Mittwoch, 29. April 2015 Reutlingen 29.04.2015 - 06:55 Uhr Gewerbe - Reutlingen steht im Vergleich zu anderen Städten schlecht da. Stadtverwaltung will mehr Gewerbefläche Zehntausend Arbeitsplätze fehlen in Reutlingen VON HANS JÖRG CONZELMANN REUTLINGEN. Die Stadt ist schwach auf der Brust, was Gewerbesteuer und Arbeitsplätze angeht. Es fehlen rund 10 000 Arbeitsplätze, um auf das Niveau von vergleichbaren Städten wie Heilbronn, Esslingen, Ludwigsburg, Ulm, Pforzheim und Tübingen zu kommen. Entsprechend niedrig ist das Gewerbesteueraufkommen: Es liegt, bezogen auf die Größe der Stadt, deutlich unter dem Durchschnitt. Das geht aus einer Analyse des Stuttgarter Stadtplaners Dr. Richard Reschl hervor. Das Reutlinger Entwicklungskonzept: 4,5 Hektar kann die Stadt bauwilligen Unternehmen kurzfristig anbieten. »Erweiterungsflächen« sind für bestehende Firmen reserviert; »mittelfristige und langfristige Potenziale« sind Flächen ohne Bebauungsplan oder solche, die nur schwer zu erschließen sind; für »Sonderflächen« wiederum ist die Nutzung »eingeschränkt«. GRAFIK: RESCHL STADTENTWICKLUNG Die Ergebnisse legte die Stadtverwaltung gestern dem Gemeinderat vor und blies gleichzeitig zur Attacke: 100 Hektar Gewerbefläche sollen in den nächsten Jahren ausgewiesen werden. Immer noch zu wenig, warnt Reschl: Um wirklich aufholen zu können, bräuchte Reutlingen 130 Hektar mehr. So viel fehle für ein »moderates Arbeitsplatzwachstum« in Form von rund 2 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Reschls Botschaft: »Zwischen dem, was wir errechnet haben, und dem, was an Fläche langfristig zur Verfügung steht, klaffen 30 Hektar.« Zum Vergleich: Das Gewerbegebiet Mark West umfasst 180 Hektar, wobei auch dort den Großteil die Gemeinde Kusterdingen beigesteuert hatte. Zusammenhängende Flächen dieser Größenordnung kann Reutlingen ohnehin keine mehr vorweisen. »Es klafft eine Lücke von 30 Hektar« Die Zeichen im Rathaus stehen deshalb auf Sturm. Zwar kommen immer mehr Einwohner nach Reutlingen, doch die Gewerbesteuerentwicklung hält nicht Schritt. Bürgermeister Alexander Kreher: »Die Beschäftigtenzahl muss zunehmen.« Neue Arbeitsplätze hängen aber direkt mit dem verfügbaren Bauland zusammen. Eine Befragung einheimischer Betriebe ergab einen »enormen Flächenbedarf«. Zwar sei Reutlingen bei den weichen Faktoren gut im Rennen, doch das Bauland fürs Gewerbe sei rar. Angeblich stehen die Gewerbetreibenden Schlange, um sich in Reutlingen niederzulassen. Kreher wörtlich: »Wir haben eine Liste von Unternehmen, die gerne nach Reutlingen kommen würden.« Anbieten kann ihnen die Stadt wenig. Kurzfristig verfügbar sind 4,5 Hektar. Die Stadt plant deshalb den »großen Aufschlag« (Oberbürgermeisterin Barbara Bosch). Der Schlachtruf im Rathaus lautet: »Gewerbeflächenoffensive«. In einem ersten Schritt wurde gestern die Erweiterung von kleinen Gewerbegebieten angeschoben: In Oferdingen soll das bestehende Gewerbegebiet »Besterwasen« am westlichen Ortsrand erweitert werden (2,4 Hektar), in Sondelfingen das Gebiet »Spießhart« an der Gemarkungsgrenze zu Metzingen (13 Hektar), in Betzingen entlang der Auchtertstraße Richtung Ohmenhausen (10 Hektar), wo bisher das Unternehmen Praktiker war. Die Erweiterung anderer Gewerbegebiete müsse erst noch in den Flächennutzungsplan aufgenommen werden. Wobei nichts wirklich schnell geht: Allein beim Gebiet »Spießhart« rechnet Stadtplaner Dvorak mit »5 bis 10 Jahren«, bis gebaut werden kann. Die Erschließung und das Umlegungsverfahren vieler privater Grundstücke erfordere »langfristige Prozesse«. Trotz vieler dunkler Wolken: Die Stadt brauche sich nicht zu verstecken. Stadtentwickler Richard Reschl berichtete von immerhin 48 900 Arbeitsplätzen, die es in Reutlingen gibt. Doch allein um die Zahl halten zu können, bräuchte Reutlingen mehr Fläche. Produzierendes Gewerbe wolle ebenerdig und damit flächenintensiv arbeiten – im Gegensatz zu früher, als auf mehreren Stockwerken produziert wurde. Wobei Reschl die Hoffnungen nicht sehr hoch schraubte, allein mit zusätzlichen Gewerbegebieten auch neue Arbeitsplätze generieren zu können: In ganz Deutschland gibt es seiner Statistik nach gerade mal 50 neue Gewerbeansiedlungen pro Jahr, die wirklich arbeitsplatzrelevant sind, das heißt: mehr als 50 neue Arbeitsplätze schaffen. Früher gab es mehr Gewerbefläche in Reutlingens Kernstadt. Immerhin 56 Hektar wurden im Lauf der Zeit für andere Nutzungen umgewidmet, etwa für Wohnungsbau und Einzelhandel. Baubürgermeisterin Ulrike Hotz nannte das Seidenviertel als Beispiel, das früher Gewerbegebiet war. Emissionsschutzrechtliche Belange und das Bestreben, mit attraktiver Wohnbebauung eine »Stadt der kurzen Wege« zu schaffen, würden die gewerbliche Nutzung ausschließen. Zu wenig Gewerbesteuer – Barbara Bosch sieht die »Sondersituation« in der überdurchschnittlich hohen Zahl des produzierenden Gewerbes (33 Prozent). Große Maschinenbau-Unternehmen müssten auf dem internationalen Markt mit kleineren Margen rechnen, was die Gewerbesteuer drücke. Sie könnten nur deshalb noch in Reutlingen produzieren, weil der Grad der Automatisierung hoch sei. Deshalb seien in der Stadt Reutlingen eben vergleichsweise wenige Arbeitsplätze vorhanden. Weil sich Gewerbesteuer aber auch nach der Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze bemesse, sei ein Vergleich mit anderen Städten nur bedingt möglich – etwa mit Nachbarstädten, die mehr Dienstleistungsgewerbe hätten. (GEA)
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