der Lehrpersonen auf Niveau C2 des europäischen Sprachenportfolios beurteile. U. Kalberer: Das zu erreichen, sei wohl unmöglich. Und dennoch müssten auf der Primarstufe im Prinzip die «besten Leute» unterrichten. Die Ausbildung sei einfach noch nicht auf dem Niveau. Dies könne auch an dem nicht ausgereiften Lehrmittel liegen, meint jemand aus dem Publikum. Mit Lehrmitteln der Oxford und Cambridge Press erreichten andere Länder viel bessere Resultate betr. DELF/DALF und First Certificate. 2. Publikumsfrage: Ob es z.B. möglich wäre, zusätzlich zum eigentlichen Frühfremdsprachenunterricht ca. 25% der übrigen Fächer wie Werken, Musik etc. immersiv zu unterrichten. R. Wachter meint, das wäre sicher besser, aber es würde wohl an der Praxis scheitern: Wo finde man entsprechend qualifizierte Lehrpersonen? 3. Publikumsfrage: Der Fragende hat in Yverdon auf der Sekundarstufe Deutsch unterrichtet und die Kinder hätten danach trotzdem kaum Deutsch gekonnt. Da habe es auch nichts genützt, dass er aus der Deutschschweiz stamme und damit Muttersprachler sei. R. Wachter: Die Schüler seien halt sehr schnell demotiviert. Da helfe auch eine muttersprachliche Lehrperson nicht immer. Ausserdem könne eine Lehrperson, die die Zielsprache habe lernen müssen, sich besser in die Kinder einfühlen und z.B. erkennen, weshalb genau bestimmte Fehler gemacht würden. Dass diese Lehrperson aber ausgezeichnete Kenntnisse der Zielsprache haben müsse, stehe ausser Frage. Chr. Le Pape Racine: Der Erfolg sei der grösste Motivator. Wenn Kinder merken würden, dass sie vorwärts kommen, dann würden sie auch lernen. 10 Schlechte Noten in Tests und ständige Fehlerkorrekturen dagegen hätten einen negativen Effekt. Ausserdem müsse der Inhalt des Unterrichts interessant sein. Das Lehrmittel «Mille Feuilles» sei den entwicklungspsychologischen Schritten der Kinder didaktisch angepasst. Dazu komme, dass nun immer mehr in Sprachen gut ausgebildete Lehrpersonen im Schuldienst stünden und damit die Frühfremdsprachen besser unterrichtet werden könnten. Da sei es ohne Weiteres möglich, auch einmal in einem anderen Fach etwas in Englisch oder Französisch einzuführen. 4. Publikumsfrage: Eine Kindergartenmutter habe festgestellt, dass ihr Kind in der 3. Klasse unter Stresssymptomen leide, seitdem die Stundentafel in Baselland mit Frühfranzösisch noch erweitert wurde. Was sagen die Referenten dazu? Chr. Le Pape Racine: Das sei schon möglich, könne aber auch auf andere Faktoren zurückzuführen sein. Nachfrage: Hätte man dafür besser andere Stunden streichen sollen? Chr. Le Pape Racine: Die Stundentafeln in der Schweiz seien sehr unterschiedlich. Es gebe, auf die Dauer der Volksschule hochgerechnet, bis zu zwei Jahre Unterschied in der Stundendotation. Das müsse man ansehen. Nachfrage: Ob sie persönlich der Meinung sei, man hätte Frühfranzösisch der Stundentafel hinzufügen oder etwas Bestehendes damit ersetzen sollen. Chr. Le Pape Racine: Das müsse man im Einzelfall ansehen. 5. Publikumsvotum: Eine Lehrperson, die Frühfranzösisch unterrichtet und die Sprache an sich liebt, stellt lapidar fest, dass Preis und Leistung in keinem Verhältnis stünden. 6. Publikumsfrage: Ob man die Kinder nicht «betrüge», wenn man die Frühfremdsprache erst als spielerisch und «gratis» verkaufe und auf der Sek I ginge es dann auf einmal los mit intensivem Lernen? G. Manno: Er erachtet diese Frage als nicht zeitgemäss. Wichtig sei, dass man die Didaktik der jeweiligen Stufe anpasse. Es stimme nicht, wenn behauptet werde, dass das Passepartout-Konzept ein «Laissezfaire» sei. Es sei ein kohärentes Konzept vorhanden. Im Lehrmittel «Mille Feuilles» seien metasprachliche Betrachtungen vorgesehen. Es gebe ausserdem auch grammatikalische Betrachtungen. 7. Publikumsfrage: Die Lehrperson stellt fest, dass aus vielen Gesprächen mit anderen Lehrpersonen der Mittelstufe hervorgehe, dass nur etwa 8% der Kinder nicht überfordert seien mit zwei Fremdsprachen, notabene die leistungsstärksten der Klasse. Für den Rest seien zwei Fremdsprachen zu viel. Auch gerade fremdsprachige Kinder hätten grösste Mühe. Chr. Le Pape Racine: Man habe in grossangelegten Studien festgestellt, dass Kinder mit einer anderen Muttersprache in den Frühfremdsprachen nicht schlechter abschneiden würden als Schweizer Kinder. Natürlich gebe es immer Ausnahmen. Die Motivation für Frühfranzösisch sei auch aufgrund vieler negativer Presseartikel, die die Kinder schliesslich auch mitbekämen, gesunken. R. von Wartburg bedankt sich bei den Referenten und der Referentin. Ihnen wird ein kleines Präsent überreicht. 9. Danksagung Monika Rohner (BLVSS) M. Weiss würdigt Monika Rohner, die 13 Jahre lang dem BLVSS als Präsidentin vorgestanden ist. Sie war massgeblich an der Lohnklage beteiligt, die die Sportlehrpersonen auf Sek I und Sek II in eine bessere Lohnklasse geführt hat. 2003 hat sie den BLVSS unter die Fittiche des LVB geführt und seither Einsitz im Kantonalvorstand genommen. Ihr wird ein Blumenstrauss über- reicht. M. Rohner bedankt für die Zeit im Kantonalvorstand und für die Unterstützung des LVB für die Belange der Sportlehrpersonen. Sie wünscht der Geschäftsleitung, dem Kantonalvorstand und dem LVB als Ganzes weiterhin viel Kraft, Energie und Beharrlichkeit in allen Anliegen. 10. Verabschiedung von zwei Resolutionen 10.1. Resolution Nr. 1 Thomas Bretscher hatte an der letzten DV einen Resolutionsentwurf eingereicht, der nun angepasst zur Abstimmung kommt. R. von Wartburg erläutert kurz die einzelnen Punkte. Die Resolution lautet wie folgt: • Fortbildungskosten, die vom Arbeitgeber (Kanton) bzw. von der Schulleitung verordnet werden, müssen zu 100% vom Arbeitgeber übernommen werden. • Für Fortbildungen, die eine Nachqualifikation bedingen, um die bisherige Unterrichtsberechtigung im betreffenden Schulfach zu erhalten (Erhaltung und Sicherung der erreichten Berufsstellung), müssen vom Arbeitgeber bezahlte Zeitgefässe (Lektionenentlastungen, bezahlte Stellvertretungen) zur Verfügung gestellt werden, damit für die Lehrkräfte weiterhin ein 100%-Pensum bzw. das bisherige Unterrichtspensum möglich ist. Die Fortbildungszeit und Fortbildungskosten dürfen nicht wie bisher aus Spar- und Traditionsgründen auf die Lehrkräfte abgewälzt werden. • Kleinere Fortbildungen, die bei der HARMOS-Umsetzung notwendig sind, müssen im Rahmen der bisherigen EAF bewältigt werden können und vom Arbeitgeber bezahlt werden. Sollten aber die Weiterbildungen nicht im Rahmen der EAF 2014/15-03 11 abgewickelt werden können, so muss der Arbeitgeber zusätzliche bezahlte Zeitressourcen zur Verfügung stellen. • Der Umfang der Fortbildungen, welche für HARMOS-bedingte Nachqualifikationen erforderlich ist, wird kantonal einheitlich und nach Absprache mit den Sozialpartnern festgelegt. Die Resolution wird einstimmig, ohne Gegenstimmung und Enthaltungen, angenommen. 10.2. Resolution Nr. 2 R. von Wartburg erläutert die Resolution, die folgendermassen lautet: Mit der geplanten Gemeindestrukturreform sollen die Gemeinden künftig befugt sein, die Löhne der Gemeindelehrkräfte in erheblichem Mass selbst zu bestimmen. Der LVB lehnt solche «Ortszulagen», die im letzten Jahrhundert mit gutem Grund abgeschafft wurden, ohne Wenn und Aber ab: • Es darf nicht sein, dass der Kanton und seine Gemeinden auf dem Buckel der am schlechtesten entlöhnten Lehrpersonenkategorie sparen! • Es kann nicht sein, dass in Zeiten einer angestrebten Harmonisierung der Bildung durch eine Kommunalisierung der Anstellungsbedingungen der Lehrkräfte strategisch exakt in die Gegenrichtung marschiert wird! • Es darf nicht sein, dass Kanton und Gemeinden sich für ihre Sparideen ausgerechnet einen typischen Frauenberuf aussuchen! • Es darf nicht sein, dass das Unterrichten in kleinen Gemeinden noch unattraktiver wird, als es heute schon ist (lange Arbeitswege, unsi- chere Pensen, veraltete oder fehlende Infrastruktur)! • Es darf nicht sein und es ist nicht im Interesse der Kinder, dass durch einen sinnlosen Wettbewerb die Gemeinden damit anfangen, sich gegenseitig bewährte Lehrkräfte abzuwerben und dadurch eine höhere Fluktuation an den Schulen hervorrufen! • Es kann nicht im Interesse des Kantons und der kleinen Gemeinden sein, wenn es in Zukunft noch schwieriger wird, für ohnehin wenig attraktive Standorte gut qualifizierte Lehrkräfte zu gewinnen! So ein Ansinnen steht in fundamentalem Widerspruch zu einem der Kernanliegen der Volksschule: Dass jedes Kind aus jeder Gemeinde ein Anrecht hat auf stufengerecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer! Der LVB sagt daher klar Nein zu einer Kommunalisierung der Löhne der Primar- und Musikschullehrkräfte und wird jeden in diese Richtung gehenden Versuch mit aller Vehemenz bekämpfen. Eine Lehrperson möchte, dass statt von «kleinen Gemeinden» von «ärmeren Gemeinden» die Rede sein soll. Die Resolution wird mit dieser Anpassung einstimmig, ohne Enthaltungen und Gegenstimmen, angenommen. 11. Diverses Eine Wortmeldung bemängelt, dass für den Hauptteil zu wenig Zeit vorhanden gewesen sei, vor allem für die Fragen an die Gäste. R. von Wartburg erwidert, dass die Tagesaktualität die zeitliche Planung oft überhole – aktuell z.B. mit der projektierten Gemeindestrukturreform, welche die zweite Resolution erforderlich gemacht habe. Die Geschäftsleitung müsse ausserdem schon so aus den unzähligen parallel bestehenden Baustellen das Allerwichtigste herausfiltern, so gut es gehe. Mit nur zwei Versammlungen pro Jahr sei das keine einfache Aufgabe, eine Erhöhung der Anzahl Versammlungen wäre aber wohl auch nicht im Interesse der Mitglieder. Die Geschäftsleitung nehme die Anregung mit für künftige Planungen. R. von Wartburg bedankt sich bei allen Anwesenden für die Teilnahme und schliesst damit die Sitzung. Im Anschluss an die DV/MV wird ein Apéro offeriert. 12 Pragmatismus ist die einzige Option! Das LVB-Manifest zum Umgang mit dem Lehrplan 21 Von Michael Weiss und Roger von Wartburg Die grosse Kontroverse Trotz seines Umfangs ist der Lehrplan 21 wohl eines der in der Deutschschweiz am intensivsten diskutierten Schriftstücke überhaupt. Auch der LVB hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahren fundiert und kritisch damit auseinandergesetzt, sich beim Kanton und beim LCH in die Vernehmlassung eingebracht und diverse Artikel dazu publiziert.1 Sofern die durch den Baselbieter Landrat am 2. Oktober 2014 überwiesene Parlamentarische Initiative nicht zu einem anderen Ergebnis führen wird, steht die Einführung des Lehrplans 21 in unserem Kanton bald bevor: Bereits kommenden Sommer an den Primarschulen, 2018 auch an den Sekundarschulen. Entscheidend für eine gangbare Einführung ist aus Sicht des LVB ein in jeder Hinsicht pragmatischer Umgang mit dem Lehrplan und dem damit verbundenen Kompetenzkonzept, und zwar von allen Beteiligten. Sollten Schulleitungen, Bildungsverwaltung und Pädagogische Hochschulen dazu nicht Hand bieten, wird dieses ambitiöse Unternehmen endgültig scheitern. Die Meinungen zum neuen Werk könnten konträrer nicht sein: Während die einen die Ansicht vertreten, der Lehrplan 21 schreibe ohnehin nur die gelebte Praxis an den Schweizer Schulen nieder, sehen andere im Lehrplan 21 einen fundamentalen Paradigmenwechsel, ohne sich freilich darin einig zu sein, ob dieser die Volksschule zum Guten oder zum Schlechten verändern wird. Die Feststellung, dass nicht wenige Exponenten der Bildung ihre diesbezügliche Einschätzung den Erwartungen ihres Publikums anpassen, macht die Situation nicht übersichtlicher. Wenig vertrauensbildend wirkt ausserdem die höchst widersprüchliche Kommunikation der einzelnen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren. Dies weckt den Verdacht, dass die politisch Verantwortlichen selber nicht so richtig wissen, was sie da in Gang gesetzt haben. Hinter den vorgefertigten Textbausteinen der jeweiligen Einflüsterer tut sich jedenfalls allzu oft eine erschreckend ausladende inhaltliche Leere auf. Pragmatismus als einzige Option Das Projektmanagement des Lehrplans 21, dessen Konzeption und die damit verbundene Kommunikation waren insgesamt ungenügend bis schlecht. Deshalb ist die fundierte Kritik, die von verschiedener Seite aufgekommen ist, auch absolut gerechtfertigt. Sofern der Lehrplan 21 auf politischem Wege nicht doch noch gänzlich abgeschossen wird, dann wird in den einzel- nen Kantonen letztendlich aber wohl gar nicht primär der Lehrplan 21 an sich, sondern noch stärker der konkrete Umgang mit ihm, verbunden mit kantonalen Ausdifferenzierungen und Anpassungen, darüber entscheiden, ob seine Einführung gelingen kann oder nicht. Der LVB ist überzeugt davon, dass einzig und allein ein in jeder Hinsicht pragmatischer Umgang mit dem Lehrplan 21 und der Kompetenzorientierung Aussicht auf Erfolg haben kann. 6 Leitsätze des LVB und daraus abgeleitete Botschaften Was dies beinhaltet, soll im Folgenden anhand von sechs Leitsätzen aufgezeigt werden. Aus diesen leiten sich dann entsprechende Botschaften an die Schulleitungen, die Bildungsverwaltung, die Pädagogischen Hochschulen und die Lehrmittelverlage ab. Leitsatz 1: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört zuallererst die Einsicht und das Bekenntnis, dass mit dem Begriff der Kompetenz nichts beschrieben wird, was nicht seit eh und je als Merkmal eines guten Unterrichts gegolten hat. Kernpunkt der meisten Auseinandersetzungen um den Lehrplan 21 ist die Kompetenzorientierung, die auch in der nun freigegebenen Fassung des Lehrplans konsequent beibehalten wurde. Im überarbeiteten Lehrplan 21 wird die Kompetenzorientierung folgendermassen erklärt: «Beschrieben Lehrpläne lange Zeit, welche Inhalte Lehrerinnen und Lehrer unterrichten sollen, beschreibt der Lehrplan 21, was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen wissen und können sollen. Dies geschieht durch die Formulierung fachli- 2014/15-03 13 Es wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, die Stoffpläne früherer Zeiten seien allein in der Absicht geschrieben worden, zu definieren, was Lehrerinnen und Lehrer lehren sollten, nicht aber, um darzulegen, was Schülerinnen und Schüler wissen, können und verstehen sollten! cher und überfachlicher Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schülerin in den Fachbereichen erwerben. Die dem Lehrplan zugrundeliegende Kompetenzorientierung nimmt zentrale Aspekte eines aktuellen Bildungs- und Lernverständnisses auf. Danach bedeutet schulische Bildung – insbesondere auf der Volksschulstufe – die kontinuierliche, durch Lehrpersonen und Lehrmittel unterstützte Aneignung von Wissen und Fähigkeiten. Damit bleibt auch für den vorliegenden Lehrplan die kulturelle Dimension von Wissen und fachlicher Bildung zentral. Wissen als Kompetenz wird in einem breiten Sinne verstanden: als direkt nutzbares Verfügungswissen, als Reflexionswissen und als Orientierungswissen. Die dem Lehrplan zugrunde liegende Idee der Kompetenzorientierung bedeutet keine Abkehr von einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und Kulturbildung, sondern im Gegenteil deren Verstärkung und Festigung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin orientiertes Bildungsverständnis.» Wir heben noch einmal hervor: Verstärkung und Festigung einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und Kulturbildung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin orientiertes Bildungsverständnis soll also der Grundgedanke der Kompetenzorientierung sein. Darüber, wie dieser Grundgedanke umgesetzt werden soll, finden sich im Lehrplan 21 ebenfalls Aussagen: «Kompetenzorientiert unterrichten heisst, spezifische Inhalte und Gegenstände so auszuwählen und als Lerngelegenheiten zu gestalten, dass erwünschte Kompetenzen daran erworben oder gefestigt werden können. Die Lehrperson als zentrale Akteurin stellt auf der Basis von Lehrplan und Lehrmitteln Überlegungen an, welche Wissens- und Könnensziele sich anhand welcher Fachinhalte und Themen im Unterricht auf welchem Niveau bearbeiten lassen. Darauf basierend gestaltet sie Lernumgebungen und Unterrichtseinheiten, die geeignet sind, dass Schülerinnen und Schüler daran die relevanten Kompetenzen erwerben können. Dabei schenkt sie den Voraussetzungen in der Klasse bzw. der Lerngruppe hohe Beachtung. Qualitativ gute Lehrmittel und Lernmedien, gehaltvolle und fachdidaktisch durchdachte Aufgaben und Gegenstände sowie vielfältig eingesetzte Methoden sind die Grundlage für die Planung und Umsetzung eines solchen Unterrichts. Kompetenzorientiert unterrichten heisst über die Stoffvorgaben hinaus explizit an die Wissensstrukturen und Fähigkeiten denken, die an einem Inhalt, einer Aufgabe erschlossen oder sich daran aufbauen, festigen oder anwenden lassen. Kompetenzorientierter Unterricht beginnt bei der Unterrichtsplanung und endet idealerweise bei der Vergegenwärtigung, ob die angestrebten geistigen Vorstellungen, Begriffe und Fähigkeiten auch tatsächlich durch die Schülerinnen und Schüler erworben wurden. […]» Unterricht wirklich ausmacht, und während man frühere Begriffe durch neue ersetzt, merkt man gar nicht, dass sich zwar der Begriff, nicht aber der Inhalt verändert hat. Es wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, die Stoffpläne früherer Zeiten seien allein in der Absicht geschrieben worden, zu definieren, was Lehrerinnen und Lehrer lehren sollten, nicht aber, um darzulegen, was Schülerinnen und Schüler wissen, können und verstehen sollten! Die Erklärung erscheint unmittelbar einleuchtend, allerdings findet man auch nach längerem Hinsehen und Nachdenken keinen einsichtigen Grund, warum die so definierte Art des Unterrichtens «kompetenzorientiertes» Unterrichten und nicht einfach «gutes» Unterrichten genannt wird. Dieselbe Definition könnte auch zu Rate gezogen werden, wenn es darum ginge, lernzielorientierten Unterricht zu definierten, wobei es nicht einmal eine Rolle spielt, ob diese Lernziele nun operationalisiert sind oder nicht. Aus Sicht des LVB hätte sich von Anfang an jegliche Kontroverse über die Kompetenzorientierung erübrigt, wenn klar gewesen wäre, dass mit dem Begriff «Kompetenz» hier dasselbe gemeint ist wie in der Alltagssprache: das tatsächliche Beherrschen und Anwendenkönnen von Gelerntem. In diesem Falle liesse sich der Kompetenzbegriff einordnen als eine Art Synonym für «Fähigkeiten und Fertigkeiten». Und wenn dem so wäre, dann würde dieser Kompetenzbegriff exakt dem entsprechen, was jede seriöse Lehrperson in ihrem Unterricht schon immer angestrebt hat. So kommt jeder neue pädagogische Begriff mit dem Anspruch daher, nun endlich das zu beschreiben, was guten Dennoch scheint das Beharren auf dem Kompetenzbegriff (der insbesondere im Bereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» mehr hinderlich als nützlich ist) dem merkwürdigen Glauben zu entspringen, Schülerinnen und Schüler hätten bislang Dinge, die im Unterricht behandelt wurden, nur darum nicht gewusst, verstanden oder gekonnt, weil der Lehrplan dies nicht explizit verlangt hat. Es genügt aber nicht, mehrere tausend mit «Die Schülerinnen und Schüler können …» beginnende Sätze in einen Lehrplan hineinzuschreiben, um sicherzustellen, dass die Kinder und Jugendlichen dann auch tatsächlich etwas können. Das Problem ist nun aber, dass wir im internationalen schulischen Kontext 14 auf eine bereits länger andauernde Historie des Kompetenzbegriffs zurückblicken können, die einen mit grosser Sorge um die Qualität unseres Bildungssystems erfüllen muss. Seit der Veröffentlichung des ersten Entwurfs des Lehrplans 21 hat der LVB immer wieder darauf hingewiesen. In der Bildungspolitik nämlich entstammt der Begriff der Kompetenz einem Konzept der OECD, in welchem es darauf ankommt, Schülerinnen und Schüler im Sinne einer grösstmöglichen Ökonomisierung der Bildung als Humankapital in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig zu machen. Die Zauberwörter heissen Nützlichkeit, Effizienz, Kalkulierbarkeit, Normierung, Messbarkeit, Kontrolle. denkompetenzen unterzuordnen, weil angenommen wird, dass die globale Wirtschaft von künftigen Erwerbstätigen diese Eigenschaften am ehesten benötigt. In anderen Ländern (USA, Deutschland, Frankreich, Österreich) hat man mit entsprechend kompetenzorientierten Lehrplänen teilweise bereits seit den 1990er Jahren Erfahrungen gesammelt – und krebst mittlerweile vielerorts ernüchtert zurück, weil man feststellt, dass solche Konzepte zu einer Aushöhlung der Bildung führen. Dass man derartige Fakten in der helvetischen Debatte um die Ausrichtung des Lehrplans 21 permanent aussen vor gelassen hat, ist überaus stossend. Leitsatz 2: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört, dass man das zu Erreichende mit den geltenden Rahmenbedingungen in Einklang bringt. Solange die Rahmenbedingungen (Pflichtstundenzahlen, Klassengrössen, Ansehen des Lehrerberufs, Qualität der Lehrmittel, Unterricht durch oftmals nicht adäquat ausgebildete Lehrkräfte, immer höhere Bildungsansprüche auch für traditionell «einfache» Berufe) gleich bleiben oder sogar schlechter werden, lässt sich das, was die Schule zu leisten imstande ist, nicht mehr weiter steigern. Daran kann auch der Lehrplan 21 nichts ändern. PIXABAY Effizienz und Messbarkeit: Das Rezept der OECD In so einem Konzept hat sich inhaltliche Bildung gänzlich dem Erwerb so genannter «fachunabhängiger Kompetenzen» wie Personalkompetenz, Sozialkompetenz und allerlei Metho- Die Forderungen, die der Lehrplan 21 hinsichtlich Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Methodenvielfalt, Umgang mit Heterogenität, Beurteilung sowie Einbezug überfachlicher Kompetenzen an den Unterricht stellt, sind mit den heutigen Rahmenbedingungen bestenfalls teilweise erfüllbar. Auch institutionalisierte Kooperationsformen, wie sie aktuell an etlichen Schulen umgesetzt werden, reduzieren den Vorbereitungsaufwand der einzelnen Lehrperson nicht, wie bereits im entsprechenden Artikel im lvb.inform 2013/14-03 ausgeführt wurde.2 Leitsatz 3: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört, dass die Lehrkraft einzelne Kompetenzen und Kompetenzstufen den tatsächlichen Gegebenheiten ihrer jeweiligen Klasse entsprechend anpasst und nicht auf unerreichbare Zielformulierungen behaftet wird. Liest man den Lehrplan 21 durch, so stösst man immer wieder auf Kompetenzen oder Kompetenzstufen, die so offen formuliert sind, dass eine echte Kompetenz im betreffenden Gebiet allenfalls auf einem akademischen Niveau erreichbar wäre. Hierzu einige Beispiele: • Die Schülerinnen und Schüler können die persönlichen Lese-/Hör und Seherfahrungen mit literarischen Texten den anderen verständlich mitteilen. (Deutsch, 1. Zyklus) • Die Schülerinnen und Schüler können sich auf offene Aufgaben einlassen, Beziehungen erforschen, Vermutungen formulieren und Lösungsalternativen suchen. (Mathematik, 2. Zyklus) • Die Schülerinnen und Schüler können darlegen, wie Demokratie entstanden ist, wie sie sich weiterentwickelt hat und sich von anderen Regierungsformen unterscheidet. (RZG, 3. Zyklus) Solche Forderungen (alle drei Beispiele gehören übrigens zu den Grundanforderungen des Lehrplans!) müssen dem Stand und dem Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler entsprechend eingegrenzt, konkretisiert und vorbereitet werden. Selbst dann sind sie jedoch überaus anspruchsvoll und können nicht den Unterrichtsall- 2014/15-03 15 «Lehrpersonen brauchen die Freiheit, ihre persönlichen Begabungen und Interessen einzubringen, damit sie eine Beziehung aufbauen können. Sie sind keine Programmvollstrecker, sondern eher Künstler.» (Allan Guggenbühl) tag dominieren. Es darf nicht übersehen werden, dass solch anspruchsvolle Kompetenzen auch im Lehrplan 21 die Ausnahme darstellen, und dementsprechend auch im Unterricht als solche behandelt werden müssen. Leitsatz 4: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört es, bewährte Formen der Wissensvermittlung weder zu diskreditieren noch über Bord zu werfen. Sucht man im Lehrplan 21 nach Hinweisen darüber, wie Unterricht lernwirksam gestaltet werden kann, so findet man dazu folgende Aussage: «Unterrichtsmethoden und Organisationsformen ermöglichen den Lehrpersonen auf die heterogenen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden und die Zusammensetzung der Klasse bzw. der Lerngruppe einzugehen. Sie variieren passend zu den Unterrichtszielen die Lehr- und Lernformen, die Inszenierungsmuster und den Unterrichtsverlauf. Variable Unterrichtsarrangements machen eine Differenzierung vor allem über die Sozialform und das Ausmass an Fremdbzw. Selbststeuerung möglich. Beispiele von Unterrichtsformen, denen bei guter Aufgabenqualität und Lernunterstützung ein hohes Potenzial für zielerreichendes Lernen zuzuschreiben ist, sind frontaler Klassenunterricht, Planarbeit, Lerntagebücher, Formen des kooperativen Lernens, Entdeckendes Lernen oder Projekte, der Einbezug von Spielelementen in Lernumgebungen, aber auch die Variation von Lernmedien oder die Nutzung von innerund ausserschulischen Lernorten.» Jede Lehrerin und jeder Lehrer sammelt mit zunehmender Dauer ihrer Berufstätigkeit vielfältige Erfahrungen darüber, welche Unterrichtsformen in welchen Situationen funktionieren und welche nicht. Dies hängt natürlich vom Unterrichtsgegenstand und der unterrichteten Klasse ab, ebenso aber auch von der Persönlichkeit der Lehrkraft. Auch mit dem Lehrplan 21 muss Unterricht so geplant und durchgeführt werden, dass die unterrichtende Lehrperson sich mit der Art, wie sie unterrichtet, wohlfühlt. Der LVB wiederholt diese Kernbotschaft immer und immer wieder: Authentische Vielfalt ist besser als verordnete Einfalt. Der Psychologe Allan Guggenbühl schreibt: «Lehrpersonen brauchen die Freiheit, ihre persönlichen Begabungen und PIXABAY Interessen einzubringen, damit sie eine Beziehung aufbauen können. Sie sind keine Programmvollstrecker, sondern eher Künstler.»3 Unterrichtsmethoden, die sich bewährt haben, sollen keinesfalls wegen des Lehrplans 21 achtlos über Bord geworfen werden. Roland Reichenbach von der Universität Zürich formulierte es unlängst so: «Mein Wunsch ist es in der Tat, dass man dem Bewährten mehr Beachtung schenkt. […] Dass man Methoden und Lerntechniken mit Begriffen wie progressiv und konservativ etikettiert, ist Unfug.»4 Wenig zielführend ist in diesem Zusammenhang, wie derzeit in Sachen Schulentwicklung extrem einseitig in Richtung individualisierendes, selbstorganisiertes und kooperatives Lernen gepusht wird, während gleichzeitig Unterricht im Klassenverband – beispielsweise das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch – pauschal als vollkommen rückständig und nutzlos gebrandmarkt wird. So wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, sich selbst zu organisieren und kooperativ zu arbeiten, so wichtig es auch ist, ihre individuellen Bedürfnisse zu berück- PIXABAY «Vielfalt hat noch nie einen Konflikt ausgelöst. Erst wenn die Vielfalt nicht mehr anerkannt wird, droht ein Konflikt.» (Donall O'Riagain) 16 Dass, wie man hört, bereits private Anbieter von Schule zu Schule ziehen, um ihre ausladenden «Kreuzchenbögen» feilzubieten, lässt wenig Gutes erahnen. sichtigen, so heikel ist es auch, die Organisation der Schule vollständig diesen Zielen unterzuordnen. Allan Guggenbühl weist darauf hin, dass in einem hochgradig individualisierenden, binnendifferenzierenden Unterricht «[…] die Klasse von den Schülern nicht als Lerngemeinschaft erlebt wird. Die meisten Kinder lernen, weil sie sich mit der Klassengemeinschaft identifizieren. Sie lernen, weil alle es tun. Haben sie individuelle Lernziele, dann fällt die Klasse als Orientierungsgrösse weg, der Stoff wird sozial irrelevant. […] Die Idee des individuumzentrierten Unterrichts ist, dass die Schüler ihre Lernziele eigenständig definieren und Lernprozesse selber organisieren. Auf diese Weise seien sie auch motiviert zu lernen. […] Für viele Kinder gilt dies nicht. Der Schulstoff ist für sie persönlich nicht relevant. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und werden durch schulfremde Themen absorbiert. Sie können mit dem Freiraum nicht umgehen […]. Ich kritisiere, dass man die Wichtigkeit einer Klasse unterschätzt. Kinder gehen wegen ihrer Kolleginnen und Kollegen zur Schule. Der Stoff ist oft ein Nebenprodukt des sozialen Geschehens.»5 Leitsatz 5: Zu einem pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 gehört eine handhabbare, zweckmässige und altersgerechte Beurteilungspraxis. Neben der Leistungsbeurteilung in den einzelnen Fächern, die im Kanton Baselland in der Laufbahnverordnung geregelt wird, legt der Lehrplan 21 ein grosses Gewicht auf die Bewertung der so genannten überfachlichen Kompetenzen. Diese sind unterteilt in personale Kompetenzen (Selbstreflexion, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit), soziale Kompetenzen (Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Umgang mit Vielfalt) sowie methodische Kompetenzen (Sprachfähigkeit, Informationen nutzen und Aufgaben/ Probleme lösen). Jede dieser neun Kompetenzen wird durch bis zu acht Teilkompetenzen beschrieben, so dass für eine Bewertung der überfachlichen Kompetenzen schliesslich 56 Teilkompetenzen zu bewerten wären. Nachdem es Basel-Stadt bereits «geschafft» hat, einen Beurteilungsbogen für den Kindergarten zu kreieren, der diesen Detaillierungsgrad sogar noch übertrifft, erscheint es dringend geboten, darauf hinzuweisen, dass PIXABAY 2014/15-03 17 niemandem damit gedient ist, wenn für die Beurteilung allein der überfachlichen Kompetenzen pro Schulkind 56 Kreuze gesetzt werden müssen. Dass, wie man hört, bereits private Anbieter von Schule zu Schule ziehen, um ihre ausladenden «Kreuzchenbögen» feilzubieten, lässt wenig Gutes erahnen. Die vier bis acht Teilkompetenzen, welche jede der neun überfachlichen Kompetenzen beschreiben, müssen daher vielmehr als Indikatoren gesehen werden, anhand derer die neun überfachlichen Kompetenzen bewertet werden können. Ebenfalls bedenklich ist die Tendenz, dass selbst Vierjährige im Kindergarten – deren Lehrpersonen teilweise schon froh sind, wenn die Kinder alleine auf die Toilette gehen können – zunehmend nach ähnlichen Kriterien beurteilt werden sollen wie erwachsene Arbeitnehmende: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig.» / «Das Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt.» Die Journalistin Barbara Achermann spürte dem Phänomen der neuartigen Kindergarten-Beurteilung mithilfe standardisierter Lernberichte nach und schrieb unter Berufung auf eine Kindergartenlehrperson: «Beim Elterngespräch würden die Lernberichte mitunter zu grotesken Situationen führen. Anstatt dass man darüber rede, wie sich das Kind in der Gruppe verhalte oder weshalb es motorische Schwierigkeiten habe, werde über unwichtige Details diskutiert. Etwa darüber, weshalb das Kreuzchen bei der Frage «Das Kind kann auf einem Bein stehen und hüpfen» nicht weiter rechts stehe.»6 Leitsatz 6: HarmoS und der Lehrplan 21 sind kein Freipass für einen Totalumbau unseres Schulsystems. Der demokratisch legitimierte Auf- PIXABAY trag zur Harmonisierung der öffentlichen Schule beinhaltet wohl die Erstellung eines interkantonalen Lehrplans, nicht aber eine Umstellung des Schulsystems auf eine gänzlich neue Didaktik. Eine solche im Windschatten von HarmoS und Lehrplan 21 einführen zu wollen, wäre ein unlauterer und verantwortungsloser Umgang mit der vom Volk erteilten Direktive. Mit Sorge stellt der LVB daher fest, wie die Idee des Konstruktivismus im pädagogisch-didaktischen Diskurs immer mehr an Boden gewinnt. Diese philosophische Vorstellung, dergemäss der Mensch von seiner Aussenwelt kein objektives Bild erhalten kann, sondern sich von ihr sein eigenes, subjektives Bild konstruieren muss, wird im schulischen Zusammenhang dahingehend (miss)gedeutet, dass es nicht möglich sei, einem Menschen das selbst erfahrene Wissen über die Welt weiterzugeben. Stattdessen setzt man in der konstruktivistischen Pädagogik vollumfänglich auf das Selbst-Entdecken von Wissen und sieht darin die einzig wahrhafte Möglichkeit des Wissenserwerbs. Konsequenterweise wird daher in ei- ner als «modern» verstandenen Fremdsprachendidaktik mehrheitlich darauf verzichtet, den Wortschatz oder grammatikalische Strukturen systematisch einzuführen und zu festigen, sondern darauf vertraut, dass sich diese ähnlich wie beim Muttersprachenerwerb bei den Lernenden von selbst aufbauen. Warum der Erwerb einer Fremdsprache in der Schule nicht mit dem Erwerb der Muttersprache vergleichbar ist, wurde bereits an anderer Stelle erörtert.7 Neuerdings macht sich nun auch in der Mathematik und in den Fächern des Bereichs «Natur, Mensch, Gesellschaft» die Tendenz breit, Erkenntnisse nur noch dann «zuzulassen», wenn sie auf eigenem Entdecken der Lernenden beruhen. Die Vorstellung, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sein könnten, wesentliche Erkenntnisse (z.B. den Satz des Pythagoras oder das Auftriebsgesetz) wirklich neu zu entdecken, ist jedoch vollkommen absurd; wäre dies möglich, hätte es nicht 200'000 Jahre Menschheitsgeschichte erfordert, bis diese Entdeckungen Realität wurden. Natürlich kann man den Schülerinnen 18 Unsere Botschaft an die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung ist es daher, vorderhand keine zusätzlichen Schulentwicklungsprojekte zu lancieren, und zwar nicht, weil all diese grundsätzlich unnötig wären, sondern weil sie zum jetzigen Zeitpunkt das System Schule zu überlasten drohen. und Schülern bis zu einem gewissen Grad «eigene» Entdeckungen ermöglichen. Das dazu nötige Setting gleicht allerdings eher der Situation, in der man jemandem eine Schaufel in die Hand drückt, ihn dort hinstellt, wo man zuvor den Schatz vergraben hat, und ihn dann anweist, an jener Stelle zu graben. Wenn auch nicht bestritten werden soll, dass ein solches Schatzheben hin und wieder reizvoll und lehrreich sein kann, so sollte doch dringend davon Abstand genommen werden, selbstentdeckendes Lernen zur einzig funktionierenden Lehrmethode emporzustilisieren und den Lehrerinnen und Lehrer ihre Rolle als Wissensvermittler abzusprechen. Die Botschaft an die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung Die Umstellung auf 6 Jahre Primarschule respektive 3 Jahre Sekundarschule sowie einen neuen Lehrplan beschert allen Schulbeteiligten in den kommenden Jahren mehr als genug Arbeit. Unsere Botschaft an die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung ist es daher, vorderhand keine zusätzlichen Schulentwicklungsprojekte zu lancieren, und zwar nicht, weil all diese grundsätzlich unnötig wären, sondern weil sie zum jetzigen Zeitpunkt das System Schule zu überlasten drohen. primär auf die Erfüllung eines Anspruchs nach einer wie auch immer verstandenen Kompetenzorientierung aufzubrauchen, sondern wieder vermehrt darauf zu achten, dass der Unterrichtsstoff systematisch, in bewältigbaren Einheiten, und vor allem mit ausreichendem und den Bedürfnissen der Heterogenität und der methodischen Vielfalt Rechnung tragendem Übungsmaterial versehen ist. Die Botschaft an die Pädagogischen Hochschulen Unsere Botschaft an die Pädagogischen Hochschulen ist es, ihren Studierenden einen ähnlich pragmatischen Umgang mit dem Lehrplan 21 nahezulegen, wie ihn auch der LVB hier propagiert, und in jedem Fall von einer Fixierung auf ein rein konstruktivistisches Lernverständnis abzusehen. Die Botschaft an die Lehrmittelverlage Unsere Botschaft an die Lehrmittelverlage schliesslich ist es, ihre Energie bei der Erstellung neuer Lehrmittel nicht Juni/50_Der_letzte_Schrei_LVB_1314-04.pdf; gische_Kooperation_LVB_1314-03.pdf http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01- Vom Nutzen sinnlosen Wissens (September 3 August/16_lvb.inform_1314-01.pdf; Kritik an 2014): http://www.lvb.ch/docs/ Luzerner Zeitung, 03.01.2015 «Natur, Mensch, Gesellschaft» (August 2013): magazin/2014_2015/01-August/13_Reichen- 4 http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01- bach_Forneck_und_die_Tiere_in_Afrika_ formen», reformiert.info, 09.09.2014 August/22_lvb.inform_1314-01.pdf; Ist das LVB_1415-01.pdf; For knowledge itself is power 5 überhaupt ein Lehrplan? (August 2013): http:// no more (September 2014): http://www.lvb.ch/ Luzerner Zeitung, 03.01.2015 1 Fragen zum Kompetenzbegriff (August 2013): Schüler brauchen klare Leitfiguren, Neue «Kritik ja – aber nicht ständig neue ReSchüler brauchen klare Leitfiguren, Neue www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/01-Au- docs/magazin/2014_2015/01-August/17_For_ 6 gust/24_lvb.inform_1314-01.pdf; Die offizielle knowledge_is_power_no_more_LVB_1415-01. 19.11.2014 Stellungnahme des LVB (November 2013): pdf; Eingebettet in ein Pädagogisches Quartett 7 http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/02- (September 2014): http://www.lvb.ch/docs/ www.lvb.ch/de/Aktuell/News/2014/06-23_Com- November/06_inform1314-02-Stellungnahme_ magazin/2014_2015/01-August/34_Das_paeda- munique-Bild-Harm.php, sowie das Protokoll LP21.pdf; Die Evolution der Bildungsharmoni- gogische_Quartett_LVB_1415-01.pdf der LVB-DV/MV vom 24.9.2014 in diesem Heft sierung (Januar 2014): http://www.lvb.ch/docs/ 2 magazin/2013-2014/03-Januar/30_Evolution_ Kooperation»: Klarstellung des Kantons mal y pense» aus dem lvb.inform 2013/14-04: HarmoS_LP21_LVB_1314-03.pdf; Kompetenz vs. dringend erforderlich!, lvb.inform 13/14-03, http://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/04- Wissen als Kurzgeschichte (Juni 2014): http:// online auf http://www.lvb.ch/docs/ Juni/25_Fruehfremd_LVB_1314-04.pdf110 www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/04- magazin/2013-2014/03-Januar/11_Paedago- Die BKSD-Broschüre «Pädagogische Hilfe, die Schule brennt, annabelle 21/14, siehe LVB-Newsletter vom 23.06.2014, http:// und den Artikel «Früh fremd? Honni soit qui 2014/15-03 19 20 Perlenfischen Von Roger von Wartburg Bei den Perlen der vorliegenden Ausgabe handelt es sich samt und sonders um Antworten von Akteuren aus dem Bildungsbereich auf Fragen von Journalisten oder auf Zuschriften. Die geneigte Leserschaft ist eingeladen, sich ihr Urteil darüber zu bilden, wem sie aufgrund der getätigten Äusserungen am meisten Vertrauen und Glauben zu schenken vermag. Perle 1: Was bedeutet Autorität im Lehrerberuf? Ein Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach, erschienen am 13. Januar 2015 im österreichischen «Standard». «Das sogenannte Leben hat einen sehr guten Ruf, die sogenannte Schule weniger. Die pädagogische Forderung nach «Lebensnähe» der Schule bleibt unkritisch bejaht. Doch von welchem Leben wird gesprochen? Von der Alkoholsucht meines Vaters, der Depression meiner Mutter, der Nullbockstimmung meiner Freunde, dem Humbug der Medien, die ich stundenlang konsumiere? Für nicht wenige Kinder und Jugendliche ist die Schule nahezu der einzig wirklich verlässliche Ort in deren Leben – oder könnte und sollte es sein. Wer für die Schule lernt, lernt jedenfalls etwas. Und in der Regel wesentliche Bestandteile unserer Wissenskultur. Zweifellos ist richtig, dass man mit sicherlich 90 Prozent der Wissensgegenstände, die in der Schule gelernt werden, im sogenannten Leben – das offenbar nur ausserhalb oder nach der Schule stattfindet – konkret rein nichts «anfangen» kann. Bildung, so meinte Hans Blumenberg, ist kein Arsenal, sondern ein Horizont. Mit einem Horizont können Sie nichts anfangen. Es geht bei dieser Metapher um Einsicht in die Dinge und die Welt. Und es ist immer gut, wenn Menschen einen «weiten Horizont» haben, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilen können, nicht nur aus jener des unmittelbaren Nutzens. […] Der Lehrer und die Lehrerin – in allen Schulstufen – geniessen gerade in Südkorea, das sehr konfuzianisch geprägt ist, eine hohe gesellschaftliche Anerkennung, gerade weil die Schule eine hohe gesellschaftliche Anerkennung erfährt und nicht als notwendiges Übel gegen das sogenannte Leben positioniert wird. Wenn man in Südkorea sagt: «Er redet wie ein Lehrer», dann heisst das nicht, dass diese Person sich oberlehrerhaft benimmt, obwohl sie eigentlich nur eine universelle Dilettantin ist, sondern dass man von ihr etwas lernen kann. […] Nur ist mir bewusst, dass die tatsächliche Praxis und die Theorien des Lernens auch etwa in Korea zwei Paar Schuhe sind. Das sollte einen aber nicht davon abhalten, davon zu lernen. Ich glaube, dass wir im Neokonfuzianismus interessante Einsichten finden über die Bedeutung der «Bildsamkeit», der Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, ohne zu fragen, was es «bringt». […] Päd-Agogik meint die Führung von Kindern und Jugendlichen. Zur Führungsmetaphorik haben wir speziell im deutschsprachigen Bereich sicher ein ambivalentes, teilweise gestörtes Verhältnis. Das ist auch verständlich. Doch geführt werden muss sowieso, das weiss jeder, der je einmal vor einer Klasse gestanden ist. Die […] Alternativmetaphern kaschieren den Führungsaspekt, im Grunde wird die unumgängliche Verantwortung des Pädagogen kaschiert. «Führung» wie «Begleitung» sind Wegmetaphern, bei der ersten ist klar, wer das Ziel des Weges kennt, bei der zweiten offenbar nicht mehr. Wenn das Kind dann am falschen Ort ankommt, ist der Lehrer auch nicht wirklich verantwortlich, denn er hat ja bloss Lernprozesse «begleitet». Auch wenn jemand, der sich als «Lernbegleiter» versteht, trotzdem sehr guten Unterricht gestalten kann. Das ist klar. […] Will man sachlich über Autorität sprechen, so ist es sinnvoll, zwischen Autorität als Anerkennungsverhältnis, autoritärem Verhalten und der sogenannten autoritären Persönlichkeit zu unterscheiden. Pädagogisch zu bejahen ist sicher nur das erste Verständnis. Sich von jemanden etwas sagen zu lassen, erklären und zeigen zu lassen, heisst, diese Person hinsichtlich dieser Sache als Autorität anzuerkennen. Das geschieht immer wieder auch unfreiwillig, das ist klar. Autoritäres Verhalten ist hingegen meist ein Zeichen dafür, dass diese Anerkennung verweigert worden ist. Eine Lehrperson mag autoritäres Verhalten zeigen, genau weil sie diese Anerkennung nicht erfährt, sei es vermeintlich oder tatsächlich. Das ist problematisch. Nicht nur für die Schüler. Daher ist es sträflich, Fragen der Führung und Autorität in der Lehrerbildung zu vernachlässigen. Die «autoritäre Persönlichkeit» zeichnet sich durch rigiden Konventionalismus und die Neigung, «Schwächere» zu un- 2014/15-03 21 terdrücken und sich «Stärkeren» zu unterwerfen, aus. Pädagogische Autorität hat das Ziel, sich aufzulösen: Es gehört zur Bildung des Menschen, sich von Autoritäten auch zu befreien. Diese Emanzipation ist konstitutiv für die Fähigkeit, ein eigenes Leben zu führen. […] Wir wissen, dass die Person des Lehrers oder der Lehrerin zentral ist, etwa für den Lernerfolg der Schüler, aber das hat wenig oder nichts mit den «Persönlichkeitszügen» zu tun. Es gibt sehr introvertierte und sehr extrovertierte Lehrpersonen, beide können hervorragende oder auch weniger gute Arbeit leisten. Entscheidend ist eher, dass sie sich als «Person» einbringen, als Lehrerin oder Lehrer. Ich glaube, eine Lehrperson «taugt» dann pädagogisch, wenn sie vier Dinge immer wieder zu zeigen und leisten vermag: dass sie das, was sie lehrt, für wichtig hält; dass sie will, dass die Schüler diesen Gegenstand lernen; dass sie auch zeigt, dass die Schüler das lernen können; und dass sie zeigt, dass sie ihnen dabei hilft und tatsächlich hilft. Mehr kann sie nicht tun. Wenn der Schüler merkt: Die findet wichtig, was sie sagt, sie will, dass ich es lerne, und sie glaubt auch, dass ich es lernen kann und will mir dabei helfen, dann ist dieser Schüler zu beneiden. Wenn er sich dann immer noch nicht auf die Sache einlässt, dann ist das früher oder später tatsächlich allein sein Problem. Nur, die Lehrerin darf ihn trotzdem nicht aufgeben. Darin besteht das Ethos der Lehrperson. […] Bildungsreformen sind meist ein Ausdruck davon, dass widersprüchliche Konstellationen der Gesamtgesellschaft «behandelt» werden (müssen). Doch Problembehandlung heisst nicht Problemlösung. Daher rufen Reformen, wie es Niklas Luhmann formuliert hat, vor allem ein Bedürfnis ins Leben: den Ruf nach weiteren Reformen. Die Reformitis ist eine globale Entzündung, die man nicht mit einfachen Therapien wegbringt. Die Probleme wandeln sich, aber die Problemlagen werden bleiben, das ist sicher.» Weitere Perlen auf S. 26, 40 und 52 HEINZ ANTON MEIER 22 Hält Frühfranzösisch, was es verspricht? Warum eine umfassende Evaluation bereits jetzt erforderlich ist Von Heinz Bachmann überhaupt zulässt, kann nicht aufgeschoben werden. Weil jedes Kind nur eine Schulzeit hat. Es ist wahr: Erst seit zweieinhalb Jahren wird Französisch im Kanton Baselland bereits ab der 3. Primarklasse unterrichtet. Deshalb kann man geneigt sein, noch einige Jahre ins Land ziehen lassen zu wollen, bevor eine erste Evaluation dieser Neuerung vorgenommen wird. Wahr ist aber auch, dass die Zahl an kritischen und ablehnenden Meldungen, die Lehrpersonen, Schulleiter und nicht zuletzt auch Eltern schulpflichtiger Kinder an den LVB richten, eindeutig zu hoch ist, um sie zu ignorieren. Es geht nicht um Polemik und erst recht nicht um Vorwürfe an die Primarlehrpersonen. Die Klärung der Frage aber, ob das bestehende Setting mitsamt der propagierten Didaktik und dem entsprechenden Lehrmittel einen erfolgreichen Unterricht Fallbeispiel M. Der 10-jährige M. gehört zum ersten Jahrgang, welcher im Kanton BaselLandschaft nach der neuen Stundentafel unterrichtet wird. Seit der dritten Klasse «taucht» er mit dem Lehrmittel «Mille feuilles» ins «Französisch-Sprachbad». Im Moment hat er folglich etwa einen Drittel aller Franzlektionen seiner obligatorischen Schulzeit bereits – wie soll man sagen? – … genossen? … erlebt? … hinter sich? Ende November legt M. seinen Eltern eine mehrseitige «summative Evaluation», ein offizielles Dokument des Lehrmittels, zur Unterschrift vor. Das Prädikat «erreicht» ist angekreuzt. Damit könnten sich die Eltern theoretisch zufrieden geben. Sie könnten aber auch genauer hinschauen, was denn da in der 5. Primarklasse – und damit im dritten Französisch-Lernjahr – verlangt wird und wie gut diese Anforderungen erfüllt werden. Lernstrategien für authentische Texte Beim Studieren des Evaluationsbogens stösst man nach dem Durchlesen der Aufträge auf einen «authentischen» französischen Text, welchen die Kinder zu bearbeiten hatten. «Solche Texte sind nicht eigens für das Französischlernen geschrieben worden», erklärt der Lehrmittelverlag interessierten Eltern in einer Informationsbroschüre. Das bringt es mit sich, dass Sprache und Wortschatz «authentischer» Texte sehr anspruchsvoll und dem Lernstand der Kinder nicht im Geringsten angepasst sind. Die Lernenden sollen mit verschiedenen Lernstrategien den Text entschlüsseln – sagt die Theorie. «Verlag, AutorInnen, Behörden wie auch die meisten Lehrpersonen sind überzeugt, dass Französisch-Lernen mit «Mille feuilles» die Kinder motiviert, ihren Interessen optimal entgegenkommt und sie schnell zu wirksamem Handeln in der Fremdsprache befähigt», verspricht der Verlag. Hinter der Fassade Die 5. Klasse von M. hatte also im Rahmen der «summativen Evaluation» den Auftrag, dem schwierigen französischen Text wichtige Informationen zu entnehmen und diese in einer Tabelle aufzulisten. Ausserdem galt es, auf Französisch einige Fragen zu beantworten und schliesslich mit den gewonnen Informationen einen kurzen eigenen Text zu verfassen. 21 Punkte hätten die Kinder maximal sammeln können, so war es in der Vorlage des Lehrmittels vorgesehen. Für das Prädikat «erreicht» wären mindestens 12 Punkte erforderlich gewesen. Auf dem Evaluationsbogen von M. war der Bewertungsteil allerdings überklebt worden. Offensichtlich hatte sich die Lehrperson veranlasst gesehen, den Bewertungsmassstab dem Leistungsvermögen der Klasse anzupassen: • Der Teil mit dem von den Fünftklässlern verfassten Text wurde gar nicht erst bewertet – wahrscheinlich deshalb, weil die schriftlichen Aussagen vieler Kinder schlicht nicht bewertbar waren. • Zudem wurde in der klasseninternen Bewertung der Massstab so abgeändert, dass bereits deutlich weniger als die Hälfte der mit den reduzierten Anforderungen erreichbaren Punkte das Prädikat «erreicht» sicherte. In Punkten ausgedrückt: Nur wer 2 und weniger Punkte (!) erreicht hatte, wurde mit dem Prädikat «nicht erreicht» konfrontiert. 2014/15-03 23 Es wäre, vorsichtig ausgedrückt, nicht zielführend, in der Primarschule die Überprüfung der Zielerreichung übertrieben «nachsichtig» zu betreiben, weil so Druck und Verantwortung einseitig auf die Abnehmerschulen gelegt würden. Gleichzeitig würde diese Form der Rückmeldung absolut falsche Signale an die Lernenden aussenden: «Für die Erwachsenen ist es in Ordnung, wenn ich nur ganz wenig kann.» PIXABAY Hinschauen heisst die Devise Nur Einzelfälle oder mehr als das? Fallbeispiele wie dasjenige von M. werden dem LVB zur Kenntnis gebracht. Handelt es sich hierbei nur um Einzelfälle? Dann müsste man in diesen Einzelfällen genau hinschauen, was schiefläuft oder gelaufen ist und wie Verbesserungen zu erreichen wären. Was aber, wenn diese Berichte ein repräsentatives Abbild widerspiegeln? Wer ein echtes Interesse an gelingendem Unterricht hat, muss gewillt sein, dieser Frage umfassend nachzugehen. Die Interessen der Anspruchsgruppen Eltern und Lehrpersonen haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Kinder die für das Ende der Schulzeit festgelegten Kompetenzen erreichen. Primarschulkinder, Eltern und Lehrpersonen müssen davon ausgehen können, dass die festgelegten Kompetenzen mit den zur Verfügung gestellten Mitteln auch tatsächlich erreichbar sind. Ein erfüllbarer Auftrag? Aufgrund der Rückmeldungen, welche den LVB erreichen, muss zwingend die Frage gestellt werden, ob der Lehrauftrag unter den herrschenden Rahmenbedingungen (Frühfremdsprachen-Didaktik, Lektionendotation, Lehrmittel) überhaupt erfüllbar ist. Wenn ja, müssten am Ende der neu 6 Jahre dauernden Primarschule (mit insgesamt 10 Jahreslektionen Französischunterricht) die Kompetenzen zu mehr als der Hälfte erfüllt sein, denn gesamthaft stehen gemäss Stundentafel für das Fach Französisch bis Ende der obligatorischen Schulzeit nicht mehr als 19 Jahreslektionen zur Verfügung. Hinschauen heisst die Devise! Das Lehrmittel «Mille feuilles» nimmt für sich die vielzitierte «Kompetenzorientierung» in Anspruch. Konsequenterweise kann es daher nicht angehen, in einer von den Verfassern des Lehrmittels eigens zur Verfügung gestellten Lernkontrolle die Bewertung so anzupassen, dass eine Schülerleistung, in welcher so gut wie keine Kompetenzen erreicht werden, noch als «erfüllt» dargestellt wird. Da sind Eltern und Lehrpersonen gleichermassen zu genauem Hinschauen verpflichtet! Verunsicherung allenthalben Den LVB erreichen von verschiedenen Seiten besorgte Rückmeldungen zur Wirksamkeit des Frühfranzösisch-Unterrichts. Dass die Verunsicherung bei den Lehrpersonen gross ist, zeigte nicht zuletzt auch die LVB-Delegierten- und Mitgliederversammlung vom 24. September 2014 zu diesem Thema.1 Am Lernerfolg ihrer Kinder interessierte Eltern ihrerseits beklagen, dass sie ihr Kind beim Lernen kaum aktiv unterstützen können. Sobald ein Kind nämlich (z.B. aus Überforderung) seine Motivation verliert und zu Ausweichstrategien Zuflucht nimmt, nützen die Empfehlungen der Autoren den besorgten Eltern nicht mehr viel. Ratschläge an die Eltern wie «dem Fach Interesse entgegen bringen» oder «wertschätzend zur Kenntnis nehmen, was das Kind alles schon verstehen, sagen und schreiben kann», wirken dann eher zynisch und das eingeforderte «Vertrauen in die Tatsache, dass Fehler das spätere Erlernen der richtigen Form in keiner Weise beeinträchtigen» könnte in diesem Zusammenhang auch dahingehend interpretiert werden, dass das Kind im Stich gelassen wird. Der LVB stellt zur Diskussion: Könnte es sein, dass … • die schwierigen «authentischen» Texte in «Mille feuilles» die Mehrheit der nicht ausgesprochen sprach- 24 begabten Kinder überfordern und demotivieren? • ein wesentlicher Anteil der Kinder im Primarschulalter nicht über das Sozial- und Lernverhalten verfügt, welches die aktuelle Frühfremdsprachen-Didaktik voraussetzt? • der dem Erstsprachenerwerb der Kleinkinder nachempfundene didaktische Ansatz des «Sprachbades» in einer Klasse von 20 oder mehr Primarschülern mit einer Lehrperson, dotiert mit zwei bis drei Wochenlektionen, nicht wie gewünscht und versprochen funktioniert? • viele Lehrpersonen Selbstschutz-Strategien anwenden, um nicht erklären zu müssen, dass die von Wissenschaftlern, Autoren, Bildungspolitik und Behörden gepushte FrühfremdDidaktik in der Praxis nicht wie in Aussicht gestellt umsetzbar ist? Wie mit unbefriedigenden Lernfortschritten umgehen? Nicht erreichte Kompetenzen sind ein Zeichen dafür, dass Handlungsbedarf besteht. Betrifft dies Einzelfälle, muss individuell nach den Ursachen geforscht und nach Hilfestellungen gesucht werden. Sollte es sich aber um ein verbreitetes oder gar flächendeckendes Problem handeln, stehen die Lehrpersonen aller Schulstufen in der Verantwortung. tragen und etwaige Schwächen der Frühfremdthematik als Berufsstand selbstbewusst aufzuzeigen. Sekundarlehrpersonen Die Sekundarlehrpersonen werden erstmals im Schuljahr 2016/17 neue Schülerinnen und Schüler übernehmen, die im Fach Französisch gemäss der neuen Stundentafel 10/19 (also rund 53%) des Unterrichts bereits in der Primarschule absolviert haben. Sie sind davon abhängig, dass der Lernstand der Kinder der eingesetzten Unterrichtszeit entspricht. Falls die Erfahrungen der Primarlehrpersonen den Schluss nahelegen, dass die Kompetenzen nicht erreicht werden können, liegt es im Interesse der Sekundarlehrpersonen, die Primarlehrerschaft in ihren Forderungen um eine Verbesserung der Situation zu unterstützen. Lehrpersonen der Sekundarstufe II Die Lehrpersonen der Sekundarstufe II bauen ihren Unterricht auf den in der obligatorischen Schulzeit erworbenen Kompetenzen auf. Sollten diese nicht wie erwartet abrufbar sein, hätte dies zur Folge, dass die Kompetenzen der Sekundarstufe II auch nicht mehr erreichbar wären. Es ist daher angezeigt, dass sich auch die Fremdsprachen-Lehrpersonen der Sekundarstufe II für die Thematik interessieren, sich einmischen und ihre Einschätzungen zum Ausdruck bringen. Solidarität der Lehrpersonen aller Stufen notwendig Ein solidarischer Auftritt der Lehrpersonen aller Stufen ist auch deshalb unverzichtbar, weil der potenziell drohende Schaden für den Berufsstand immens ist. Falls die Strategie der Frühfremdsprachen tatsächlich nicht die gewünschten Resultate zeitigen sollte, muss der Auftrag bereits an der Basis, also auf der Primarstufe, frühzeitig zurückgewiesen werden. Arrangiert sich aber jede Stufe irgendwie mit dem scheinbar Unabwendbaren, dann droht ein Szenario, in welchem sich die einzelnen Schulstufen am Ende gegenseitig die Verantwortung für nicht erreichte Kompetenzen zuschieben. Die Interessen von Politik, Experten und Lehrmittelautoren Natürlich wünschen sich auch diese Exponenten, dass die Schülerinnen und Schüler die geforderten Kompetenzen erreichen. Insofern unterscheiden sich die Interessen dieser Gruppe Primarlehrpersonen Die Primarlehrpersonen sollten sich dagegen zur Wehr setzen, wenn ihnen mit der Frühfremdsprachen-Didaktik ein nicht erfüllbarer Auftrag erteilt worden ist. Dieser Widerstand müsste solidarisch getragen werden, denn auf individueller Ebene ist die Gefahr gross, dass einzelne Lehrpersonen unter Druck geraten (siehe SelbstschutzStrategien). Beginnen müsste die Primarlehrerschaft damit, die eigenen Erfahrungen zu dokumentieren, zusammenzu- PIXABAY Aussagekräftige Wirksamkeitsstudien für die neue Frühfremdsprachen-Didaktik fehlen. 2014/15-03 25 Ein solidarischer Auftritt der Lehrpersonen aller Stufen ist auch deshalb unverzichtbar, weil der potenziell drohende Schaden für den Berufsstand immens ist. Selbstschutz-Strategien der Lehrpersonen Selbstschutz-Strategien der Lehrpersonen wären als logische Reaktion eines Berufsstandes auf die behördliche Indoktrination der letzten Jahre zu verstehen. Lehrpersonen, welche sich aufgrund ihrer Berufs- und Lebenserfahrung kritisch zu gewissen Entwicklungen wie Frühfremd geäussert haben, mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie als reformfeindlich, rückständig oder ausgebrannt etikettiert wurden, oder dass ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten die Fremdsprachen-Didaktik eben nicht verstanden und nicht richtig umgesetzt. Vor diesem Hintergrund wäre es gut nachvollziehbar, dass Lehrpersonen versuchen, sich mit den Gegebenheiten irgendwie zu arrangieren. «Nachsichtige» Leistungsbeurteilung Lehrpersonen, welche Schülerleistungen mit «nicht erreicht» beurteilen, enttäuschen die betroffenen Kinder, setzen sich Angriffen besorgter Eltern aus und müssen damit rechnen, in die Kritik ihrer Vorgesetzten zu geraten. Mit reduzierten Anforderungen, grosszügigen Korrekturen und «sanften» Bewertungsmassstäben kann man diesem Druck ausweichen.2 Ungenügende Rahmenbedingungen selber «nachbessern» Ein Teil der Französisch-Lehrpersonen ergänzt «Mille feuilles» mit in der Frühfremd-Didaktik verpönten «konventionellen» Mitteln: Vokabular lernen, Verben konjugieren, Grammatikübungen etc. und versucht auf diese Art, einen den Lernjahren entsprechenden Lernfortschritt zu gewährleisten. nicht von den weiter oben beschriebenen Interessen der Eltern und Lehrpersonen. Man muss sich aber vor Augen führen, dass die Frühfremdsprachen-Didaktik flächendeckend eingeführt wurde, ohne dass dazu aussagekräftige Wirksamkeitsstudien vorliegen würden. Ein solches Vorgehen wäre in der Medizin unvorstellbar. Im Bereich therapeutischer Behandlungen muss jede neue Methode mit einer sogenannten Doppelblindstudie unter Einbezug Tausender von Patienten bestätigt werden. Erst wenn sich in einer Langzeitstudie erwiesen hat, dass die neue Methode besser ist als die bisherigen, darf sie flächendeckend eingeführt werden. Die Verfechter der Frühfremdsprachen haben sich die Sache bedeutend einfacher gemacht. Beträchtliche Summen wurden in den Umbau des Fremdsprachenkonzepts investiert. Nachdem man jahrelang kritische Lehrpersonen faktisch mit einem Denkverbot belegt hat (bei Missachtung drohte zwar nicht Gefängnis, aber immerhin Demontage der beruflichen Reputation), haben Misserfolgsmeldungen tendenziell keine Existenzberechtigung. Der LVB wendet sich an die BKSD Um abschliessend beurteilen zu können, ob es sich hinsichtlich der beim LVB eingehenden Rückmeldungen in der Tat um den Ausdruck eines «Systemfehlers» handelt, muss man die Erfahrungen der Primarlehrpersonen ernst nehmen und sie entsprechend befragen. Da der LVB davon ausgeht, dass auch die BKSD an einem erfolgreichen Fremdsprachen-Unterricht interessiert ist, konfrontierte die LVB-Geschäftsleitung den Bildungsdirektor am 17. Dezember 2014 mit der Thematik. Der LVB schlug Urs Wüthrich-Pelloli vor, eine von LVB und BKSD gemeinsam getragene Umfrage unter den Primarlehrpersonen zu lancieren, um ein möglichst breit abgestütztes Bild zu erhal- ten. Nur zwei Tage später schickte der LVB einen konkreten Vorschlag für die Befragung an die BKSD. Als Reaktion hat die BKSD zu einer Standortbestimmung mit den Sozialpartnern am 12. Februar 2015 eingeladen. Bei dieser Gelegenheit soll unter anderem geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt, mit welchem Absender und mit welchen Fragestellungen eine Erhebung durchgeführt werden kann. Der Bildungsdirektor signalisiert, dass er persönlich eine gemeinsam konzipierte und breit abgestützte Trägerschaft favorisiert. Der LVB begrüsst diese Haltung. Wir werden zu gegebener Zeit über die Ergebnisse der Gesprächsrunde informieren. 1 siehe Protokoll in diesem Heft 2 vgl. dazu auch: http://www.lvb.ch/docs/ magazin/2012-2013/04-Mai/LVB-inform_1213-04_web_S30-35_Kurzgeschichte.pdf 26 Perlenfischen Perle 2: «Lehrpersonen werden nicht drangsaliert» In Perle 2 wurde D-EDK-Präsident Christian Amsler von Barbara Achermann befragt; erschienen unter der Überschrift «Lehrpersonen werden nicht drangsaliert» in der «Annabelle» vom 14. Januar 2015:. «Annabelle: Sie haben früher als Lehrer gearbeitet. Wieso gaben Sie den Beruf auf? man muss darauf achten, dass die Bildungsverwaltung nicht stärker anwächst. Das wäre keine gute Entwicklung. Christian Amsler: Weil es mich immer auch interessiert hat, Verantwortung zu übernehmen, die über die Klassenführung hinausgeht. Renommierte Erziehungswissenschafter haben ein Memorandum unterschrieben: «Stopp der Reformhektik im Bildungswesen! Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung!» Es braucht viel, bis Professoren mit solch deutlichen Worten an die Öffentlichkeit treten. Was sagen Sie dazu? Es gibt Lehrer, die sagen, die Schule sei ein Boot, das alle steuern wollen, aber niemand wolle rudern. Auch Sie ruderten früher und sind heute am Steuer. Tatsächlich war ich früher Ruderer, aber auf dem Rhein. Es braucht beides, Leute an der Basis und im Kader. Die Schlüsselpersonen sind die Lehrerinnen und Lehrer. Aber Menschen bewegen sich eben auch weiter und übernehmen Verantwortung in einer Schulleitung oder einem Erziehungsdepartement, und das finde ich gut. Schulverwaltungen wachsen, im Schulzimmer hingegen wird gespart: Klassen werden grösser, Lehrer müssen mehr Stunden geben. In St. Gallen werden kranke Lehrer sogar erst nach drei Tagen vertreten. Da läuft doch etwas falsch. Das bezweifle ich. In Schaffhausen, wo ich dem Erziehungsdepartement vorstehe, stimmt das jedenfalls nicht. Aber Ich freue mich, wenn sich Leute engagiert für etwas einsetzen. Ich stelle aber fest, dass sich die Forschung häufig diametral widerspricht. Es gibt zahlreiche Professoren, die finden, die Schule sei gut unterwegs. Auch ich bin dieser Meinung. Im Übrigen ist der Lehrplan 21 keine Reform, sondern eine konsequente Weiterschreibung der bestehenden Lehrpläne. Früher war der Lehrplan eine Art Leitplanke für den Unterricht, heute umfasst er 470 Seiten und über 2000 Teilkompetenzen. Wenn meine Chefin mir meine Arbeit derart pingelig vorschreiben würde, ich nähme den Hut. Ein Lehrplan ist kein Buch, das Sie jeden Tag hervornehmen und wo Sie dann abhaken, was Sie erledigt haben. Der Lehrplan ist vielmehr ein Kompass. Aber anders als früher wird HEINZ ANTON MEIER 2014/15-03 27 «Heute kann leider jede Bagatelle zu einem Rechtsfall werden und muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles dokumentieren können.» (Christian Amsler) nicht nur der Stoff beschrieben, den man durchzunehmen hat, die Schüler müssen ihr Wissen auch konkret anwenden können. Aber nochmal: Die Lehrerin muss beurteilen, ob ein vierjähriges Kind Aufgaben termingerecht und vollständig erledigt. Einige Lehrer beklagen sich, dass ihnen die Behörden vorschreiben, was, wie, wann und wo zu tun ist. Das finde ich sehr gut. Die Unterrichts- und Methodenfreiheit ist in der Schweiz absolut gewährleistet. Die Lehrpersonen werden weder drangsaliert noch in ein Korsett gezwängt. Fragen Sie mal in den Schulen, wie oft die Lehrer in einen solchen Lehrplan reinschauen. Das ist ganz selten. Aber Herr Amsler, es kann doch nicht Sinn und Zweck eines Lehrplans sein, dass man ihn nicht beachtet. Selbstverständlich muss man ihn beachten und ihn von Zeit zu Zeit hervornehmen. Abgesehen vom neuen Lehrplan ärgern sich die Lehrerinnen und Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, über die Evaluationsbögen, mit denen sie jedes Kind anhand von Kreuzchen beurteilen müssen. Macht da ein Bericht oder ein Gespräch nicht einfach mehr Sinn? Man kann auf der Basis von solchen Bögen wunderbare Gespräche führen. Ich glaube aber, wir müssen tatsächlich aufpassen, dass wir nicht alles mit Tests, Checks und Evaluationsbögen hinterlegen. Kindergärtnerinnen in verschiedenen Kantonen müssen 72 Antworten zu jedem Kind ankreuzen, unter anderem: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig.» Eine Kindergärtnerin sagte mir, sie finde es falsch die Kinder auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen. Das ist eine einzelne Äusserung. Rund um die Diskussion über Beurteilung und Bewertung gibt es viele verschiedene Meinungen. Es stimmt, wirtschaftsnahe Kreise fordern von der Schule, dass man die Kinder genau einordnen kann, andere fordern die Abschaffung der Noten. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Sie finden solche Bewertungsbogen also gut und kindsgerecht? Absolut. Ich finde es wichtig, dass man die verschiedenen Aspekte eines Kindes beleuchtet und nicht nur Noten gibt. Auftrittskompetenz, soziale Interaktion und so weiter. Wir haben in Schaffhausen ein förderorientiertes Beurteilungssystem entwickelt, das diverse Kantone übernommen haben. In diesem Alter können sich einige Kinder noch nicht einmal alleine den Po abwischen. (Lacht) Da gehen die Meinungen eben auseinander. Ich finde, dass man ein Kindergartenkind nach verschiedenen Aspekten beurteilen kann. Übrigens können sich auch Kindergartenkinder schon wunderbar selber einschätzen. Was geschieht mit all den Blättern? Die werden vermutlich ausgefüllt, ausgewertet und später irgendwo abgespeichert? Ja, und das hat auch seine Richtigkeit. Heute kann leider jede Bagatelle zu einem Rechtsfall werden und muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles dokumentieren können. Diese administrativen Tätigkeiten sind deshalb sehr wichtig. Früher gab es das weniger, weil die Eltern den Lehrern mehr vertrauten. Vertrauen ist ein gutes Stichwort. Manche Lehrer sagen, die Behörden würden ihnen misstrauen, deshalb die vielen Vorschriften. Ein Beispiel unter vielen: Als Lehrer darf man mit den Kindern nicht mehr in die Badi ohne Rettungsschwimmerbrevet. Das Badi-Problem ist eben auch entstanden, weil man Rechtsfälle hatte. Es kam zu tragischen Vorfällen und daraus wurde dann eine neue Regel abgeleitet. Merkblätter, Reglemente und Gesetze nehmen eben zu, wenn die Eltern mit dem Rechtsanwalt zu uns kommen. Aber es wäre doch genau die Aufgabe der Behörde, dafür zu sorgen, dass die Lehrer unbelastet mit den Kindern in die Berge, ans Wasser oder auf eine Velotour gehen können. Stattdessen verbieten sie auch noch das Schoggistängeli auf der Schulreise. Wie gesagt, diese Regeldichte schaue ich als generelles gesellschaftliches Problem an. Sie nimmt tendenziell zu und das ist eine bedenkliche Entwicklung. Ich stimme ihnen zu, die Lehrpersonen brauchen Freiheiten, aber sie müssen sich auch an Regeln halten. Denn als Behörde haben wir auch eine Aufsichtspflicht. Weitere Perlen auf S. 40 und 52 28 Das pädagogische Quartett: Genau so! Von Gabriele Zückert Samira Sonnenberg: «Oh, ist das schön! Endlich finde ich wieder einmal die Zeit für einen Lunch im Restaurant mit meinen Kolleginnen. Meine Kinder haben heute nämlich ihren Skitag. Das nenne ich doch Luxus für alleinerziehende, teilzeitarbeitende Mütter!» (lacht) Gerda Lunati (abwinkend): «Ach, wisst ihr, wenn es bei mir nicht reicht, dann schiesse ich halt selber noch etwas ein. Die meisten Instrumente und auch viele Tücher gehören mir. Auf diese Weise schenke ich dem Kindergarten halt ab und zu etwas. Es kommt ja den Kindern zugute.» Roberta Nordstern: «Ich komme jeden Dienstag hierher. Aber klar, du musst ja deine Kinder betreuen. In meinem Alter ist das längst kein Thema mehr. (lächelnd) Und ich gestehe, dass mir das auch nicht im Geringsten fehlt.» Samira Sonnenberg (sarkastisch): «Oh ja, genau so sollten wir es alle machen ... Und dann wundert man sich, wenn es nicht mehr Geld für den Kindergarten gibt! Fünf Jahre lang mussten wir für ein Ersetzen der kaputten Kinderstühle kämpfen! Zahlreiche Kinder hatten sich bereits Holzsplitter daran eingefangen. Und das gleiche Prinzip gilt doch auch für unsere Arbeitsplätze zu Hause. Jede von uns muss in den eigenen vier Wänden eine Infrastruktur unterhalten, welche zu grossen Teilen beruflichen Zwecken dient. Und bezahlen tun wir alles aus dem eigenen Sack. Der Kanton hat da schon seit Jahrzehnten taube Ohren. Ich finde das eine Sauerei!» Samira Sonnenberg (die Stirn in Falten legend): «Das ist wirklich Stress pur, wenn ich den ganzen Tag arbeite und meine Kinder dann noch zum Mittagessen kommen. (seufzt) Aber auch die werden ja mal grösser.» Roberta Nordstern (in die Runde fragend): «Sagt mal, reicht bei euch das Geld vom Materialbudget auch nicht mehr aus? Ich muss mich Ende Jahr immer sehr heftig nach der Decke strecken. Vor allem viele Spiele und Spielsachen muss ich ersetzen. Ständig geht etwas kaputt.» Samira Sonnenberg (Zustimmung signalisierend): «Genau so ist es. Das liegt halt daran, dass die Kinder mehr Zeit im Kindergarten verbringen, wodurch auch alle Materialien stärker beansprucht werden. Ausserdem lässt bei vielen Kindern die Sorgfalt zu wünschen übrig. (einen kindlichen Tonfall nachahmend) «Frau Sunnebärg, das isch kaputt. Chasch es neus chaufe?» So geht das. Ich war schon mehrmals bei der Schulleitung deswegen. Aber die Gemeinden hätten kein Geld, heisst es dann.» Corinna Nova (erstaunt): «Reicht das denn wirklich nicht? Wir haben doch 1500 Franken zur Verfügung. Das ist doch viel für ein Jahr, oder nicht?» Roberta Nordstern (beipflichtend): «Genau so ist es! Ich musste mir mit 60 Jahren noch extra das Internet einrichten lassen und einen eigenen Computer anschaffen. Ohne E-Mail funktioniert ja anscheinend heute gar nichts mehr. Und zahlt die Schule etwas daran? Nein!» Gerda Lunati (relativierend): «Das ist doch alles halb so schlimm. Den Computer brauchst du ja sicher auch noch für Privates, oder? Also ich leiste das gerne für unsere Schule. Allerdings, wenn ich jetzt einen neuen Computer bräuchte, dann würde es eng. Ich arbeite ja nur Teilzeit und verdiene nicht gerade viel.» Roberta Nordstern (bestimmt): «Den Internetanschluss werde ich nächstes Jahr wieder abschalten lassen. Als Pensionierte brauche ich das nicht mehr. Da fällt mir ein: Will jemand von euch dann meinen Computer haben?» Corinna Nova (Robertas Anfrage ignorierend und sich stattdessen an Samira wendend): «Du, ich habe gehört, dass wir in Zukunft keine heilpädagogischen Förderstunden mehr bekommen wegen der Schülerpauschalen. Auch die Einführungsklasse wird abgeschafft. Es sei zu teuer für die Gemeinde. Sie konzentrierten sich nun auf Deutsch als Zweitsprache. Deswegen müssten wir eine Weiterbildung machen, damit wir das auch noch übernehmen können. (sorgenvoll) Ob ich davon auch betroffen sein werde? Theoretisch hätte ich ja noch Zeit dafür, da ich nicht Vollzeit arbeite. Aber nur schon das Hin- und Herfahren zwischen meinen zwei Arbeitsorten und die Präsenzzeiten an den beiden Schulen sprengen den Rahmen. Wie soll ich da noch einen CAS machen? Und mehr verdiene ich danach ja wohl auch nicht, oder?» Samira Sonnenberg (die Augen zusammenkneifend): «Moment, Moment, Moment! Wovon sprichst du? Wer sagt und verordnet all das?» Corinna Nova: «Na unsere Schulleitung! Die wollen nur noch maximal zwei Lehrpersonen pro Klasse haben. Und da es keine Einführungsklasse mehr geben wird, sei das die logische Folge: Die Kindergartenlehrpersonen und die Primarlehrerinnen sollen alles abdecken können. Es gibt bei uns deswegen auch keine neuen Teilzeitstellen mehr.» Samira Sonnenberg (ärgerlich): «Ha! In Winterthur haben sich genau aus diesem Grund keine Leute für den neuen Schulversuch gemeldet. Teilzeitler können das ganz einfach nicht leisten! Mir scheint, hier schlägt die Teilautonomie wieder einmal voll durch: Das ist doch kein Versuch mehr, wenn er gerade 2014/15-03 29 von Anfang an flächendeckend eingeführt wird! Und dieser Kanton bezeichnet sich auch noch explizit als familienfreundlich. Genau so wurde es jedenfalls im Qualitätsleitbild hervorgehoben: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber diese Botschaft dringt wohl nicht zu allen Schulleitungen durch. Wenigstens kommt unsere Schulleitung nicht auch noch auf die Idee, ständig neue Präsenzzeiten zu verordnen. Da könnte ich gerade einpacken mit meinen drei verschiedenen Jobs …» Corinna Nova: «Ja, genau so ist es, das sehe ich gleich, obwohl ich noch nicht so lange dabei bin wie ihr. Ich arbeite ja in zwei Gemeinden zu je 40%, da ich nirgendwo eine Vollstelle finden konnte. Eigentlich bin ich im Nachhinein nicht unglücklich darüber, denn, ehrlich gesagt, nach der Ausbildung habe ich mich nicht sicher genug gefühlt, um schon alleine eine Klasse zu übernehmen. Leider mussten wir eben selbst das Abschlusspraktikum an der PH zu dritt machen... Jetzt kann ich wenigstens an zwei Orten Erfahrungen sammeln. Allerdings, wie schon gesagt, stosse ich an Grenzen, wenn es um Konvente und Präsenzzeiten geht. Nervig ist, dass an der einen Schule die Konvente an jenen Tagen stattfinden, an denen ich dort nicht arbeite und an der anderen Schule ist es gerade umgekehrt. Das mache ich sicher nur noch dieses Jahr so!» Gerda Lunati (aufmunternd): «Ach komm, du bist ja noch so jung, da hast du sicher noch die Energie für so etwas. Wenn du erst mal über 50 bist wie ich, sieht es anders aus. Mir reichen meine 60% vollständig. Ich brauche meine freien Tage, um mich von den lieben Kleinen zu erholen.» Roberta Nordstern (zu Corinna): «Weisst du, ich bin ja wirklich ein alter Hase in diesem Job und habe immer noch Freude daran. Aber seit der Einführung der Blockzeiten macht mir der Lärmpegel wirklich schwer zu schaffen. Wenn alle Kinder ganz im Spiel aufgehen, ist es einfach sehr laut. Sogar die Kinder selbst beschweren sich zuweilen. Da nützen auch Nischen und Flüsterphasen nichts. Wenn ein Drache in die Puppenecke eindringt ist, dann geht es in Gottes Namen so richtig rund …» Samira Sonnenberg: «Genau so ist es! (lacht kurz auf) Ich habe seinerzeit mit zwei Stunden Kindergarten am Stück angefangen: Präsenzzeit, Kreis, Pause, Freispiel, Präsenzzeit, fertig. Dann wurden es drei, mittlerweile sind es vier Stunden am Stück. Aber an den Rahmenbedingungen hat sich überhaupt nichts geändert: Gleicher Raum, gleiches Material, gleich viele Kinder, gleich viel Geld und keine Pause für die Lehrerin. Und da wundern sich dann die Gärtner, dass die Gartenbeete vor dem Kindergarten nicht mehr so gepflegt werden wie früher. Ich habe schlicht und einfach die Zeit und die Energie dafür nicht mehr!» Corinna Nova: «Machen das denn nicht die Gärtner?» Samira Sonnenberg: «Wenn du nicht ausschliesslich Immergrün und Schotter drin haben willst, sondern vielleicht auch noch Blumen und Kräuter, dann musst du dich selber darum kümmern. Wir mussten das so mit dem Chefgärtner vereinbaren. Auch bei den Gärtnern wird halt gespart …» Gerda Lunati (auf einmal ihre Zurückhaltung ablegend): «Also ich bin ja sonst nicht so eine, die immer jammert und sich beschwert, aber hier muss selbst ich sagen: Genau so ist es! Stossend finde ich, dass auch beim Putzpersonal gespart wird. Bei uns haben sie vor einigen Jahren Putzstunden gestrichen, aber die Kinder sind ja jetzt länger im Kindergarten. Dadurch wird es logischerweise auch dreckiger. Ich sage euch, eigentlich müsste man jeden einzelnen Tag so richtig gründlich «durchreinigen». Unsere «Putzperle» kommt aber nur zwei Mal die Woche.» Roberta Nordstern (resigniert): «Tja, das müssen halt jetzt auch noch wir erledigen … Wird ja immer besser: Gärtnerin, Putzfrau und so ganz nebenbei sind wir auch noch Lehrkräfte. Und neu, nicht zu vergessen: auch Sekretärinnen! Den ganzen Papierkram werde ich auf alle Fälle nicht vermissen.» Samira Sonnenberg (in die Gänge kommend): «Genau so ist es! Die Administration frisst viel Zeit auf. Aber das ist in anderen Berufen genau gleich. Die Bürokratisierung ist ein Fass ohne Boden. Dass wir Berichte schreiben müssen, finde ich ja grundsätzlich gar nicht so schlecht. Wirklich schrecklich sind aber diese elenden Kreuzchenlisten! Und müsst ihr eigentlich auch jeden Elternbrief vorgängig an die Schulleitung schicken? Auch so ein Auswuchs der geleiteten Schulen… Als ob wir das nicht alleine verantworten könnten. Bei Ausflügen verstehe ich es ja noch. Aber der ganze Rest?» Corinna Nova: «Das finde ich aber schon gut. Die Schulleitung sagt mir dann immer, ob der Brief in Ordnung ist und ob Fehler drin sind. So dringt nichts nach aussen, was vielleicht peinlich sein könnte.» Samira Sonnenberg (etwas boshaft): «Also bei uns finden sich die Fehler immer in jenen Schreiben, welche die Schulleitung selber verfasst hat …» Corinna Nova (unbeirrt): «Aber wisst ihr, wovor ich wirklich Respekt habe? Elterngespräche!» 30 Gerda Lunati (beschwichtigend): «Ja, da kann ich mich noch gut daran erinnern, wie ich mich damals gefühlt habe als Berufsanfängerin. Wenn du willst, können wir uns mal zusammensetzen und die Gespräche zu zweit vorbereiten. Ausserdem gibt es ja auch Kurse zu diesem Thema.» Samira Sonnenberg (irritiert): «Aber hattet ihr das denn nicht im Semi, äh, während dem Studium? Und hast du keine Mentorin vor Ort, die dir da hilft?» Corinna Nova: «Ja, wieso?» Samira Sonnenberg (energisch): «Weil das zur Klassenlehrerfunktion gehört!» Corinna Nova: «Meine Kollegin hat gesagt, sie übernehme ihrem Anstellungsgrad gemäss nur noch 60% und ich müsse die anderen 40% durchführen.» Samira Sonnenberg: «Da würde ich sie aber noch einmal darauf ansprechen. Schau einfach, dass es mit der EAF nicht überbordet!» Corinna Nova (unsicher): «Also theoretisch haben wir es in der Ausbildung schon angesprochen, aber... Und eine Mentorin? Nein, so etwas gibt es an den beiden Schulen nicht. Ich nehme an, aus finanziellen Gründen. Aber danke, Gerda, für dein Angebot. Ich nehme es gerne an.» Corinna Nova (hilflos): «EAF?» Das Essen wird serviert. Ein Handy spielt die Titelmelodie aus «Pirates of the Caribbean». Samira geht ran. Samira Sonnenberg: «Jetzt aber guten Appetit! Ich muss richtig reinhausen, denn am Nachmittag habe ich noch eine Sitzung mit meinem pädagogischen Team. Und das dauert dann jeweils lange.» Corinna Nova: «Ich bin natürlich gerade wieder in zwei verschiedenen Teams an meinem beiden Schulen. Ist ein bisschen schwierig, Termine zu finden. Aber wenigstens muss ich dort nicht etwas Aktives leisten. Nur zuhören und präsent sein reicht.» Roberta Nordstern (die Stirn runzelnd): «Wie das?» Corinna Nova: «Naja, als Nicht-Klassenlehrperson habe ich eh nichts zu bestimmen.» Samira Sonnenberg (nachhakend): «Aber sagtest du nicht gerade, du müsstest Elterngespräche führen?» Samira Sonnenberg (ungläubig): «Ja habt ihr denn kein Zeitbudget gemacht für das neue Schuljahr? (schnauft hörbar durch die Nase) Ich glaube, das erkläre ich dir ein anderes Mal. Mein Mittagessen wird kalt.» Samira Sonnenberg: «Ja, hallo? Was ist passiert? Du meine Güte! Ja, ich komme sofort. (ganz blass geworden, sich an die Runde richtend) Mein Sohn liegt im Spital in Grindelwald. Er hat sich das Bein gebrochen. (die Augen aufreissend) Oh Gott, und jetzt muss ich mich noch um die Stellvertretung kümmern! Unsere Schulleitung hat uns mitgeteilt, dafür seien wir selber verantwortlich, auch bei Krankheit oder Unfall.» Gerda Lunati (mit aufgerissenen Augen): «Wie bitte!?» Roberta Nordstern (kühl): «Genau so – sollte es eben nicht sein.» 2014/15-03 31 32 Sprachlabor und Fleischkäsewerkstatt: Was uns die Geschichte der schulischen Innovationen lehren kann Von Philipp Loretz Wir leben in einer Zeit … «Wir leben in einer Zeit, meine Damen und Herren», pflegt der Kabarettist Piet Klocke jeweils zu sagen. Wir leben in einer Zeit, liebe Leserinnen und Leser, … Sei es Wissenschaft, Kunst, Literatur, Musik, Philosophie, Ökonomie oder eben Pädagogik: Die Geschichte lehrt uns, dass wir jeweils erst im Nachhinein erkennen können, welche Innovationen sich für die weitere Zukunft als bahnbrechend erwiesen, und welche anderen zwar einen enormen Einfluss auf ihre jeweilige Zeit ausgeübt haben, danach aber umso schneller wieder in Vergessenheit gerieten oder allenfalls in Nischen zu überleben vermochten. Entsprechend vorsichtig sollten wir demnach sein, bevor wir uns entscheiden, zugunsten eines bestimmten neuen Konzepts alles Bewährte voreilig über Bord zu werfen. •in der sich riesige Pickups mit leeren Ladeflächen in enge Parklücken zwängen und von ihren Lenkern schlangenartig verlassen werden; • in der Steingärtchen wie Pilze aus dem Boden schiessen und ihren Besitzern schon nach kurzer Zeit verwittert und grau «entgegenleuchten»; • in der sich geladene Gäste fünf Minuten vor Partybeginn per Whatsapp abmelden und spontan doch lieber den neusten Blockbuster ansehen wollen; • in der Menschen trotz ihres jugendlichen Alters gesenkten Hauptes durch die Strassen wandeln und dabei ein leuchtendes Display streicheln. Was Mambo und Sprachlabor gemeinsam haben In den 80er Jahren bescherte der Streifen «Dirty Dancing» den Tanzschulen einen Rekordansturm. Mambo avancierte über Nacht zu dem Modetanz. Wer etwas auf sich hielt, wollte lernen, die Hüften so elegant und lasziv zu rollen wie Johnny und Baby. Das audiolinguale Sprachenlernen seinerseits bescherte zur gleichen Zeit den damaligen Multimediafirmen Rekordaufträge. Das Sprachlabor avancierte sprunghaft zu der Unterrichtsmethode. Wer etwas auf sich hielt, verschwand mit seinen Klassen regelmässig in den Katakomben des Schulhauses und ermöglichte den Schülerinnen und Schülern, Französisch und Englisch so elegant und korrekt zu beherrschen wie Muttersprachler und Dolmetscherinnen – angeblich. Hier die begeisterte experimentierfreudige Lehrperson am Schalten und Walten, dort die in kleinen Boxen eingepferchten Lernenden, versteckt unter riesigen Pilotenkopfhörern, ständig bemüht, die richtige Antwort ins Mikrofon zu stammeln, bevor die verrauschte Stimme die nächste Frage stellte. Ob der ständigen Gefahr, Opfer eines weiteren Lauschangriffes der Lehrkraft zu werden, ob der monotonen roboterhaften Drillübungen, ob der surrealen Szenerie fühlten sich so manche Versuchsobjekte wie Laborratten in einem Science Fiction-Film. Und in ihrer Fantasie mutierte der technikbegeisterte Versuchsleiter vorne am Schaltpult langsam zu Doctor No. Studiert man die heutigen Kursprogramme der einschlägigen Tanzschulen, sind sie immer noch da, die klassischen Tänze wie Walzer, Foxtrott, Tango, Samba, Rumba, Jive und wie sie alle heissen. Doch Mambo? Der einstige Modetanz ist verschwunden. Grund: mangelnde Nachfrage. Das gleiche Schicksal ereilte auch das Sprachlabor. Die angekündigte überlegene Wirkung blieb aus. Die vollmundigen Versprechungen der Bildungsexperten entpuppten sich als Irrtum. Die hohe Reparaturanfälligkeit generierte immense Folgekosten. Die vermeintliche Errungenschaft wurde sang- und klanglos wieder entsorgt. Hunderttausende von Steuerfranken waren buchstäblich «neutralisiert» worden. Ab in die Werkstatt! Kaum war die Welle des programmierten Unterrichts verebbt, folgte in den 1990ern ein Revival der Reformpädagogik in Form von Werkstattunterricht. Wer etwas auf sich hielt, liess seine Schülerinnen und Schüler mindestens einmal pro Monat «werkstätteln». Die Bildungsexperten von damals glaubten einmal mehr, das Ende des methodischen Regenbogens gefun- 2014/15-03 33 Die Bildungsexperten von damals glaubten einmal mehr, das Ende des methodischen Regenbogens gefunden zu haben. den zu haben – allen voran der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Er war überzeugt, dass der Werkstattunterricht alle zentralen Forderungen der Reformpädagogik in sich vereinen würde. Kombiniert man das Mantra des Lehrplans 21 «Die Schülerinnen und Schüler können» mit Reichens Formulierungen, tönt das in etwa so: • Die SuS «können ihren Lernweg selbst bestimmen». • Die SuS können ihr Wissen selbständig erarbeiten. • Die SuS können «die Lebensbedeutsamkeit des Lernens» erkennen. • Die SuS können in einer «fördernden Lernatmosphäre» lernen. • Die SuS lernen, «andere besser zu verstehen und sich solidarisch-unterstützend zu verhalten». • Die SuS können sich «Fähigkeiten und Arbeitstechniken» aneignen und anwenden.1 Zweifellos bietet eine abwechslungsreiche und bedarfsgerecht eingesetzte Lernwerkstatt den Lernenden eine Fülle von Lernmöglichkeiten. Nüchtern betrachtet handelt es sich beim Werkstattunterricht ganz einfach um einen von vielen möglichen Wegen, die nach Rom führen können – aber nicht zwingend müssen. Nichtsdestotrotz schütteten manche Lehrpersonen das Kind mit dem Bade aus und stellten fast ausschliesslich auf Werkstattunterricht um. Das rief einen Satiriker, dessen Name leider unbekannt ist, auf den Plan, der die damals herrschenden Glaubenssätze nicht so tierisch ernst nahm. Entstanden ist die «Fleischkäsewerkstatt», welche den übertriebenen reformpädagogischen Ansatz ad absurdum führte. Lorenz Derungs entwickelte die Satire weiter, indem er den Aufträgen die jeweilige pädagogische Legitimation spendierte .2 HEINZ ANTON MEIER Does it ring a bell? Heute – 25 Jahre später – touren die Schul-ent-wickler erneut durchs ganze Land. Für teures Geld – ein zweitägiger Kurs für 50 Lehrpersonen schlägt mit satten 8400 Franken zu Buche – verkaufen sie den Praktikerinnen und Praktikern in verordneten Weiterbildungen Rezepte, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen sollen, «am gesellschaftlichen Leben» teilzunehmen und ein «selbstbestimmtes Leben» zu führen.3 Vergleicht man das aufgepeppte Wording der Kursziele mit Reichens Formulierungen, der seinerseits bei Freinet (1896-1966), Gaudig (1860-1923) und Montessori (1870-1952) abgeschaut hatte, wird rasch einmal klar, dass sich hinter der neumodischen Wortakroba- tik einmal mehr altbekannte reformpädagogische Konzepte aus dem letzten Jahrhundert verbergen. Dazu zwei Beispiele: Letztes Jahrhundert: Die Schülerinnen und Schüler lernen, «andere besser zu verstehen und sich solidarisch-unterstützend zu verhalten.» Auf der Höhe der Zeit: «Die Schülerinnen und Schüler werden darin gefördert, mit kooperativen Lernformen respektvoll miteinander umzugehen und produktiv zusammenzuarbeiten.» Letztes Jahrhundert: «Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich Fähigkeiten und Arbeitstechniken anzueignen und diese anzuwenden.» Im Kompetenzenjargon der 2010er Jahre: «Die Schülerinnen und Schüler 34 Es wäre [...] kurzsichtig und naiv, würde man aufgrund von Effektstärken – welche auf Durchschnitten der Durchschnitte von Durchschnitten beruhen – versuchen, die unterschiedlichen Unterrichtskonzepte gegeneinander auszuspielen. erwerben sich ein Repertoire an Lernkompetenzen und Lernstrategien und passen die Bausteine ihres Lernkompetenzen-Curriculums an die eigenen Bedürfnisse an.»4 Das «neue Professionsverständnis» Das Zauberwort, das den Nerv des aktuellen Zeitgeistes offenbar optimal zu treffen scheint, heisst kooperativ. Auf der Website eines einschlägigen Anbieters von Weiterbildungskursen taucht der Begriff sage und schreibe über 100 (!) Mal auf, das zugehörige Nomen «Kooperation» nicht mitgerechnet. Wer also dem «veränderten gesellschaftlichen Umfeld» Rechnung tragen will, orientiert sich am «neuen Professionsverständnis» und kooperiert bzw. lässt kooperieren, und zwar ausgiebig. • Für besonders gelungene Gruppenarbeiten ist ab sofort das Placemat das Mittel der Wahl. • Für besonders aktivierende Partnerarbeiten ist heute ein Lerntempoduett fällig. • Für besondere Erfolge beim vernetzten Denken sorgt neu die Strukturlegetechnik. Einzelne Methoden werden gar verbindlich in Schulprogramme aufgenommen – um eine nachhaltige Schulentwicklung zu gewährleisten. Mit einem einseitigen Methodensteinbruch ist langfristig jedoch niemandem gedient. Selbst die besten Gerichte verleiden, wenn man sie zu oft vorgesetzt bekommt. Die Fokussierung auf einen Koffer voller Unterrichtsmethoden, von denen der Autor dieses Artikels einige als abwechslungsreich, kreativ, anregend und wirksam, andere jedoch als eher weniger ertragreich erachtet, erstaunt. Obwohl es sich bei den trendigen Be- griffen wie Y-Charts, Partnerpuzzle oder Positives Fokussieren oft um alten Wein in neuen Schläuchen handelt, erwecken die Kursleiter trotz gegenteiliger Beteuerung den Eindruck, … • dass sich Schüler in den letzten Jahrzehnten kaum Ziele unter Einbezug ihrer Sinne gesetzt hätten; • dass Schülerinnen in bisherigen Lernpartnerschaften die Zeit wenig effizient genutzt hätten; • dass Lernende nur selten über ihre Eigenschaften – seien sie nun positiv oder negativ – nachgedacht hätten. Natürlich ist es begrüssenswert, wenn Weiterbildungen im methodisch-didaktischen Bereich helfen, den persönlichen Fundus aufzufrischen und zu erweitern. Problematisch wird es aber dann, wenn ein singuläres Unterrichtskonzept so dargestellt wird, als wäre es allen anderen Methoden weit überlegen. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, dass mit einer Fixierung auf bestimmte Methoden die Verantwortung für einen erfolgreichen Unterricht vollumfänglich der Lehrperson zugeschrieben wird – denn würde diese es «nur richtig machen», dann ginge es doch fast von alleine – ist der Betrachter zu denken versucht. Selbstverständlich gebührt der Lehrkraft ein gewichtiger Anteil an gelingendem Unterricht, ohne das Zutun der Lernenden jedoch stellt sich kein Lernzuwachs ein. Mit Hattie lässt sich alles beweisen Um zu beweisen, dass eine bestimmte Methode wirksamer und überlegener sein soll, berufen sich deren Verfechter immer wieder auf die Megastudie von John Hattie. Dieser teilt die 138 gemessenen Wirkungsfaktoren hinsichtlich des kognitiven Lernens in fünf Bereiche ein (s. Tabelle). Effektstärke nach Hattie Das Kooperative Lernen, dem viele aktuelle Bildungsforscher eine überlege- d < 0.00 Massnahme senkt den Erfolg 0.00 ≤ d < 0.20 kein Effekt bzw. unbedeutende Effekt 0.20 ≤ d < 0.40: kleiner Effekt 0.40 ≤ d < 0.60 moderater Effekt d ≥ 0.60 grosser Effekt Interpretation der Effektstärke d von Massnahmen d = 0.01 offener Unterricht d = 0.04 altersdurchmischtes Lernen d = 0.22 individualisierendes Lernen d = 0.41 kooperatives Lernen vs. heterogene Klassen d = 0.54 kooperatives Lernen vs. kompetitives Lernen d = 0.59 kooperatives Lernen vs. individuelles Lernen d = 0.72 Lehrer-Schüler-Verhältnis d = 0.74 reziprokes Lernen d = 0.75 Klarheit der Instruktion kein bzw. unbedeutender Effekt moderater Effekt grosser Effekt 2014/15-03 35 Die situationsgerechte Methodenvielfalt stellt letzlich sicher, dass alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Rechnung kommen und vom Unterricht profitieren. ne Wirkung beimessen, verfügt über moderate Effektstärken im Bereich von 0.41 bis 0.59 – abhängig vom jeweiligen Setting. Zum Vergleich Die Werte für reformpädagogische Konzepte befinden sich allesamt im untersten Bereich der Skala und haben gemäss Hattie eine unbedeutende bzw. gar keine Wirkung. In den Worten des Tenniskommentators Heinz Günthardt ist das «äusserst bescheiden». Grosse Effekte hingegen attestieren Hatties Berechnungen unter anderem dem Lehrer-Schüler-Verhältnis, dem Reziproken Lernen und der Klarheit der Instruktion. Korrelation vs. Kausalität Wer nun aber hingeht und die Schule mit Hilfe solcher Hitparadenlisten entwickeln will, betreibt «Fast-Food-Hattie». 5 Georg Lind weist darauf hin, dass «man […] aus Testdaten und auch aus Meta-Analysen, die darauf aufbauen, keine Politik ablesen» 6 kann und Hans Brügelmann gibt zu bedenken, dass «Durchschnittsbefunde aus (Meta)Metaanalysen […] hilfreiche Hypothesen liefern können – aber keine Vorschriften.»7 Hattie ist sich der Beschränkungen seiner Studie grundsätzlich bewusst und warnt in der Einleitung explizit davor, Korrelation mit Kausalität (Effektivität) gleichzusetzen. 8 Für die Nichtstatistiker unter Ihnen lässt sich der Unterschied zwischen den beiden Begriffen mit diesem erhellenden Beispiel veranschaulichen: In Schweden wurde über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg eine Korrelation zwischen der Anzahl neugeborener Kinder und der Anzahl Störche festgestellt. Wer Korrelation mit Kausalität verwechselt, kommt daher zum Schluss, dass es tatsächlich der Storch ist, der die kleinen Kinder bringt. Obwohl Hattie die Problematik der Gleichsetzung von Korrelation und Kausalität erkannt hat, ist es ihm gleichwohl nicht gelungen, sie im Rah- men seiner Arbeit konsequent zu vermeiden: «In den übrigen Kapiteln setzt er sich selbst […] über diese Warnung methodisch und intellektuell hinweg. Er steigert diese naive Gleichsetzung sogar noch, indem er Korrelationsstatistiken graphisch in «Effektivitäts-Barometer» übersetzt, aus denen Lehrer und Bildungspolitiker direkt Handlungsanleitungen ablesen können sollen.»9 Auf den gesunden Mix kommt es an! Es wäre also kurzsichtig und naiv, würde man aufgrund von Effektstärken – welche auf Durchschnitten der Durchschnitte von Durchschnitten beruhen – versuchen, die unterschiedlichen Unterrichtskonzepte gegeneinander auszuspielen. Genausowenig zielführend ist es, einzelne Methoden hochzujubeln und damit die didaktisch-methodische Vielfalt ohne Not zu beschneiden. Es ist selbstverständlich, dass Menschen zusammenarbeiten müssen. Dazu braucht es ein gesundes Mass an Sozialkompetenzen. Genauso selbstverständlich ist es, dass nicht alle mit allen gut zusammenarbeiten können. Sympathien und Antipathien gehören zum Leben wie Freude und Trauer. Es gibt Schüler, die aufblühen, wenn sie zeitweilen in einer gelungenen Gruppenkonstellation arbeiten können. Andere nehmen die Einladung zum sozialen Faulenzen (Social loafing)10 dankend an. Auch dem jeweiligen Entwicklungsstand und Reifegrad der Lerngruppe ist in diesem Kontext unbedingt Beachtung zu schenken. Pubertierende ticken anders als ABC-Schützen oder angehende Maturi und Maturae. PIXABAY Es gibt eher autodidaktisch veranlagte Schülerinnen, welche alleine äusserst effizient vorankommen und durch permanent verordnete Zusammenarbeit ausgebremst, gar demotiviert werden. 36 «Ein angemessener Mix – mit jeweils hochwertigen Anteilen – bleibt eine beständige Aufgabe für uns Lehrer.» (Michael Felten) Andere – oft schwächere Schüler – fühlen sich in Phasen des selbstorganisierten Lernens einsam, verlieren die Orientierung und kommen in der Folge kaum voran. Und schliesslich gibt es auch Schülerinnen, die sich im sorgsam gelenkten Klassenunterricht bestens entfalten und den dynamischen Wechsel der direkten Instruktion schätzen. So banal es klingt: Die situationsgerechte Methodenvielfalt stellt letzlich sicher, dass alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Rechnung kommen und vom Unterricht profitieren. Oder würden Sie sich von einem Arzt behandeln lassen, der lediglich über einen Hammer verfügt? Er würde Sie zwangsläufig für einen Nagel halten. Michael Felten formuliert es so: «Der eine Lehrer macht zu viel langweiligen Frontalunterricht, der andere zu oft ineffektive Freiarbeit, ein dritter zu häufig Gruppenarbeit auf banalem Niveau. Ein angemessener Mix – mit jeweils hochwertigen Anteilen – bleibt eine beständige Aufgabe für uns Lehrer.»11 Was darf es denn kosten? Der Weiterbildungsindustrie gelingt es regelmässig, Selbstverständlichkeiten dermassen spektakulär aussehen zu lassen, dass sie mit Erfolg als bahnbrechende Innovationen verkauft werden. Dieses Marketing hat seinen Preis. Während das AVS bei der Investition in die Fachlichkeit zu oft knausert12 , stellt es für Schulentwicklungsprojekte üppige Beträge zur Verfügung. Im Rahmen des Programms «Schulen besuchen Schulen» reisen zur Zeit ganze Kollegien quer durch die Schweiz. Der Auftrag dabei lautet: Lasst euch von innovativen Schulen inspirieren! Den interessierten Besucherinnen und Besuchern werden dabei ausschliesslich folgende Unterrichtskonzepte präsentiert: die Einrichtung der neu geschaffenen Räume schlagen mit zusätzlichen Millionenbeiträgen zu Buche. • selbständiges Lernen in Lernlandschaften • individuell gesteuertes Lernen in Lernateliers • reflektierendes Lernen mit Hilfe von Lernjournalen und Lerncoaches • und natürlich kooperatives Lernen in Gruppen. Der Film «Dirty Dancing», der dem eingangs erwähnten Mambo zum Durchbruch verholfen hatte, gehört zu den erfolgreichsten Low-Budget- Produktionen der Filmindustrie. Mit nur fünf Millionen Dollar Produktionskosten spielte er 214 Millionen ein.13 Man darf gespannt sein, wie viel die «neuen» Unterrichtskonzepte «einspielen» werden. Klar ist jedoch, dass es sich hierbei nicht um eine Low-Budget-Produktion handelt. Diese Konzentration auf eine einzige Unterrichtsphilosophie mit Stossrichtung Selbstorganisation und Individualisierung lässt sich der Kanton eine Stange Geld kosten. Die folgende Aufstellung verdeutlicht, welche Beträge in die Erstellung von sogenannten pädagogischen Profilen an den einzelnen Schulstandorten fliessen. Wenn nur zehn Schulen im Kanton ihre Schule auf diese Art entwickeln, kostet das die Steuerzahler immerhin eine Viertelmillion. Die Folgekosten für die allfällige bauliche Anpassungen und Abschliessende Fragen … • Wie kommt es, dass um eine einzige Lehr- und Lernmethode über Nacht ein derartiger Rummel entstanden ist? • Wie ist es möglich, dass sich eine einzige Beratungsfirma sprunghaft an die Spitze der Weiterbildungsindustrie setzen konnte? • Wie lässt sich erklären, dass dieselbe Firma den Schulleitungen auch gera- 35 LP 20 LP 10'500 6'000 1'050 600 Weiterbildung Einführung in das Kooperative Lernen Kurskosten für 2 Tage 8'400 4'400 Weiterbildung extern à 2 Tage Pädagogische Kooperation umsetzen Pädagogisches Profil definieren Kurskosten Seminarhotel 8'400 6'300 4'400 3'600 34'650 19'000 Schulen besuchen Schulen Kosten für die Stellvertretungen Annahme: 3 Lektionen pro Lehrperson Reisespesen: Annahme: 30 CHF pro Lehrperson Total 2014/15-03 37 de die entsprechenden Evaluationsinstrumente zur Verfügung stellt, mit welchen die korrekte Anwendung der von ihr vermarkteten Produkte überprüft werden kann? • Weshalb investiert der Kanton so kräftig in diese Produkte? … und Fakten • Ende 2013 hat das AVS die Schulleitungen flächendeckend mit der Broschüre «Pädagogische Kooperation» ausgestattet. Obwohl der Bildungsdirektor nach vier Monaten zähen Nachbohrens öffentlich klargestellt hat, dass es sich dabei «in keiner Weise um eine Vorgabe des Kantons oder eine verbindliche Instruktion handelt»14 , werden Schulen an mehreren Standorten ganz im Geiste dieser Broschüre umgestaltet. • Der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz VSLCH (http:// www.vslch.ch) macht auf seiner Website keinen Hehl daraus, dass er in «Kooperation» (sic!) mit der oben erwähnten Beratungsfirma Weiterbildungsseminare anbietet. • Unter den Beraterinnen und Beratern finden sich Ex-Schulleiterinnen und -Schulleiter, welche an ihren ehemaligen Schulen die genannten Unterrichtskonzepte bereits zum Mass aller Dinge erklärt haben. • Und ebendiese Schulen werden im Rahmen des vom Kanton finanzierten Projektes «Schulen besuchen Schulen» rege besucht. 1 http://methodenpool.uni-koeln.de/werkstatt/ werkstatt_begruendung.html 2 http://www.mittelschulvorbereitung.ch/ contentLD/DE/Div40WerkstattFl.pdf 3 aufgrund eines selbstauferlegten Werbever- bots wird der entsprechende Link nicht angegeben 10 Als soziales Faulenzen – social loafing – be- zeichnet man in der Psychologie die Tendenz der Menschen, sich in Gruppen weniger anzustrengen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, als wenn sie allein dafür verantwortlich sind. http://lexikon.stangl.eu/4851/ soziales-faulenzen/ 4 dito 11 5 Klaus Zierer, Übersetzer der deutschen tenzen allein erarbeiten?, www.zeit.de/ Michael Felten, Sollen Schüler ihre Kompe- Ausgabe der Hattie-Studie «Lernen sichtbar gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/unterricht- machen», http://visible-learning.org/de/ freiarbeit-frontalunterricht-gruppenarbeit kritik-an-der-hattie-studie-visible-learning/ 6 Georg Lind, Psychologe, http://visible-lear- 12 Michael Weiss, http://www.lvb.ch/docs/ magazin/2014_2015/02-Dezember/08_Ideolo- ning.org/de/kritik-an-der-hattie-studie-visible- gie_statt_Fachlichkeit_LVB_1415-02.pdf learning/ 13 7 Hans Brügelmann, Grundschulpädagoge, http://www.planet-wissen.de/sport_freizeit/ tanzen/gesellschaftstanz/portraet_dirtydan- http://visible-learning.org/de/kritik-an-der- cing.jsp hattie-studie-visible-learning/ 14 8, 9 Georg Lind, http://www.uni-konstanz.de/ ag-moral/pdf/Lind-2013_meta-analysen-alswegweiser.pdf http://www.baselland.ch/fileadmin/ baselland/files/docs/ekd/mitekd/mitbksd_2014-09-01_schreiben.pdf 38 Die Fleischkäsewerkstatt Nach Lorenz Derungs (www.mittelschulvorbereitung.ch) Die pädagogische Legitimierung der jeweiligen Postenarbeit ist kursiv dargestellt. 1. Entscheide dich zuerst, ob du den Fleischkäse zeichnen, beschreiben, essen oder jemandem schenken willst. (Individualisierungsphase) 2. Halte ein Stück Fleischkäse nahe an dein Ohr. Berichte uns dann, was du hörst. (audiokognitives Verbalisieren) 3. Zähle die Löchlein auf deinem Fleischkäse. (additiv-kalkulatorisches Zahlenverständnis festigen, Follow-up der Mathematisierwerkstatt «Natürliche Zahlen von 1 bis 100 in der konventionellen Reihenfolge ordnen») 4. Schliesse die Augen und versuche, zuerst durch Tasten, dann durch Riechen zu erkennen, was sonst noch auf deinem Teller liegt. Halte das Ergebnis schriftlich fest. (Selbstbeurteilung der taktilen und nasalen Imaginationskompetenz) 5. Plane selber eine Exkursion in den Garten mit dem Ziel, zwei kleine Ästchen zu beschaffen. Führe diese Exkursion aus. In einer nächsten Phase versuchst du dann, nach Art der Chinesen den Fleischkäse zu essen. Formuliere deine Erfahrungen in einem Bericht. (Multikulturalisierungsintention) 6. Falte eine Scheibe Fleischkäse zweimal und schneide daraus einen Scherenschnitt. (Simulation einer manuellen Werkstatt) 7. Lege je eine Portion Fleischkäse an die Sonne und an den Schatten. Beobachte eine Stunde lang genau. Liste deine Beobachtungen in einer tabellarischen Darstellung auf. Welche Gesetzmässigkeiten kannst du feststellen? (Hermeneutisches Prinzip) 8. Schneide aus einer dünnen Tranche Fleischkäse einen Kreisring, wobei r = 7mm und R = 60mm sei. Falls du nun die dazu verbrauchte Menge Fleischkäse berechnen möchtest, benötigst du die Formel A = π(R2 – r2). Die Dichte von Fleischkäse ist 1.234 g/cm3. Wenn du aber lieber mit dem Computer arbeitest, schiebe die Scheibe Fleischkäse in das CD-ROMLaufwerk. Versuche dann, alle mit dem Suchwort «Fleischkäse» bei «Googus» gefundenen Einträge auf die Scheibe zu brennen. (Virtualisieren von Realien) 9. Überlege, warum es wohl Fleischkäse und nicht Käsefleisch heisst. (Fächerübergreifendes Moment) 10.Informiere dich in der Klasse, wer eine Hauskatze und wer ein Zwergkaninchen besitzt. Lege nun zuerst einer Katze, dann einem Kaninchen das Stück Fleischkäse vor. Berichte vom unterschiedlichen Verhalten des Karnivoren (Katze) und des Herbivoren (Kaninchen). Informiere dich nun weiter in der Klasse, wer Vegetarier ist. Wiederhole dann den Versuch, indem du das Stück Fleischkäse zuerst dem/der fleischfressenden, dann dem/der fleischverachtenden KameradIn vorsetzt. Lässt sich eine Analogie finden? (anthropomorphistischer Behaviorismus) 11.Verstecke den Fleischkäse irgendwo im Gruppenraum. Rufe dann «Where is the beefchee- se?» Ist ein Unterschied im Verhalten derjenigen festzustellen, die in einem teuren Lernstudio das Frühenglisch besucht haben? (Active Immersion Transfer) 2014/15-03 39 12.Nimm deinem Nachbarn unbemerkt den Fleischkäse aus dem Teller und ersetze ihn durch deinen rechten Schuh. Beschreibe die Reaktion. Notiere, was er sagt. (Get together Feldexperiment) 13.Stecke deine Gabel in den Fleischkäse. Miss nun mit dem Transporteur den Einstichwinkel und vergleiche mit deinen Kameraden. Ist ein signifikanter Unterschied zwischen Rechtsund Linkshänder festzustellen? (psychologisierende Geometrisierfähigkeit) 14.Iss fünf Kilo Fleischkäse. Arbeite nun, wenn du ein Mädchen bist, mit einem Jungen, oder wenn du ein Junge bist, mit einem Mädchen zusammen. Versuche so herauszufinden, ob dem Schwein, bevor es zu Fleischkäse verarbeitet wurde, männliche oder weibliche Hormone verfüttert worden waren. (praktizierter Sexualkundeunterricht) 15.Stelle das Fleischkäse-Essen pantomimisch dar. (Identifikationsmöglichkeit im Rollenspiel) 16. Beobachte genau, wie dein Gegenüber isst. Schildere in kurzen Sätzen. Vermeide Wörter wie schmatzen, rülpsen, reinhauen, schlingen, schlürfen, vollschlagen oder gar fressen, weil diese deine Kameradin oder deinen Kameraden verletzen könnten. (Einführung der Political Correctness) 17.Stelle eine Schreibung mit dem Titel «Ich bin ein Fleischkäse» her. (Follow-up der Alphabe- tisierungswerkstatt «Buchstaben sicher erkennen») PIXABAY 40 Perlenfischen Perle 3: «Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt» «Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt» – so lautet der Titel von Perle 3, einem Interview mit Markus Möhl, Unternehmer und Präsident der Berufsschule Lenzburg, welches in der «Aargauer Zeitung» vom 15. Januar 2015 abgedruckt wurde. «Bildung, wie sie an der Volksschule vermittelt werden muss, wird zum sinnentleerten Selbstzweck, weil sie in der Praxis nicht mehr nutzbar ist. […] Nicht die Schule läuft falsch, sondern die Vorgaben für die Bildung zielen nicht auf die Lebens- und Wirtschaftstauglichkeit der Jugendlichen. Das Bildungssystem orientiert sich heute weitgehend am einzelnen Kind und seiner individuellen Förderung. Das ist grundsätzlich richtig und sozial. Doch mit steigender Schülerzahl sind Lehrkräfte mit den zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen kaum in der Lage, Hochbegabte, Verhaltensauffällige und Lernzielbefreite individuell zu fördern. […] Wir haben heute häufiger Lehrlinge im Betrieb, die nach der Sekundarschule die Grundrechenoperationen nicht können, nicht wissen, was eine Summe ist, für den Zahlenbereich über 10 den Taschenrechner brauchen und ernst zu nehmende Schreib- und Lesedefizite aufweisen. Zudem sind immer mehr Jugendliche nicht mehr belastbar. […] Durch individuelle Lernziele und vermehrt selbstgesteuertes Lernen erleben sie kaum, was Scheitern bedeutet. […] In der Lehre und der Berufsschule werden sie dann mit der Realität […] konfrontiert. Das führt in den Lehrbetrieben immer wieder zu Schwierigkeiten. Mit der Individualisierung werden grundsätzlich die Interessen des Einzelnen über das Wohl der Gesellschaft gesetzt. Das fördert den Egoismus und schadet letztlich allen. […] Nun soll auch im Aargau der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt werden. Schüler mit einem Handicap können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden sämtliche Leistungen relativiert. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil er seine Leistung ohne Hilfsmittel erbringen muss. […] Wir HEINZ ANTON MEIER 2014/15-03 41 wissen als Abnehmer nicht mehr, was ein Sekundarschüler mit einem Schnitt von 5,0 wirklich kann. Was bleibt, ist der Eignungstest. Er ist heute bei vielen Firmen die Regel. An der Berufsschule müssen Lernateliers eingerichtet werden, wo Stoff vermittelt wird, der eigentlich an die Volksschule gehört. Anspruchsvollere Berufe wie etwa Elektriker haben Durchfallquoten an den Lehrabschlussprüfungen im Bereich von 30 Prozent. […] Die Maturitätsquote im Aargau ist in den letzten Jahren gestiegen. Nachdem die Jugendlichen nicht automatisch intelligenter werden, kann eine Erhöhung der Quote nur bedeuten, dass man die Eintrittshürden und die Ansprüche senkt. Und wenn mittelmässige Schüler an die Kanti gehen, dann sinkt auch das Niveau in den Berufsschulen. Und die Matur ist in der Regel ja nicht das Endziel: Die Maturanden drängen an überfüllte Hochschulen und belegen zu Hunderten Studienrichtungen wie «Internationale Beziehungen», für die ein Markt fehlt. Der Zusammenhang zwischen Maturitätsquote und Jugendarbeitslosigkeit wurde ja bereits nachgewiesen. Andererseits wird es immer schwieriger, schulisch gute Jugendliche zu finden, die einen Beruf lernen wollen. […] Ich glaube, die aktuellen bildungspolitischen Reformen gehen von einem idealisierten Menschen- und Gesellschaftsbild aus. Es ist auch im Jahre 2015 kaum so, dass alle Schülerinnen und Schüler gerne zur Schule gehen, gern lernen, sich selber Ziele setzen, selber einen Sinn in dem sehen, was sie machen und lernen. […] Nehmen wir die Praxis als Massstab, stellen wir noch vor der Einführung des Lehrplans 21 fest: Die Schüler verfügen zwar über vielfältige Kompetenzen, aber es mangelt an den «Basics». Wir brauchen Jugendliche, die rechnen und schreiben können. […] Was theoretisch wunderbar tönt, in der Praxis aber nicht umsetzbar und anwendbar ist, ist weder sozial noch gerecht. Das gilt für die Lehrerbildung, die Lehrtätigkeit auf allen Stufen, die Schule und die Jugendlichen.» Weitere Perle auf S. 52 42 Lehrplan 21 und die Frage: Schweizer Schule – quo vadis? Dritter Teil und letzter Teil eines dreiteiligen Gastbeitrags von Dr. phil. Beat Kissling; Psychologe, Erziehungswissenschaftler, Kantonsschullehrer und Beirat der «Gesellschaft für Bildung und Wissen» Kurzer Rückblick Im ersten Teil des Gastbeitrags wurde zunächst danach gefragt, warum die Schweizer Schulen während der letzten 25 Jahre einer laufenden Reformkaskade unterworfen wurden, obwohl der Schweiz noch 1989 in einem OECD-Bericht viel Anerkennung und Lob für die hohe Qualität ihres Bildungswesens ausgesprochen worden war. Die entscheidenden Fragen Der Lehrplan 21 hat viele kritische Fragen zur Stossrichtung der aktuellen und zukünftigen Schulentwicklung aufkommen lassen. Zwischenzeitlich sind daraus in verschiedenen Kantonen Volksinitiativen gegen die Einführung dieses Lehrplans hervorgegangen, die von Eltern und Lehrpersonen lanciert worden und teilweise bereits zustande gekommen sind. Dieser dreiteilige Gastbeitrag hat zum Ziel, der verbreiteten Skepsis eine Stimme zu geben, indem genauer ausgeleuchtet wird, was von diesem nationalen Einheits-Lehrplan 21 für die Zukunft der Schweizer Volksschule zu erwarten ist. Im Kern soll zwei wesentlichen Fragen nachgegangen werden: • Ist damit zu rechnen, dass für Schule und Unterricht ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel stattfinden soll? • Entspricht der mit dem Lehrplan 21 einzuschlagende Weg den Vorstellungen der Schweizer Bevölkerung, die sich 2006 mit Annahme des Bildungsrahmenartikels für eine gewisse Harmonisierung der kantonal verantworteten Schulsysteme aussprach (letztlich die zentrale Argumentation der Lehrplan-21-Promotoren)? Anschliessend wurde das Geheimnis dieses international anerkannten Erfolgs dargelegt: nämlich die Gestaltung des Unterrichts auf der Basis eines Menschenbildes, das Lehren und Lernen als hochgradig sozial vermitteltes, wertebasiertes Geschehen auffasst, sowie die besondere Disposition von uns Menschen zur «geteilten Intentionalität», zur gemeinsamen Zuwendung zu einer Sache und somit zur interaktiven Zusammenarbeit in Klassen. Weiterhin wurde aufgezeigt, dass dieses interpersonale Verständnis von Unterricht, welches von entsprechend geschulten Lehrpersonen umgesetzt wurde, auf der langen europäischen Bildungstradition fusst. Vor dem Hintergrund dieser Erfolgsgeschichte unseres Schulwesens (nicht nur der Volksschulen) erörterte der zweite Teil des Gastbeitrags die Frage nach der Bilanz der letzten 25 Reformjahre und dem aktuellen Zustand des Schweizer Volksschulwesens. Diverse Hiobsbotschaften aus Schulen, schulpsychologischen Diensten, Pädagogischen Hochschulen, Kinderarztpraxen und kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten haben Zweifel aufkommen lassen, ob mit unserer Jugend in der Schule wirklich alles noch zum Besten steht. Als weitere problematische Entwicklung wurde der Wandel der früher volksnahen demokratischen Schulaufsicht (Schulpflegen, -räte, -kommissio- nen) zu einer Topdown-Steuerung der Schulen durch eine kleine Verwaltungselite angesprochen. Dieser Wandel hat dazu geführt, dass Bürgerinnen und Bürger heute grösste Mühe haben, die Vorgänge in ihrem Schulwesen zu verstehen. Wie weiter thematisiert wurde, hat sich der Entdemokratisierungstrend während der 1990er Jahre in verschiedenen Entwicklungen fortgesetzt: zunächst «dank» dem Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor mit seiner Ökonomisierungskur für das Schweizer Schulwesen, dann durch den Anschluss der Schweiz an das utilitaristisch orientierte Bologna-Hochschulsystem und schliesslich durch die buchstäbliche Unterwerfung des Schweizer Volksschulwesens unter das OECD-Programm der PISA-Studien. Sämtliche «Reformen» oder Neuorientierungen dieser Art geschahen praktisch immer an Parlament und Volk vorbei. Diesen Vorgang hat Hans Zbinden, renommierter SP-Bildungspolitiker und -experte, nachdrücklich aufgezeigt; auf ihn wurde mehrfach Bezug genommen. Auch die Darlegung des realen Inhalts des Bildungsrahmenartikels (2006) offenbarte, dass die Schweizer Bevölkerung keinen nationalen Bildungsstandards und keinem Lehrplan 21, sondern einer geringfügigen formalen Angleichung der kantonalen Bildungssysteme zugestimmt hat. Der letzte Teil dieses Beitrags geht nun auf die Kernaspekte von Theorie und Praxis im Lehrplan 21 konkret ein. Manches, was bislang angedeutet wurde, soll nun vertieft beleuchtet werden, damit die beiden Ausgangsfragen beantwortet werden können. Wozu die ominöse Kompetenzorientierung? Wer auf irgendeiner Ebene des Schul- 2014/15-03 43 Begründet wird [...] die Notwendigkeit, Kompetenzen als standardisierte Indikatoren von Schülerleistungen zur Norm zu erheben (siehe die Worte Reussers), um das «träge Wissen» loszuwerden, das bis anhin in den Schulen gelehrt worden sei. wesens tätig ist, weiss um die besondere Bedeutung des Schlagwortes «Kompetenzorientierung». Kein neuer Lehrplan wird heute auf irgendeiner Stufe des Bildungswesens erstellt, ohne die «Kompetenzorientierung» zur unabdingbaren Grundlage, zum eigentlichen «didaktischen Leitbegriff»1 zu erklären. Offenbar verbirgt sich dahinter ein wesentlicher Kern des Lehrplans 21, vielleicht auch schon seiner Vorgeschichte. Tatsächlich bestätigt Kurt Reusser, Präsident des Fachbeirats zum Lehrplan 21 und Professor für Pädagogische Psychologie und Didaktik in Zürich, denn auch seine besondere Relevanz: «Die Idee der Kompetenzorientierung ist zwar keineswegs neu, sondern folgt aus der Überlegung, dass Schule nicht träges Buchwissen, sondern auch in Alltagssituationen anwendbares Wissen vermitteln soll. Dennoch ist eine konsequente Kompetenzorientierung kennzeichnend für einen grundlegenden Reformprozess im Bildungssystem.»2 An dieser Aussage ist besonders interessant, dass die Kompetenzorientierung direkt zusammenhängt mit der Eliminierung vieler Inhalte, die bisher im Curriculum der Lehrpläne enthalten waren, zugunsten von direkt nutzbarem Alltagswissen. Ausserdem macht Reusser klar, dass die Kompetenzorientierung die treibende Kraft hinter den aktuellen Reformvorgängen (nicht erst beim Lehrplan 21) ist. Das Paradoxe ist nur, dass kaum jemand im Bildungswesen in der Lage ist, präzise den Kompetenzbegriff überhaupt zu definieren. Er erhält den Charakter eines Containerbegriffs. Im Zweifelsfall wird immer auf die Definition des deutschen Erziehungswissenschaftlers Franz Weinert verwiesen. Diese ist jedoch so schwer fassbar, dass sie keine wirkliche Klärung ermöglicht. Im deutschsprachigen Raum hat Kompetenz eine positive Konnotation, nämlich als eine Fähigkeit, die auf komplexen Voraussetzungen aufbaut, und zwar auf Schulung, Sachkenntnissen, Erfahrung usw. Man spricht von einem Arzt, Handwerksmeister oder Musiker mit einer hohen fachlichen oder künstlerischen Kompetenz, von einem Politiker mit einer besonderen rhetorischen Kompetenz, von einem Rektor oder Manager mit einer eindrücklichen Führungskompetenz usw. Wohl niemand würde von einer Kompetenz sprechen in Bezug auf Tätigkeiten wie Stühle aneinanderreihen, einen Kochlöffel rühren, die Türe öffnen, sich die Schuhe anziehen zu können usw., da es sich hierbei um simple Fertigkeiten handelt, die sich jeder Mensch ohne grossen Aufwand im Laufe seiner Kindheit beiläufig aneignet. Wenn man nun der Frage genauer nachgeht, woher Kompetenz als «didaktischer Leitbegriff» stammt und in unser reformorientiertes Bildungsverständnis eingeflossen ist, findet man in sämtlichen Publikationen, die darauf eine Antwort geben, den Hinweis auf die PISA-Studien (ab 2000), was bedeutet, dass er von der OECD herstammt. In den Erläuterungen zu PISA ist allenthalben die Rede von Kompetenzen bzw. Kompetenzstufen, die durch die internationalen PISA-Tests überprüft würden. Begründet wird dort die Notwendigkeit, Kompetenzen als standardisierte Indikatoren von Schülerleistungen zur Norm zu erheben (siehe die Worte Reussers), um das «träge Wissen» loszuwerden, das bis anhin in den Schulen gelehrt worden sei. Kompetenzorientierung: Inhalte schwinden, Fachlichkeit dämmert! Somit muss davon ausgegangen werden, dass mit der Kompetenzorientie- rung der Unterricht in unseren Schulen inhaltlich wesentlich reduziert und banalisiert wird. Denn selbstverständlich ist vieles, was in der Schule gelehrt wird, nicht ständig im Alltag direkt nutzbar zu machen und doch grundlegend, um immer komplexeres Wissen und anspruchsvollere Fähigkeiten aufzubauen. Zur Einsicht, dass die Konsultationsversion des Lehrplans 21 mit dieser neuen Kompetenzorientierung einen frappanten Bildungsabbau beinhaltete, waren viele verschiedene Lehrkräfte und Fachschaften, die genauer hinschauten, gelangt. Sie stellten fest, dass im Vergleich zu den alten Lehrplänen die Anforderungen an die Schüler eines Jahrganges enorm aufgeweicht und sogenannte Minimalkompetenzen formuliert worden waren, die teilweise fast peinlich erschienen. In der neuen, überarbeiteten Version wurden angesichts der lauten Kritik diesbezüglich einige Modifikationen vorgenommen, zum Beispiel die Reduktion der zu erreichenden Kompetenzen von über 4000 auf rund 400. Die Frage ist nur, ob diese Modifikationen überhaupt relevant sind, solange die grundsätzliche Kompetenzorientierung als solche bestehen bleibt. Zum «trägen Wissen» (Wortlaut der OECD und Kurt Reussers) scheinen auch die Inhalte der Fachdisziplinen im Lehrplan 21 zu zählen, also der Wissensaufbau, der notwendig ist, um einen soliden Zugang zu einer Disziplin zu erhalten. Traditionelle Fachdisziplinen wie Geografie und Geschichte wurden zu bunten Gefässen wie «Räume, Zeiten, Gesellschaften» zusammengemischt – paradoxerweise ohne einen sorgfältigen Aufbau in jedem Fachbereich zu gewährleisten, aber mit hochtrabenden Kompetenzansprüchen versehen, die vollkommen 44 HEINZ ANTON MEIER jenseits der Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler liegen. Um ein Beispiel exemplarisch herauszugreifen: «Die Schülerinnen und Schüler können die Entstehung der Schweiz schildern und in einen europäischen Zusammenhang stellen (insbesondere unter Berücksichtigung von Demokratie und politischen Prozessen).»3 Gerne würde man fragen, wie viele Erwachsene in der Schweiz – ob Akademiker oder nicht – in der Lage wären, diese Kompetenz sachlich fundiert zu erbringen. Der Lehrplan strotzt vor solchen Kompetenzansprüchen, sodass für jede erfahrene Lehrperson der Schluss evident ist, dass hier eine grosse Diskrepanz zwischen «Sein und Schein» etabliert wird. Ein auf Gymnasialniveau unterrichtender Kollege, ein Historiker, hat nach der Lektüre dieses Themengefässes im Lehrplan 21 mit Blick auf sein Fachgebiet Geschichte konstatiert: • sämtliche Inhalte würden gegenüber der Erarbeitungsmethode zurücktreten; • die Auswahl an Themen erscheine für einen Historiker vollkommen willkürlich; • das Geschichtsbild, das mit dem intendierten Unterricht vermittelt werde, sei zusammenhanglos; • kein fachbezogenes, systematisches Herangehen werde ersichtlich; • kein Sinn für die Grundelemente der Wissenschaftlichkeit könne auf diese Weise bei den Schülern aufgebaut werden. Als Bilanz darf man sich fragen, wie viele Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der Volksschule mit einem Lehrplan 21 noch einen guten Anschluss an eine weiterführende Schule bzw. Ausbildung finden können, wenn es ihnen auf der ganzen Linie an fachlich konsistentem Wissen fehlt. Kompetenzorientierung: der Schlüssel zur Test«kultur» Es ist fraglich, dass der primäre Sinn der Kompetenzorientierung tatsächlich im Ziel begründet sein soll, prinzipiell möglichst alle Inhalte loszuwerden. Viel naheliegender ist der Schluss – insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass es die OECD über die PISA-Studien war, die diese Umorientierung der Lehrpläne und der Unterrichtskultur auf Kompetenzen veran- lasst hat –, dass die «Entrümpelung» der Lehrpläne von wesentlichen Inhalten als Folge der Kompetenzorientierung vor allem einem Ziel dient: der Standardisierung des schulischen Lernens, um Vergleichbarkeit zwischen Schülern, Klassen, Schulen und Ländern mittels Tests überhaupt erst herzustellen. Die Informationsseite des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung in Berlin bestätigt diesen Verdacht zu den Zielen der PISA-Studien: «Mit PISA wollen sich die Teilnehmerstaaten regelmässig ein Bild davon machen, wie gut es ihren Schulen gelingt, Schülerinnen und Schüler auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Im Mittelpunkt steht dabei weniger das Faktenwissen der Jugendlichen, PIXABAY Kompetenzorientierung: der Schlüssel zur Test«kultur» 2014/15-03 45 sondern es werden Basiskompetenzen untersucht, die in modernen Gesellschaften für eine Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben notwendig sind. Es wird gefragt, inwieweit Jugendliche diese Kompetenzen erwerben.»4 Was hier fehlt, ist die ausdrückliche Erwähnung, dass die Testresultate zum Abschneiden von Schülern eines Landes natürlich vor allem in Rankingplätzen, also im Vergleich, ausgedrückt werden. Es leuchtet ein, dass bei mittlerweile 65 OECD-Ländern, die an den PISAStudien (Ländervergleichstests) beteiligt sind, Vergleiche überhaupt nur schwerlich vorgenommen werden können. Schon bei sehr viel weniger Ländern stellt sich die Herausforderung, wie ein Test konzipiert werden kann, der angesichts der höchst unterschiedlichen, nicht kompatiblen Bildungstraditionen brauchbar (im Sinne von repräsentativ) ist. Die logische Lösung, um alle sozusagen «über einen Leisten schlagen» zu können – darum geht es schlussendlich –, besteht darin, inhaltsneutrale (unabhängig von Kultur und Geschichte der Länder) und möglichst einfache, leicht in Testaufgaben umsetzbare Fähigkeiten und Fertigkeiten als Ziel von Unterricht zu definieren. Dies sind eben Kompetenzen. Somit ist klar, dass dieses PISA-inspirierte Verständnis von Kompetenzen nicht jenem differenzierten Verständnis entsprechen kann, das im deutschsprachigen Raum besteht. Die kompetenzbasierten Testaufgaben können, um ihren Sinn zu erfüllen, lediglich formalistische Fertigkeiten prüfen oder müssen so geartet sein, dass deren Lösungen aus dem Text oder beiliegendem Material mit einer gewissen Lesefertigkeit herauszulesen sind (für gute Schülerinnen und Schüler sehr irritierend, weil sie verständnislos nach komplexeren Lösungsanforderungen suchen). Da Testkulturen in Europa kaum eine Tradition haben und die öffentlichen US-Schulen, die damit schon sehr lange «beglückt» werden, in Europa nicht gerade ein hohes Ansehen geniessen, drängt sich die Frage auf, wie es dazu kam, dass hier ein tatsächlicher Paradigmenwechsel hin zu Tests initiiert werden konnte. Sehr vieles spricht dafür, dass es der sogenannte PISA-Schock (die «Bildungskatastrophe») durch das internationale Ranking war, der viele Staaten angesichts ihrer internationalen Blossstellung daran hinderte, die Aussagekraft und Validität der Tests zu hinterfragen und sie stattdessen veranlasste, sich den wiederkehrenden PISA-Testschlaufen willig zu fügen. Seither lässt sich – mancherorts offenbar auch mit einem gewissen politischen Kalkül – der bildungspolitische Trend in vielen europäischen Ländern beobachten, zunehmend PISA als grundsätzlichen SchulentwicklungsMassstab zu adaptieren und in ihren Schulen das «Teaching to the test» allmählich salonfähig zu machen – auch in der Schweiz. Die PISA-Betriebs-Governance: Kompetenzen – Output – Qualitätskontrolle – Monitoring – Steuerung Bisher ist klar geworden: Der eine vordringliche Sinn von Kompetenzorientierung als neuer didaktischer Leitbegriff ist die Etablierung einer ausgeprägten Testkultur nach dem Modell PISA. Dies wird auch evident durch die Umstellung der Bildungsarbeit auf «Output»- anstelle von «Input»-Orientierung. Auf Deutsch heisst dies: Hat man früher alle Bemühungen zur Optimie- rung von Unterricht und Schule in die Gewährleistung optimaler Lehrvoraussetzungen (also bestens ausgebildeter und unterstützter Lehrkräfte; gut arbeitender Kollegien; hochstehender Lehrmittel; optimaler, selbst gewählter Weiterbildungsmöglichkeiten; hilfreicher räumlicher Verhältnisse usw.) gelegt, dreht sich mittlerweile vorrangig alles um die sogenannte «Qualität», die «gesichert» werden müsse – und dies vor allem durch laufende Tests der Schülerleistungen bzw. ganzer Schulen, das Etablieren eines zertifizierten Qualitätsmanagements mit sogenannt professioneller Steuerung, obligatorische Weiterbildungen im PISA-inspirierten Sinne usw. In verschiedenen Kantonen ist man seit einigen Jahren mit Eifer daran gegangen, den Schüler-«Output» mit einer ganzen Testkaskade «PISA-tauglich» zu machen. So veröffentlichte das Amt für Volksschule des Kantons St. Gallen 2014 ein «Strategiepapier Lern- und Testsystem». 5 Darin werden die «Lehrplan-21-kompatiblen Lernund Testsysteme» vorgestellt. Dazu gehören folgende, altersspezifische Varianten von Tests: «LernLOT», «Lernlupe», «Lernpass», «Stellwerk 8», «Stellwerk 9» und «Jobskills». Sie sollen mehrmals jährlich von der zweiten bis zur neunten Klasse zur Anwendung kommen. Bereits heute wird z.B. auf der Primarschulstufe von der zweiten bis zur sechsten Klasse das Testverfahren «Klassencockpit» 6 mehrmals pro Jahr durchgeführt. Bis Ende Primarschulzeit bedeutet dies, dass jede Klasse alleine für die Tests mehrere Tausend Franken kostet. In allen Dokumenten der verschiedenen Ämter findet sich dieselbe Begründung für die Notwendigkeit dieser laufenden Tests im Rahmen der sogenannten Qualitätssicherung: «Bei der Sicherung und Entwick- 46 Qualitätssicherung hat allenthalben Konjunktur, ihr eigener Nutzen wird aber nie qualifiziert bzw. evaluiert. lung von Schulqualität stellen Leistungsmessung im Verbund mit Qualitätsevaluation (Input, Prozess) ein wichtiges Instrument dar. Sie messen den Output.»7 ling-System, das die Menschen, sprich die Lehrerschaft, unter Generalverdacht stellt, sie würden sich nicht «weiterentwickeln» wollen ohne eine gewisse Gängelung. Das Konzept «Qualitätsmanagement» für die Schule verdankt die Schweiz vor allem den «Reformen» Ernst Buschors in den 1990er Jahren, der es nicht nur beim Umdefinieren von Unterricht und Bildung zu einem marktwirtschaftlichen Gut beliess, sondern auch gleich noch die ganze Verwaltung konzerntauglich machte (New Public Management). Seither wird es bekanntlich jeder Schule topdown verordnet, sich einer Qualitätsmanagement-Zertifizierung zu unterziehen, wodurch mittlerweile ein ganzer Markt an privaten Qualitätsmanagement-Instituten entstanden ist, die eine beträchtliche Menge an Steuergeldern verschlingen. Es gibt wohl in der Schweiz kaum eine öffentliche Schule mehr, die sich diesem neuen Regime noch nicht hat fügen müssen. In Finnland, dessen Schulleistungen durch PISA regelrecht berühmt wurden, das aber auf solcherlei Testkultur ausdrücklich verzichtet, wird das Gegenteil gemacht, nämlich der Lehrerschaft für ihre wertvolle Tätigkeit eine besondere Wertschätzung entgegengebracht, indem ihr viel Vertrauen für eigenständiges Arbeiten eingeräumt wird. 8 Man fragt sich, wie die Schweizer Schulen früher ohne dieses betriebswirtschaftliche, von privaten Profiteuren mentorierte Ökonomiekorsett ausgekommen sind und sogar international höchst angesehen waren. Ein interessantes Paradoxon darf hierbei nicht unerwähnt bleiben: Qualitätssicherung hat allenthalben Konjunktur, ihr eigener Nutzen wird aber nie qualifiziert bzw. evaluiert. Der politische Sinn von Tests und Qualitätsmanagement wird offensichtlich, wenn im Zusammenhang mit der Schulentwicklung bzw. «-reform» die entsprechend geschulten Verwaltungsbeamten vom «Monitoring» sprechen, das für sie erforderlich sei, um zusammen mit der Politik das Bildungswesen gut «steuern» zu können. Im Prinzip geht es grundsätzlich um ein sehr umfassendes, hierarchisiertes Control- Für die Schulpraxis bedeutet alles bisher Dargestellte nichts Gutes, zumal offensichtlich eine Banalisierung der Bildungsinhalte und somit der Bildung überhaupt unausweichlich ist. Ebenso fatal erscheint die zunehmende Bevormundung und Gängelung der Lehrpersonen. Leider umfasst die Kompetenzorientierung weitere Aspekte, die noch Bedenklicheres zutage fördern, wenn man die mit ihr proklamierte «Neue Lernkultur» genauer ins Auge fasst. Konstruktivistisch-systemtheoretische Pädagogik oder der Schüler als «autopoietisches System»9 In den bisherigen Ausführungen wurde immer wieder deutlich, dass der «grundlegende Reformprozess» mit Kompetenzorientierung etc. längst begonnen hat und nicht erst mit dem Lehrplan 21 relevant wird. Deshalb glaubt Kurt Reusser beteuern zu können, mit der neuen kompetenzorientierten Didaktik im Lehrplan 21 werde es keinen speziell neuen Abbau der Wissensvermittlung geben, noch eine Entwertung der Rolle der Lehrperson oder der Instruktion, noch einen didaktischen Paradigmenwechsel oder neues Unterrichtsverständnis.10 In Wirklichkeit wird mit dem Lehrplan 21 die neue PISA-Schulnorm ausdrück- lich ins scheinbare Recht gesetzt und ermöglicht einen viel effizienteren Hebel «von oben», den Reformprozess zu beschleunigen und radikaler durchzusetzen. Zur Frage, was der Lehrplan 21 mit sich bringe, sagt Reusser: «Das theoretisch breit akzeptierte, mit den Leitideen der Kompetenzorientierung im Einklang stehende kognitiv- und sozialkonstruktivistische Verständnis von Unterricht und Lernen wird durch die neue Entwicklung eher noch verstärkt, als dass sich die Anforderungen grundlegend änderten.»11 Im Klartext bedeutet dies: mit dem Lehrplan 21 mehr freie Fahrt, mehr ungebremstes Agieren auch in der Lehrerbildung, wo die neue Generation von Lehrkräften dann entsprechend reformtüchtig getrimmt werden kann. Mit seinem Hinweis auf die besondere Rolle des Konstruktivismus und dessen enge Verknüpfung mit der Kompetenzorientierung für die «Neue Lernkultur» spricht Reusser den letztlich problematischsten Kern des ganzen zur Diskussion stehenden Reformprozesses an. Auch dieser von Reusser als zentral angeführter Begriff des Konstruktivismus wird in der Bildungsdebatte schon seit langem so unscharf verwendet, dass für viele Lehrpersonen unklar bleibt, was es eigentlich genau damit auf sich hat. Eigentlich ist der Konstruktivismus eine erkenntnistheoretische Auffassung, die besagt, wir Menschen könnten die Wirklichkeit, so wie sie ist, niemals wirklich annähernd objektiv erfassen, sondern würden stets in unserer subjektiven (also individuellen) Konstruktion von Wirklichkeit befangen bleiben. Es gibt gemässigte Varianten des Konstruktivismus, die eine gewisse zwischenmenschliche Vermittlungsfähigkeit zur eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit zulassen, die also übertragen auf Schule 2014/15-03 47 HEINZ ANTON MEIER 48 Gemäss Radikalem Konstruktivismus gibt es keinen Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Erkenntnis und einer Alltagstheorie, sie können lediglich als Konkurrenztheorien gelten! und Unterricht der Meinung sind, durch Gedankenaustausch, durch Vermittlung seitens der Lehrperson, könnten die Schüler sich der Wirklichkeit (gemeinsam) annähern, auch wenn jeder stets ein Stück weit in seiner eigenen Vorstellungswelt verhaftet bleibt. Die Variante des Radikalen Konstruktivismus, insbesondere vertreten durch die Psychologen Paul Watzlawick oder Ernst von Glasersfeld, den Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster oder die chilenischen Biologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana und Francisco Varela, stellen die eigentliche Relevanz von Realität jenseits der menschliche Konstruktionen von Realitäten und Welten (es gibt so viele wie Menschen) in Abrede, da wir ohnehin keinen Zugang dazu hätten. Laut dieser Variante ist Vermittlung zwischenmenschlich unmöglich und somit jegliche Art von Instruktion (das, was man bisher unter Unterricht im Wesentlichen verstand) nicht nur falsch, sondern schon fast Gewalt am Schüler. Jeder Mensch sei ein lebendes «autopoietisches System», das sich laufend selbst reproduziere und organisiere, sprich in der Schule gänzlich seinen ureigenen, nicht vermittelbaren Lernprozess voranbringen müsse. Aus Sicht des Radikalen Konstruktivismus beinhaltet Lehren per se eine Arroganz gegenüber dem «Belehrten», weil diesem ja die Sicht des Lehrenden aufgezwungen werde, wo doch er/sie eine eigene Realitätskonstruktion vor Augen habe und deshalb nichts mit der «Lehrerversion» anfangen könne. Sieht man sich den unterrichtsreformerischen Trend innerhalb der aktuellen Schulentwicklung an, insbesondere ablesbar an dem, was an Pädagogischen Hochschulen und an Weiter- und Fortbildungen gelehrt wird, sowie anhand der neuen Lehrmittel für den Lehrplan 21 oder auch angesichts von ganzen Versuchsschulen, die unter allerlei reformpädagogischen Etiketten «verkauft» werden (Gemeinschaftsschule, Mosaikschule etc.), so zeigt sich, dass sich leider die radikale Variante des Konstruktivismus durchgesetzt hat. Das ganze heutige Sammelsurium an «Reformvokabular» – regelrechte Ikonen des «grundlegenden Reformprozesses» – werden plötzlich absolut verständlich vor ebendiesem konstruktivistischen Hintergrund: Individualisierung; Binnendifferenzierung; Selbstgesteuertes oder Selbstreguliertes oder Selbstorganisiertes Lernen; die neue Lehrerrolle als Coach, Lernberater, -moderator, -partner, Lernprozessüberwacher etc. Die neue «Reformdidaktik» sieht ja vor, möglichst jegliche Art von eigentlichem Unterricht im Sinn von Lehre zu verbannen und stattdessen ausschliesslich «Lerngelegenheiten» durch passende «Lernumgebungen» zu schaffen, also mit entsprechenden Lernprogrammen, Lehrmitteln, verschiedenen neuen Medien, Kompetenzrastern, Lerntagebüchern, Tests, Checklisten usw. Der Kern des Ganzen besteht darin, dass die Schüler als «autopoietische Systeme» ihren «Lernprozess», mit Hilfe all dieser Selbstorganisations«Tools» selber steuern und verantworten müssen. Der Lehrperson fällt praktisch ausschliesslich eine Verwaltungsfunktion zu. Wenn noch von Lehren überhaupt die Rede ist, dann höchstens in dieser Weise: «Lehren ist nicht die Vermittlung und Lernen nicht die Aneignung eines extern vorgegebenen «objektiven» Zielzustandes, sondern Lehren ist die Anregung des Subjekts, seine Konstruktionen von Wirklichkeit zu hinterfragen, zu überprüfen, weiter zu entwickeln, zu verwerfen, zu bestätigen etc.»12 Anders formuliert: Unterricht beinhaltet neu die vollkommene Individualisierung (jeder sein eigenes Programm verfolgend) im Schulzimmer, wo die einzelnen Schülermonaden nur gelegentlich zusammen «driften» und ansonsten als «Selbstunternehmer» bzw. «Prozessmanager» sich alleine an Kompetenzrastern, Lernjobs, Lerntagebüchern usw. abarbeiten. So gesehen ist Klassenunterricht, gemeinsames Lernen, ein Klären von «korrekten» oder «falschen» Lösungen problematisch, da ja ein Sachverhalt aus Sicht des einen oder anderen ganz verschieden beurteilt wird und niemand, zuletzt die Lehrperson, behaupten darf, ihr fachliches Urteil treffe zu. Man muss sich vergegenwärtigen: Gemäss Radikalem Konstruktivismus gibt es keinen Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Erkenntnis und einer Alltagstheorie, sie können lediglich als Konkurrenztheorien gelten! Dass es sich bei diesen Ausführungen nicht um eine persönliche, allenfalls etwas zugespitzte Darstellung handelt, dokumentiert die Stellungnahme aus dem berufenen Munde Hermann Fornecks, Rektor der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und zugleich Mitglied des Fachbeirats für den Lehrplan 21. In seiner Replik auf ein NZZ-Interview mit Roland Reichenbach, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, in dem dieser das «Selbstgesteuerte Lernen» kritisch kommentierte und vor allem auch problematisierte, die Pädagogischen Hochschulen würden diese Form des Lernens fast schon als heilige Offenbarung lehren, entgegnete und erläuterte Forneck, bei dieser professionellen und innovativen Form des Lernens würden die Lehrpersonen «von den einfachen Wissensvermittlungs-Funktionen» entlastet und die «stoffliche Vermittlung auf apersonale Medien übertragen.»13 2014/15-03 49 Natürlich wird diese konstruktivistische Didaktik bei den Lehrpersonen niemals so radikal umgesetzt und auch unter den Dozenten an den Pädagogischen Hochschulen wird nicht ungebrochen unisono Instruktion und die Arbeit mit ganzen Klassen rundweg verteufelt, aber insgesamt ist die Marschrichtung trotzdem ziemlich dezidiert so vorgegeben. Die reformierte Schulpraxis und ihre Zukunft: schöne neue Welt der «Chancengerechtigkeit» Wie Unterricht heute schon und mit dem Lehrplan 21 noch unerbittlicher aussehen wird, schildert ein Lehrerkollege (selber auf Gymnasialstufe unterrichtend), dessen Tochter aktuell die dritte Klasse einer Primarschule besucht: Der Lehrer seiner Tochter erteilt der Klasse den Auftrag, individualisiert in ihren Übungsheften die Erweiterung des Zahlraums von 100 auf 1000 zu erarbeiten. Sie erhalten dafür ein Übungsheft mit Aufgaben, anhand derer sie selbst den erweiterten Zahlenraum entdecken sollen. Anstelle von kleinschrittig aufbauenden Rechenbeispielen handelt es sich in diesem Lehrmittel um lauter «Aufgaben- PIXABAY Konstruktivismus: Jedes Kind soll seinen eigenen Weg finden. stöckli», die ständig erfordern, dass die Schülerinnen und Schüler neue Lösungsstrategien erkennen bzw. selber erfinden müssen. in den ersten Schuljahren den «Schulverleider» haben – ein Phänomen, das früher äusserst selten zu beobachten war. Die Tatsache, dass die Lernenden in den Lehrmitteln keine strukturierenden Aufgabenstellungen und so etwas wie einen «roten Faden» finden können, was ihnen einen gewissen Halt durch eine gut erkennbare Systematik geben würde, sei explizit gewollt, sagt mein Kollege. Die neue Didaktik verlange nach «offenen Aufgaben»14 , die unterschiedliche Schwierigkeitsgrade anbieten und verschiedene Lösungsideen zulassen würden. Dies entspricht ganz dem konstruktivistischen Grundsatz, jedes Kind solle seinen eigenen Weg (Konstruktion) finden, Aufgaben zu lösen. Es ist leicht nachvollziehbar, was diese letztlich banalisierende und entpersonalisierende «Neue Lernkultur», die auf dem ganzen geschilderten Reformarsenal aufbaut, bewirkt – bereits ohne Lehrplan 21, umso schlimmer mit ihm: Sehr gute Schülerinnen und Schüler (zumeist mit einem unterstützenden familiären Hintergrund) kommen mit allem zurecht, selbst mit dieser geistigen Isolierung und Vereinzelung, die impliziert ist. Schon leistungsmässig lediglich gute bis mittelmässige Schülerinnen und Schüler plagen sich mit Motivationsproblemen, insbesondere wenn sie auf Schwierigkeiten stossen, nicht weiterkommen und nicht ständig in der Lehrerkolonne anstehen wollen. Als dieser Lehrer seiner Klasse kürzlich zu Wochenbeginn in Mathematik bis zu 20 Seiten im Übungsheft zu lösen aufgab, war sein Kommentar dazu: «Jeder macht, soweit er kommt.» Tatsächlich überliess er die Schülerinnen und Schüler – Drittklässler! – ihrem Schicksal, selber während der Woche mit der «individualisierten» Aufgabenstellung über die Runden zu kommen – schliesslich sei es ja an ihnen, ihren Lernprozess zu regulieren15 , d.h. dass sie «ihre eigenen Lernstrategien entwickeln und anwenden und ihre Lernprozesse eigenständig überwachen und regulieren» sowie darüber reflektieren und sich letztlich selbst beurteilen sollen. Gerne würde man sich den Studenten zeigen lassen, der sein Studieren auf diese Weise «reguliert». Obwohl der besagte Kollege eine sehr angesehene Lehrperson und seine Tochter ein aufgewecktes und vifes Mädchen ist, geht sie äusserst ungern zur Schule, wie er mir nach dieser Schilderung betroffen gestand. Wen wundert‘s! Sie steht stellvertretend für viele Kinder, die heutzutage schon Paradoxerweise nehmen die Promotoren dieser «Neuen Lernkultur» für sich in Anspruch, eine besonders motivierende Form des Lernens umzusetzen, wo durch Selbstverantwortung und Selbsteinschätzung (also «Prozessmanagement») sozusagen von selbst ein «Empowerment» stattfinde.16 Für die schwachen Schülerinnen und Schüler ist dieses «Lernsetting» in Wirklichkeit schlicht eine Katastrophe, da sie komplett auf sich selbst, auf ihr Unvermögen und auf ihr fehlendes Zutrauen zurückgeworfen sind. Sie arbeiten entweder nur dasjenige ab, was sie ohnehin schon können, produzieren viel Leerlauf oder zappeln nervös herum oder betätigen sich letztlich «auf der negativen Seite». Für Letztere können dann Kinderärzte Diagnosen und entsprechend sedierende Psychopharmaka bereitstellen. Mit der konsequenten Umsetzung dieser Unterrichtsform beginnt das frühe Splitting in eine extreme Leis- 50 Die Schweizer Bevölkerung hat 2006 mit dem Bildungsrahmenartikel niemals auch nur im Ansatz dieser OECD-Schulkonzeption zugestimmt, die geradewegs auf eine Zweiklassengesellschaft in der Bildung hinführt. tungsschere schon von der ersten Klasse an. Bald gibt es dann die «Sonderbegabten», die als Elite besonders gefördert werden und Klassen überspringen können – und andere, die kaum bildungsfähig sind, da sie mit dem «Selbstorganisierten Lernen» nicht zurechtkommen und ihnen den Wert von Bildung auch nicht mehr vermittelt wird. Eltern, die es sich leisten können, geben zunehmend ihre Kinder in Privatschulen, wie dies in den angelsächsischen Ländern schon lange der Fall ist. Dies ist der Weg in die schulische Zweiklassengesellschaft – keine typische Errungenschaft der egalitären politischen Kultur der Schweiz. Gab es früher bei uns in gesellschaftskritischen Kreisen (68er) noch eine breite Diskussion rund um die ungerechten unterschiedlichen Voraussetzungen, welche die Kinder von zuhause mitbringen (Stichwort Chancenungleichheit), und bemühte man sich damals mittels «kompensatorischer Erziehung» um mehr ausgleichende Gerechtigkeit, also um eine Milderung dieser Ungleichheit, oder standen die unterschiedlichen Niveaus in der Oberstufe in der Kritik, da sie die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft zementieren würden (alles Argumente einer echt sozial engagierten Linken), wird heute im Namen eines weiteren kryptischen Begriffs, nämlich der «Chancengerechtigkeit», der Entsolidarisierung der Gesellschaft der Weg geebnet, wie wir es aus der US-Gesellschaft kennen. Jedes Kind, jeder Jugendlicher soll sozusagen als Schmied seines eigenen Glücks in der Schule den «Struggle for life» beginnen und selber bestimmen, wie viel ihm das Lernen wert ist, ob er Tellerwäscher bleiben oder Millionär werden will, um die verlogene Illusion des «American dream» zu bemühen. Darauf läuft die «Chancengerechtigkeit» hinaus, zumal jedem Kind theoretisch alle Karrierestufen offenstehen. ebendiesem Reformarsenal an unseren Schulen implementiert worden. Mit dem Lehrplan 21 würde all dies sozusagen gänzlich sanktioniert. Diese neoliberale Vision von Schule erscheint sicherlich vielen Leserinnen und Lesern masslos übertrieben, fast einer Verschwörungstheorie gleich. Tatsächlich lassen die Lehrpersonen natürlich ihre Schülerinnen und Schüler trotz anderslautender Weiterbildung und Schulreform nicht kaltblütig alleine mit ihren Schwierigkeiten – sie hätten sonst wohl kaum den Pädagogenberuf gewählt. Und trotz «Neuer Lernkultur» werden sie ihre Schüler möglichst lange nachhaltig zu unterstützen versuchen – der gesunde Menschenverstand und das Engagement für die anvertraute Jugend gebietet dies. Die Herkunft der ganzen pädagogisch-didaktischen (oder eher ideologischen) Konzeption, die im Lehrplan 21 enthalten ist, kann, wie z.B. wichtige verantwortliche Berater des Lehrplans 21 wie Kurt Reusser offen zugeben, wesentlich auf den Einfluss der PISA-Studien und somit auf das Betreiben der OECD zurückgeführt werden. Dabei ist zu bedenken, welchen Bezug dieses politisch nicht gerade neutrale Wirtschaftsgremium zu Bildung hat: Es ist das Verständnis des Menschen bzw. des Schülers als «Humankapital», womit der zentrale Zugang der OECD zu Schule und Unterricht benannt ist. Aber wie lange besteht der Freiraum noch angesichts eines laufend enger werdenden Korsetts, das dank jahrelanger Aushebelung des öffentlichen, demokratischen Diskurses erst möglich wurde? Deshalb darf man den Initianten der aktuellen kantonalen Initiativen für ihr Engagement herzlich danken. Lehrplan 21 als OECD-Import – keine bekömmliche Errungenschaft Es war Ziel dieses Artikels, die Marschrichtung des Schweizer Bildungswesens, insbesondere der Volksschule, im Zusammenhang mit dem Grossprojekt «Nationaler Lehrplan 21» möglichst umfassend auszuleuchten und somit dem Unbehagen in der Lehrerschaft und in der Bevölkerung generell möglichst viele konkrete, dokumentierte Anhaltspunkte dafür zu geben. Die daraus erwachsene Analyse hat gezeigt, dass kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel mit der Einführung des Lehrplans 21 zu erwarten ist. Dafür ist schon viel zu lange zu viel von Die Untersuchung der verschiedenen Elemente der «Neuen Lernkultur» wie Kompetenzorientierung, Qualitätsmanagement, Tests und Outputorientierung usw. bis hin zur konstruktivistisch-systemischen Pädagogik mit allen Aspekten der Fragmentierung des Lernens in Klassen und der geistigen und emotionalen Isolierung der Kinder hat offenbart, dass hiermit eine Art des Lernens («Unterricht» kann man es kaum noch nennen) zur Norm etabliert wird, die das pure Gegenteil ist von derjenigen Form des Unterrichtens, wie sie aus der europäischen Bildungstradition hervorgegangen ist und seine Bestätigung in vielen Einsichten der modernen Human- und Sozialwissenschaften findet. Die praktischen Auswirkungen dieser «Neuen Lernkultur» sind heute zwar längst sichtbar, aber bisher viel zu wenig öffentlich bekannt gemacht und zur Diskussion gestellt worden. Es ist zu hoffen, dass die kantonalen Initiativen gegen den Lehrplan 21 diesem Umstand ein Ende bereiten und insbesondere den Eltern den Mut geben, 2014/15-03 51 Erst eine ehrliche öffentliche Debatte über die wahren Grundlagen und Zielsetzungen dieser sehr zweifelhaften OECD-Agenda würde aufzeigen, wie die Schweizer Bevölkerung wirklich darüber denkt. ihren Erfahrungen mit dieser «Neuen Lernkultur» Ausdruck zu verleihen, statt an den schulischen Schwierigkeiten ihrer Kinder zu verzweifeln und diese ausschliesslich sich selbst oder ihren Söhnen und Töchtern zuzuschreiben. Die Schweizer Bevölkerung hat 2006 mit dem Bildungsrahmenartikel niemals auch nur im Ansatz dieser OECDSchulkonzeption zugestimmt, die geradewegs auf eine Zweiklassengesellschaft in der Bildung hinführt und letztlich zu einer laufenden Schwächung unseres ursprünglich ausgezeichneten öffentlichen Schulwesens führen wird, was unserer egalitären politischen Kultur vollkommen zuwi- 1 Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als derläuft – dies zugunsten eines boomenden privaten Bildungsmarkts, bei dem das gute Geschäft und nicht die Sicherung «guter Bildung für alle» an erster Stelle steht. halb muss klar festgestellt werden, dass die «Neue Lernkultur» im Sinne des Lehrplans 21 in keiner Weise dem Wunsch der Schweizer Öffentlichkeit entsprechen kann. Es sei jedermann ans Herz gelegt, diesen Bildungsrahmenartikel mit Bundesratserläuterungen selber genau nachzulesen. Der Artikel wurde augenscheinlich politisch umgedeutet bzw. mit einem «Spin» versehen und dann medial aufgebläht, sodass mit dem demokratisch gefällten Entscheid die Scheinberechtigung geliefert wurde, um eine bildungspolitische Agenda auf den Weg zu bringen, deren Implikationen der Bevölkerung in Wirklichkeit verborgen blieben. Des- Erst eine ehrliche öffentliche Debatte über die wahren Grundlagen und Zielsetzungen dieser sehr zweifelhaften OECD-Agenda würde aufzeigen, wie die Schweizer Bevölkerung wirklich darüber denkt. Wieso haben die Promotoren von HarmoS und Lehrplan 21 diese Öffentlichkeit in grösstmöglichem Masse gemieden? Die Bevölkerung ist nun am Zug, sie halt selber herzustellen. 8 vgl. Pasi Sahlberg on the Finnish Education 14 Roman Giger: Selbstreguliertes Lernen im Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der System: https://www.youtube.com/watch?x-yt- Mathematikunterricht. Masterarbeit an der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzo- cl=85114404&x-yt- Pädagogischen Hochschule Zürich, 2010, S. 14 rientierung, Heft 3/2014, S. 325 ts=1422579428&v=1CLdY9AAqI4, 25.1.2015 15 2 Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als 9 Autopoiesis steht für den Prozess der Roman Giger: Selbstreguliertes Lernen im Mathematikunterricht. Masterarbeit an der Pädagogischen Hochschule Zürich, 2010, S. 12 Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der Selbsterschaffung und -erhaltung irgendeines Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzo- Systems. Es handelt sich um ein biologisches, rientierung, Heft 3/2014, S. 321 mit der Systemtheorie arbeitendes Konzept, 16 das die Selbstorganisation und -erhaltung von Weiterbildung e.V. (ibbw): Individuell fördern, Lebewesen oder eben von «lebenden kompetenzorientiert lehren und lernen. Systemen» erklären will. Göttingen, 2012, S. 8-23 3 Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkon- ferenz, Konsultation Lehrplan 21: Räume, Zeiten, Gesellschaften mit Geografie, Geschichte Kompetenzaufbau, S. 13 10 vgl. Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der 4 https://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/ grundlagen.htm#Gegenstand, 27.1.2015 5 http://www.schule.sg.ch/home/volksschule/ Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzorientierung, Heft 3/2014, S. 325 & 332 11 Kurt Reusser: Kompetenzorientierung als unterricht/test_und_lernsysteme/_jcr_content/ Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge der Par/downloadlist_1/DownloadListPar/ Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Kompetenzori- download.ocFile/Strategiepapier_Lern-%20 entierung, Heft 3/2014, S. 332 und%20Testsysteme_2014.pdf 12 6 siehe z. B.: http://www.sz.ch/documents/ Leistungsmessungen.pdf 7 Amt für Volksschulen und Sport AVS, Kanton Schwyz: Leistungsmessungen. Rolf Werning: Konstruktivismus. Eine Anregung für die Pädagogik?, in: Pädagogik , H. 7/8, 1998, S. 39/40 13 Herman Forneck: «Professionalisierung statt Innovationsabstinenz», NZZ, 31. Juli 2014 vgl. Institut für berufliche Bildung und 52 Perle 4: «Sollen Schüler ihre Kompetenzen selber erarbeiten?» Perle 4 schliesslich ist die Antwort Michael Feltens in der «ZEIT» vom 15. Januar 2015 auf die Schulfrage: «Sollen Schüler ihre Kompetenzen allein erarbeiten?» «Ich bin Lehrer – und ziemlich verunsichert. Wenn es nach meiner Schulbehörde ginge, dürfte ich die Schüler kaum direkt unterrichten. Sie sollen die geforderten Kompetenzen weitgehend eigenständig erarbeiten. Mir scheint aber, dass meine Klassen am effektivsten vorankommen, wenn ich das Lernen in der Gruppe wie auch bei jedem Einzelnen selbst steuere. Bin ich betriebsblind oder einfach nur altmodisch? HEINZ ANTON MEIER M.F.: Vermutlich sind Sie einfach unerschrocken praxisorientiert – und damit ein Stück weit avantgardistisch. Ihre Beobachtung spiegelt jedenfalls das wider, was für die Unterrichtsforschung mittlerweile ausser Frage steht – und irgendwann auch in die letzte Amtsstube durchsickern muss: Dass nämlich der Lernerfolg der Schüler vor allem von den Führungs- und Beziehungsqualitäten der Lehrperson abhängt. Selbständigkeit ist das Ziel aller Bildung – der Weg dahin indes braucht viel kognitive Aktivierung und feinfühlige Lenkung. Anhängern eines smart learning mag dieser Befund sauer aufstossen. Es klang aber auch zu schön: Dass es Kindern am besten tue, wenn der Lehrer sich auf freundliche Begleitung beschränke, nur Moderator von Lerngelegenheiten sei. Dass es die Eigenverantwortlichkeit junger Menschen fördere, ihrer Individualität entgegenkomme, wenn sie ihre «eigenen Lernwege finden», ihre «Lernbiographie selbst gestalten» könnten. Ähnlich anmutig wie der Werbeslogan für ein neues Erfrischungsgetränk: «Du entscheidest selbst, wann Sommer ist.» Narziss fühlt sich gebauchpinselt, das Ich triumphiert. Nur liegt die Tücke eben im Detail. Abiturienten mag pädagogische Zurückhaltung beflügeln, Pubertierende aber verlieren dabei wichtige Orientierung – und mancher Schulanfänger prägende Anfangsjahre. Zu viel Freiarbeit, zu frühe Individualisierung – das führt schnell dazu, dass Kinder sich allein gelassen fühlen und zu oberflächlich lernen. Besonders pikant: Die pädagogische Selbstlerneuphorie geht gerade zu Lasten der schwächeren Schüler, von denen man angeblich doch «jeden mitnehmen», «keinen zurücklassen» möchte (Schereneffekt). Der schulische Selbständigkeitstrend bedeutet für viele Heranwachsende nämlich weniger Freiheit als Überforderung und Verarmung. Denn ihr menschliches Gegenüber, der bildende Erzieher, kann in einer Weise Echo, Ermutigung und Herausforderung verkörpern, wie dies Arbeitsblätter oder Aufgabenkataloge niemals vermögen – und auch kein gleichaltriger Mitschüler. Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist ein anderer Mensch, sagt Joachim Bauer. Gerade in der Pubertät wollen Paula oder Paul spüren, dass sie dem Erwachsenen als Einzelne etwas wert sind – nicht als Nummer in einer Liste von Lernameisen. Dann mögen sie sich auch für ein uninteressantes Fach erwärmen, stellen sich auch einer anstrengenden Aufgabe, akzeptieren auch eine schlechte Note. Natürlich ist der Gedanke verführerisch, dass sich Selbstständigkeit am besten durch Selbstständigkeit erreichen lasse. Und sei es, weil man als Lehrer gerne von den täglichen Disziplin- und Motivationsmühen entlastet wäre. Aber im Licht der Forschung erweist sich derlei erzieherisches Münchhausentum als Selbsttäuschung, als gedanklicher Kurzschluss, ist letztlich pädagogischer Kitsch. In Bildungs- und Erziehungsfragen ist der Weg eben nicht das Ziel – und er ist auch nicht linear. Eine Schlüsselqualifikation wie Selbstmanagement erfordert einen langen Vorlauf – mit viel sorgfältiger Anleitung und vielfältiger Übung, der Erfahrung und Erweiterung eigener Kompetenz sowie der Reflektion über erfolgreiches Lernen. Sicher: Ohne das «Selbst» der Schüler geht gar nichts – aber dieses ist eben auch bei einer spannenden Erzählung des Lehrers beteiligt, bei einer interessanten Erklärung, bei einer humorvoll oder ernst gelenkten Plenumsdebatte. Deshalb ist das Prinzip Direkte Instruktion (direct teaching) so effizient wie motivierend: Weil es kein nervtötender Paukermonolog ist, sondern ein dynamischer Wechsel von Anknüpfen an Bekanntem, gemeinsamem Erschliessen und individuellem Erproben von Neuem, Austausch und Vernetzung im Plenum, sowie abschliessendem Training in Eigenregie oder in Kleingruppen. Nicht, dass Sie das als Plädoyer für vorschnelle Selbstzufriedenheit missverstehen. Der eine Lehrer macht zu viel langweiligen Frontalunterricht, der andere zu oft ineffektive Freiarbeit, ein dritter zu häufig Gruppenarbeit auf banalem Niveau. Ein angemessener Mix – mit jeweils hochwertigen Anteilen – bleibt eine beständige Aufgabe für uns Lehrer.» 2014/15-03 Strichwörtlich 53 Von Hanspeter Stucki HEINZ ANTON MEIER Lehrer F.G. beim Versuch, den Anspruch auf Individualisierung mit der Höchstzahl für Klassengrössen in Einklang zu bringen. 54 Stellenausschreibung für einen Posten in der LVB-Geschäftsleitung per 01.08.2015 Liegt Ihnen die Zukunft des Lehrerberufs am Herzen? Sind Sie an bildungs- und berufspolitischen Fragen interessiert? Möchten Sie sich in Ihrem Berufsverband verstärkt engagieren? Dann sind Sie vielleicht unser neues Mitglied der LVB-Geschäftsleitung! Im Zuge der Nachfolgeregelung für Heinz Bachmann ist ein Platz innerhalb unserer Geschäftsleitung per 01.08.2015 neu zu besetzen. Als Mitglied der LVB-Geschäftsleitung haben Sie die Möglichkeit, das kantonale Bildungswesen auf allen Ebenen fundiert kennenzulernen und im Rahmen der Sozialpartnerschaft Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. Sie arbeiten Sie in einem motivierten Team von fünf Mitgliedern, welche jeweils ein eigenes Ressort verantworten. Ihr Pensum umfasst ca. 30 bis 35%. Die einzelnen Tätigkeitsfelder sowie der exakte Anstellungsgrad können mit den anderen Geschäftsleitungsmitgliedern ausgehandelt werden. Ihre Funktion ist entwicklungsfähig. In der Regel unterrichten Mitglieder der LVB-Geschäftsleitung weiterhin im Teilzeit-Pensum. Zu ihren Aufgabenbereichen gehört in jedem Fall: • Mitarbeit bei der strategischen und operativen Verbandsführung • Teilnahme an Sitzungen von Geschäftsleitung und Kantonalvorstand sowie an Delegierten- und Mitgliederversammlungen Optionale Aufgabenbereiche können sein: • Ressort Beratung und Rechtshilfe (Einarbeitungszeit und Übernahme der Verantwortung nach Absprache) • Layouten der Verbandszeitschrift lvb.inform (mit InDesign) • Unterhalten der Verbands-Website www.lvb.ch • Verfassen von Artikeln für die Verbandszeitschrift lvb.inform • Organisation verschiedener Verbandsanlässe • Mitarbeit in Arbeitsgruppen und Projektausschüssen Eine mehrjährige erfolgreiche Unterrichtstätigkeit wird vorausgesetzt. Zur optimalen Ergänzung der LVBGeschäftsleitung sind Ihnen Freude an Kommunikation und sprachliche Gewandtheit eigen. Unsere Organisationsstruktur erfordert ein hohes Mass an Eigenverantwortlichkeit, Belastbarkeit, Diskretion und die Bereitschaft, sich in unterschiedliche Themen einzuarbeiten. Sie sind in der Lage, einen regen E-Mail-Verkehr zu bewältigen. Wir bieten Ihnen eine attraktive Führungsaufgabe zu interessanten Konditionen (Basis Sekundarstufe I) in einem überaus vielfältigen Umfeld. Für weitere Auskünfte steht Ihnen Roger von Wartburg, Präsident LVB, gerne zur Verfügung: Tel. 079 261 84 63, [email protected]. Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen senden Sie bitte bis 15. März 2015 an: per Post: LVB-Geschäftsstelle, Sonnenweg 4, 4133 Pratteln elektronisch:[email protected] 2014/15-03 LVB-Informationen Aufruf zur Meldung allfälliger Missbräuche beim Check 3 PIXABAY Seit dem Schuljahr 2013/2014 werden in den Kantonen der beiden Basel, Aargau und Solothurn bereits in der 3. Klasse standardisierte Leistungsmessungen (Check 3) durchgeführt. Die Teilnahme war bis anhin offiziell freiwillig, faktisch wurden viele Lehrpersonen aber durch die Schulleitung zur Teilnahme verpflichtet. Ab dem Schuljahr 2016/2017 soll der Check 3 dann obligatorisch und flächendeckend eingeführt werden. Immer wieder haben sich sowohl die Lehrerverbände des Bildungsraums Nordwestschweiz als auch der LCH nicht nur skeptisch gegenüber flächendeckenden Leistungstests per se geäussert, sondern auch stets auf die Gefahren hingewiesen, welche daraus drohen (Schulrankings, medialer Pranger für einzelne Schulstandorte oder gar für einzelne Lehrerinnen oder Lehrer). Was vielleicht vordergründig interessant und gewinnbringend für Lehrerinnen und Lehrer zu sein scheint – erhalten sie doch eine Fülle von Auswertungen und Analysen über die eigene Klasse und die einzelnen Schülerinnen und Schüler – kann leicht zu einer gefährlichen Tretmine werden. Dies nämlich dann, wenn die hochsensiblen Daten und Auswertungsergebnisse nicht mit der notwendigen Sensibilität behandelt und beispielsweise leichtfertig der Öffentlichkeit präsentiert werden, ohne sich dabei über die Folgen im Klaren zu sein. Aufgrund der Erfahrungen, die unter anderem auch im nahen Ausland (Österreich und Deutschland) gemacht wurden, hat der LCH in Zusammenarbeit mit den Kantonalverbänden eine Liste der möglichen Folgen und unerwünschten Nebeneffekte zusammengestellt. Sollte im Umgang mit den Resultaten des Checks 3 verantwortungslos gehandelt oder gar Missbrauch betrieben werden, ruft der LVB sein Mitglieder auf, dies der Geschäftsleitung zu melden! Im Folgenden sind die heikelsten Punkte aufgelistet: Teaching to the test: • Inhaltliche Schwerpunkte werden vermehrt auf das Messbare und die Fragen der Tests konzentriert (teaching to the test). • Schulleitung und Behörde erwarten, dass Zeugnisnoten mit den Testergebnissen übereinstimmen sollen. Personalführung: • Nutzung der Testergebnisse durch die Schulleitung im Sinne von Drohungen (Verbesserungen bis...) und für die MA-Beurteilung. 55 56 Rankings: • Klasseninternes Ranking von Schülerinnen und Schülern wird ermuntert und erlaubt. • Schulhausinternes Ranking von Schülerinnen und Schülern. • Schulhausinternes Ranking von Klassen. • Kolleginnen und Kollegen machen Resultate schulhausintern öffentlich und setzen damit andere unter Druck. • Schulhausinternes Ranking von Lehrerinnen und Lehrern durch die Schulleitung oder Behörden. • Kolleginnen und Kollegen machen eigene Resultate öffentlich (Eltern, u.a.) und setzen damit andere Lehrerinnen und Lehrer unter Druck. • Öffentliches Ranking von Klassen in Medien, im Internet oder durch Gerüchte. • Öffentliches Ranking von Lehrerinnen und Lehrern in Medien, im Internet oder durch Gerüchte. • Öffentliches Ranking von Schulen durch Medien, im Internet oder durch die Bildungsverwaltung. • Schulleitungen machen eigene Daten öffentlich und setzen andere damit unter Druck. • Öffentliches Ranking von Gemeinden durch Bildungsverwaltung, durch Medien oder im Internet. Datenweitergabe: • Nicht anonymisierte Besprechung im Team ohne vorherigen Beschluss. • Weitergabe von und/oder Einsicht in Einzeldaten an lokale Behörde. • Weitergabe von und/oder Einsicht in Einzeldaten an die externe Evaluation. • Information der Eltern über die Schulergebnisse oder die Klassendaten durch die Schulleitung. • Kolleginnen und Kollegen machen eigene Resultate extern öffentlich (Eltern, u.a.). • Information der Medien durch die Schulleitungen (andere Schulen werden unter Druck gesetzt). • Information der Medien durch die Behörden (andere Behörden werden unter Druck gesetzt). • Erfolgreiche Gerichtsklage durch Eltern, Medien, Politik, etc. auf Herausgabe der Daten. • Datenlecks, erfolgreiche Hackerangriffe, Viren, etc. (analog Server Bundesinstitut für Bildungsforschung Bifie in Österreich). Wassersicherheit: Information der SLK vom 21. Januar 2015 Die Schulleitungskonferenz SLK der Gymnasien des Kantons Baselland hat seit August 2014 die nötigen Abklärungen zum Thema Wassersicherheit unternommen. Eine Arbeitsgruppe der SLK hat den Rechtsinstanzen die in der Folge überarbeitete Unterlage «Weisungen über die Durchführung von Reisen und Lagern an den Gymnasien» zur Prüfung vorgelegt. Diese Prüfung ist positiv ausgefallen. Ab sofort gilt für die Planung und Durchführung von Sonderveranstaltungen die neue Unterlage «Weisungen über die Durchführung von Reisen und Lagern an den Gymnasien» (SLK vom 17.05.2007, letzte Änderungen am 08.12.2014). Die Unterlage «Wassersicherheit für die Sekundarstufe II / Gymnasien» vom Juni 2014 ist ab sofort ungültig. Anmerkung der LVB-Geschäftsleitung: Die Freude darüber, dass sich diese heikle Situation für die Gymnasiallehrpersonen hat entschärfen lassen, ist dadurch getrübt, dass die Lehrkräfte der Volksschule weiterhin auf eine ähnlich taugliche Lösung warten. Bis es soweit ist, muss den Lehrerinnen und Lehrern aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit leider weiterhin dringend empfohlen werden, die in der AVS-Broschüre «Wassersicherheit für die Volksschule» beschriebenen Aktivitäten nicht anzubieten, sofern sie die in derselben Broschüre aufgelisteten Standards nicht erfüllen. Der Arbeitgeber steht in der Pflicht, dieser untragbaren Situation Abhilfe zu schaffen. Von alleine wird sich dieses Problem nicht lösen. 2014/15-03 57 58 «Bekenntnisse des Schulentwicklers Felix Walldorf» Sechster Teil Eine Fortsetzungsgeschichte von Michael Weiss Es war alles andere als einfach, Jasmin in dieser Situation wieder zu beruhigen. Immer wieder musste ich sie dahingehend beschwören, dass Reto drauf und dran gewesen sei, das Pilotprojekt der Limowelten zu bodigen, was ich allein schon mit dem Gedanken an Samuel niemals hätte zulassen können. Mehrfach musste ich ihr versichern, dass Reto kein böser Mensch sei und mit Sicherheit niemals mir oder jemand anderem aus unserer Familie etwas antun würde, sondern dass es sich bei ihm halt um einen tragischen Fall handle, welcher die Konzepte einer zeitgemässen Pädagogik nicht verstanden habe oder nicht verstehen wolle. Schliesslich war nicht Jasmin, sondern ich es, der keine Ruhe mehr fand. Was wusste Reto? Mit wem stand er noch in Kontakt? Hatte er gar noch Vertraute an unserer Schule? Was würde er als Nächstes tun? Hatte ich irgendetwas übersehen? Handelte es sich hierbei um Retos letztes verzweifeltes Aufbäumen oder war das der Anfang von meinem Ende? Als ich kurz wegdämmerte, träume ich davon, wie ich Reto erschlug, immer wieder auf ihn eintrat, bis er sich nicht mehr bewegte. Aber als ich seinen leblosen Körper zurücklassen wollte, brachte ich ihn nicht mehr von meinen Füssen weg. Jeder Schritt geriet zur unerträglichen Anstrengung. Schliesslich erwachte ich – mit rasendem Puls und schmerzenden Beinen. Ich hielt es im Bett nicht mehr aus und stand auf. Um mich irgendwie zu beschäftigen, ging ich in die Küche und machte mich an den Abwasch, der stehen geblieben war. Im Abtropfbecken lag noch das Fleischmesser, und ich wunderte mich, wofür Jasmin als Vegetarierin es wohl benutzt haben mochte. Vielleicht hatte sie es ja hervorgeholt, als Reto am Abend in der Tür erschienen war. Ich wusch das Geschirr, trocknete ab und setzte mich, obwohl es inzwischen halb drei Uhr nachts war, noch etwas vor den Fernseher. Da ich aber auf angeblich heisse Handyvideos genauso wenig Lust verspürte wie auf Mike Shiva oder Bernd das Brot, gab ich es schliesslich auf und begab mich zurück ins Bett. Mit Kopfschmerzen und ein wenig später als üblich erschien ich am anderen Morgen in der Schule. Ich merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Vor meinem Büro warteten bereits Jacqueline, Toni und Timo auf mich. Timo war geradezu grün im Gesicht. Wir gingen in mein Büro. «Irgendetwas ist nicht gut», sagte ich, um das Schweigen zu brechen. «Dein Sohn, Felix …», begann Timo, aber die Stimme versagte ihm. Ich erschrak. «Was hat er angestellt?» «Er hat ein Enthauptungsvideo gezeigt. Vor der ganzen Klasse!», antwortete Jacqueline sichtlich betroffen. «Ein Enthauptungsvideo!?» «Er sollte einen Vortrag halten», ergänzte Timo mit erstickter Stimme. «Über die Terrorgruppe Islamischer Staat. Ich habe ihm das erlaubt, weil du ja gesagt hast, die Schüler sollen gänzlich frei wählen, was sie lernen wollen. Und ich bin das Vortragsthema auch mit ihm durchgegangen. Er sollte sich mit den Religionen und Ethnien der Region, die heute vom IS beherrscht wird, auseinandersetzen. Er sollte die politische Situation in diesen Regionen analysieren und etwas über deren Vorgeschichte erzählen. Stattdessen hat er …» «Wir haben sein Handy konfisziert», ergänzte Jacqueline. «Er scheint eine ziemlich grosse Menge seiner Zeit in das Sammeln solcher Videos investiert zu haben.» «Warum ist dir denn das nicht früher aufgefallen?», herrschte ich Timo an. «Er hat ja immer fleissig gearbeitet. Und wenn man ihn gefragt hat, hat er gesagt, alles laufe gut, er komme gut voran und brauche keine Hilfe.» «Grossartig. Du hast also nicht gemerkt, was er da tut. Wozu bist du denn sein Lehrer?» «Felix», entgegnete Jacqueline, «sie haben es alle nicht gemerkt. Timo nicht, aber Alexandra, Jan und Daria genauso wenig. Er hat sie alle getäuscht.» «Ja aber dieses Video? Wie konntest du zulassen, dass er das vorführt? Bist du denn nicht eingeschritten?» «Es ging alles so schnell», stammelte Timo. «Bis ich herausgefunden habe, wie man das Gerät abstellt, war der Film schon grösstenteils durch. Ich habe der Klasse dann zugerufen, sie sollen nicht hinschauen, aber das hat nichts genützt. Einige haben sogar gejubelt! Stell dir das vor!» «Naja, vielleicht war es ja dann doch gar nicht so schlimm», hoffte ich. «Zwei Kinder sind in Ohnmacht gefallen und drei weitere 2014/15-03 59 mussten sich übergeben!», widersprach Jacqueline energisch. «Wir haben sofort den kantonspsychologischen Dienst verständigt. Zwei Psychologinnen kümmern sich so gut es geht um die Klasse. Aber jetzt müssen wir die Eltern verständigen. Und das ist deine Aufgabe!» «Ja, klar …», murmelte ich. Ein Brief der Schulleitung würde ja wohl genügen, dachte ich mir, und dass es mein Stiefsohn gewesen war, der diesen Film gezeigt hatte, würde ich ja nicht unbedingt erwähnen müssen. Allerdings, da machte ich mir keine Illusionen, würde sich wohl auch so nicht vermeiden lassen, dass das bald ganz Sulzwil wissen würde. «Wo ist Samuel jetzt?», wollte ich wissen. «Auch er wird psychologisch betreut.» «Und wann kommt er wieder nach Hause?» «Das muss die zuständige Psychologin entscheiden.» Ich dachte an Jasmin und daran, wie ich ihr das Ganze beibringen sollte. Wir besprachen, wie es weitergehen sollte. Timo wurde für den Rest des Tages vom Unterricht freigestellt. Toni sollte das Kollegium informieren und Jacqueline kümmerte sich zusammen mit den beiden Psychologinnen um die Betreuung der Schülerinnen und Schüler. Ich begann, einen Brief an die Eltern aufzusetzen. Weit sollte ich dabei nicht kommen. Schon kurze Zeit später meldeten sich die ersten Eltern telefonisch bei mir. Während die einen um Rat baten, was sie mit ihren Kindern nun tun sollten, ergingen sich andere in wüsten Beschimpfungen, einige drohten mir bereits mit rechtlichen Schritten. Schliesslich stellte ich mein Telefon auf das Sekretariat um und wies die Sekretärin an, keine Auskünfte mehr zu geben und auf die für morgen geplante schriftliche Information zu verweisen. Doch inzwischen waren die ersten Eltern bereits auf dem Schulgelände und verlangten, zu mir vorgelassen zu werden. Mit dem Hinweis, ich müsse jetzt den Krisenstab leiten und könne keine Einzelauskünfte erteilen, liess ich sie von unserer Sekretärin abwimmeln. während ich darum bemüht war, bis zum kommenden Tag keine weiteren Informationen mehr herauszugeben, hatte Toni Müller, ohne Rücksprache mit mir, der Presse bereits bereitwillig Auskünfte erteilt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Journaille auch bei meiner Frau anrufen würde. Ich versuchte, dem zuvorzukommen und rief meinerseits zuhause an. Jasmin ging nicht ans Telefon. Ich versuchte es auf ihrem Handy, ebenfalls erfolglos. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Normalerweise würde Samuel um diese Zeit nach Hause kommen, Jasmin müsste also dort sein. Ich verliess mein Büro und wollte mich schon zum Auto begeben, um heimzufahren, als mir Jasmin, mit Benjamin an der Hand, im Schulhausflur entgegenkam. Jasmin schien einigermassen gefasst. Wie sich herausstellte, war sie von der Schulpsychologin angerufen worden. Sie hatte, da es kurz vor Mittag war, noch Benjamin aus dem Kindergarten abgeholt und war dann hierher gekommen. Ich führte Jasmin zu dem Zimmer, in dem Samuel betreut wurde und nahm Benjamin zu mir. Wir verblieben so, dass ich Benjamin am Nachmittag wieder in den Kindergarten bringen sollte. Ich spazierte mit Benjamin auf den Pausenhof. «Wie gefällt es dir eigentlich im Kindergarten?», fragte ich ihn. «Eigentlich gut», sagte er. «Aber als wir die Kaninchen noch hatten, war es noch schöner.» «Warum habt ihr denn keine Kaninchen mehr?» «Die hat der Fuchs geholt, hat Frau Kohler gesagt.» «So ein böser Fuchs!», sagte ich. «Der Fuchs ist nicht böse», widersprach Benjamin. «Er ist ein Fleischfresser. Er muss Fleisch fressen.» «Das stimmt natürlich auch. Aber traurig ist es trotzdem, oder?» «Ja, schon.» «Hast du eigentlich schon etwas gegessen?», fragte ich ihn. Tatsächlich waren wir auf eine derartige Situation in keiner Weise vorbereitet. Bereits vor dem Mittag berichteten die ersten lokalen Online-Medien von den Vorfällen, und «Nein, Mami hat heute überhaupt keine Zeit gehabt. Aber ich habe Hunger.» 60 «Worauf hast du denn am meisten Lust?» «Chicken Nuggets mit Pommes Frites!» Wir fuhren zusammen in den nahegelegenen McDonald's, verspeisten zwei Portionen Chicken Nuggets mit Pommes Frites und Ketchup, wobei Benjamins Appetit einiges ausgeprägter war als meiner. Anschliessend fuhren wir zum Kindergarten. Ich liess Benjamin aussteigen und lenkte den Wagen zurück an meine Schule. Dort waren inzwischen auch Frau Stücki-Baldegger, unsere Schulratspräsidentin, und einige weitere Mitglieder des Schulrats eingetroffen, um eine Krisensitzung abzuhalten. Diese hatte bereits begonnen, als ich eintraf. «Die grösste Gefahr», meinte Stücki-Baldegger, «besteht darin, dass man jetzt in der Presse einen Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der Unterrichtsform, innerhalb derer er sich zugetragen hat, konstruiert. Wenn es heisst, dass die Kinder in den Limowelten nicht richtig beaufsichtigt und solche Vorfälle durch diese Unterrichtsform geradezu heraufbeschworen würden, können wir das ganze Projekt abblasen.» «Was schlägst du vor?», fragte ich. «Wir müssen unmissverständlich darlegen, dass Samuel unter extremen Gewaltfantasien leidet und momentan in keiner Regelschule mehr unterkommen kann, unabhängig von der jeweiligen Unterrichtsform. Im jetzigen Zustand ist er eine akute Bedrohung für seine Mitschülerinnen und Mitschüler.» «Aber das ist doch absurd! Meinst du, er ist der einzige Schüler, der sich solche Videos anschaut?» «Felix, so leid es mir tut, aber es geht jetzt nicht vorrangig um deinen Sohn, sondern um unsere Schule. Das Einzelschicksal hat hinter das grössere Ganze zurückzutreten. Natürlich können wir den Fall herunterspielen, aber dann sehe ich schwarz für das Projekt Limowelten. Du weisst ja, Serge und die ganze politische Rechte warten nur auf eine Gelegenheit, unser Lernen in Motivationswelten zu zerfetzen.» «Trotzdem. Samuel ist in dieser Unterrichtsform regelrecht aufgeblüht. Er hat einfach eine Dummheit begangen, mehr nicht. Deswegen ist er doch noch lange kein Gewaltverbrecher!» «Was meinen die anderen?», fragte Stücki-Baldegger in die Runde. «Persönlich bin ich davon überzeugt, dass das Integrationspotential der Limowelten dasjenige des gewöhnlichen Unterrichts bei weitem übertrifft», meldete sich Toni zu Wort. «Daher meine ich, dass hier auch für Samuel weiterhin Platz sein muss.» «Die ersten Eltern haben damit gedroht, ihr Kind aus der Limoweltenklasse herauszunehmen, wenn Samuel nicht entfernt wird», wandte Jacqueline ein. «Und wenn schon!», entgegnete Toni. «Es gab doch, soviel ich weiss, viel mehr Anmeldungen, als wir überhaupt berücksichtigen konnten.» «Mit Betonung auf gab», erwiderte Jacqueline. «Aber nach dieser Affäre könnte es bald ganz anders aussehen, vor allem wenn die Eltern befürchten müssen, dass es nicht bei diesem einen Vorfall bleibt.» «Liebe Kolleginnen und Kollegen», erwiderte ich, «ich sehe das Problem. Aber ich möchte euch Folgendes sagen: Als ich vorletztes Jahr erstmals die Idee der Motivationswelten hier im Schulrat vorgestellt habe, habe ich, und das gebe ich offen zu, insbesondere auch gehofft, für Samuel eine Unterrichtsform zu finden, die zu ihm passt. Und trotz des Vorfalls heute Morgen bin ich weiterhin der Ansicht, dass Samuel tatsächlich perfekt in die Limowelten passt. Wenn ihr mir jetzt sagt, dass es dort für ihn keinen Platz mehr haben soll, wäre das für mich der Beweis, dass die Limowelten nicht funktionieren. Und dann gibt es für mich auch keinen Grund mehr, das Projekt weiterzuziehen. Teuer genug ist es ja ohnehin.» Während alle noch darüber nachdachten, wie es nun weitergehen sollte, klopfte es. Frau Flückiger, die Bildungsdirektorin, stiess zu uns. Wir rekapitulierten ihr gegenüber den bisherigen Verlauf der Krisensitzung. «Geschätzte Damen und Herren», meinte Frau Flückiger schliesslich, «ich sage Ihnen jetzt zwei Dinge, die nicht für das Protokoll bestimmt sind. Erstens: Ich bin lange genug Politikerin gewesen, um ein gefestigtes Vertrauen darin entwickelt zu haben, dass sich jedes Problem von alleine löst, wenn man es lange genug aussitzt. Schon in ein paar Wochen kräht kein Hahn mehr danach, was Herr Walldorfs Sohn sich einmal in pubertierendem Übermut geleistet hat. Und zweitens: Wir haben mittlerweile so viel Geld in das Limoweltenprojekt investiert, dass es einerseits unmöglich ist, daraus wieder auszusteigen, und andererseits auf eine weitere kleine Investition auch nicht mehr ankommt. Wir finanzieren deshalb für Herrn Walldorfs Sohn eine Heilpädago- 2014/15-03 61 gin, die ihn während des Unterrichts beobachtet und auf ihn aufpasst. Das Kind bleibt in der Klasse. Wenn wir das geschickt kommunizieren, werden sich auch die Eltern schnell wieder beruhigen und die ganze Aufregung des heutigen Tages verwandelt sich in einen Sturm im Wasserglas. Meine Damen, meine Herren: Ich wünsche noch einen schönen Nachmittag!» Ich schaute auf die Uhr: Der Kindergarten war bereits vorüber, und dabei hatte ich doch mit Jasmin abgemacht, dass ich Benjamin abholen würde! Ich rief im Kindergarten an und gab Bescheid, dass ich gleich kommen würde. Frau Kohler meinte, das sei nicht so schlimm, sie müsse ohnehin noch aufräumen und saubermachen. Und Benjamin sei ja ein Braver. Als ich im Kindergarten ankam, sass Benjamin tatsächlich ganz friedlich in einer Ecke und baute aus Legosteinen eine grosse Rakete. Um mich bei Frau Kohler dafür erkenntlich zu zeigen, dass sie ihn noch so lange gehütet hatte, half ich ihr noch ein wenig beim Saubermachen, und so kamen wir ins Gespräch. «Ist Benjamin denn immer so brav?» «Normalerweise schon. Er ist im Allgemeinen ein zufriedenes Kind und kann sich gut alleine beschäftigen. Manchmal ist er etwas schüchtern, wenn er auf andere zugehen soll, aber ich finde, er macht auch da Fortschritte.» «Er hat mir heute aus dem Kindergarten erzählt. Scheinbar hat der Fuchs die Kaninchen gefressen. Er vermisse die Kaninchen, sagte er, und deswegen dachte ich natürlich, er wäre jetzt wütend auf den Fuchs. Benjamin fand aber, ein Fuchs müsse halt Kaninchen fressen, da könne man nichts machen. Haben Sie ihm das so gesagt?» Frau Kohler senkte die Stimme und sah auf einmal sehr bedrückt aus. «Ja, das habe ich so erzählt, diese Geschichte mit dem Fuchs. Aber die Wahrheit ist eine andere: Als ich letzten Mittwochmorgen die Kaninchen füttern wollte, lagen sie mit abgeschnittenen Köpfen im Stall. Wie krank muss jemand sein, der so etwas tut? Aber offenbar passiert so etwas ja häufiger, als man meint.» Mir fiel das Fleischmesser von letzter Nacht wieder ein, und ich fühlte, wie meine Knie zu zittern anfingen. Ich verabschiedete mich hastig von Frau Kohler, packte Benjamin und fuhr mit ihm nach Hause. Fortsetzung im nächsten lvb.inform. 62 Im Tunnel Von Heinz Bachmann P, ein 35-jähriger Lehrer, sitzt wie jeden Morgen im Zug von seinem Wohnort Basel zu seiner Arbeitsstelle im oberen Baselbiet. Er hat diesen Arbeitsweg bewusst so gewählt. In den 25 Minuten kann er sich gedanklich auf den Arbeitstag einstellen. Er hört dabei über seine Sennheiser-Kopfhörer ruhige Musik und richtet seinen Blick auf die über ihm vorbeiziehenden Höhenzüge des Juras oder des ferneren Schwarzwalds. Wenn Lärmschutzwände die freie Sicht versperren, schliesst er die Augen und hängt seinen Gedanken nach. P ist gerne Lehrer. Er liebt die abwechslungsreiche Arbeit mit den Kindern. In diesem Beruf kann er seine Kreativität bei der Gestaltung der Lektionen einbringen und seine Flexibilität bei immer neuen sozialen Herausforderungen unter Beweis stellen. P ist froh, einen Beruf auszuüben, der ihm das Gefühl gibt, etwas Sinnvolles zu tun: jungen Menschen dabei zu helfen, Bildung und eine gewisse Arbeitsethik zu erwerben und sich damit auf ein gelingendes Leben vorzubereiten. In letzter Zeit finden vermehrt düstere Gedanken Eingang in P‘s Bewusstsein. Entwicklungen im Bildungswesen lassen ihn befürchten, dass die von ihm für unverzichtbar gehaltene Freiheit in der Unterrichtsgestaltung bedroht ist. P gehört zu jenen Lehrpersonen, welche möglichst viel Zeit dafür einsetzen möchten, den Lernenden einen methodisch vielfältigen, fordernden Unterricht zu bieten. Kompetenzorientierung, selbstorganisiertes Lernen und einiges mehr erscheinen ihm als Konzepte, die er auf seine Art längst verinnerlicht hat, die ihn aber in der Absolutheit, wie sie ihm heute von aussen her aufgedrängt werden, befremden. Die Fahrgeräusche des Zuges haben sich verändert, draussen reflektieren PIXABAY PIXABAY Tunnelwände die Lichter der vorbeirauschenden Eisenbahnwagen. In P‘s Gedankengänge drängt sich eine Erinnerung an ein Kabarettprogramm von Vince Ebers, in dem es um den Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft ging: Die Religion arbeitet mit Behauptungen und fordert Glauben ein. Die Wissenschaft muss Beweise vorlegen, die einer Überprüfung standhalten. Und dann gibt es da noch die Esoterik. Ein Esoteriker kann gemäss Ebers in fünf Minuten mehr behaupten, als ein Wissenschaftler in einem ganzen Leben widerlegen kann. Aktuell gepushte Konzepte für Schulentwicklung, so kommt es P zunehmend vor, machen Versprechungen, welche wohl am ehesten Ebers‘ Definition von Esoterik entsprechen. Draussen fliegen noch immer Tunnelwände vorbei. P hat bisher nie darauf geachtet, wie lange der Zug jeweils durch den Adlertunnel fährt. Es scheint ihm aber, der Zug müsste längst in Liestal sein. Da kommt P Dürrenmatts Kurzgeschichte «Der Tunnel» in den Sinn: Ein Zug fährt in einen Tunnel ein, wird immer schneller und rast schliesslich – für längere Zeit ohne dass die Passagiere dies bemerken würden – unaufhaltsam in den Abgrund. Dürrenmatt beendet die verstörende Geschichte mit dem Satz: «Gott liess uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.» P’s Interregio hat noch immer nicht Liestal erreicht, unvermindert begrenzt die Tunnelverkleidung den Blick. «Der Tunnel passt zur aktuellen Schulentwicklung», schiesst auf einmal ein boshafter Gedanke durch P‘s Hirn, «ungebremst in den Abgrund.» P konsultiert die Uhr auf seinem iPhone. Der Zug ist in Basel fahrplanmässig abgefahren und müsste dementsprechend in drei Minuten Sissach erreichen. Da kann doch etwas nicht stimmen! Ist es das Handy? Die Geschwindigkeit des Zuges? Der Tunnel? Die anderen Fahrgäste spielen mit zugestöpselten Ohren auf ihren Handys her- 2014/15-03 63 um, lesen Zeitung oder dösen. Niemand ausser P scheint sich zu beunruhigen. ters; in dieser Auffassung weiss sich P mit vielen Berufskollegen einig. «Der Schulentwicklungs-Tunnel», durchfährt es P, «was für eine Allegorie! Beschleunigung total: Integration, Frühfremdsprachen, Kompetenzorientierung, selbstgesteuertes Lernen, Konstruktivismus, Individualisierung über alles. Sind die Schulentwicklungs-Turbos womöglich Zauberlehrlinge, welche die Abwesenheit des Meisters nutzen?» P versucht in Gedanken, das Gedicht abzurufen: Im Moment aber besteht P‘s vordringlichstes Problem darin, dass er in einem Zug sitzt, der in einem endlosen Tunnel zu verschwinden droht. Die anderen Passagiere sitzen weiterhin unbekümmert auf ihren Plätzen. P hat sich unterdessen von seinem Sitznachbarn versichern lassen, dass sein Handy die Uhrzeit richtig anzeigt. Der Nachbar hat auch missmutig bestätigt, dass der Interregio nach Luzern fahre – und sich dann wieder seinem Tablet zugewandt. Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben! Seine Wort' und Werke Merkt' ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu' ich Wunder auch. Ein erneuter Blick auf sein Handy bestätigt P, dass der Interregio noch einmal vier weitere Minuten durch den Tunnel gerast ist, ohne dass ein Licht am Ende in Sicht gekommen wäre. Sitzt er im falschen Zug? Nur: Wo, mit Abfahrtsort Basel, gibt es einen so langen Eisenbahntunnel? Seine Überlegungen werden zunehmend hektischer. Wie endet eigentlich Goethes Zauberlehrling? Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist gross! Die ich rief, die Geister, Werd' ich nun nicht los. "In die Ecke, Besen! Besen! Seid's gewesen! Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister." Die Schulentwicklungs-Hektik bedürfte auch der ordnenden Hand eines Meis- Mit P‘s Ruhe ist es nun endgültig vorbei. Er macht sich auf, den Zugbegleiter zu suchen oder nötigenfalls beim Lokführer in Erfahrung zu bringen, was es denn mit diesem langen Tunnel für eine Bewandtnis habe. Der Gang durch den Zug bestätigt P‘s surreale Befürchtungen. Auf dem Weg in Richtung Lokomotive sitzen im nächsten Wagen Schulleiter, welche in Arbeitsgruppen diskutieren. In einem Abteil geht es offensichtlich um die flächendeckende Einführung der pädagogischen Kooperation an den Schulen. P spricht einen ihm persönlich bekannten Schulleiter an und macht diesen auf seine Wahrnehmung aufmerksam, wonach sich der Zug seit mehr als 30 Minuten in einem Tunnel befinde. «Das macht nichts. Wir arbeiten gerade daran, grosse Entwicklungen im Schulbereich umzusetzen. Neue Herausforderungen zwingen uns dazu und die Pädagogischen Hochschulen liefern uns die aktuellsten Erkenntnisse. In diesem Projektstadium kommt es uns gelegen, dass wir ungestört arbeiten können und nicht von äusseren Eindrücken abgelenkt werden», antwortet der Mann freundlich und wendet sich wieder der Diskussion in seiner Arbeitsgruppe zu. Anscheinend geht es gerade um das Thema «Umgang mit Widerständen im Kollegium», wie ein auf das Abteilfenster geklebtes Flipchart-Blatt zeigt. Die Schulleitungsmitglieder sind damit beschäftigt, in einem Brainstorming mögliche Führungsmassnahmen zu sammeln. Der Schulentwicklungs-Interregio rast ungebremst durch den Tunnel. Mit einem Gefühl der Beklemmung setzt P seinen Weg in Richtung Lokomotive fort. In den nächsten Wagen befinden sich offensichtlich die Arbeitsplätze der Reformplaner und Bildungspolitiker. Da also wird die Schule der Zukunft entworfen. Das erkennt P an den Stichworten auf den Plakaten, welche auch hier über die Fenster geklebt sind. In jedem Abteil gilt die Auseinandersetzung einem anderen Schwerpunkt: «Frühfremdsprachen – wie weiter?»; «Niveaudifferenzierung des Lehrplans 21»; «Integration in der Kostenfalle?»; «Leistungsbeurteilung im kompetenzorientierten Unterricht?» liest P auf weiteren Papieren. Niemand nimmt von P Notiz. Auch in diesen Abteilen scheint sich keiner daran zu stören, dass sich der Zug noch immer im Tunnel befindet. Auch hier vermitteln alle den Eindruck der Normalität. Niemanden scheint die lange, rasende Fahrt durch den Tunnel weiter zu kümmern. Die Plakate auf den Abteilfenstern vermitteln P den Eindruck, dass zum Zweck der Gestaltung der Schule der Zukunft ein Blick nach draussen nicht vorgesehen ist. Den Zugbegleiter vermag P nicht zu finden. Schliesslich erreicht er die Lokomotive. Gemäss dem Prinzip «Gläserne Verwaltung» ist der Durchgang zum Führerstand nicht abgesperrt. Es überrascht P nicht sonderlich, als er sieht, dass der Führerstand leer ist. 64 Kontakte Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland LVB 4133 Pratteln Kantonalsektion des LCH Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz Website www.lvb.ch [email protected] Präsident Roger von Wartburg Rebgutstrasse 12 4614 Hägendorf Tel 079 261 84 63 [email protected] Geschäftsführer & Vizepräsident Michael Weiss Sonnenweg 4 4133 Pratteln Tel 061 973 97 07 [email protected] Aktuariat Gabriele Zückert Rheinstrasse 51 4410 Liestal Tel 061 599 48 51 [email protected] Beratung & Rechtshilfe Heinz Bachmann Madlenweg 7 4402 Frenkendorf Tel/Fax 061 903 96 08 [email protected] Publikationen & Pädagogik Philipp Loretz Bürenweg 6 4206 Seewen Tel 061 911 02 77 [email protected]
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