Angst & Liebe - Wie das Leben einen Menschen

Dieses Buch ist ihre Lebensgeschichte, erzählt mit über 200 Schwarz-Weiß-Photos
und Zeichnungen, über 70 Gedichten und mehr als 320 Originalauszügen aus ihren
Tagebüchern, die sie im Alter von elf Jahren zu schreiben begann. Es ist das schonungslose Zeugnis eines Menschen, der nahezu zwei Jahrzehnte auf der Suche nach
sich selbst war – sich dabei fast verlor – doch dadurch letztlich zu sich selbst finden
durfte.
Es ist nicht einfach nur die Geschichte einer »BorderlinePersönlichkeit«. Es ist die Schilderung dessen, was Leben
ist: intensiv, unvorhersehbar, komplex, gewaltig, unbeugsam,
kraftvoll, mutig, mystisch ... ein einmaliges und wertvolles
Geschenk.
Wie das Leben einen Menschen formt
Angst & Liebe
mayanan pramada
mayanan pramada
wurde 1981 als Tochter einer Chemiefacharbeiterin und eines Maurers in Naumburg an der
Saale geboren. Ihre Eltern gaben ihr den Namen
Melanie Köbke. Ihre Kindheit und Jugend waren
vorrangig geprägt von Angst und einer starken
Sehnsucht nach Liebe. Nachdem sie das Abitur mit 1 abgeschlossen hatte, ging sie für eine
Krankenschwester-Ausbildung nach Frankfurt am
Main, die sie jedoch wegen eines Bandscheibenvorfalls im Alter von 19 Jahren vorzeitig abbrechen musste. Sie wechselte somit im Jahr 2001 –
im selben Jahr starb ihre Großmutter, kurz darauf
geriet sie in eine 9monatige Wohnungslosigkeit
– in die IT-Branche, schloss 2004 eine Ausbildung
zur IT-Systemkauffrau mit Auszeichnung ab und begann im Anschluss ein Studium an
der FH Wiesbaden. Im selben Jahr wendete sie sich aufgrund ihres seelischen Leides
an eine große Tageszeitung mit dem Ziel, eine Selbsthilfegruppe für Betroffene mit
»Borderline« zu gründen. Sie war damit erfolgreich und die Selbsthilfegruppe existierte zwei Jahre. 2005, nach drei Semestern an der FH, erlitt sie einen psychischen
Zusammenbruch, ein Jahr darauf entkam sie nur knapp dem Freitod, verbrachte zwölf
Wochen in einer Psychiatrie und war danach erneut für sechs Monate wohnungslos.
Diese gravierenden Erfahrungen beeinflussten ihr Innenleben maßgeblich. Sie legte
ihren Geburtsnamen ab, ließ Wiesbaden und viele ihrer Freunde hinter sich und widmete sich mehrere Jahre der Aufarbeitung ihrer traumatischen Kindheit und Jugend.
Seit dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2010 – im selben Jahr schloss sie auch erfolgreich
eine Umschulung zur Digitaldruckerin ab – gibt sie sich voll und ganz ihrer Berufung
hin: dem Schreiben, dem Mitteilen ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse, dem Heilen
mit Worten.
mayanan pramada
Angst & Liebe
Wie das Leben einen Menschen formt
Ich sage Danke
13
0 – 6 Jahre / ​Vorschulzeit
17
6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
33
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
51
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
101
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
213
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
255
Krieg
Gottes Meisterstück
Wir
Das Nichts
Ich sah es
Bizarr
Verschlossene Tore
Maskenträger
Zwei Sekunden
Mahnung
Sommernacht
Stille
ICH
Abschiedsbrief
Sein
Sommertagsträume
Ruhelos
Einsame Trauertränen
Leer
Heimweh
Die Pusteblume
EKSTASE
Grenzgänger
Ichverzicht
Doch ich …
Oma
Was ist Liebe ?
Glas
Wohin
57
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105
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250
262
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268
272
9
Kelch der Leidenschaft
Am Ende
Eine Leinwand und zwei Farben
hand an mich gelegt
Durchgeknallt
ich bin
nicht meine schuld
unfürsorglich
Wenn ich ... bin
Alles gelogen
Akutchaos
hier und gleich
Hilferuf
Welt sein
in der leere
Zeitlos
schweigen fühlen
Weg(ent)scheid
gejagt
KIND
meine schreie
Die gezählten Minuten
273
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283
295
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298
306
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374
385
391
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Wahnsinn oder Wahrheit?
395
24 – 26 Jahre / Auszeit
403
nächte mit mutter
unfähig
erbstücke
gefängnis
nicht so
abgelegt
fremd mitleben
kopflos
unterm zirkuszelt
alles legal
nur show
ein versuch
schiffbruch
kriegsopfer
10
409
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26 – 31 Jahre / Heilzeit
459
Anhang 1
553
Anhang 2
593
Perfekt
617
ich bin liebe
eckige herzen
der erste blickkontakt
Danke für diese Chance
Wer bist du?
vorgefertigt
frohes fest
mutters liebe
morgen-symphonie
verwundeter baum
spiegelung
leben
trauertraum
lebensträume
angeboren
ver(w)irrt
träumende und erträumtes
Gefallene Engel
Jesus und Cosma
Der Schmerz der Suizidalität
Leben auf dem NEUEN WEG
Ode an meine Freunde, die mir Familie sind
Ich bin nicht mein Körper
Nach Hause gehen
Gern möchte ich dir etwas über »Vergebung« erzählen
Fügungen des Lebens
Der rote Faden
Warum du durch deinen eigenen Schmerz musst
Warum Liebe wehtut
Die Wahrheiten des Lebens
Du bist dran
482
487
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510
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mayanan pramada
Angst & Liebe
Wie das Leben einen Menschen formt
mayanan pramada
Angst & Liebe
Wie das Leben einen Menschen formt
seelenwissen
Meine Reise ins Leben begann mit einer Reise in die abgründige Dunkelheit
meines Ichs, getrieben von einer starken Sehnsucht nach dem Tod, von einer
unbändigen Sucht nach der Auflösung dieses menschlichen Ichs, das ich
glaubte, sein zu müssen.
Ich fürchtete mich davor, irgendwann am Ende meiner Reise zu erkennen,
dass dieses Ich entweder nicht existiert oder ein Monster ist.
Als ich dann nach 25 Jahren die dunkelste Düsternis in mir selbst erreicht
hatte, erkannte ich plötzlich, dass dort tatsächlich kein Ich ist. Ich fürchtete
mich jedoch nicht, denn an seiner Stelle war kein Monster, sondern Licht.
Viele Jahre fürchtete ich mich vor der Welt und dem Leben. Heute weiß ich,
ich fürchtete mich vor mir selbst - vor dem leuchtenden Leben im kleinen
leuchtenden Universum, geführt von einem leuchtenden Gottesfunke, der
ich bin.
Ich fürchtete mich vor der Liebe zu mir selbst. Ich fürchtete mich davor, dem
Leben nicht würdig zu sein.
Ich weiß, dass meine Lebensgeschichte in seinen groben Zügen der vieler
anderer Lebensgeschichten gleicht. Aber trotzdem – oder gerade deswegen –
will ich sie detailreich erzählen.
Ich liebe das Leben und seine vielen Milliarden Geschichten, die wie viele
Milliarden Fäden das eine große Gemälde aller Schöpfung gemeinsam
flechten.
Meine Geschichte ist die Geschichte eines Fadens unter vielen. Er berührte
andere Fäden und wurde ebenso von vielen anderen Fäden berührt. So wird
es auch immer bleiben.
Denn wir alle sind unsterblich und ewiglich miteinander verbunden.
für meine geliebte Mutter († 2010)
und meine geliebte Großmutter († 2001)
© 2012 mayanan pramada
Umschlaggestaltung: Melanie Köbke
Satz: Melanie Köbke
Lektorat, Korrektorat: Ilona Stahl, Melanie Köbke
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Printed in Germany
ISBN: 978-3-8491-2018-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt
insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,
Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Ich sage Danke
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0 – 6 Jahre / ​Vorschulzeit
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
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18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
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20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
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Krieg
Gottes Meisterstück
Wir
Das Nichts
Ich sah es
Bizarr
Verschlossene Tore
Maskenträger
Zwei Sekunden
Mahnung
Sommernacht
Stille
ICH
Abschiedsbrief
Sein
Sommertagsträume
Ruhelos
Einsame Trauertränen
Leer
Heimweh
Die Pusteblume
EKSTASE
Grenzgänger
Ichverzicht
Doch ich …
Oma
Was ist Liebe ?
Glas
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Kelch der Leidenschaft
Am Ende
Eine Leinwand und zwei Farben
hand an mich gelegt
Durchgeknallt
ich bin
nicht meine schuld
unfürsorglich
Wenn ich ... bin
Alles gelogen
Akutchaos
hier und gleich
Hilferuf
Welt sein
in der leere
Zeitlos
schweigen fühlen
Weg(ent)scheid
gejagt
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meine schreie
Die gezählten Minuten
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Wahnsinn oder Wahrheit?
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24 – 26 Jahre / Auszeit
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nächte mit mutter
unfähig
erbstücke
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unterm zirkuszelt
alles legal
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ein versuch
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26 – 31 Jahre / Heilzeit
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Anhang 1
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Anhang 2
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Perfekt
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ich bin liebe
eckige herzen
der erste blickkontakt
Danke für diese Chance
Wer bist du?
vorgefertigt
frohes fest
mutters liebe
morgen-symphonie
verwundeter baum
spiegelung
leben
trauertraum
lebensträume
angeboren
ver(w)irrt
träumende und erträumtes
Gefallene Engel
Jesus und Cosma
Der Schmerz der Suizidalität
Leben auf dem NEUEN WEG
Ode an meine Freunde, die mir Familie sind
Ich bin nicht mein Körper
Nach Hause gehen
Gern möchte ich dir etwas über »Vergebung« erzählen
Fügungen des Lebens
Der rote Faden
Warum du durch deinen eigenen Schmerz musst
Warum Liebe wehtut
Die Wahrheiten des Lebens
Du bist dran
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Wenn ich in diesem Buch das Wort »Gott« verwende,
meine ich damit nicht den Gott in den Kirchen bzw. die
Götter der von Menschen konstruierten Religionen.
Das Wort »Gott« dient mir als Synonym für die »geheimnisvolle, zeitlose, ordnende Energie hinter all dem
Sicht- und Hörbaren unserer irdischen Realität«; eine
bewusste Energie, die immerwährend alles durchströmt,
formt und lenkt.
Einige mir wichtige Menschen, Momente und Ereignisse sind in diesem
Buch nicht erwähnt. Das liegt zum Einen daran, weil mir viele Photos und
genaue Erinnerungen verloren gegangen sind und zum Anderen, weil ich
die Seitenzahl dieses Buches begrenzen wollte.
Ihr, all meine vielen lieben unerwähnten Wegbegleiter, könnt euch trotzdem
sicher sein, dass ihr für immer einen festen Platz in meinem Herzen habt,
denn ihr habt mich berührt und damit meinen Lebensweg beeinflusst.
Wenn nur eine Begegnung mit einem von euch nicht stattgefunden hätte,
würde es heute dieses Buch in dieser Art und Weise vielleicht nicht geben.
12
Ich sage Danke
Geliebtes Leben,
ich danke dir.
Ich danke meinen Eltern.
Ich danke meinen Großeltern.
Ich danke den Eltern meiner Großeltern.
Ich danke den Eltern der Eltern meiner Großeltern.
Ich danke den Eltern der Eltern der Eltern meiner Großeltern.
Ich danke euch
für mein Leben.
Ich danke meinen Freunden, die mich lieben.
Ich danke meinen Freunden, die ich liebe.
Ich danke meinen Freunden, die mich verließen.
Ich danke meinen Freunden, die ich verließ.
Ich danke meinen Lehrern, die mich förderten.
Ich danke meinen Lehrern, die mich forderten.
Ich danke meinen Lehrern, die an mich glaubten.
Ich danke meinen Lehrern, die nicht an mich glaubten.
Ich danke all meinen Wegbegleitern, die mich ermutigten.
Ich danke all meinen Wegbegleitern, die mich entmutigten.
Ich danke euch,
dass ich werden durfte,
wer ich heute bin.
Ich danke dem Leben dafür, dass es mich empfing.
Ich danke dem Leben dafür, dass es mich nicht gehen ließ.
Ich danke dem Leben dafür, dass es mich immer wieder empfängt.
Ich danke dem Leben dafür, dass es mich belebt.
Ich danke
dem Leben in mir.
Ich danke dem Mut, der mich trägt.
Ich danke dem Zweifel, der mich lenkt.
Ich danke den Visionen, die mich stärken.
13
Ich danke den Ängsten, die mich schützen.
Ich danke den Erinnerungen, die mich lehren.
Ich danke der Freude, die mich lockt.
Ich danke der Liebe, die mich führt.
Ich danke jedem Tag, der mich begrüßt.
Ich sage heute
… an meinem 30. Geburtstag …
– DANKE –
Danke, dass ich dich erleben darf.
Danke, dass ich mich erleben darf.
Danke für bereits fast 11.000 gelebte Tage.
Danke, dass ich lebe.
Ich bin da – bleibe da – und werde nie vergehen
dank mir und allen Wesen und Welten,
die mich unterstützen,
lehren und führen.
DANKE!
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 09.03.2011)
14
Kummer und Probleme sind darauf zurückzuführen,
dass man mit dem, was Gott gefügt hat, nicht zufrieden ist. Wenn man sich Gott unterwirft, dann ist man
glücklich.
Da alles, was ist, nach meinem Wunsch geschieht, tue
ich nichts, was meinem Verlangen widerspricht; so
geschieht mir kein Leid. Zweifellos geschieht alles nach
Gottes Willen, und ich habe meinen eigenen Willen aufgegeben, da ich wünsche, dass Gottes Wille geschehe. So
wird mein Wille zu Gottes Willen, denn von mir bleibt
nichts. Alles geschieht nach Seinem Willen, und doch
auch nach meinem.
In diesem Fall bin ich sehr glücklich.
Baha’ u’ llah
15
16
0 – 6 Jahre / ​Vorschulzeit
In meinem ursprünglichen Zustand der Einheit und
Ganzheit wusste ich nicht einmal, dass ich existiere.
Und eines Tages sagte man mir, ich sei »geboren« worden, ein bestimmter Körper sei »ich« und ein bestimmtes Paar seien meine Eltern.
Ramesh S. Balsekar
17
18
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Mitte der 70er Jahre lernten sich ein Junge und ein
Mädchen – beide etwa 14jährig – in einem Lebensmittelgeschäft kennen und verliebten sich ineinander. 1980 heirateten sie – mit großen Plänen und
hoffnungsvollen Träumen im Gepäck.
Das waren meine wundervollen Eltern Evelin
Christiane Geißler und Lutz Martin Köbke.
Ich war zum Zeitpunkt ihrer Vermählung bereits
im Bauch meiner Mama mit dabei.
19
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Am Montag, den 09.03.1981, um 00:10 Uhr wurde ich in Naumburg
an der Saale im schönen Burgenland in Sachsen-Anhalt geboren.
Meine Mutter war an diesem Tag hoffnungsvolle 20 jahre jung, mein
Vater 22. Ich war ein Wunschkind von Herzen für beide.
20
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Meine Eltern gaben mir den Namen Melanie. – Er bedeutet »die
Dunkle«, »die Schwarze«, »die abseits Stehende«, »die Beobachtende«, »die Nachdenkliche«, »die Melancholische« und weist damit auf
das »düstere nachdenkliche Wesen« der Namensträgerin hin. – Es
war der perfekte Name für meine persönliche »Reise ins Leben«!
Mit der Vergabe meines Namens, aber vor allem durch meinen
festen Geburtszeitpunkt (als meine Seele im Körper inkarnierte) –
davon bin ich überzeugt – war das grundlegende Muster meines
zukünftigen Menschseins (mein Denken / Fühlen / Verhalten /
Stärken & Schwächen / Fähigkeiten & Talente / Aufgaben im Leben) festgelegt.
Niemand von uns ist zufällig und ohne Sinn (ohne »Aufgabe/Auftrag«) auf der Welt. Wir sind – ebenso wie die Erde, die Galaxis, das
Universum – durch und durch strukturierte und organisierte Energie, die wir als »materiell« und mit einem »Ich« ausgestattet erleben.
Unsere »Aufgabe« / unseren »Auftrag« müssen wir nicht unbedingt
verstehen oder formulieren können. Wichtig ist, dass wir im Laufe
unseres Lebens erkennen, wer und wie wir wirklich sind (unsere
»Stärken« fördern) – dass wir lernen, uns zu lieben (unsere »Schwächen« annehmen und zu handhaben wissen) – dass wir lernen, uns
so zu leben, wie wir nun einmal sind und sein wollen! Dann sind wir
in unserer Kraft, in unserer Mitte, in unserem Element, in unserem
»Auftrag«. – Dann nehmen wir bewusst und aktiv an »Gottes phänomenal gigantischem Meisterwerk« teil.
Im Indianischen Horoskop bin ich ein »Puma«. Im Chinesischen Horoskop bin ich ein »Hahn«. In der Astrologie bin ich ein »Fisch« mit
Aszendent »Skorpion«. Im Human Design System bin ich ein »Projektor«, habe das Profil »2/4«, meine Innere Autorität ist »Emotional – Solar Plexus« und mein Inkarnationskreuz lautet »Das rechte
Kreuz des Regierens«. In all diesen Horoskopen finde ich die mir
sehr wichtigen und liebgewonnenen (»starken« und »schwachen«)
Eigenschaften meines Wesens wieder.
21
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Laufen – auf zwei Beinen aufrecht durchs Leben
gehen – wollte früh geübt sein. Ich hatte es damit
(mit vielem) sehr eilig, wie mir meine Mutter später einmal erzählte.
22
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Auch mein Papa war da und stützte mich während
meiner ersten Schritte in dieser großen neuen Welt,
die es kennenzulernen, zu studieren, zu verstehen
und – letztlich – zu lieben galt.
23
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Meine Eltern arbeiteten viel. So war ich – ein Kind, das sehr an
Mama und Papa hing – oft bei meinen Großeltern (oben im Photo
mit meiner Oma väterlicherseits). Als ich erst ein halbes Jahr alt war,
musste ich bereits in die Kinderkrippe.
Meine Mutter schrieb mir vor vielen Jahren in einem Brief, dass sie
auf Arbeit oft weinend an den Maschinen stand, während ich in der
Kinderkrippe war. Mich dort jeden Tag abgeben zu müssen, weil sie
arbeiten, Geld verdienen und die Familie ernähren musste, quälte
sie sehr. Jedes Mal, wenn sie mich dort allein zurückließ, schrie ich,
was es ihr noch schwerer machte. Mit den anderen, fremden Kindern und Erwachsenen wollte ich nicht zusammen sein. Sie konnten
Mama nicht ersetzen.
24
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Meine fleißigen, jungen Eltern mit ihrer größten Freude, ihrem gemeinsamen Glück: ihrer klugen und aufgeweckten Tochter.
Mein Vater, Hauptschulabschluss, war gelernter Maurer, arbeitete
jedoch als Kurierfahrer (auch ins östliche Ausland) und war für die
FDJ sehr aktiv.
Meine Mutter, Hauptschulabschluss, hatte in den Leuna-Werken
Chemiefacharbeiterin gelernt und arbeitete im Schichtsystem in der
Metall-Verarbeitung.
25
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Ich soll ein lebhaftes Kind gewesen sein – ein
kleiner, wilder Feger mit vielen Fragen, die zum
Vorschein kamen, je mehr Worte ich lernte. Viele
Erinnerungen habe ich an diese Zeit meines Lebens leider nicht. Ich weiß aber: Ich lernte früh und
schon immer gern und schnell.
26
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Hier bin ich mit meiner Mama und meiner Lieblingspuppe.
Diese Puppe war etwas ganz Besonderes für mich,
denn sie konnte ihre Augen öffnen und schließen,
was mich total fasziniert hatte. – Im Gegensatz zu
anderen Puppen, bei denen die Augen nur aufgemalt waren und man sie sogar wegkratzen konnte.
– Es soll ein Riesendrama gewesen sein (aber nicht
so schlimm wie mit meinen Unmengen an Schnullern), als diese Puppe kaputt ging und weggeworfen wurde.
27
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
An der Seite meiner wunderschönen, jungen Mutter – eines meiner Lieblingsbilder.
Zu dieser Zeit hielten mich alle Menschen für
einen Buben, was mich nicht sonderlich störte, da
ich mit Mädchen eh nicht gut zurecht kam. Ich
spielte (bis zum Ende der Grundschule) lieber mit
Jungs, denn die waren irgendwie nicht so kompliziert wie Mädchen. Zumindest war so mein
damaliges Empfinden.
28
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Fasching im Kindergarten. Die Kostüme für mich (auch später für
meinen Bruder) hatte meine Mutter jedes Jahr immer selbst genäht,
oft bis tief in die Nacht.
Im Kindergarten schon war ich ein Außenseiter. Nicht, weil ich es
unbedingt wollte, sondern weil die Bedingungen meines Zuhauses
dies mit sich brachten:
Ich wurde oft morgens als erstes Kind abgegeben und abends als
letztes Kind wieder abgeholt, manchmal so spät, dass ich glaubte,
meine Familie hätte mich vergessen.
Ich wurde etliche Male ungewaschen und mit Läusen in den Haaren
im Kindergarten abgegeben. Dann sonderten mich die Erzieher von
der Gruppe ab und wuschen und entlausten mich auf grobe Weise.
29
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Auch war ich oft krank, hatte viele Kinderkrankheiten, Asthma, oft
Angina und Bronchitis und litt regelmäßig an anderen körperlichen
Beschwerden, wie z.B. Bauchschmerzen, Nasenbluten, Verstopfung,
Übelkeit und Erbrechen, wodurch ich dann wiederum von den anderen Kindern abgetrennt wurde bzw. eine Sonderbehandlung erhielt.
Ich konnte mittags nicht schlafen, wenn wir alle Mittagschlaf halten
sollten, also stellten die Erzieher genervt meine Liege in ein anderes
Zimmer, wo ich dann auch allein war.
Zu Ostern, wenn wir im Wald unsere Osterkörbchen suchten, fehlte
meines manchmal. Zu Weihnachten, wenn alle Kinder Geschenke in
ihren Spinten vorfanden, waren ein Mal Kohle und Rute in meinem,
obwohl ich wusste, dass ich ein »braves« Kind gewesen war.
Ich weiß bis heute nicht, warum dies alles so geschehen ist, und das
spielt auch keine Rolle mehr für mich. Wichtig ist, was es in mir
bewirkte: nämlich das Gefühl, dass ich in dieser Welt unwichtig,
unerwünscht, ungewollt, lästig, störend und fehl am Platz bin.
30
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
Ich war ein Bündel voller Fragen – und wie jedes
Kind: sehnsüchtig nach Aufmerksamkeit und
Zärtlichkeit!
Ich liebe dieses Bild; es ist besonders, denn die
Nähe zu meiner Mutter – eine Nähe, an die ich
mich gar nicht mehr erinnern kann – wurde schon
bald radikal zerstört.
31
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
1986, ich war fünf Jahre alt, wurde mir ein Brüderchen geschenkt.
Seinen Namen Sebastian erhielt er von mir – darauf war ich mächtig
stolz. Ich liebte ihn für immer gleich auf den ersten Blick.
Ende des Jahres 1987 schon verließ uns leider unser Vater. – Und
damit brach die Tragik in voller Gewalt über mein (unser) Leben
herein, da es für unsere noch sehr junge Mutter unmöglich war, den
Verlust ihrer großen Liebe – und ihre Wut, allein gelassen worden
zu sein – zu bewältigen, ohne dabei ihren Kindern psychischen und
körperlichen Schaden zuzufügen.
Für ein Kind ist seine Familie / seine Umgebung die ganze Welt. Daraus entwickelt es seinen Blick auf die Welt, sein Verstehen der Welt
und seine Position in der Welt. Ich erfuhr ab diesem Zeitpunkt, dass
die (ganze) Welt gefährlich, bedrohlich, gewalttätig, unberechenbar
und ein Leben in ihr leidvoll ist.
32
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Danach fing ich an, Tag für Tag weitere Informationen über »mich« zu akzeptieren und errichtete so eine
Schein-Persönlichkeit, nur weil ich die Last auf mich
genommen hatte, geboren worden zu sein, obwohl mir
voll bewusst war, dass ich niemals diese Erfahrung,
geboren zu werden, gemacht hatte und mir mein Körper
ohne meine Zustimmung aufgezwungen worden war.
Ramesh S. Balsekar
33
0 – 6 Jahre / Vorschulzeit
34
6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
1987 – Meine Einschulung. Ich hatte mich sehr auf
diesen Tag gefreut.
Diese große Schultüte, das erinnere ich noch,
konnte ich nur für dieses eine Photo halten, denn
sie war mir eigentlich viel zu schwer. Die ganzen Süßigkeiten hat dann später, wie das jüngere
Geschwister gern machen, mein kleiner Bruder
genascht.
35
6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Die Schule fiel mir sehr leicht, wie im Zeugnis der 1. Klasse zu sehen
ist. Das war auch gut so, denn die Schule bot mir einen sicheren
Zufluchtsort vor der bedrohlichen, unberechenbaren Gewalt, der
ich zuhause ausgeliefert war. In der Schule war ich »sehr gut« und
ich wurde von den Lehrern oft gelobt. Diese Anerkennung in der
Schule war überlebenswichtig für mich, da ich dies zuhause nicht
erfuhr (obwohl ich an dieser Stelle meiner Mutter danken muss,
dass sie mich immer mit Büchern versorgt hat und damit meinen
Wissendurst stillen half). Während meiner ganzen Schulzeit hatte ich
nie irgendjemandem erzählt, wie sehr ich zuhause litt. Ich lebte ein
Doppelleben: draußen lächeln, drinnen weinen.
Die Trennung meiner Eltern verursachte, dass ich mich auch in der
Schule wie eine Außenseiterin fühlte, denn ich war damals das einzige »Scheidungskind« in meiner Klasse. Für meine Oma (die Mutter
meiner Mutter) war es eine Schande, dass sich ihre Tochter scheiden
ließ. Diese Schande sah ich auch auf mir lasten.
36
6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Ich war in der Schule plötzlich ein Kind, dass oft nicht mehr mitreden konnte. – Ich hatte keinen Vater mehr! – Meine Familie war für
die anderen Kinder »unnormal«. Dadurch war auch ich, so glaubte
ich zumindest, »unnormal«. – Schon mit den einfachsten Hausaufgaben hatte ich Probleme, wie z.B. im Deutschunterricht zu schreiben,
was ich in den Ferien mit meinen »Eltern« unternommen hätte. Ich
hatte keine Eltern in dem Sinne mehr – und hinzu kam, dass meine
Mutter (gesundheitlich und finanziell) oft nicht in der Lage war, mit
uns Kindern etwas zu unternehmen.
Bereits in der Grundschule fiel mein Talent zum korrekten Schreiben
und genauen Zeichnen auf. Zu meiner ersten Kurzgeschichte – sie
hieß »Sahra« und handelte von einem kleinen Mädchen, das mithilfe
eines fliegendes Pferdes nachts in Fantasiewelten reiste – befragte
die Lehrerin meine Mutter, ob ich diese Geschichte allein, also ohne
fremde Hilfe geschrieben hätte. Auch zu meiner ersten Zeichnung eines Stilllebens – die gekonnte Umsetzung der Schatten war dabei das
Herausforderndste – wurde meine Mutter ebenso von der Lehrerin
gefragt, ob ich dieses Bild allein gezeichnet hätte.
Schon als kleines Kind träumte ich davon, eines Tages »berühmt«
zu sein und vielen Menschen etwas von mir zu zeigen. Mein erster
Berufswunsch war Sängerin. Ich lernte deutsche und englische Songs
auswendig und sang sie meiner Mutter in der Küche vor. Ich glaube, ich war dabei sehr hartnäckig, ein »Nein« von ihr hätte ich nicht
akzeptiert. Ich freute mich und war sehr stolz, wenn sie mich lobte.
Später dann wollte ich Schriftstellerin werden. Eifrig schrieb ich an
meinen Märchen und Geschichten und war fest davon überzeugt,
dass ich schon schreiben konnte wie eine »große Schriftstellerin«.
Auch dafür musste meine Mutter herhalten, denn ich las ihr immer
meine neuesten Werke vor. Manche umfassten mehrere A4-Seiten
und ich muss heute lächeln und bin von Freude erfüllt, wenn ich
erkenne, wieviel Geduld und Zuspruch mir meine Mutter in diesen
Momenten entgegengebracht hat. – Mit etwa zehn Jahren hörte das
auf. Ich sang und las meiner Mutter nichts mehr vor und ich zeigte
ihr auch keine meiner Zeichnungen mehr. Ich glaubte, sie mit solchen Kinderspielchen nicht mehr belästigen zu dürfen, da sie so viele
Erwachsenen-Sorgen hatte und immer depressiver wurde.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Ja, ich war gern Pionierin.
Man bezeichnete mich als redefreudig? Interessant! Ich erinnere
mich, dass es mir sehr schwer fiel, während des Unterrichtes nicht
mit den Kindern um mich herum zu reden. Daher hatte ich im Fach
»Betragen« immer eine Zwei.
Diese erwähnte Redefreudigkeit wandelte sich aber innerhalb der
nächsten Jahre in tiefes Schweigen, in Rückzug, in Unsichtbarkeit.
Ich galt später auf dem Gymnasium als schüchtern, kompliziert und
introvertiert.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Eine Urkunde erhielt damals in der DDR jeder Schüler, der sehr gute
Leistungen erzielte. Meine Mutter platzte natürlich vor Stolz. Während meiner Grundschulzeit zeigte sie oft anderen Menschen meine
Zeugnisse und betonte, wie intelligent ich doch sei, wie stolz sie auf
mich sei. Für mich war das sehr verwirrend, denn auch sie lebte
damit ein Doppelleben: draußen Lob, drinnen Schläge.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Sie war manchmal nächtelang weg und ich war allein mit meinem
kleinen Bruder, der ja fast noch ein Baby und ebenfalls sehr häufig
krank war. Sie hatte zwar Nachbarn beauftragt, regelmäßig nach
uns zu schauen, doch das wusste ich nicht und ich kann mich auch
nicht daran erinnern, dass Nachbarn nach uns geschaut hätten. Als
ich eines Nachts oder frühen Morgens erwachte und unsere Mutter
nicht da war, holte ich meinen Bruder aus dem Bett und betrachtete
mit ihm weinend und verzweifelt unsere Familienphotos. Ich glaubte tatsächlich, unsere Mutter hätte uns verlassen, würde niemals
wieder zu uns zurück kommen und wir seien nun für immer mutterseelenallein. Es kam mir vor wie endlose Stunden. Als sie dann
endlich doch nach Hause kam und wir freudestrahlend, erleichtert
und sehnsüchtig auf sie zuliefen, erhielt jeder von uns eine Ohrfeige
mit der Anweisung, sofort wieder ins Bett zu gehen.
Letztlich, das spürte ich damals schon, war meine Mutter überfordert – überfordert mit sich und ihrem Leben – und zusätzlich überfordert mit der alleinigen Verantwortung für zwei kleine Kinder;
eines davon ich: ein kluges, begabtes und hochsensibles Kind, als das
ich mich immer mehr herausstellte.
Als ich erwachsen war, erzählte mir meine Mutter, dass sie sich Vorwürfe machte, mich nicht genügend gefördert zu haben (im Zeichnen, Musizieren, Sport, Schreiben, Singen, Fremdsprachen, uvm). Sie
wusste einfach nicht, wie sie das hätte finanzieren sollen.
Natürlich tat es ihr auch unendlich leid, dass sie uns geschlagen
hatte. – Schon in meiner Kindheit hatte sie mich nachts oft aus dem
Bett geholt und sich unter Tränen bei mir entschuldigt, wenn sie
mich tagsüber wieder verprügelt hatte. Ich wurde in diesen nächtlichen Momenten irgendwann eiskalt wie ein Stein, denn ich erfuhr ja
am eigenen Leib, mitunter schon am nächsten Tag, dass sie trotzdem
mit dem Schlagen nicht aufhörte. – Oft hatte sie mir später in Briefen
geschrieben, wie gern sie dazu bereit gewesen wäre, all mein Leid
auf ihre Schultern zu nehmen. Dabei hatte sie selbst genug Leid aus
ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Kindheit und Jugend zu tragen, die ebenfalls von Gewalt und Alkoholismus geprägt waren.
Heute weiß ich: Sie hat ihr Bestmögliches gegeben. Trotz allem: Sie
liebte uns.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Als guter Pionier und bewegungsfreudiges Kind nahm ich regelmäßig an Sportwettkämpfen teil und war gar nicht so schlecht. Damit
wurde mir wieder Ehre und Anerkennung zuteil, was ich so sehr
brauchte, um zuhause zu überleben.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Wieder einer der vielen Sportwettkämpfe, an
denen ich teilnahm. Sie waren ein wichtiger Teil
meines Lebens.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Ich, etwa in der zweiten Klasse: ein unauffälliges,
freundliches, fleißiges Kind.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Oh je, das Schwimmlager in den Sommerferien vor der dritten Klasse. Ich hatte Angst vor Wasser und meine Mutter war der Ansicht,
ein Schwimmlager sei gut für mich, damit ichs dann in der dritten
Klasse, wenn Schwimmen offiziell zum Unterricht gehörte, leichter
habe. – Ich lernte gut schwimmen, die Taufe aber habe ich nicht als
angenehm in Erinnerung. »wild« ist wohl nur in meinem Taufnamen
enthalten, weil ich mich so sehr gegen das »Tauf-Ritual« gewehrt
habe.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Ich betrachte manchmal diese Urkunde und versuche mich zu erinnern. Aber ich erinnere mich einfach nicht daran, mit acht Jahren an
einem Herbstcross teilgenommen und sogar den zweiten Platz belegt
zu haben.
Traumatisierungen können zu Erinnerungslücken führen. Im Alter
von fünf bis zehn Jahren war meine Kindheit besonders schwer. Mit
sieben oder acht Jahren war ich vor ein Auto gelaufen – als Hilferuf,
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
weil ich vom neuen Partner meiner Mutter in einer »Dunkelkammer« (wie ich sie nannte) eingesperrt wurde. Das Auto (ein gelber
Wartburg) erwischte mich damals in Steißbeinhöhe. Ich lief panisch
vor den Menschen, die mir helfen wollten, weg, litt tagelang unter
Schmerzen und blutigem Stuhlgang und erzählte niemandem davon.
Meiner Mutter erzählte ich es erst, als ich schon 16 Jahre alt war.
Sie war geschockt und weinte. Erst Ende 2000 wurden die damals
entstandenen Schäden an meiner Wirbelsäule entdeckt (in Form von
Vernarbungen).
Ich erinnere mich noch sehr genau, dass meine Mutter mich während meiner Jugend mehrmals im Jahr gefragt hatte, ob mir denn
während der Zeit mit ihrem damaligen Partner etwas Schlimmes
passiert gewesen sei, ob ich Erinnerungen an etwas hätte. Ich war
verwundert, warum sie fragte, musste immer verneinen, verschwieg
aber, dass ich das Gefühl nicht los wurde, dass da ein dunkles Geheimnis verborgen lag. Und als ich meiner Mutter mit etwa Anfang
20 Jahren gestand, dass ich psychische Probleme hatte und litt, war
ihre prompte Antwort: »Also doch. Ich ahnte es. Er hat dich sexuell
missbraucht.« Ich nahm dies damals zwar noch nicht allzu ernst, still
und leise aber wucherte diese Vermutung meiner Mutter wie ein
Krebsgeschwür in mir.
Meine Erinnerungslücke erstreckt sich im Grunde über meine ersten
elf Lebensjahre. Mit elf Jahren hatte ich begonnen, ein Tagebuch zu
führen. Mein Leben davor habe ich nur in verwirrenden, oft schwer
zuordenbaren Bruchstücken oder schwer greifbaren Bildern in
Erinnerung. Damals, mit elf oder zwölf, konnte ich mich noch mehr
an mein Leben davor erinnern, aber ich erinnere mich heute, dass ich
einfach nicht die Kraft dazu hatte (und ich mich unsäglich schämte),
das Erlebte ins Tagebuch zu schreiben. Und auch in den darauffolgenden Jahren konnte ich vieles, was ich noch erlebte, nicht aufschreiben – sondern nur vergessen, um nicht daran zu zerbrechen.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Auch an diesen Instrumentalistenwettstreit kann
ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, ich spielte
während der Grundschule Blockflöte (auch mit
Soloauftritten in der Schule, in Seniorenheimen, in
Krankenhäusern – wie es Pioniere damals taten)
und ich spielte Querflöte in einem Spielmannszug.
Meine Mutter war jedes Mal sehr stolz, wenn ihre
Tochter während der vielen Stadtfeste, die eine
Mittelalter-Stadt so hat, bei den Straßenzügen mit
dabei war.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Ich (links vorn) während einer Klassenfahrt in der
dritten Klasse. Nur die Photos erinnern mich daran. – Ich selbst habe keine Erinnerung.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Das Ende der Grundschule … und auch der DDR.
Ab der fünften Klasse wurde man ein Thälmann-Pionier und das bis
dahin blaue Halstuch wurde durch ein rotes ersetzt. Aufgrund der
Wende habe ich diesen Status nicht erreicht, was ich damals sehr bedauerte. Denn ich war gern Pionier. Pionier sein bedeutete für mich
in erster Linie Hilfsbereitschaft (vor allem Schwächeren und Kranken gegenüber), freiwillige gemeinnützige Arbeit, Verantwortung,
Güte, Freundlichkeit und Zusammenhalt.
Ich habe die Wende übrigens nicht als positives Ereignis in Erinnerung. Meine Mutter und andere Familienmitglieder wurden
arbeitslos, da in kurzer Zeit viele Fabriken und Firmen geschlossen
wurden. Für meine Mutter begannen damit die finanziellen Sorgen,
auch, weil zugleich alles teurer wurde.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
Mit diesen Noten war klar: Die fünfte Klasse würde ich an einer
neuen Schule – einem Gymnasium – beginnen (müssen); für mich
eine große beängstigende Veränderung, denn ich verließ einen sicheren Hafen und wusste nicht, ob mich der neue ebenso beschützen
würde.
Nur ein Jahr später – mit zehn Jahren – bekam ich zum ersten Mal
meine Periode. Meine Mutter hatte mich zwar bereits darüber aufgeklärt, aber ich war zutiefst erschüttert. Sie sagte stolz: »Nun Melly,
wirst du zu einer Frau!«, und meinte es sicherlich gut. Aber ich wollte gar keine Frau werden. Ich wollte Kind bleiben. Ich sehnte mich
danach, weil meine Kindheit bereits mit etwa sechs Jahren beendet
war und ich mich Herausforderungen (vor allem psychisch) ausgeliefert sah, die mich schneller hatten erwachsen werden lassen. Ich
war zu diesem Zeitpunkt innerlich längst kein Kind mehr, was sich
auch darin zeigte, dass ich mich unter Gleichaltrigen sehr unverstanden und verloren fühlte.
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Nach und nach wurde die Konditionierung immer
stärker und nahm ein solches Ausmaß an, dass ich
nicht nur die Last akzeptierte, als bestimmter Körper
geboren worden zu sein, sondern auch, dass ich eines
Tages »sterben« würde; und das Wort »Tod« wurde zu
einem Grauen, zur Vorankündigung eines schrecklichen
Erlebens.
Ramesh S. Balsekar
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6 – 10 Jahre / Grundschulzeit
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Dies war meine letzte Teilnahme an einem Sportwettbewerb, denn
als ich etwa zwölf Jahre alt war, wurde die Scheuermann’sche
Krankheit bei mir diagnostiziert, eine Wirbelsäulenerkrankung, die
in der Regel nur im Jugendalter auftritt. Die Ärzte prognostizierten
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
mir ein Leben im Rollstuhl, was für mich ein enormer Schock war
und mit dazu beitrug, dass ich glaubte, nicht sehr alt zu werden. Es
folgten Jahre, in denen ich durchgehend zur Physiotherapie gehen
musste, um keinen – so sagte man mir – Buckel zu bekommen.
Ab diesem Zeitpunkt traten also meine seelischen Schmerzen in
Form von körperlichen Schmerzen langsam zutage. Diese Erkrankung hatte zur Folge, dass ich vom Schulsport befreit wurde und ich
während des Sportunterrichts auf der Bank sitzen (oder dem Lehrer
assistieren) musste. Wieder fühlte ich mich durch die äußeren Umstände wie ein Außenseiter.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Einsamkeit
Ich gehe durch leere Straßen.
Ich bin allein.
Allein an diesem Abend.
Der Mond verschwindet hinter den Wolken.
Die Straßenlampen flackern.
Sie erlöschen.
Ich stehe im Dunkeln.
Ich habe Angst.
Angst vor dem ewigen Dunkel.
Angst vor der Einsamkeit.
1994
Während der Grundschulzeit hatte ich viel Zeit damit verbracht,
Geschichten und Märchen zu schreiben, die aber leider alle verloren
gegangen sind. Das änderte sich Anfang der 90er Jahre:
Dies ist das älteste Gedicht von mir, was ich noch habe. Ich war
zwölf Jahre jung, als ich es schrieb.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Die 90er Jahre waren der Beginn meines Schreibens von Gedichten
(manchmal 30 Stück pro Monat) und (vorerst) das Ende des Schreiben von Geschichten und Märchen. Die Gefühle in mir mussten raus
– zunehmend mehr in verschlüsselter, heimlicher, metaphorischer
Form, denn ihr direkter Ausdruck hätte mich zu sehr gequält. Ich
schrieb vor allem auch selbst, weil ich in den dicken Gedichtbänden,
die ich mir in der Bibliothek ausgeliehen hatte, keine Gedichte fand,
zu denen ich hätte sagen können: »Ja, so geht es mir auch. Ja, in diesen Worten fühle ich mich erkannt.«
Damals ahnte ich noch nicht, dass das Schreiben eine große Bedeutung in meinem Leben einnehmen würde – dass es mich bis heute
begleiten und für viele befreiende Glücksmomente sorgen würde.
Samstag, 08.01.1994
Es ist Sonnabend und am Montag ist schon wieder Schule. Ich habe
schreckliche Angst, es eines Tages nicht mehr zu schaffen und meine
Familie zu enttäuschen. Am Dienstag schreiben wir eine Französischarbeit. Ich habe noch nicht gelernt. Die letzten Tage hatte es
andauernd geregnet und viele Städte wurden überflutet. [...] In
Sydney, Australien, ist es sehr heiß. Viele Häuser brennen, auch der
Regenwald.
Ich hoffe, dass die Menschen bald vernünftig werden und aufhören,
die Welt zu zerstören. Wer leidet sind ja meistens die Kinder, die gar
nichts damit zu tun haben.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Krieg
geschrieben 1994
Traurig sitze ich am Fenster und schaue zu, wie die Regentropfen an mein
Fenster schlagen und langsam hinabfließen. Ich höre das Plätschern nicht,
sondern die Schreie von Kindern und die lauten Schüsse der Kanonen.
Ich schließe meine Augen. Sekundenlang sehe ich schwarz. Als ich meine Augen wieder öffne, zeigt sich vor mir ein Bild des Grauens. Ich sehe
Kinder, die vor einer Horde bewaffneter Männer davon laufen. Blindlings
schießen diese in die Kindermenge. Die Kugeln zerfetzen den Körper eines
Kindes. Tot bleibt es liegen.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
In panischer Angst versuchen die anderen Kinder zu entkommen. Aber aus
dieser Hölle gibt es kein Entkommen. Die angsterfüllten Schreie der Kinder
lassen mir das Blut in den Adern gefrieren. Doch die Soldaten schießen
weiter.
Mit zerschossenen Beinen bleibt wieder ein Kind liegen. Ohne Erbarmen
schießen sie ihm in den Kopf, bis keine Kugel mehr hineinpasst.
Plötzlich ein Knall. Ein blutverschmierter Oberkörper ohne Arme und ohne
Kopf fliegt an mein Fenster, rutscht hinab und lässt eine Blutspur an der
Scheibe zurück. Die Kinder sind verschwunden, stattdessen liegen überall
Menschenteile auf der Straße.
Tränen laufen mir über die Wangen. Diese Kinder waren noch nicht einmal
zehn Jahre alt und trotzdem mussten sie sterben. Die Straßen färben sich
rot. Rot mit dem Blut der Unschuldigen.
Ich kann es nicht mehr ansehen und halte mir die Hände vor die Augen.
Sekundenlang höre ich nichts. Doch dann vernehme ich das Plätschern der
Regentropfen. Ich bin wieder zu Hause. Ich öffne meine Augen und laufe
nach draußen. Kühl und erfrischend läuft mir das Wasser über das Gesicht
und vermischt sich mit meinen Tränen.
»Warum? Warum tut ihr das?«, schreie ich so laut, dass mir die Stimmbänder wehtun. Weinend breche ich zusammen und bleibe auf der Erde
liegen. Mein letzter Gedanke: »Wenn ich doch nur helfen könnte!«
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
In der sechsten Klasse begann ich mit Saxophon-Unterricht. Eigentlich wollte ich Klarinette lernen, doch im Orchester waren bereits
genug Klarinetten, nur ein Tenor-Saxophon fehlte. Da ich mir Noten
lesen bereits selbst beigebracht hatte (auf Block- und Querflöte), lernte ich dieses Instrument und die Stücke fürs Orchester sehr schnell.
Nach etwa zwei Jahren wechselte ich in ein Akkordeon-Orchester
und spielte dort bis zu meinem 18. Lebensjahr Keyboard (dieses
nach Noten und zweihändig zu spielen, hatte ich mir ab meinem 14.
Lebensjahr auch selbst beigebracht).
Die vielen Auftritte in der Öffentlichkeit waren eine wichtige Erfahrung für mich. Auf der »Bühne« fühlte ich mich sicher und stark.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Etwa zur selben Zeit trat ich – entgegen den
Warnungen meiner Ärzte – einem Karate-Verein
bei, wofür ich ebenfalls großes Talent zeigte und
schnell lernte. Hier ließ ich mich von meinem Bruder ganz stolz mit meinen ersten Gurten (weiß und
gelb) fotografieren.
Das lila Kuscheltier heißt übrigens Tarabas – benannt nach einer Figur aus meiner damaligen
Lieblingsfilmreihe »Prinzessin Fantaghiro«.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Wie man auf dem Photo sieht: Ich war von Michael Jackson – seiner
Lebensphilosophie, seiner Weltanschauung – total begeistert und
sammelte alles von ihm, was ich bekommen bzw. bezahlen konnte.
Besonders geprägt hat mich sein Buch »Dancing the Dream. Gedichte und Gedanken«, das mir leider später während des Berufslebens
und den vielen Ortswechseln verloren gegangen ist. Aber ich trage
seine Botschaft »We are one (World)« in meinem Herzen.
Weitere Vorbilder für mich waren damals: Mahatma Gandhi, Mutter
Theresa, Lady Diana und verschiedene Philosophen. Das Buch »Sofies Welt« hat ebenfalls sehr zu meinem damaligen Weltverständnis
beigetragen (Ich war eine Leseratte und verbrachte manche Wochenenden nur mit Lesen).
Meine Vorbilder – meine Lehrer – haben sich mit den Jahren erweitert. Mittlerweile fühle ich mich sehr verbunden mit Khalil Gibran,
Jiddu Krishnamurti, Jesus, Sathya Sai Baba, Rumi, Meister Eckhart,
Meister Kuthumi, Konfuzius, Osho, Eckhart Tolle, Johann Wolfgang
von Goethe, Friedrich Nietzsche, Oscar Wilde, Hermann Hesse, Lao
Russell, uva.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Donnerstag, 07.07.1994
Im Moment verstehe ich mich selbst nicht. Ich raste schnell aus, ich
kann mich nicht bändigen, ich trotze oft, ich widerspreche, ich könnte
meinen Bruder erwürgen, ich könnte immer weinen. Ich bin am
Boden zerstört. Ich möchte weg, weg von meiner Familie, weg von
meinen Freunden, raus aus dieser Stadt.
Ich bin, wie jedes Kind, dazu verdammt, meine nächsten fünf Jahre
auf der Schulbank zu verbringen. Ich will aber nicht mehr. Ich kann
nicht mehr.
Ich komme jetzt schon in die 8. Klasse. Die Zeit, ich hasse sie. Warum
kann ich nicht ein siebenjähriges, unschuldiges Kind sein und für immer bleiben? Ohne Schule, ohne Krieg, ohne Elend und ohne Armut?
Ich mag die Erde nicht.
Ich will nicht erwachsen werden. Die Erwachsenen zerstören die
Erde. Wenn ich auch erwachsen bin, zählt man mich zu ihnen.
Kinder sind die Weisesten dieser Erde. Ich zähle nicht mehr zu ihnen.
Ich bin schon zu erfahren und zu alt. Die Kleinen wissen nichts von
Elend, Krieg oder Armut außer rund 1 Million Kinder. Sie wurden
verdammt, dafür zu leiden, was die Erwachsenen für Fehler gemacht
haben, die sie sich aber nicht eingestehen wollen. Die Kinder wussten
nichts von Elend, bis sie es selber am eigenen Leib gespürt hatten.
Wir Kinder unter 14 Jahren würden niemals auf die Idee kommen,
andere für Geld umzubringen, eine Atombombe über ihnen abzuwerfen oder einen Krieg gegen sie zu führen. Aber nur, wenn die Erwachsenen nicht wären. Sie zerstören das Leben von vielen Kindern,
die ein normales Leben hätten führen können. Aber jetzt müssen sie
betteln, schuften für die Erwachsenen oder mit in den Krieg ziehen.
Während ich dies jetzt alles schrieb, habe ich geweint, denn es ist die
Wirklichkeit. Was ich geschrieben habe, ist die Realität. Und das
schockt mich. Denn in dieser Welt ist niemand mehr sicher!
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Krieg, dass so etwas Grausames und Sinnloses existiert, hat mich
schon immer gequält, was ich in dieser Zeichnung zum Ausdruck zu
bringen versuchte.
Schon früh als Kind, da meine Eltern oder andere Verwandte mich
nicht fortschickten, wenn Nachrichten im Fernsehen kamen, habe ich
von Krieg und Leid erfahren (auch durch meine Oma) und musste
jedes Mal weinen. Es ging mir einfach nicht in meinen Kinderkopf
hinein, warum es Kriege auf der Welt gab. Wer dazu fähig war.
Warum sich niemand dagegen auflehnte. Während meiner ganzen
Jugend verließ ich das Zimmer, egal wo ich war, wenn im TV Nachrichten kamen. Ich konnte das einfach nicht ertragen – diese Gleichgültigkeit; wie neben den Lottozahlen und den Fußballergebnissen
von Kriegen berichtet wurde, als sei das völlig normal.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Samstag, 08.10.1994
Ich hatte andauernd Streit mit meiner Mutter. Sie ist grauenvoll.
Ich wünschte, sie wäre tot – und Sebastian auch. Andauernd muss
man nach ihren Launen leben. Ich wünschte, sie würde versuchen,
mich zu schlagen, dann würde ich mich wehren, aber richtig. Es wird
immer unerträglicher mit ihr. Ich habe schon dran gedacht, abzuhauen – aber wo soll ich hin?
Kürzlich, da wollte sie mir eine Ohrfeige geben, da habe ich sie abgewehrt, richtig hart. Sie sagte: »Wage es ja nicht, deine Hand gegen
deine Mutter zu erheben!« Aber sie darf es!? Ich hätte am liebsten
geantwortet: »Wage es ja nicht, deine Hand gegen deine Tochter zu
erheben!« Aber stattdessen hatte ich mich entschuldigt und einen
Rückzieher gemacht. – Elternteil gewonnen, Kind verloren. – So geht
es bei uns immer aus. Und danach will sie sich wieder einschmeicheln. Keine Entschuldigung von ihr. Sie tut ganz einfach so, als
wäre nichts passiert. Das hasse ich an ihr. [...]
Mutter will ja nicht einmal darüber reden. Und wenn sie es tut,
komme ich nicht zu Wort, denn sie würde dann sagen: »Widersprich
deiner Mutter nicht!«
Wie soll ich das nur aushalten?!
Freitag, 14.10.1994
Im Moment verstehe ich mich mit meiner Mutter wieder etwas
besser. Ich glaube auch nicht, dass jedes Kind seine Mutter immer
durchweg liebt.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Mittwoch, 26.10.1994
Die Ferien sind vorbei und der Horror des Alltages fängt wieder
an. Es macht mich total kaputt, jeden Tag zu lernen. Ich habe totale
Angst abzusacken. Weißt du, liebes Tagebuch, wie das ist? Soll ich es
dir beschreiben? Oh, du gehst mit panischer Angst in die Schule, dir
ist zum Heulen zumute, du denkst an Selbstmord. Aber das würde
ich nicht tun, weil ich dann in meinem nächsten Leben, falls es überhaupt eins gibt, ein schlechteres Leben führen würde als jetzt. Heute
habe ich sogar daran gedacht, Mutters Sekt und Wein zu nehmen
und mich zu betrinken. Wie findest du das?
Sonntag, 30.10.1994
Es ist kaum zu glauben, was heute Nachmittag geschehen ist. Mein
Vater hat heute angerufen. Irgendwie war ich froh, dass er uns die
letzten zwei Jahre in Ruhe gelassen hat. Aber jetzt, als er anrief, war
mir bewusst geworden, wie sehr mir ein Vater fehlt. Meine Mutter
war ans Telefon gegangen und sie redeten über Unterhalt und alltägliche Dinge. Er will mich nächste Woche besuchen. Ich weiß nicht,
wie ich mich verhalten soll. Nach zwei Jahren werden wir zum ersten
Mal wieder miteinander reden. Irgendwie ist er mir fremd geworden.
Ich kann nicht normal mit ihm reden wie mit meiner Mutter. Aber
ich wünsche mir ein besseres Verhältnis zu ihm.
Einmal habe ich meine Halbschwester gesehen, dabei bin ich mir gar
nicht so sicher, ob sie es überhaupt war. Da war ich in der Stadt mit
ein paar Freunden. Die Kleine lief einfach an mir vorbei und ihre
Mutter sagte: »Mach den Leuten Platz, Susanne. Der Fußweg ist für
alle da.« Susanne (Name geändert), so heißt Papas Tochter von seiner
neuen Freundin. Und das kleine Mädchen, das an mir vorbeilief,
ohne mich zu beachten, war in ihrem Alter. An ihre Mutter kann ich
mich nicht mehr gut erinnern. Ich habe sie nur einmal gesehen, und
das war vor vielleicht vier Jahren, als sie mich auf meinem Schulweg
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
abpasste und versuchte, mich in ihr Auto zu locken. Ich war damals
weggerannt. In der Stadt hatte ich die Mutter der Kleinen nicht so
beachtet, hätte ich wohl besser tun sollen?! Vielleicht war sie es ja.
Ich hoffe nur, mein Vater ist mir nicht zu fremd geworden.
Mittwoch, 02.11.1994
Es ist fünf vor um elf. Vor einer halben Stunde ist mein Vater gekommen. Ich schwänze die Schule, nur um ihn einmal zu sehen. Als er
kam, haben wir uns die Hände geschüttelt. Das tat mir ziemlich weh.
Nicht sein Händedruck, sondern die Tatsache, dass wir uns nicht
mehr umarmen. Vor vier Jahren haben wir uns noch umarmt, aber
das war damals. Ich glaube nicht, dass ich mich je wieder mit ihm so
verstehe wie vor sieben Jahren.
Im Moment sitzt er mit Mutti in der Küche und trinkt Kaffee, während sie sich unterhalten. Er versucht bestimmt, sie zu überreden,
die Pfändung einzuziehen. Aber das wird sie nicht machen, denn er
zahlt den Unterhalt nie pünktlich. Ich glaube sogar, er führt was im
Schilde. Er wird bestimmt alles tun, um das Geld nicht bezahlen zu
müssen.
Es ist halb zwölf. Papa ist eben gegangen. Ich glaube, er spielt mir
was vor. Er tut so, als würde er mich noch lieben, doch dann hätte er
sich schon eher blicken lassen müssen.
Alle zwei Jahre mal vorbei zu schauen, ist ziemlich unverschämt. Er
platzt einfach rein und in meinem Kopf stürzt alles wieder zusammen, was ich jahrelang aufgebaut hatte. Ich dachte, ich würde ihn
nicht mehr lieben, aber ganz so ist es nicht. Klar, richtig liebe ich ihn
nicht, aber es tut trotzdem weh, wenn ich sehe, wie er wieder geht.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Die letzten Tage habe ich oft geheult und mich gefragt, warum wir
nicht auch eine richtige Familie sind. Mit Mutter und Vater, die
sich nicht streiten. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann
sich meine Eltern mal nicht gestritten hatten. Ich lag immer im Bett
und konnte alles hören. Sie hatten Geldprobleme. Papa wollte uns
ein Haus bauen, aber ihm wurde der Zement, und was man noch für
ein Haus brauchte, gestohlen. Seltsam, denn bei den beiden Häusern
daneben, die auch noch nicht fertig waren, wurde nichts gestohlen.
Jedenfalls hatte er kein Geld, um neues Material zu kaufen. Ich weiß
nicht, ob sie sich noch über mehr gestritten hatten, ich war ja gerade
mal fünf oder sechs. Aber mein Vater ist schließlich abgehauen zu
seiner Mutter. Mutti und ich saßen damals in der Stube und hatten
geweint – ganz lange. Daran kann ich mich noch erinnern.
Ich liebte meinen Vater abgöttisch, mehr sogar als meine Mutter.
Jetzt ist es umgedreht, und ich glaube, es wird immer so bleiben.
Montag, 23.01.1995
Früher dachte ich, Gott hätte an mir einen Fehler gemacht. Ich habe
sehr viele Talente, um die mich viele beneiden, und dafür danke ich
Gott, ob er mich hört oder nicht. Aber ich glaube nicht, dass man
kirchlich sein muss, um von Gott gehört zu werden. Ich dachte jedenfalls, dass ich eine lange Nase hätte, da mich viele deswegen hänselten. Ich stand vor dem Spiegel und fragte: »Warum, warum hast du
mir so viel Gutes gegeben, nur an meiner Nase hast du einen Fehler
gemacht? Ist es etwa meine ewige Prüfung fürs Leben?« Am Anfang
dachte ich so, denn die Hänseleien taten mir ziemlich weh und sie
zerstörten fast vollständig mein Selbstvertrauen, was ich bis heute
noch nicht wieder aufgebaut habe. Doch nach einiger Zeit flauten die
Beschimpfungen ab und ich bekam Komplimente wegen meiner Haare. Ich konnte es natürlich nicht glauben. Erst hässlich, dann schön?
Geht das? Es kamen aber immer mehr Komplimente. Ein paar auch
67
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
wegen meiner Augen. Wenn ich jetzt vor dem Spiegel stehe, mache
ich Gott keine Vorwürfe mehr, obwohl ich mich immer noch wegdrehe, wenn Jugendliche an mir vorbei laufen, denn ich fange dann
wieder an zu denken, sie würden mich hänseln. Tun sie aber nicht. Je
mehr danke ich Gott für das, was er mir gab.
Dienstag, 24.01.1995
Ich glaube in meinem Alter versteht sich jeder nicht so gut mit seiner
Mutter. Ich liebe sie. Aber wir sind immer total gereizt, gegenseitig
lassen wir es dann raus. Wir schreien uns an. Ich verkrieche mich
dann in mein Zimmer oder in mein Bett, so wie jetzt, und weine,
höre Musik oder schreibe Tagebuch. Ich liebe sie wirklich sehr, aber
irgendwas verbietet mir – irgendetwas in mir selbst – sie zu umarmen, Zuneigung ihr zu bieten, ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe.
Eben kam sie rein und sie gab mir nichtmal einen Gute-Nacht-Kuss,
wie sonst immer. Es ist traurig.
Ich wünsche mir, noch einmal klein zu sein, und im Ehebett zwischen
meinen Eltern zu schlafen – zu wissen, dass sie mich beschützen.
Von Vater bekomme ich schon jahrelang nicht mehr die Liebe und
Zuneigung, die er mir früher gab. Warum können wir nicht wie eine
normale Familie leben in unserem eigenen Haus mit Garten und
Hund und Katze? Es ist ein schöner Traum, nicht wahr? Und ich
werde ihn mir bewahren, um ihn meinen Kindern zu erfüllen.
Donnerstag, 26.01.1995
Meine Rückenschmerzen haben zugenommen und meine Reserven an
Tränenflüssigkeit scheinen schon verbraucht zu sein.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
In meiner Klasse habe ich keine richtige Freundin. [...] Aber an wen
kann ich mich wenden? Ich weine, wenn ich daran denke, wie mein
Verhältnis mit den Anderen früher war. Entweder habe ich mich
verändert oder sie. Sie verstehen mich nicht. Unterhalte ich mich mit
ihnen, putzen sie mich richtig runter, so als wäre ich unter ihrem
Niveau. Ich weiß nicht, was ich falsch mache?
Mit Mutter verstehe ich mich eigentlich außer ein paar kleinen Meinungsverschiedenheiten. Ich habe gelernt, ihr jetzt einfach aus dem
Weg zu gehen, wenn sie nicht gut drauf ist, um Streit zu vermeiden.
Ich sehne mich nach einer Freundin, an deren Schulter ich mich
lehnen kann, die meine Probleme versteht und mir meine Fehler ins
Gesicht sagt, anstatt hinter meinem Rücken über mich zu quatschen.
Mit meiner Mutter kann ich nicht über sowas reden. Sie sieht es aus
ihrer Erwachsenen-Sicht: »Das geht alles wieder vorbei. Ich hab das
auch schon hinter mir.« – Das ist mir keine Hilfe. Ich kann diese
Worte schon auswendig.
Mir ist auch aufgefallen, dass ich schwer über meine Probleme reden
kann. Ich komme mir da immer so blöd vor. Ich habe mal gehört, wer
über seine Gefühle offen reden kann, ist mutig. Demnach bin ich
feige. Ich verschließe mich. Baue eine Wand um mich.
Freitag, 10.02.1995
Im Kerzenlicht zu schreiben, zu lesen oder Musik zu hören, liebe
ich über alles. Aber ich muss dabei allein sein. Dann ist so eine
schöne Atmosphäre im Raum. Ich schaue manchmal einfach nur in
die Flamme und lasse mir Teile meines Lebens wie einen Film vor
meinen Augen ablaufen. Es kam so oft vor, dass ich weinte. Ich weine
gern. Allein! Blicke ich in eine Kerzenflamme am Abend, überfällt
mich immer gleich tiefe Trauer. Der Glanz bringt mich in Trance. Ich
spüre dann, wie mein Körper sich entspannt oder mein Geist aus ihm
entweicht. Es tut mir leid, ich kann es nicht besser erklären.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
1995 – Meine Jugendweihe mit 14 Jahren.
Kurz davor hatte ich im Schoß meiner Mutter bitterlich geweint,
denn ich wollte nicht erwachsen werden, wie man auch in meinem
Tagebuch lesen kann. – Ich wollte nicht in diese Gleichgültigkeit fallen, in die offenbar alle Kinder automatisch fallen, wenn sie erwachsen werden.
Es verwundert mich heute nicht mehr, dass ich in der Nacht vor
meiner Jugendweihe furchtbare Alpträume hatte und am Morgen
mit einer schweren (meiner ersten und bis heute einzigen) MagenDarm-Grippe erwachte. Den Tag überstand ich nur mit vielen Tabletten. Am nächsten Tag, nachdem das Ende meiner Kindheit und
der Beginn meines Erwachsensein gefeiert worden war (vorwiegend
von den Erwachsenen meiner Familie), waren alle Symptome wie
weggeflogen.
70
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
1995 – 50 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges.
In diesem Jahr liefen viele Reportagen und Dokumentationen im
Fernsehen.
Ich habe mir fast alle angesehen – oft bis in die frühen Morgenstunden. Ich sah Berichte über die KZs Auschwitz, Buchenwald und
Treblinka (auch in französischer Sprache) – zu allen machte ich mir
71
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Notizen. Ich sah stundenlang die halbtoten, fast komplett verbrannten Überlebenden der Atombomben-Abwürfe von Hiroshima und
Nagasaki. Ich sah die Zerstörung und das Leid der Bombenabwürfe
über deutschen Städten. Ich sah »Horrorfilme«!
Ich habe geweint, so viel geweint, so unendlich viel geweint, bis
mein Körper schmerzte. Ich konnte nicht verstehen, dass ich in einer
Welt lebte, in der es »so etwas« (dafür fehlten mir die Worte) gab.
Ich fragte mich: Wie konnten / können Menschen dazu fähig sein?
Warum wurde und wird das zugelassen? Müssten nicht alle Menschen schreiend aufspringen, täglich darin bestrebt, solche Verbrechen zu beenden? Warum aber schwiegen alle?
Ich war schockiert, in was für eine Welt ich da bloß hineingeboren
worden war.
Ich spürte innerlich, dass die Menschheit diese Welt und damit sich
selbst zerstörte! Was für ein Wahnsinn! – und ich mittendrin, denn
ich war ebenso Mensch und damit logischerweise ebenso gefährdet,
diese Krankheit namens »kollektiv-suizidalen Wahnsinn« in mir zu
tragen.
Die Schule weiterhin ernst zu nehmen, mich auf den Lernstoff, die
Prüfungen und meine kleine persönliche Berufs-Zukunft vorbereiten
zu müssen, war wohl das absurdeste, was man von mir – die den
»Untergangsschmerz« dieser Welt fast körperlich zu spüren glaubte
– verlangen konnte. Doch ich meisterte es – noch – denn ich lernte
langsam die Vorzüge des Verdrängens kennen.
Doch fragte ich mich stets: Wozu persönliches Glück anstreben,
wenn die Welt unterging?
72
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Donnerstag, 22.06.1995
So langsam glaube ich, ich würde meine Persönlichkeit verlieren.
Ich habe heute meine Orangegurt-Prüfung abgelegt, aber ich kann
mich nicht freuen, denn der Sattel meines Fahrrades wurde geklaut
und ich weine öfter. Ich weiß auch nicht mehr, woran ich bei meinen
Freundinnen bin und mache es mir egal.
Ich bete jeden Abend zu Gott und doch tue ich bestimmt noch Dinge
im Alltag, die Gott nicht passen. Warum sonst wurde mein Sattel
gestohlen und nicht der von anderen? Andere Fahrräder standen
genau neben meinem.
Naja, im Moment ist mir alles gleichgültig. Ich wünschte, ich wäre
eine Schnecke, dann könnte ich mich in meinem Schneckenhaus verkriechen. Ich habe so sehr das Bedürfnis danach.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Anfang Juli 1995 nahmen mich zwei Tanten und zwei Onkel mit
ihren Kindern (also mit einer meiner Cousinen und einem meiner
Cousins) für zwei Wochen mit nach Dänemark. Das ist der einzige
wirkliche Urlaub in meiner Jugend, den ich auch als »Urlaub« in
Erinnerung habe.
Natürlich, wir (meine Mutter, mein Bruder und ich) hatten relativ
häufig meinen Onkel in Frankfurt oder meinen Onkel in Cottbus
besucht, oder wir besuchten Freizeitparks in Deutschland, aber von
der Welt hatte ich dadurch noch nicht viel gesehen (außer die Zerstörung in den TV-Nachrichten).
Auch während dieser zwei Wochen in Dänemark, obwohl ich mit
Familienmitgliedern dort war, die mich liebten, fühlte ich mich
einsam und unverstanden. Ich hatte mich oft zurückgezogen, habe
viel Tagebuch geschrieben, habe oft die Sonnenuntergänge fotografiert und über den Sinn des Lebens gegrübelt. Ich fühlte mich nicht
dazugehörig, denn es waren zwei intakte Familien (Vater, Mutter,
Kind) – und ich, ohne meinen Bruder, ohne meine Mutter, ohne
meinen Vater. Ich fühlte mich sehr familienlos, was meine Tanten,
Onkel sowie meine Cousine und mein Cousin nur schwer verändern
konnten, auch wenn sie sich noch so sehr bemühten.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Mittwoch, 12.07.1995
Ich habe mein Tagebuch eben durchgelesen, und ich muss sagen, meine Launen und Gefühle sind von Eintrag zu Eintrag verschieden.
Ich bin immer das dritte Rad am Fahrrad, das war ich schon in der
Grundschule mit anderen Mädchen. Hier in Dänemark bin ich es
wieder. Meine Cousine und mein Cousin verstehen sich sehr gut. Ich
habe mich die ganze Zeit zurück gezogen, wie ich es immer mache.
Ich stecke immer alles ein und wehre mich nicht.
Ich bin sehr gern allein und schreibe Gedichte, meine Gedanken oder
Geschichten auf. Alles, was ich geschrieben und gezeichnet habe, will
ich eines Tages mal veröffentlichen.
Ich erfreue mich an kleinen Dingen, an denen die Anderen sich nicht
mehr erfreuen können, sie haben es verlernt. Ich habe jeden Abend
den Sonnenuntergang beobachtet, er ist faszinierend, ein Schauspiel
überwältigender Pracht. Es ist Vollmond, ich habe ihn mir angeschaut und ich sehe auf ihm ein trauriges Gesicht. Von ihm bin ich
immer fasziniert. Ich liebe es, wenn der Wind um meinen Körper
weht und die Gräser rauschen. Ich beobachte die Schwalben und
freue mich für sie, dass sie fliegen können. Ich bin glücklich, wenn
es regnet und die Erde mit ihren vielen Pflanzen eine Erfrischung
bekommt. Ich beobachte Menschen und freue mich mit ihnen, obwohl
ich sie gar nicht kenne. Ich liebe die Erde und das Leben über alles.
Ich bin froh, dass ich leben darf, und ich bin glücklich, wenn ich
weine.
Auch wenn ich im Moment keine beste Freundin habe, so ist es mir
doch schon genug, an die schönen Zeiten zu denken. Man sollte immer eine positive Ausstrahlung haben, was ich zwar nicht habe, aber
das macht nichts.
Wenn ich mich zurück ziehe, denken immer alle, ich wäre krank oder
traurig, dabei bin ich nur glücklich, auch wenn es nicht so aussieht.
Ich lasse meinen Gedanken gern freien Lauf.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
PS: Ich denke noch nicht lange so positiv, aber seit ich so denke, fühle
ich mich freier. Meine Liebe für alles und meine Faszination für so
viele Dinge vereinige ich in meinen Gedichten und Geschichten. Ich
habe Gedichte über Mutti, Bastian und Papa geschrieben, und jedes
Einzelne drückt auf seine eigene Art meine große Liebe zu ihnen aus.
Gedichte über Leben und Erde schreibe ich oft, sie sind traurig, direkt
und mahnend.
Seit ich an Gott glaube, weiß ich, dass man das Leben auskosten muss
und den Charakter positiv gestalten soll.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Gottes Meisterstück
geschrieben 1995
Im Weltall gab es eine wunderbare Welt, entstanden aus Staub durch
Gottes Hand, dem Allmächtigen. Er erschuf diese Welt als Paradies für die
Lebewesen, die in ihr lebten. Diese Lebewesen erschuf auch er und sie sollten sein Meisterstück werden. Doch gedachte er nicht der Hand des Bösen,
die seine Kreaturen zu Unheil und Gewalt verleiten würden.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Geistige Individuen erschuf er und sie waren ihm treu und untertan.
Darauf erschuf er körperliche Individuen, welche die geistigen Erschaffungen nicht sehen oder hören konnten. Ihnen schenkte er einen der schönsten
Planeten, die er je geschaffen hatte, damit sie sich unter seiner Regierung
entfalten konnten.
Doch das Böse verleitete sie, ihre eigene Regierung zu sein und auf das
Wort Gottes nicht zu hören. In ihre Gefühlswelt kamen Hass, Neid, Egoismus, Wut und Streitsucht dazu, Dinge, die Gott ihnen nicht gab. Auch
in ihrem Verhalten veränderte sich einiges: Habsucht, Gewalt, Zerstörung und Feindseligkeiten verbreiteten sich unter ihnen. Leiden mussten
deswegen nicht nur sie, sondern auch ihr von Gott geschaffenes Paradies.
Es wurde Stück für Stück zerstört. Übrig blieben Kriege, Hungerepidemien
und Seuchen.
Unbeschreibliche Qualen musste ihre Natur durchstehen, doch es dauerte
nicht lange, bis sie sich wehrte. Sie schickte riesige Flutwellen auf Gottes Geschöpfe, Erdbeben kostete Millionen das Leben, Vulkanausbrüche
zerstörten Hunderte von Dörfern und Städten, Dürre verbreitete sich auf
großen Weiten dieser Welt, Orkane machten des Menschen Bauwerke dem
Erdboden gleich und Hitze ließ ihre Häuser brennen.
Viele Tierarten, die auf dieser Erde lebten, wurden ausgerottet wegen ihres
Felles oder anderen Teilen ihres Körpers, welche dem Menschen viel Geld
einbrachten. Auch vor ihren Regenwäldern machten sie nicht Halt. Erbarmungslos fällten sie die gigantischen Bäume, welche schon Hunderte von
Jahren auf dieser Welt weilten. Respekt vor anderen hatte die Menschheit
nicht, nicht einmal vor dem Allmächtigen Gott und sich selbst.
Da wurde Gott bewusst, dass es nicht so weiter gehen konnte und er musste
dem Tun seiner Kreaturen ein Ende bereiten. Viele Engel schickte er zu
ihnen, um ihnen die Augen zu öffnen über ihr falsches Handeln. Doch sie
reagierten nicht, und ihm war klar, er musste sein Meisterstück vernichten
und nochmal von vorn beginnen.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Dienstag, 01.08.1995
Ich habe eben den Film »Prinzen für einen Sommer« im Fernsehen
gesehen. Darin geht es um ein Camp für krebskranke Kinder bis 18
Jahre. Sie alle wissen, dass sie eines Tages sterben werden. In dem
Camp wurde ihnen Mut gemacht und sie wurden Therapien unterzogen, ohne dass sie es wussten. Mir kamen die Tränen, zum Schluss
habe ich nur noch geweint.
Ich frage mich, wie die vielen Krebskranken nur damit klarkommen,
dass sie in einiger Zeit sterben werden? Ich bin so froh, dass ich
gesund bin. Ich könnte damit nicht klarkommen.
Ich plane manchmal schon soweit in die Zukunft, da bin ich 80.
Jetzt frage ich mich, ob ich überhaupt so alt werde. Bei jedem könnte
irgendwann ein Tumor entdeckt werden. Und wenn man dann noch
erfährt, wie man stirbt und man leidet dabei – das ist doch schrecklich. Wenn ich die Macht hätte, würde ich die Welt von allem Bösen
befreien und ich würde alle Krankheiten verschwinden lassen, für
immer.
Freitag, 25.08.1995
Ich will einen Pakt abschließen und er ist gültig, sobald ich ihn in
diesem Buch aufgeschrieben habe. Er lautet: Alles, worauf ich Appetit habe, werde ich ablehnen, um damit die Wahrscheinlichkeit zu
verringern, dass ein 3. Weltkrieg auf uns zukommt. Es ist vielleicht
dumm, aber ich würde so gern etwas tun.
In den Zeitungen steht, dass Deutschland wieder rüstet und eine
eigene Atombombe haben möchte. Unsere schöne Stadt Naumburg
soll wieder eine Militärstadt werden, wie im 2. Weltkrieg. Dabei
hatte Deutschland 1945 oder 1946 einen Vertrag unterschrieben, nie
wieder zu rüsten. Ich müsste mich schämen (tue ich ja auch, nur ich
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
kann nichts ändern). [...] Ich verstehe nicht, wie man Krieg führen
kann, das ist krank.
All das Leiden, das könnte ich nicht auf mich nehmen. Dabei ist
Europa so schön. Und was wäre Europa ohne Bevölkerung, ohne
jegliches Leben?
Samstag, 26.08.1995
Das mit dem weniger essen hat heute nicht so richtig geklappt. Ich
bin enttäuscht und ich habe Angst, wie das auf der Welt mal enden
soll.
Ich denke nicht immer positiv und freue mich nicht immer über alles.
In meinem Kopf ist alles verdreht. Ich wäre charaktermäßig gern perfekt! Ich würde liebend gern in Wirklichkeit keinen Hass, Egoismus
und alle schlechten Charaktereigenschaften empfinden, anstatt sie
nur zu unterdrücken. Ich versuche, immer weise zu handeln und zu
reden, doch sehr oft klappt es nicht.
In Gedanken rede ich andauernd mit der Stimme in mir, manchmal
streiten wir auch. Als ich klein war, hatte ich immer einen Phantomfreund, mit dem ich mich unterhielt und stritt. Er war immer etwas
erwachsener als ich und weiser. Doch irgendwann war er verschwunden, nur noch diese Stimme blieb in mir, die Ratschläge oder Befehle
gibt.
Ich habe oft Angst vor meinen eigenen Gedanken, weil manche verrückt und krank sind. Ich kämpfe gegen sie an und unterdrücke sie.
Ich kann sie nicht verschwinden lassen und das macht mir Angst. Ich
versuche einfach, nicht daran zu denken, dass ich so durcheinander
bin. Ich werde langsam im Innern kalt, da ich es leid bin, Mitleid zu
empfinden. Wenn irgendetwas getan oder gesagt wird, was mich und
80
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
meine Gedanken noch mehr durcheinander bringt, dann schalte ich
einfach ab. Ich denke an nichts. Ich sehe und höre es zwar, doch es
geht mich nichts an. Früher habe ich geweint, wenn ich die Kriegsopfer und Hungernden im Fernsehen gesehen habe, doch jetzt scheinen
meine Tränen das nicht mehr wert zu sein. Man sieht es so oft!
Ich habe mich schon oft gefragt, ob ich mein Leben geben würde,
wenn ich dadurch all dem Elend auf der Welt ein Ende setzen könnte.
Doch ich schätze, ich wäre zu feige. Ich würde vielleicht sogar meine
Mutter sterben lassen, um meine eigene Haut zu retten. Ich habe
schon oft darüber nachgedacht und ich schätze, es wäre so. Es ist
schlimm, das zuzugeben.
Sonntag, 27.08.1995
Manchmal denke ich, ich bin krank oder habe einen Schaden von
der Scheidung bekommen. Was soll es eigentlich nützen, wenn ich
unter paar Milliarden Menschen hungere, damit es keinen Krieg
mehr gibt? Ich kann mir auch vorstellen, einfach so ohne Grund zu
verhungern und dann trotzdem noch zu glauben, es sei richtig.
Ich frage mich aber auch, ob es nicht auch krank ist, an eine Person
zu glauben, die noch nie ein Mensch gesehen hat und die angeblich
die Bibel geschrieben haben soll. Vielleicht ist es nur ein inniger
Wunsch des Menschen, an etwas Übernatürliches zu glauben, an
etwas, das ihn vor sich selbst rettet.
Im Moment mache ich gerade eine Phase durch, in der meine Gedanken und Gefühle total durcheinander sind. Meine Geduld scheint
vollends verschwunden zu sein. Ich raste schnell aus. Irgendwie sehne ich mich auch sehr nach einer Vaterfigur. Ich will meinen Vater
umarmen, ganz fest und lange, und seinen Duft und seine Wärme
spüren. Ich will ihn lieben wie früher. Ich will nicht dran denken,
81
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
dass ich ihn nicht mehr habe. Mutterliebe reicht nicht aus, auch wenn
sie sich viel Mühe gibt. Ich bemitleide mich nicht selbst, ich verfalle nur meinen überaus gefühlvollen Träumen. Das ist doch nicht
falsch? In meinen Träumen habe ich auch manchmal einen Freund,
der zwanzig Jahre älter ist als ich, und ich habe ein Kind. Doch das
Kind ist immer namenlos, und ich weiß nicht so recht, ob es männlich
oder weiblich ist. Ich träume fast jede Nacht sehr viele Träume und es
kam auch schon vor, dass ich sie nicht mehr von der Realität unterscheiden konnte. Für mich wäre ein Leben ohne Träume kein Leben.
Montag, 28.08.1995
Hatten alle Menschen schonmal das Verlangen, unbedingt ein guter
Mensch zu werden? Ich habe es, und ich bemühe mich, Ausdauer zu
haben. So etwas muss man lernen, es ist sehr schwierig. Auch Nachgeben rüttelt ganz schön an den Nerven und am Verstand.
Ich glaube, um in der Welt und mit den Menschen klar zu kommen
und um sie zu verbessern und zu verändern, muss man erstmal bei
sich selbst anfangen. Wenn man mit sich einverstanden ist und sich
selbst versteht, kann man etwas schaffen – ob mit Worten oder Taten.
Mutti war heute mit Oma eine Wohnung anschauen und sie ist
wirklich schön. Sie ist ein Altbau. Mutti möchte dort unbedingt einziehen, doch für die Sozialwohnnung haben sich noch mehr Familien
gemeldet. Ein Ehepaar muss im Oktober aus ihrer Wohnung raus
und ich gönne ihnen diese Wohnung sehr. Bis nächstes Jahr werden
bei uns ja keine Ameisen mehr kommen. Mutti hat mich gar nicht
verstanden, als ich ihr das erzählt hatte. Sie sagte nur: »Heutzutage
kann man nicht mehr rücksichtsvoll mit Anderen umgehen.« Und da
fast alle so denken wie sie, kann die Menschheit keine Bruderschaft
werden.
82
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Dienstag, 29.08.1995
Die Sozialwohnung haben wir nicht bekommen, doch das hatte ich
mir schon gedacht. Die Familie, die im Oktober aus ihrer Wohnung
raus muss, hat sie bekommen. Mit Mutti habe ich bis jetzt nur einen
Satz gewechselt – den ganzen Nachmittag und Abend Schweigen.
Sie ist sehr enttäuscht. Es war ihre Traumwohnung – ich kann sie
verstehen. Das ganze Leben hat sie in Bruchbuden gelebt und nun
wird ihr ihre erste anständige Wohnung aus den Händen gerissen.
Es würde mich nicht wundern, wenn sie im Bett vielleicht auch
weint. Sie tut mir sehr leid, auch wenn sie ihre Wut an uns auslässt.
Wenn es ihr hilft, dann soll sie es ruhig machen. Man kann Wut und
Enttäuschung nicht ewig mit sich rumschleppen.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Zeit soweit zurückdrehen, dass Mutti wieder in meinem Alter ist und noch zur Schule
geht. Sie sagt immer, wenn sie ich wäre, würde sie lernen und lernen,
damit sie was in ihrem Leben erreicht. Diese Möglichkeit würde ich
ihr gern geben. Doch man stelle sich vor, sie würde Papa aus dem
Weg gehen, dann wären Bastian und ich heute gar nicht da.
83
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Wenn ich zeichnete, konnte ich stundenlang darin versinken. – Ich
konnte all den Schmerz meines Lebens völlig vergessen.
Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass ich schon als kleines
Kind vor allem Tiere sehr gut aus dem Gedächtnis zeichnen konnte.
Erinnerungen oder Bilder sind davon leider nicht mehr vorhanden.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Im Herzen meine liebsten und wahren Freunde:
Kinder (hier mit meinem Bruder und der Enkelin
einer Nachbarin).
Ich spürte schmerzlich, wie ich mich Jahr für Jahr
aus ihrer Welt entfernte – mich selbst, die ich kein
Kind bleiben konnte, zu verlieren schien.
85
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Sonntag, 01.10.1995
Ich sehne mich sehr nach Halt, nach Schutz und Geborgenheit. Mutti
kann mir das nicht geben, auch wenn sie es versucht. Ich liebe sie
sehr, ich könnte ohne sie nicht leben, doch ich brauche eine männliche
Schulter. Ich brauche einen Vater! Ich wünsche mir so sehr meinen
Vater zurück. So sehr, dass ich jetzt im Moment weine. Ich wünsche
mir, ihn zu umarmen, seinen Duft zu riechen, seine Liebe und Wärme zu spüren. Ich dachte, ich hätte es hinter mir, doch es holt mich
immer wieder ein.
Manchmal, da denke ich, ich sei verrückt. Ich stehe an der Grenze
von Verstand und Verrücktheit. Heute bei der Autofahrt auf der Autobahn hatte ich ernsthaft überlegt, ob ich nicht die Tür aufmachen
sollte. Nur mal so, um zu sehen, was passiert. Das ist doch verrückt.
Ich denke oft so verrückte Dinge, die ich nicht mal dir, meinem Tagebuch, anvertraue, da ich mich für sie schäme und sie wirklich krank
sind.
Ich wünschte, ich hätte keine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen.
Ich bin so durcheinander und ich habe Angst, wenn ich mal Dinge
tue, über die ich manchmal krankhaft nachdenke, doch ohne es richtig
mitzukriegen. Alles, was mir zu kompliziert ist, um darüber nachzudenken, versuche ich von mir fernzuhalten. Am liebsten würde ich
gar nicht mehr denken. Was hat das für einen Sinn?
Es macht mich krank, es macht mich verrückt. Meine Mutter amüsiert sich gerade in der Stube auf der Couch mit Robert (Name geändert), den mein Bruder schon für seinen Vater hält. Auch darüber
will ich nicht nachdenken. Ich habe keine Freundin und keinen Vater.
Ach doch, den hab ich. Nur lässt der sich bloß blicken, wenn es um
den Unterhalt geht.
Bin ich zu sensibel? Was soll‘s. Ich baue einfach eine stahlharte
Mauer um mich herum, damit niemand an mein Herz kommt und
es bricht. Ich habe kein Selbstvertrauen. Nur wie bekomme ich es
wieder?
86
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Bin ich unnormal? Bin ich schon in den Abgrund der Schwachsinnigen gestürzt? Wäre ich heute so, wie ich bin, wenn sich meine
Eltern nicht hätten scheiden lassen? Es lohnt sich gar nicht, darüber
nachzudenken.
Weißt du, liebes Tagebuch, was mein Lieblingstraum ist? Du wirst
schockiert sein. In ihm kann ich nicht sprechen. Da habe ich meine
Stimme verloren. Siehst du, ich bin nicht normal. Wer wünscht sich
schon, stumm zu sein?
Montag, 02.10.1995
Ich liebe jemanden, bei dem ich dachte, ich hätte es hinter mir. Er gibt
mir seine Liebe nicht, doch ich brauche sie. Ich werde den Freund
meiner Mutter nie als Ersatz für meinen Vater sehen. Mein Bruder
tollt mit ihm herum und kuschelt mit ihm. Das ärgert mich. Nicht,
weil ich ihm auch im Arm liegen will, sondern weil er sich nun vorkommt wie ein Vater, obwohl er gar keiner ist. Von mir kann er nicht
erwarten, dass ich ihn liebe. Bei dem Gedanken sträubt sich alles
in mir. Und wenn ich mir dann noch durch den Kopf gehen lasse,
dass mein Vater mich nicht liebt, dann muss ich gleich anfangen zu
weinen, wie jetzt. Ich versuche oft, den Schmerz, den ich empfinde,
zu beschreiben, doch dafür gibt es keine Worte. Es ist ein sehr starker,
seelischer Schmerz, der alles in meinem Körper sich verkrampfen
lässt. Ich bin eifersüchtig auf alle, die noch Väter haben. Ich frage
mich, warum ich mich eigentlich noch mit diesem Thema quäle. Die
Scheidung ist schon acht Jahre her, und doch kommt es mir so vor,
als wäre es gestern gewesen.
Für mich war mein Vater der schönste und liebste Mann der Welt.
Wusste ich ja nicht, was er meiner Mutter angetan hatte. […] Hätte
ich gewusst, dass ich ihn nur für sechs Jahre haben würde, hätte ich
jede Sekunde genossen, als wäre es die letzte. Ich möchte nie blind vor
Liebe werden, deshalb will ich mich auch nie verlieben.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Mutti hatte versucht, sich umzubringen, als sie von der Scheidung
erfuhr. Sie hatte Bastian und mich gehasst. Sie ließ ihre Wut und ihre
Trauer an uns aus, indem sie uns mit dem Teppichausklopfer schlug.
Ich hatte tagelang rote Flecken und Streifen am Körper. Wir hatten
und haben auch immer noch panische Angst vor ihr. Und trotzdem
liebe ich sie, da sie wirklich Schlimmes durchgemacht hat.
Die Photos mit Papa hatte sie alle zerrissen, außer die Hochzeitsphotos und ein paar kleine mit mir. Sie wusste nicht, dass sie mir auch
wehtun würde, wenn sie die Photos zerreißt. Ich wünschte, sie hätte
es nicht getan. Mutti bereut es mittlerweile auch.
Ich will nie, dass mir dasselbe passiert wie ihr, deshalb will ich auch
nie heiraten. Ich halte mich von Jungs so weit wie möglich fern. Auch
das Vertrauen zu Männern habe ich verloren. Ich habe sogar Angst
vor meinen Onkeln, dass sie mich vergewaltigen, obwohl sie das nie
tun würden.
Ich wünsche mir so sehr meinen Vater nochmal innig zu umarmen.
Ich möchte die Liebe von ihm bekommen, wie er sie mir früher gab.
Ich will ihn einfach zurück! Ich will vergessen, was passiert war,
einfach nochmal von vorne anfangen. Doch es ist mir klar, dass das
nicht geht. Nur, träumen ist doch schön, nicht wahr?
Donnerstag, 05.10.1995
Ich habe heute totale Angst gehabt zu sterben. Ist das nicht verrückt?
Irgendwie scheint mein Innerstes gerade eine Verwandlungsphase
durchzumachen. Ich merke, dass ich härter geworden bin, aber gleichzeitig auch ängstlicher. Sehr oft denke ich überhaupt nicht, oder ich
denke, ohne es mitzubekommen. Das war früher nie so.
Eine innere Stimme gibt mir andauernd Befehle, aber ich sage mir, so
verrückt wie ich bin: Wenn sie mich schützt, dann tue ich eben, was
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
sie will, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind, wie »nicht auf den
Teppich treten« oder »die Dose da schließen«.
Ich bin im Moment ratlos und scheine sehr geschafft zu sein. Denn
jedes größere Nachdenken lehne ich ab. Und das geht leicht, obwohl
ich mir früher doch über jedes Bisschen den Kopf zerbrochen habe. Ich
scheine auch verzweifelt zu sein, doch kann ich nicht sagen, warum,
weil ich noch nicht darüber nachgedacht habe. Andauernd fühle ich
mich beobachtet. Doch wie kann mich jemand in der Stube oder im Klo
beobachten? Für mich scheint die Dunkelheit der größte Feind zu sein,
denn sie bringt mir die Angst, die Panik.
Dienstag, 17.10.1995
Mutti und ich fahren morgen viertel Sieben nach Halle in die Augenklinik. Ich muss nur mit, damit sie nicht so allein ist. Doch gerade
morgen schreiben wir eine Kurzkontrolle in Chemie, und die soll
einfach sein. Ich bräuchte unbedingt eine gute Zensur, doch das kann
ich mir jetzt aus dem Kopf schlagen. Ich versuche, mich nicht darüber
zu ärgern oder Mutti die Schuld zu geben. Ich versuche gar nicht,
darüber nachzudenken. Hoffentlich finden sie bei Mutti endlich, was
mit ihren Augen nicht stimmt. Sie scheint wirklich am Boden zerstört
zu sein. Ich wünsche es ihr von ganzem Herzen. Hoffentlich wird sie
nicht blind wie Opas Mutter. Sie hatte Grauen Starr.
Sonntag, 22.10.1995
Mutti hat jetzt richtige Medikamente bekommen und beim nächsten
Termin wollen sie herausfinden, gegen was sie allergisch ist.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Ich fühle mich zur Zeit unsagbar allein, und ich wünschte, ich wäre
stumm oder etwas anderes würde geschehen, das ein Grund für mich
wäre, in der Einsamkeit ein Versteck zu suchen, damit alle mich in
Ruhe lassen, und ich aus diesem Alltag entfliehen könnte. [...]
Einerseits würde ich gern mehr Freunde haben, andererseits liebe ich
die Einsamkeit. Ich spreche aus der Klasse niemanden an. Nur wenn
sie mich ansprechen, bin ich höflich und tue so, als wäre ich glücklich.
Im Moment scheint das Einzige, wofür ich lebe, meine Liebe zur Träumerei zu sein.
Sonntag, 29.10.1995
Ich habe mir einmal geschworen, ein guter Mensch zu werden und
Bastian nie wieder zu schlagen. Doch ich habe nicht die Geduld
und das Verständnis. Er ist das totale Gegenteil von mir. Er ist nie
ruhig, kann nie den Mund halten. Heute bei Oma, da hatten wir uns
wieder gestritten. Er hat mich dann so aufgebracht, dass ich ihm eine
gescheuert habe. Er drehte seinen Kopf vorher, so traf ich genau seine
Nase und sofort strömte das Blut. Ich holte ihm Zellstoff, während
Mutti zu ihm rannte, weil er so schrie. Sie sagte, ich solle ihr aus den
Augen gehen. Sie ist mit ihm in die Küche zu Oma, die mich verteidigte, und ich ging in die Stube und wischte mir sein Blut von den
Fingern.
Es waren schreckliche Minuten. Ich hatte Angst vor Mutti und Angst
vor mir selbst. Ich setzte mich in eine Ecke des Zimmers und weinte.
Ich schlug mir mit den Händen auf den Kopf, bis er schmerzte, und
ich schlug immer wieder mit dem Handrücken und der Handkante
meiner rechten Hand auf die Ecke von Omas Schrank. Meine Hand
schmerzte schrecklich, und ich wünschte mir ein Messer zu haben, mit
dem ich mir noch mehr Schmerzen hätte zufügen können.
90
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
In diesen wenigen Minuten war ich nicht ich selbst. Ich war ein aggressives Tier, das glaubte, den Tod verdient zu haben. Wer weiß, was
passiert wäre, wenn ich ein Messer in der Nähe gehabt hätte. Ich weiß,
ich hätte es benutzt. In diesem Moment schien mir der Tod verdient.
Wie konnte ich nur meinen Bruder schlagen! Was ist, wenn ich es
eines Tages auch meinen Kindern antue, so wie Mutti früher?
Vielleicht liegt das wirklich daran, dass Mutti, als ich klein war,
schnell mal die Hand ausgerutscht war. Einmal, da wollte ich nicht
essen, da schlug sie mir auf den Hinterkopf und ich knallte mit dem
Gesicht auf den Tisch. Ich hatte lange Zeit starkes Nasenbluten. Und
tief in der Nacht holte sie mich aus dem Bett und entschuldigte sich.
Ich entschuldigte mich auch bei Bastian, aber es schien mir so sinnlos,
denn es war passiert und es hätte nicht passieren sollen. Ich brach
sofort wieder in Tränen aus und ging wieder in die Stube. Bastian hat
mir verziehen, aber das hilft nichts.
Meine Schuldgefühle sind da. Und die größte Angst ist ja die, dass ich
weiß, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein wird, bei dem ich ihn
schlage. Immer wieder versuche ich mich zusammenzureißen, doch
es klappt nicht. Meine Hand fliegt von ganz allein, wie bei meiner
Mutter.
PS: Die blauen Flecken an meiner Hand und der Schmerz an der
Handkante werden mich noch einige Zeit an den heutigen Tag erinnern.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Dienstag, 31.10.1995
Mit Mutti habe ich meine Sorgen. Ich sage schon nichts mehr oder
nur das, was sie hören will, damit es nicht zum Streit kommt. Sie fällt
so schnell Vorurteile, gibt immer anderen die Schuld und hasst Menschen, die sie gar nicht persönlich kennt. Sie ist unheimlich gehässig
und verletzend. Ich habe es nur nie so gespürt, weil ich ihre Tochter
bin – da verhält sie sich anders. Sie hat schlechte Charaktereigenschaften, aber ich bin ja auch nicht gerade ein Engel. Ich kann ihr immer
verzeihen, weil sie meine Mutter ist und ich ihre Liebe brauche.
Heute war sie wieder sehr gereizt und da war ich am Nachmittag zu
Oma geflüchtet. Mutti war schon sehr überrascht, als ich mich von
ihr verabschiedete und ihr sagte, dass ich mit dem Fahrrad herumfahren will. Sie weiß ja, dass ich keine Freunde hier habe. […] So fuhr
ich allein herum und spürte erst so richtig, wie einsam ich bin. Kein
Schwein, außer Verwandten vielleicht, würde es auffallen, wenn ich
eines Tages nicht mehr da wäre. Es ist schlimm. Ich war noch nie so
einsam. Schließlich fuhr ich zu Oma und trank Tee mit ihr. […]
Die Einsamkeit gefällt mir im Moment gar nicht und sie treibt mich
noch an den Rand des Wahnsinns, ich spüre es.
92
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Ich fühlte mich in meiner Kindheit und Jugend unsäglich einsam,
verstoßen, verlassen, verkannt, missbraucht und hungrig nach Liebe
– wie dieser Teddy, an dem ich tagelang weinend zeichnete.
Ich erinnere mich, wie ich oft abends im Bett lag und nicht einschlafen konnte. Ich weinte mir die Augen wund – ich weinte, bis mein
ganzer Körper schmerzte. Ich glaubte tatsächlich, an diesem Gefühl,
nicht geliebt zu werden, nicht in den Arm genommen zu werden,
eines Tages zu sterben.
93
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Mittwoch, 01.11.1995
Wenn ich Mädchen in meinem Alter mit Jungs küssen sehe, finde ich
das dumm. Die wissen doch noch gar nicht, was Liebe ist. Es ist nur
ein Liebesabenteuer, doch darauf kann ich verzichten. Ich sehe es schon
kommen, dass ich vereinsamt vor mich hinleben werde. Ich bin kompliziert, denn ich lasse niemanden an mich ran aus Angst davor, verletzt
zu werden. Ich will mich nie verlieben. […] Ich weiß aber, dass ich
Kinder haben möchte und ich will und werde eine guter Mutter sein,
bestimmt. Doch dazu muss ich mich verlieben und heiraten (Kinder
brauchen den Vater), doch das will ich nicht. Also ganz schön widersprüchlich. Nun, die Zukunft wird zeigen, was kommt.
Dienstag, 28.11.1995
Hoffentlich lässt sich Papa mal zur Weihnachtszeit blicken, doch
daran glaube ich nicht. Ich vermisse ihn so. Ich hoffe, dass ich nicht
mal den Fehler begehe, mich an einen Jungen dran zu hängen, nur um
in einem männlichen Arm zu liegen. Ich liebe es, Onkel Peter (Name
geändert) zu umarmen. Am liebsten würde ich ihn dann nie loslassen.
Hilfe! Ich brauche dich, Papa. Ich liebe dich. [...] Ich vergebe dir alles –
nur komm mal vorbei!
Samstag, 02.12.1995
Mein Verhältnis zu Mutti wird immer schlimmer. Wir scheinen gegeneinander allergisch zu sein, was sich durch Gereiztheit zeigt. Doch
das stört mich nicht. Irgendwann wird es wieder besser werden.
94
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Robert hat Urlaub bis Januar und wir waren heute im Kino. […] Ich
weiß nicht, ob ich ihm trauen kann. Ich weiß doch gar nichts über ihn.
Ich werde nie einem Mann glauben können. Ich habe immer Angst,
dass er mich vergewaltigen könnte. Sogar vor meinen Onkeln habe ich
ein wenig Angst, wenn ich mit ihnen allein bin, obwohl das Schwachsinn ist. Sie würden das nie tun – glaube ich zumindest.
Mit meiner Mutti bin ich auch nicht zufrieden. Wenn ich könnte,
würde ich mir eine neue kaufen. Es passt mir überhaupt nicht, wie sie
uns erzieht. Ich will nicht so werden wie sie, nicht einmal in meinen
schlimmsten Träumen. Doch da sie uns nach ihren »Anstandsregeln«
erzieht, werde ich automatisch wie sie. Ich rede schon manchmal mit
Bastian wie sie. Es ist schlimm, dass ich das denke. Denn in der Bibel
steht, man soll Vater und Mutter ehren. Aber ich kann das nicht.
Donnerstag, 28.12.1995
Weihnachten, was mein einziger Lichtblick auf Freude und Frieden
war, ist vorbei. Der Weihnachtsmann war großzügig, doch ich bin
nicht glücklich, bin traurig. […] Von Papa bekam ich eine CD und
50,- DM. Mutti und Robert haben sehr viel Geld für uns ausgegeben.
Ich habe Angst vor morgen, da muss ich zu meinem ersten orthopädischen Schwimmen nach Bad Kösen. […] Am 12.12. war ich beim
Orthopäden. Ich bin hyperaktiv, das heißt meine Knochen sind dehnbarer, oder so ähnlich. Ich darf nie schwere Arbeiten verrichten, und
die Schäden an bereits fünf Wirbeln (Scheuermann) bleiben. Es kann
nur verhindert werden, dass es schlimmer wird.
95
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Montag, 01.01.1996
Wir haben bei Robert Silvester gefeiert. Eine Riesenparty wird im
Fernsehen gezeigt. Ich muss ins Bett, was mich sehr ärgert. Hoffentlich bringt dieses Jahr bessere Zeiten für alle Menschen, wie z.B. Ende
vorigen Jahres, als die Friedensverträge im Nahen Osten (Bosnien,
Serbien, Kroatien) unterschrieben wurden.
PS: Zu dem orthopädischen Schwimmen war ich nicht gegangen. Bei
minus zehn Grad sprang der Trabbi nicht an.
Samstag, 13.01.1996
Heute ist mein Vater 37 Jahre alt geworden. […] Ich habe ihn seit
Weihnachten nicht mehr gesehen.
Ich finde, 14 Jahre ist ein schönes Alter, obwohl es auch sehr verwirrend ist. Ich hätte gern einen älteren Freund, so um die 20. Einer, der
mich versteht, und dem es reicht, wenn wir nur kuscheln. Wenn ich
seine Wärme spüren kann und mich sicher bei ihm fühle, was ich noch
nie so richtig fühlte. Jemand, der mich in seine kräftigen Arme nimmt
und mich einfach so liebt, wie ich bin. […] Muttis Liebe reicht nicht
und ich habe Angst, dass ich mich mal in eine Beziehung stürze, nur
um Liebe, Geborgenheit und Schutz zu bekommen, was ich seit sieben
Jahren nicht mehr von meinem Vater bekomme.
Sonntag, 14.01.1996
Mutti hat Bastian wieder geschlagen, weil er ihr, wie so oft, erst am
Abend zuvor gesagt hat, was er für den nächsten Schultag braucht.
96
10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Ich hatte mich in der Stube verkrochen, denn oft schreit sie mich dann
auch noch an. Ich wünschte, sie hätte mich auch geschlagen, dann
hätte ich ihr sagen können, wie sehr ich sie dafür hasse. Gerade weil
ich solche Momente nicht vergessen kann, kann ich auch nicht mehr
in Liebe mit ihr kuscheln.
Ich weiß noch, in unserer vorigen Wohnung, da war sie wieder einmal
wütend. Ich war ungefähr zehn und Bastian fünf. Wir flüchteten ins
Schlafzimmer auf das Ehebett. Da lagen wir und schrien, während
sie uns mit dem Teppichausklopfer schlug. Ich hatte schlimme rote
Striemen an meinen Schenkeln. Ich werde es nie vergessen können.
Und es tut mir genauso weh, wenn ich sehe, wie sie Bastian schlägt.
Ich möchte nicht so eine Mutter werden wie sie.
Eben hat sie Robert geholt. Er rief vorhin an und nun übernachtet
er hier. Während des Telefonats weinte ich, weil sie ihn in gewissen
kleinen Dingen belog und ihre Stimme wie die einer falschen Hexe
klang. Und ich empfand Hass Robert gegenüber. Denn immer, wenn
er da ist, scheinen wir nicht mehr zu existieren. Ich habe Angst, wenn
der Hass größer wird. Denn Menschen, die großen Hass empfinden,
verlieren in bestimmten Dingen den Überblick.
Immer, wenn Robert da ist, schrecke ich auf, wenn sie in ihrer Unterhaltung lauter werden. Ich weiß genau, dass ich es nicht aushalten
werde, wenn die beiden sich anschreien, wie schon einmal, als sie sich
getrennt hatten. Ich würde zusammen gekauert im Bett hocken, mir
die Ohren zuhalten und hoffen, dass sie aufhören. Ich habe immer
diese Angst, wenn er da ist, wie auch jetzt. Es würde mich daran
erinnern, wie Mutti und Papa sich abends immer angeschrien hatten,
als ich im Bett war, und sie glaubten, ich würde schon schlafen. Viele
Abende hatte ich mich in den Schlaf geweint. Das will ich nicht nochmal durchmachen.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Montag, 15.01.1996
Ich schrieb gestern in Wut, Hass und Verzweiflung. Ich nehme alles
Schlimme über Mutti zurück. Man muss seine Eltern ehren und achten; man sollte es zumindest versuchen.
Montag, 05.02.1996
Wir haben heute wieder Wohnungen angeschaut. Mutti heute Morgen
mit Oma, als ich in der Schule war, und heute Nachmittag eine mit
mir. Doch die war nicht schön. Mutti sagt, die erste Wohnung sei
wunderschön, ihre totale Traumwohnung. Es waren aber noch zwei
andere Familien da, die die Wohnung nehmen würden. Die Frau, die
uns die Wohnungen gezeigt hat, hat heute Nachmittag zu uns gesagt,
wir hätten eine gute Chance, die Wohnung zu bekommen, da unsere
jetzige ja verseucht ist und wir schon seit drei Jahren auf Wohnungssuche sind. Jetzt machen wir uns natürlich viel Hoffnung. Morgen
erfährt Mutti, ob wir sie bekommen haben. Hoffentlich! Nächste
Woche sind Ferien, da könnte ich gut mithelfen. Und es wäre Mutti eine große Freude, da sie wahrscheinlich arbeiten muss mit einer
Bezahlung in Höhe ihres jetzigen Arbeitslosengeldes. Und wenn sie
nicht arbeiten will, bekommt sie zwölf Wochen kein Geld. Das ist doch
Ausbeutung, oder?
Dienstag, 06.02.1996
Wir haben die Wohnung bekommen. Sie ist wirklich sehr groß. […]
Das ganze Haus gefällt mir nicht so. Ganz unten ist eine Kneipe, die
bis Mitternacht geöffnet hat. Für Mutti ist es die Traumwohnung.
Hoffentlich ist sie es wirklich. Ich habe so einige Zweifel.
PS: Mutti muss nicht arbeiten gehen.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Mittwoch, 14.02.1996
Die Wohnung ist schon fertig renoviert. […] Ich »freue« mich schon
darauf, die Schränke aus- und einzuräumen, auseinander- und wieder
zusammen zu bauen. Das ist immer das Schlimmste am Umzug.
Mutti geht morgen auf das Sozialamt, um ein bisschen Geld zu »erbetteln«. Wir sind im Moment pleite. Robert hat uns viel bezahlt. […]
Naja, wir werden das schon irgendwie hinkriegen.
Mittwoch, 21.02.1996
Die Schränke sind nun leer. Am Samstag hilft die ganze Verwandtschaft, die Möbel in die neue Wohnung zu bringen. Am Freitag
kommt Papa. Er will mit uns ins Kino gehen.
Freitag, 23.02.1996
Die Stunden mit Papa waren toll. […] Papa musste noch Medikamente holen und woanders hinbringen, so dass wir halb zwölf erst zu
Hause waren.
Mir fällt gerade ein, dass ich mich gar nicht von Papa verabschiedet
habe, da Robert die Tür aufgemacht hatte und wir nur damit beschäftigt waren, unsere Ausreden zu erzählen. Ich weine jetzt ungewollt.
Ich hätte ihn ja wenigstens vorher umarmen können. Er hat uns gesagt, wie sehr er uns doch liebt und ich will es glauben, denn ich liebe
ihn auch. Und nun habe ich mich nicht einmal verabschiedet.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
Sonntag, 25.02.1996
Das ist nun die zweite Nacht, die wir in der neuen Wohnung verbringen. Unser Zimmer ist bis jetzt das schönste. Es ist sehr gemütlich.
Wir haben auch heute gebadet – endlich nach Jahren mal wieder.
Morgen ist wieder Schule und ich habe überhaupt keine Lust. Ich
müsste jetzt glücklich sein, bin es aber nicht und das finde ich
schlimm.
Hier oben habe ich nicht so viel Angst, da hier die Chance einzubrechen geringer ist als in der vorherigen Wohnung, die ja Parterre war.
Doch ganz unten ist eine Männerkneipe, deshalb hört man immer
irgendwelche Türen knallen.
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Es ist schon schwer genug, Lügen deutlich als solche
zu erkennen, wenn nur eine Person, von der wir Hilfe
erwarten, auf der Lüge beharrt. Anerzogener Anstand
und unsere Not hindern uns, diese Person zu entlarven.
Doch wieviel schwieriger ist es, Lügen zu durchschauen, die alle in unserer Umgebung für die Wahrheit
halten, nur weil sie selbst Opfer dieser Lügen waren?
Alice Miller
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10 – 14 Jahre / Gymnasialzeit I
102
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 09.03.1996
Nun bin ich wieder ein Jahr älter. 15 Jahre – ist schon der Wahnsinn,
wie die Zeit verfliegt. Dieses Jahr komme ich schon in die 10. Klasse.
[…] Ich habe noch keine Ahnung, was ich später mal werden will.
Ich habe Angst, mich festzulegen. Es ist alles so trostlos. Wenn ich
das Abitur nicht schaffe, ist mein ganzes Leben versaut. In SachsenAnhalt ist die höchste Arbeitslosenquote. Es ist schrecklich. […]
Ich hasse diesen Staat. Wie soll man mit 1000,- DM im Monat auskommen, wenn man geschieden ist, zwei Kinder hat, Telefon, Strom,
Gas, GEZ, Miete, Wasser und Müll – manchmal insgesamt bis zu
600,- DM – zahlen muss? Man verhungert und keiner fragt danach.
Muttis Konto ist immer im Minus. Man kann sich nichts kaufen.
Man sieht so viele schöne Dinge und denkt darüber nach, warum es
so viel Ungerechtigkeit gibt. […]
Soll nicht jeder Mensch auf Erden gleich sein? Die Einen leben in
riesigen Villen mit Gold und Marmor, die Anderen leben auf der
Straße mit Kartons als Decken. Nennen sie das gleich sein? Es ist
verrückt – es ist falsch. Hätte ich die Macht, wäre jeder gleich – vor
dem Leben und vor dem Gesetz. […]
Das ist keine schöne Welt. Ich glaube, das ist die Hölle. Ja, wir
befinden uns in der Hölle. Gibt es irgendwo mehr Gefahren, Angst,
Schrecken, Hass, Neid und Gewalt als in unserer Welt? Diese Welt,
in der wir leben, ist noch schlimmer als die Hölle – doch der Mensch
begreift es einfach nicht.
Hier wieder dafür ein Beispiel: Es sind 70.000 Tonnen Öl vor der
Küste Wales ausgelaufen (Bilder auf der nächsten Seite). Zehntausende Vögel und Meerestiere sind schon gestorben. Doch es kommt
noch schlimmer: Im März und April kommen über eine Million
Vögel zum Brüten dorthin. Ein Massensterben ist vorprogrammiert.
Und das nur, weil sie immer billige, alte Tanker benutzen. In den
letzten Jahren ist so viel Öl ins Meer ausgelaufen. Der Schaden wird
noch über 100 Jahre bleiben. Und niemand tut was! Sie sollten neue
103
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Tanker bauen, aber nein, das ist zu teuer. Da lassen wir lieber ein
Paradies nach dem anderen sterben.
PS: Bitte, lieber Gott, lass das vorprogrammierte Massensterben
nicht zu! Bitte!
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Wir
Es gibt Menschen,
die wissen nicht, was sie tun,
aber eigentlich wissen sie es doch.
Es gibt Menschen,
die denken, sie machen keine Fehler,
weil sie sie immer entschuldigen können.
Es gibt Menschen,
die glauben, sie würden lieben,
weil sie sich dieses Gefühl so sehr wünschen.
Es gibt Menschen,
die handeln, ohne darüber nachzudenken,
weil sie denken, es ist eine Sucht.
Es gibt Menschen,
die immer Versprechen geben,
sie aber nie einhalten können.
Es gibt Menschen,
die einsam und verlassen Gedichte schreiben
und nicht wissen warum.
März 1996
105
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ein Selbstportrait – gezeichnet im Kunstunterricht
der 9. Klasse.
106
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mittwoch, 17.04.1996
Ich bezweifle, dass ich das ganze Lernen tagein, tagaus noch lange
durchhalte. Aber bald sind Ferien. Ich sage mir, das Wichtigste im
Moment ist die Schule. Mach erstmal einen guten Abschluss, danach
hast du genug Zeit zum Ausruhen.
Samstag, 27.04.1996
Mutti macht mich traurig. Sie tut mir leid und doch hasse ich sie
manchmal. Die Liebe, die ich für sie empfinde, entschwindet immer
mehr. Jedes Wochenende, wenn Robert von der Montage kommt,
betrinken sich beide, bis sie bewusstlos ins Bett fallen. Am nächsten
Morgen, wie auch heute, muss ich mir Muttis Gejammere anhören.
Immer sagt sie, es wäre ihr eine Lehre, aber dann trinkt sie doch wieder. Manchmal trinkt sie auch unter der Woche eine ganze Flasche
Wein. Und früh, wenn wir in die Schule müssen, sind wir allein in
der Küche. Ich habe, da sie sowas tut, den Respekt vor ihr verloren.
Ich bin unsagbar enttäuscht und beschämt, wenn ich sie immer sehe,
wie sie am Morgen nicht aus dem Bett kommt, sich beim Frühstück
den völlig zerzausten Kopf hält und sie mich mit den geschwollenen,
roten und glasigen Augen anschaut. Wenn sie lacht, als wäre sie
verrückt; wie sie sich bewegt in ihrer Trunkenheit. All das macht mir
Angst und ich stürze ins Bad und weine mir die Augen aus, bis sie
schmerzen. Wenn ich Mutti darauf anspreche, sagt sie nur, dass sie
doch auch ein bisschen leben will. Doch das ist doch kein Leben, oder?
Ich frage mich, ob ich überhaupt lebe, ob ich glücklich bin. Alle
anderen Jugendlichen gehen in die Disko bis spät in die Nacht, treffen
sich irgendwo und unternehmen was zusammen. Jeder ist in irgendeiner Clique. Ich bin in keiner Clique. Ich meide die Gegenwart von
anderen Jugendlichen. Ein Stubenhocker bin ich. Krank sehe ich aus,
weil ich den Rest des Tages immer in der Bude hocke. Ich habe keine
Freunde. Ich könnte mir welche suchen, aber auch dagegen sträubt
107
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
sich etwas in mir. Überall, immerfort geht es nur um »Willst du mit
mir gehen?«. Schwärmen, flirten und sagen »Ich liebe dich!« steht
ganz oben auf der Hobbyliste. Doch können wir schon wissen, was
Liebe ist?
Ich meide Jungs, die mir gefallen. Ich schaue weg. Nicht, weil ich
schüchtern bin, sondern weil ich kein Interesse habe an einer Beziehung, die in ein paar Monaten wieder zerplatzt. Ich suche richtige
Liebe und Geborgenheit, doch das kann ich jetzt noch nicht finden.
Die coolen Typen nerven mich. Ich will keinen Sex, nein, ich sehne
mich nur nach jemandem, der mich in den Arm nimmt und es mit
der Liebe ernst meint.
Ich bin kein Cliquentyp. […] Es ist wie eine erschreckende andere
Welt für mich. Oberflächlich und verletzend, ohne Verständnis für
echte Gefühle. Nun frage ich mich, wer besser lebt – die Anderen oder
ich? Denn ich kann nicht sagen, dass ich glücklich bin. Schrecklich
allein bin ich, jeden Tag.
Sonntag, 05.05.1996
Mutti und Robert haben sich wieder verkracht. Es könnte sein, dass
nun für immer Schluss ist. Doch ich mache mir keine Gedanken
darüber.
Ich habe wieder Gedichte geschrieben. Es ist toll, dass ich meine
Gedanken und Gefühle so frei in Reim und Prosa ausdrücken kann.
Das macht mich glücklich. Die Worte sind schon in meinem Kopf, ich
muss sie immer nur noch aufschreiben. Es ist einfach toll.
108
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 14.05.1996
Ich sehe bestimmt viele Dinge falsch und sollte nicht so weit in die
Zukunft schauen. Aber ich will nicht das durchmachen, was Mutti
durchgemacht hat. Ich werde wohl nie heiraten können, da ich bei
allem und jedem Zweifel und Angst habe. Das ist bestimmt nicht
gut, aber es ist da, und ich kann es nicht wegzaubern. Das will ich
eigentlich auch nicht, denn es könnte ja mal nützlich sein.
Montag, 27.05.1996
Mein Vater hat gestern angerufen. Die Welt ist so verrückt. Meine
Eltern sind geschieden und trotzdem schlafen sie noch miteinander.
Mutti sagt, Sex ist das, mit dem sie sich gut verstehen. Ist sowas
nicht krank? Mein Vater hat immerhin eine Freundin und von ihr
ein Kind, das heißt, er geht fremd mit seiner Exfrau. Am Donnerstag
spät abends will er kommen, da bin ich Gott sei Dank auf Klassenfahrt. Was Mutti alles treibt, macht mich total verrückt, und ich
weiß, dass ich nie so werde wie sie.
Weil mein Vater während der Ehe immer fremd ging, ist Mutti auch
fremd gegangen. Ist das normal? Macht das jeder, wenn er in so einer
Lage ist? Für mich ist das abartig. Ich kann mich damit nicht anfreunden. Mutti hat mir von klein auf vieles erzählt, viele schlimme
Sachen, die sie mit Papa und anderen Männern gemacht hat während
und nach der Ehe. Ich sage ihr, dass ich es verstehe, doch das tue ich
nicht.
Sie sagt, dass sie gerne guten Sex hat und ihn braucht, deshalb macht
sie es jetzt auch mit Papa. Muss ich mich deswegen für Mutti schämen? Was denkt wohl Gott über sie?
Mich schreckt das ziemlich ab, und wenn ich daran denke und sie
nimmt mich in den Arm, ekle ich mich vor ihr. Doch das ist sehr
selten. Man soll Menschen mit ihren Fehlern (?!) lieben.
109
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 06.06.1996
Bei meinem Abendgebet vorgestern habe ich einen ungewöhnlichen
Wunsch an Gott geäußert, nämlich dass, wenn ein 3. Weltkrieg
kommen sollte und ich und vielleicht meine Kinder qualvoll umkommen sollten, so möge er mir doch eine unheilbare Krankheit geben.
Ist dieser Wunsch nicht krankhaft verrückt? […] Seit ich Michel de
Notredame (Nostradamus) gelesen habe, schwindet meine Hoffnung
auf eine glückliche Zukunft. Bete mit mir, dass die Menschen ihre
Augen endlich öffnen und handeln: dieser Katastrophe schon Jahre
vorher aus dem Weg zu gehen.
110
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Das Nichts
Nichts, absolut nichts existiert.
Die Zeit vergeht, doch nichts passiert.
Kein Wort zum sprechen,
kein Gedanke zum denken.
Leer, befreit von großer Qual,
es flieht ins Nichts der Lebensstrahl
hinein in des Erden Wunderquell,
alles so, wie ich erzähl.
Keine Tränen, kein Wind, keine Grausamkeit,
alles verstreut in die Endlosigkeit.
Nur die Wärme des Herrn hinter dem Himmelstor
und die gesungenen Worte des Engelchors.
Alle Worte, Gedanken verloren,
neuer Geist ins Bewusstsein geboren.
Neue Worte zum sprechen,
neue Gedanken zum denken.
Verwirrt schwebend in glänzender Trance,
die Hände am Herz mit einer neuen Chance.
Die nackten Füße in den Wolken der Sternennacht,
mit den Augen eines Engels auf die Erde bedacht.
Juni 1996
111
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 15.06.1996
Das Lied »When the last tree …« brachte mich zum weinen. Sie (Kelly Family) singen den Text englisch und deutsch: »Wenn der letzte
Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen,
werdet ihr verstehen, dass man Geld nicht essen kann.« In dem Text
steckt so viel Wahrheit, dass es fast grausam ist.
Sonntag, 23.06.1996
Am Freitag war ich in der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie in Weimar wegen meinem Kieferknacken. Sie waren ganz nett. Mein Kiefer
wurde geröngt und der Arzt sagte mir, mein Gelenk sei abgenutzt,
keine Kugel mehr, sondern eiförmig, und Knorpel sei so gut wie gar
nicht mehr vorhanden. Er sagte, er wolle mit dem Einfachsten anfangen: eine Spange über Nacht.
Sonntag, 30.06.1996
Wir haben jetzt Sommerferien. Ich bin mächtig froh und mächtig
allein, doch das bin ich ja schon gewohnt.
Mein Zeugnisdurchschnitt von 1,9 ist der Sechstbeste der Klasse.
In Biologie, Chemie und Geschichte habe ich eine 3, in Sozialkunde,
Sport, Kunst und Musik habe ich eine 1, der Rest 2en. Das schaffe ich
im nächsten Schuljahr sowieso nicht nochmal.
112
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ich sah es
Ich sah das Meer und ich wusste,
der Mensch wird es nie bezwingen können.
Er wird seine Dämme nie so stark bauen können,
dass das Meer sie nicht eines Tages zerstören kann.
Ich sah den Sturm und ich wusste,
der Mensch wird ihm nie überlegen sein.
Er wird seine Städte nie so stabil bauen können,
dass der Sturm sie nicht eines Tages vernichten kann.
Ich sah das Gebirge und ich wusste,
der Mensch wird es nie erobern können.
Er wird seinen Körper nie so trainieren können,
dass das Gebirge ihn nicht eines Tages hinabwerfen kann.
Und ich sah auch die Atombombe und ich wusste,
alle Kräfte der Erde werden an ihr zerbrechen.
Doch wenn sie zerbrechen,
nehmen sie alles Existierende mit sich.
August 1996
113
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 05.08.1996
Ich bin total traurig. In drei Tagen beginnt der ganze Schulstress
wieder von vorn. Diese Sommerferien waren die schlimmsten. Ich
war immer in Naumburg außer vier Tage, da hatte Onkel Peter uns
mal mitgenommen. […] Was soll ich nur in Französisch und Englisch in der Schule erzählen, was ich in den Sommerferien gemacht
habe? […] Ich hoffe ehrlich, die 10. Klasse wird nicht so schwer.
Mittwoch, 07.08.1996
Wir sind ganz allein in der Wohnung – die ganze Nacht. Mutti
bekommt die ABM-Stelle wahrscheinlich nicht. Darum ist sie heute
Abend zu Robert gefahren, um sich auszuweinen. Sie tut mir sehr
leid. Aber es macht mich krank, wie sie mit Robert umgeht: fallen
lassen und wieder aufnehmen. Ihren Sextrieb kann ich auch nicht
verstehen, aber dafür bin ich anscheinend zu jung. Ich könnte ihr nie
sagen, dass mich das belastet. Ich erzähle ihr immer, dass ich sie verstehe. Ich liebe sie doch, brauche sie, und möchte sie nicht verletzen.
Es ist ihr Leben.
Montag, 19.08.1996
Ich lasse mich mal wieder so ziemlich von der Schule fertig machen.
Jeden Tag habe ich Angst, mündlich dranzukommen. Vor allem
Biologie montags, mittwochs und freitags macht mir Angst. Deshalb
bin ich froh, dass Mutti immer genügend Zeit hat, mich in den Arm
zu nehmen und mich einfach nur zu halten. Das sind zur Zeit die
schönsten Momente meines Lebens.
Morgen muss ich zum Ultraschall, weil ich seit Jahren immer wieder
über Magenbeschwerden klage, aber es wird schon nichts Schlimmes
sein.
114
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Jeden Donnerstag habe ich jetzt immer zwei Stunden Gesellschaftstanz, damit ich das auch endlich mal lerne.
Mittwoch, 21.08.1996
»EIN STROMSCHLAG hat eine 40jährige Frau in Naumburg (Burgenlandkreis) beim Rasenmähen getötet. Vermutlich war eine defekte
Verlängerungsschnur die Ursache des Unglücks.«
Das stand heute in der Zeitung. Es ist die Mutter eines Klassenkameraden. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie weg ist, für
immer. Der Gedanke, dass er seine Mutter, seine geliebte Mutter,
verloren hat für alle Zeit, ihm nur Erinnerungen und Photos bleiben,
bringen mir Tränen in die Augen, die mir übers Gesicht laufen.
Dabei kannte ich sie kaum und eigentlich ist das ja auch egal. Es geht
um einen Freund, dessen Mutter einen unsinnigen, so überraschenden Tod gefunden hat, wie es häufig auf der Erde geschieht. Doch die
Frage nach dem »Warum« bleibt ungeklärt. Sie ist tot! Er hat keine
Mutter mehr! Nie mehr! […] Es ist mir unverständlich. Er tut mir
sooo wahnsinnig leid (meine Tränen fließen). Bitte Gott, gib ihm die
Kraft und die Zeit, diesen Schicksalsschlag, so unsinnig er auch ist,
zu überstehen. Er darf nicht aufgeben, er ist noch jung und nicht
allein!
PS: Warum?! Warum?! Warum muss so was geschehen? Warum!?
Warum so früh?
Dienstag, 03.09.1996
Ich habe heute gemerkt, dass meine Einstellung zu einer Partnerschaft nicht gut ist. Ich habe Angst davor, mit einem älteren Jungen
115
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
intim zu werden. Ich habe zwar noch keine Erfahrung damit gemacht, aber der bloße Gedanke daran bringt mich zum Zittern.
Irgendwie müsste ich, wenn ich mit einem Jungen »ginge«, daran
denken, wie sehr es mich verletzen könnte, wenn er mich verletzte,
folglich habe ich Angst davor, mich zu verlieben. Da kann ich ja auch
gleich Nonne werden, oder? Das zumindest hat Mutti gesagt, und sie
hat Recht. Ich bin wirklich mal gespannt, wie lange es dauert, bis ich
einen festen Freund habe. Mutti hat Papa Ende der 9. Klasse kennen
gelernt. Nun, ich will diese Sache nicht komplizierter machen, als sie
ist. Am Ende kommt sowieso alles anders, sagt Mutti.
Samstag, 07.09.1996
Heute war ein ganz toller Tag. Fünf Klassenkameraden und ich sind
heute nach Halle gefahren, um mal zusammen etwas zu unternehmen
(Kino, Eisessen). […] Es ist schön, Freunde zu haben.
Mittwoch, 11.09.1996
Heute haben wir uns ein Video in der Schule über den 2. Weltkrieg
und die KZs angeschaut. Ich kann nur sagen, ich hasse und bedaure
den Menschen. Ich schäme mich, ein Mensch zu sein.
Montag, 14.10.1996
Ich habe gerade eine Woche Ferien mit Nichtstun hinter mich gebracht und bin jetzt schrecklich niedergeschlagen, da der Alltag mich
wieder hat. […] Die Tränen stehen Stau in meinen Augen, die
116
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
schon brennen wir Feuer. Es ist alles so traurig. Oder kommt mir
das nur so vor? Es gibt kaum noch Tage, an denen ich mich befreit
fühle von der Schulangst. Es ist wie in einem Käfig und ich habe den
Schlüssel nicht. Aber ich ersticke noch. Ich will raus. Noch drei Jahre,
bis ich frei bin. Hoffentlich halte ich das durch.
Dienstag, 15.10.1996
Mutti will wieder umziehen, weil das Haus, in dem wir jetzt wohnen, reprivatisiert wurde und unklar ist, ob der Besitzer einziehen
will. […] Es ist schrecklich, wenn wir wieder umziehen müssen. Die
ganze Familie wird gegen uns sein. Wenn Mutti aus Spaß von Umzug spricht, sagt die Familie schon, dass wir verrückt seien. Am Ende
des Monats kann Mutti sich sogar schon eine Wohnung anschauen.
[…] Sie freut sich total und ich kann das verstehen. […] In unseren
vorigen Wohnungen hatten wir entweder Gemeinschaftsklo, Außenklo, nur ein Zimmer, kein Bad, oder wie jetzt unmögliche Nachbarn.
[…] Wenigstens hat Mutti jetzt wieder etwas Licht in ihrem Leben,
auf das sie zugehen kann und das freut mich.
PS: Mir ist erst jetzt richtig bewusst, wie sehr ich Mutti und Bastian
liebe. Ohne einen von beiden würde ich sterben, und ihnen geht es
genauso.
117
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 26.10.1996
Ich habe den Tanzabschlussball hinter mir. Er war fantastisch. […]
Am schönsten war ja, dass Papa mit dabei war. Am schrecklichsten
ist, dass Mutti sich mal wieder betrunken hat. Drei Flaschen Wein
ganz allein. Ich kann es nicht ertragen, sie betrunken zu sehen. Und
dann plappert sie noch dummes Zeug. Ich weiß dabei nie, wie ich
mich verhalten soll. Auf alle Fälle war es aber trotzdem ein toller
Abschlussball, den ich hoffentlich nie vergessen werde.
118
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 28.10.1996
Mutti hat heute eine Wohnung angesehen und hat sie auch bekommen. Von Tante Sandra (Name geändert) bekommt Mutti
1000,- DM geliehen und vom »Finanzamt Nord« oder so hat sie sich
3000,- DM geliehen, die sie ab nächstes Jahr mit monatlich 150,- DM
abzahlen muss. Ich habe ein bisschen Angst, dass uns die Schulden
über den Kopf wachsen könnten. Mutti macht sich keinen Kopf. Hoffentlich geht alles gut.
PS: Der Kneipier von ganz unten ist an Knochenkrebs gestorben. Ich
hoffe, er führt jetzt ein besseres Dasein.
»Vom Schlaf bis zum Tod ist es nur ein kleiner Schritt.«
Donnerstag, 21.11.1996
In zwei Tagen ziehen wir um. Die Schränke sind schon leer. Ich freue
mich nicht, ich kann einfach nicht. Die Wohnung ist wesentlich kleiner und in einem Wohnblock. In so einem Massenleben hinter vielen
kleinen Fenstern eines Steingebäudes wollte ich nie leben.
PS: Den Kredit vom »Finanzamt Nord« hat Mutti doch nicht genommen.
Während meiner ersten 18 Lebensjahre habe ich in sechs verschiedenen Wohnungen gelebt, bin also fünf Mal umgezogen innerhalb
meiner Heimatstadt. In der 6. Klasse musste ich deswegen während
des laufenden Schuljahres die Schule wechseln, was für mich damals
sehr belastend war. Dies nun sollte mein letzer Umzug mit meiner
Familie sein.
119
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Bizarr
Während Löwen und Hyänen sich bekämpfen
und die Flut die Ebbe ablöst,
während ein Mensch Millionen gewinnt
und die Vögel ihre Nester bauen,
schlägt der Tod zu.
Während das Eis an den Polen schmilzt
und das Ozonloch sich weiter ausbreitet,
während die großen Wälder verschwinden
und die Atomkraft steigt,
wird die Erde mit neuem Leben gefüllt.
Während das Blatt eines Baumes hinabfällt
und der Wind die Windmühlen antreibt,
während die Kontinente sich bewegen
und der Blitz den Himmel erhellt,
leben wir.
Doch wenn das Blatt die Erde berührt
und der Blitz am Himmel vergessen ist,
leben viele nicht mehr.
Trotzdem treibt der Wind die Windmühlen weiter an
und stets bewegen sich die Kontinente.
November 1996
120
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 24.11.1996
Wir haben es geschafft. Unsere erste Nacht im neuen Heim. Gestern
schliefen wir ja bei Robert, weil hier noch eine schlimme Unordnung
herrschte. Jetzt ist die Wohnung einigermaßen ordentlich. Wir haben
sogar einen Fernseher in unserem Kinderzimmer, es ist Roberts alter.
In unserem Zimmer ist es nachts ganz schön hell, weil schräg gegenüber eine Straßenlaterne steht, aber das macht nichts.
Zusatz vom 17.12.1996: Die neue Wohnung ist die beste, die wir je
hatten. Ich habe ein schönes Bett, das auch einen Bettkasten hat, so
dass es als Couch verwendet werden kann.
Montag, 25.11.1996
Es schneit! […] Oh, ich liebe diese weiße Welt und den geheimen
Zauber, den sie in sich birgt. Alles wirkt in ihr so ruhig und ungefährlich. Doch was für eine Täuschung!
Dienstag, 17.12.1996
In genau einer Woche ist Weihnachten. Leider kann ich keine Freude
aufbringen, da ich noch drei Schultage überstehen muss. Und ich
habe wie jedes Jahr Angst davor, dass Weihnachten zu schnell vorbei
ist, denn es ist das Einzige im Jahr, worauf ich mich freue. Die Vorweihnachtszeit mit ihren Vorbereitungen und Heimlichkeiten ist am
schönsten, doch leider ist mir nicht danach.
Schon wieder ein ganzes Jahr um. Ich kann es noch gar nicht fassen. Nächste Woche ist das lang ersehnte Weihnachtsfest. Es ist so
beängstigend, wie schnell die Zeit verfliegt. In dreieinhalb Monaten
werde ich 16 Jahre alt. Bitte, ich möchte doch Kind bleiben.
121
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 26.12.1996
Die Weihnachtszeit ist fast vorbei – auf dem Kalenderblatt aber nur.
Denn Weihnachten ist das ganze Jahr über, das weiß ich jetzt. Es ist
die große Liebenswürdigkeit der Menschen, die die Weihnachtszeit
verzaubert. Jeder lässt sich verzaubern und nimmt – vielleicht das
einzige Mal im Jahr – auf seinen Nächsten Rücksicht. […] Ich glaube, zu Weihnachten schaut Gott gern auf die Erde. Doch es ist gut,
dass Weihnachten nur einmal im Jahr ist, sonst würden die Menschen es bald als eine Selbstverständlichkeit ansehen und der Zauber
wäre verschwunden. Niemand würde das Geschenk ehren, mit dem
Gott uns gesegnet hat: Liebe.
Es ist nicht leicht, aber dafür schön, Momente auszukosten. Ich liebe
Weihnachten.
Sonntag, 29.12.1996
Es war ein schönes Weihnachten. Und ob man es mir nun glaubt
oder nicht, aber die Geschenke sind für mich nur Nebensache.
Im Fernsehen haben sie gesagt, dass nach zehn Jahren zum ersten
Mal wieder ganz Deutschland mit Schnee bedeckt ist. […] Rund 80
Menschen zwischen Spanien und Russland seien aber schon erfroren.
Heute wurde auch ein Friedensvertrag unterzeichnet in Guatemala.
Er soll den Bürgerkrieg beenden, der 1954 anfing. Ich habe geweint
vor Freude, denn es ist ein Schritt in eine bessere Zukunft.
122
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mittwoch, 01.01.1997
Ein ganzes Jahr ist wieder einmal rum. »Prosit Neujahr!«, sage ich
nur, und wünsche allen Menschen ganz viel Glück und Erfolg. Am
schönsten wäre es, wenn nicht so viele Katastrophen und Unfälle
geschehen würden. Dieses neue Jahr wird wieder von den Menschen
gestaltet und ihr Vater hilft ihnen dabei. Alles Gute!
Sonntag, 02.02.1997
Ich habe mich mal wieder in die Welt des Unwirklichen, des Films
gestürzt, um die Realität zu verdrängen, die mich erstickt. Ich bin
müde, aber ich will nicht schlafen, da die Zeit sonst so verfliegt. Ich
will der Wirklichkeit, der Verantwortung entfliehen, doch ohne Hoffnung, es jemals zu können, zu erreichen. Das Leben ist so schön; ich
merke erst in den Ferien, dass ich lebe. Während der Schulzeit bin ich
eine leblose Marionette ohne Gedanken, voll gestopft mit Angst und
Sehnsucht nach Leben. Aber nach der Schulzeit kommt die Arbeitszeit. Werde ich denn nie leben?
Ich verstehe, warum man sagt, die Kindheit sei das schönste, sei
das, was man sich im Herzen bewahren soll. Denn da ist man noch
sorglos und lässt die Zukunft Zukunft sein. Bitte, ich möchte meine
Kindheit zurück!
Montag, 03.02.1997
Ich schaue mir Dramen und Tragödien an und lasse mich treiben in
den Fluten meiner gewollten Tränen, bis ich ertrinke. Ich versuche,
der Zeit zu entfliehen, dabei schade ich mir nur, denn die Müdigkeit
zerfrisst meinen Körper schon längst. Ich raube mir selber meine
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Entspannung, meinen Schlaf. Oh, süße Träume, hüllt mich ein in
eure Welt, auf dass ich für immer im Niemalsland leben kann, abgeschnitten vom Rest der Welt der unterdrückten Schönheit. Friede
komme über mich und befreie mich meiner Gedanken und Ängste,
um wieder mit Herz und Auge sehen zu können. Von ganzem Herzen wünschte ich, das ganze Leben wären Weihnachtsferien in der
weißen Welt, von Gottes Staub entstanden.
Kann das Leben nicht schön sein?
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Trotz all der widrigen Umstände meines Lebens und trotz all der
Not auf dem ganzen Planeten glaubte ich an eine höhere, vor allem
gute (!) Macht, was ich durch diese Abzeichnung zeigte.
Ich betete jeden Abend zu Gott und bat um seinen Schutz – nicht
nur für mich, sondern für die gesamte Menschheit. Und ich dankte
ihm dafür, dass ich nicht – wie so viele andere Menschen – unter
Hunger, schwerer Krankheit, Obdachlosigkeit, Familienlosigkeit
und Krieg litt.
125
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Der Probe-Raum für unser Akkordeon-Orchester,
in dem ich Keyboard spielte.
Mindestens einmal im Jahr fuhren wir (etwa 10
Jugendliche plus 3 bis 4 Erwachsene) ins Grüne
(hier war es Friedrichroda) in eine Jugendherberge
für mehrere Tage, wo wir täglich mehrere Stunden
lang neue Stücke einübten und ansonsten viel Spaß
miteinander hatten.
Die Orchester-Gruppe war meine »kleine, heile
Familie«, zumindest in dem Rahmen, wie ich mich
ihr preisgab; und dieser Rahmen war klein.
126
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 08.03.1997
»366« war meine Nummer gestern in der Disko. Es war Baggerparty.
Meinen Kindern kann ich später einmal erzählen, dass ich zwei Tage
vor meinem 16. Geburtstag zum ersten Mal in der Disko war. Meine
Freunde hatten mich zwar schon oft eingeladen, aber ich wollte nie.
Diesmal hatte ich eine Wette verloren und musste also mit. Dort war
es wirklich schrecklich laut. Man verstand sein eigenes Wort kaum.
Durch die blitzenden Lichter wurde man fast blind und ohnmächtig.
Ich kann mir gut vorstellen, wie da Drogen wirken können. Geraucht
wurde massenhaft, fast jeder Jugendliche lief mit einer Zigarette
herum. Die erste halbe Stunde tanzten wir, dann setzten wir uns
hin und versuchten, so weit es möglich war, uns bei dem Lärm zu
unterhalten. […] Eigentlich gefiel mir die Atmosphäre in der Disko.
Das hätte ich nicht gedacht. Beim nächsten Mal gehe ich wieder hin,
da bin ich mir sicher.
Nachtrag vom 08.08.1997: Ich bin doch nicht wieder in die Disko
gegangen. Ich habe immer noch eine Abneigung gegen sie.
Sonntag, 09.03.1997
Jetzt bin ich schon 16. Wer weiß, wie viele Jahre ich noch leben darf.
Fünf Minuten nach Mitternacht bekam ich meine ersten Geschenke.
Da eine Freundin gestern ihren Geburtstag gefeiert hat und wir bei
ihr übernachteten, wurde es gleich im Anschluss eine Feier für mich.
[…] Papa hat nicht angerufen, aber man kann nicht an alles denken.
Freitag, 04.04.1997
Papa ist in der Stube und unterhält sich mit Mutti. Vielleicht hat er
Probleme und braucht jemand zum reden. Es tut mir weh, dass mein
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Innerstes sich dagegen wehrt, ihn sehen zu wollen, denn mir kommt
es so vor, als würde er immer lügen, wenn er nur den Mund aufmacht. Doch ich weiß es nicht und ich weiß auch nicht, ob es wirklich
gut ist, die Wahrheit wissen zu wollen. Vielleicht streue ich nur mehr
Salz in jedermanns Wunden. Warum muss ich auch immer Fragen
stellen über die Scheidung und den ganzen Scheiß (Verzeihung)?!
Seit Mitte März bis noch Mitte April kann die Welt einen Kometen
sehen. Wir hier in Deutschland konnten ihn die letzten Tage gut vor
Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang sehen. Er heißt »HaleBopp« und ist erst in 2.473 Jahren wieder zu sehen (ich weiß nicht,
ob die Zahl stimmt, habe sie irgendwann irgendwo gelesen). […] Bevor er erschien, haben viele Sekten in der Welt sich und ihre Umwelt
verrückt gemacht, weil sie glaubten, er würde uns töten. Der Weltuntergang sei gekommen oder Christis Wiederkehr. Es begingen auch
einige Selbstmord. Schon komisch. Diese Menschen dachten wirklich,
sie müssten sterben, und jetzt geht alles ganz normal weiter, ohne
sie. […] Andere haben sich auch umgebracht, um mit ihm zu Jesus
zu fliegen. Das sind Dinge, die kann ich einfach nicht verstehen. […]
Als Letztes will ich noch sagen, dass ich mich sehr gefreut habe, ihn
zu sehen. Wer weiß, wie viele Kometen ich in meinem Leben noch zu
sehen bekomme.
Sonntag, 06.04.1997
Wir haben die Jugendweihe meiner Cousine gefeiert in einer Gaststätte. Danach feierten wir bei ihr zu Hause weiter. Mutti ist
stockbesoffen und ich schäme mich für sie. Warum kann sie sich nicht
zusammenreißen und wenig trinken? Sie ist die Einzige, die betrunken ist von allen, schon wieder. Dem Taxifahrer wollte sie 50,- DM
geben. Ich konnte sie noch zurückhalten und ihm das Geld geben, das
mir meine Tante gegeben hatte. Als Mutti dann so die Treppen vor
mir hochschwankte, wünschte ich mir: »Stirb. Fall um und stirb
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
einfach. Das ist besser für dich.« Ich hasse diese Momente, wenn ich
ihr den Tod wünsche, denn nächste Woche ist alles wieder normal
und ich werde froh sein, sie zu haben, bis sie sich wieder betrinkt,
und ich werde sie dann wieder hassen. Ich möchte ja keine perfekten
Eltern, aber bitte keine Alkoholikerin als Mutter.
Ich vermisse Papa. Papa habe ich nie betrunken erlebt. Ich liebe ihn.
Sonntag, 27.04.1997
Heute hatte ich den ersten Auftritt mit dem Akkordeonorchester.
Wir spielten in Burgscheidungen auf einer Kirmes. […] So richtig
Lampenfieber hatte ich nicht. Es ist schön, anderen Menschen Musik
vorzuspielen.
Es ist unerträglich für mich, aber irgendwie kann ich seit Kurzem alles gut verdrängen. Alle Probleme einfach ausschalten, unbewusst, so
dass ich sie vergesse. Aber das beängstigt mich auch. Ich merke, wie
ich mich immer mehr von den Anderen abkapsle. Ich will das aber so.
Ich werde krank in Gegenwart vieler Menschen und großen Lärms.
»Freunde« wollen mich aus meiner Höhle rausholen und laden mich
ein in Diskos und so was. Aber das will ich nicht. Ich will allein sein.
Jede freie Minute, die ich habe, will ich meine Ruhe haben, deshalb
sage ich alle Einladungen ab. […] Alle leben nur nach dem Motto
»So wie du mir, so ich dir«. Das macht mich krank. Diese Falschheiten und Boshaftigkeiten – damit will ich nichts zu tun haben.
Donnerstag, 01.05.1997
Heute war ein wunderschöner Tag. Papa, Bastian, unsere kleine
Halbschwester (4) und ich waren Eisessen. Danach fuhren wir zu
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
ihm nach Hause. Dort ist es sehr schön. Bastian hat gleich Spiele am
PC gespielt. Unsere Halbschwester ist richtig süß und ich könnte
mich in sie verlieben. Ich kam mir vor wie in einer Traumwelt. Uns
würde es bestimmt gut gehen, wenn wir bei Papa leben würden.
Das mit seiner Freundin ist ja dasselbe wie mit Mutti und Robert
(die haben sich übrigens wieder mal getrennt). Ich freue mich auf
die Pfingstferien. Er will mit uns drei nach Geiselwind fahren. Aber
ich fürchte noch, dass es vielleicht wieder nicht klappt – wie immer,
wenn ich mich auf was freue.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 08.05.1997
Ich habe wieder einen aufregenden Feiertag hinter mir. Ich war mit
dem Orchester in Glindow in der Nähe von Potsdam. Nach dem Auftritt fuhren wir noch in den Filmerlebnispark »Babelsberg«. […] Es
war lustig. Man fühlte sich wie in einer großen Familie. Wie schön
wäre es doch, wenn ich meinen Papa mitnehmen könnte zu solchen
Fahrten.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mein Bruder und ich, wir stritten uns – zeitweise sogar so heftig,
dass wir uns mit Messern gegenseitig durch die Wohnung jagten,
wenn unsere Mutter nicht da war. Aber in der größten gemeinsamen
Not hielten wir zusammen. Ihn zu beschützen und vor Prügelstrafen
zu bewahren, sah ich schon früh als meine Aufgabe an.
Ab dem Zeitpunkt, als mein Bruder im Alter von drei oder vier
Jahren mehrmals von zuhause weggelaufen war und ich ihn jedes
Mal – von Mutter beauftragt – suchen gehen musste mit der Androhung, ja nicht ohne ihn zurück zu kommen, wusste ich: Auch mein
kleiner Bruder, der innerhalb unserer kleinen Familie von Anfang
an den Clown und Kasper spielte und sich nie beklagte, litt ebenso
sehr wie ich, auch wenn wir nicht darüber sprachen. Ich als seine
große Schwester musste einfach alles tun, um ihn zu beschützen,
auch wenn mir das oft nicht gelang. Aber es gab ja niemand anderen
sonst, der das getan hätte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich
beispielsweise die Unterschrift unserer Mutter fälschen lernte, damit
sie die Einträge der Lehrer im Hausaufgabenheft meines Bruders
nicht zu sehen bekam. Denn das hätte für ihn Prügel bedeutet.
Ihn und mich verbindet bis heute ein ganz besonders inniges Geschwister-Band.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 18.05.1997
Ich hätte nie gedacht, dass das Thema »Vater« mich wirklich so beschäftigt. Eigentlich, muss ich zugeben, war es immer ein Thema, in
das ich mich vertiefen konnte; ein Problem, dem ich all meine jetzigen
Probleme zuschrieb. Ich steigerte mich in es hinein und bemitleidete
mich selbst. Manchmal war es bestimmt wahr, aber jetzt kommt es
mir sogar so vor, als würde es wirklich schwer auf meiner Persönlichkeit lasten.
Eben während des Films »When a Man loves a Woman« überkam
mich plötzlich ein Weinkrampf während des Songs »Everybody
hurts«. So viele Gleichheiten mit meinem Leben (die Ehefrau und
Mutter war auch Alkoholikerin). Ich konnte so vieles mitfühlen. Und
dann brach alles in mir zusammen. Mich schmerzte der Gedanke
an meinen Vater. Mutti nahm mich einfach in die Arme und sagte
nichts. Das war gut so, denn ich wollte ihr nichts erklären müssen.
In mir drin ist alles so durcheinander. Wie sollen mich Andere
verstehen, wenn ich mich nicht mal selber verstehen kann? […] Ich
möchte keine Hilfe, aber ich möchte jemanden, der mir zuhört, weil
er es will, nicht weil er es muss. Ich möchte aber gar nicht mein Innerstes enthüllen. Jedes Mal, wenn ich es getan hatte, fühlte ich mich
danach nackt und bereute es. […]
Ich bin so widersprüchlich. Manchmal hasse ich es, manchmal gefällt
es mir.
Ich träume von Selbstmord, obwohl ich es nie tun würde, jetzt
jedenfalls 100%ig nicht. Ich träume davon, mir mit Messern in die
Finger zu schneiden und schon oft stand ich in der Küche und dachte
darüber nach.
Ich frage mich, warum ich so menschenscheu bin, warum ich mich
immer wie das fünfte Rad am Wagen fühle. Schließe ich mich nicht
oft selber aus? Warum habe ich so große Abneigung gegen Diskotheken, Jugendliche, und die Worte »cool« und »geil«? […]
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Vertrauen ist eine Sache, mit der ich nicht spielen kann. Und wenn
ich ehrlich bin, will ich auch niemandem vertrauen, denn um so
weniger kann ich verletzt werden.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 20.05.1997 – 22:22 Uhr
Ich habe mir mehrmals mit einer Rasierklinge in den Daumen geritzt.
Ich weiß auch nicht warum. Es tut nicht weh. Das Blut gefällt mir.
Warum?
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Heute kann ich rückblickend zu diesem Ereignis sagen:
Der dauerhafte seelische Schockzustand, in dem ich mich bereits fast
mein ganzes Leben lang befand – plus die zusätzliche innere Qual
wegen der nicht veränderbaren katastrophalen Zustände in unserer
Welt (Hunger, Elend, Verschmutzung, Krieg, Krankheiten) – hatten
einfach seinen Höhepunkt erreicht und das Fass zum Überlaufen
gebracht. Ich hatte ein Ventil gebraucht, um nicht vollends durchzudrehen.
Das Selbstverletzende Verhalten (SVV) sollte zu einem für mich sehr
belastenden Geheimnis werden für meine etwa zehn darauf folgenden Lebensjahre.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 25.05.1997
Am Freitag waren wir im Freizeitland »Geiselwind«. Wir waren zu
acht: Papa, seine Lebensgefährtin, Bastian, unsere Halbschwester
(4), ihre Halbschwester (9), deren Freundin (9), der Halbbruder von
Papas Lebensgefährtin (12) und ich. Früh um 6 Uhr fuhren wir los.
Ca 10 Uhr waren wir da. […] Die Lebensgefährtin von Papa ist nett,
aber ich kann nicht sagen, ob sie immer so ist oder ob es nur gespielt
war. Ich weiß es wirklich nicht und ich will auch nicht darüber
nachdenken. Ich wollte Papa sagen, wie sehr ich ihn liebe und brauche, aber ich kam nicht dazu. Mutti tat mir leid, weil sie nicht hatte
mitfahren können. Sie trank ein paar Gläser Schnaps am Abend, weil
sie sich Sorgen gemacht hatte. 21 Uhr waren wir wieder zuhause und
Mutti hat sich sehr gefreut.
Gestern erzählte sie mir noch, sie hätte am Freitag Abend geweint
und gedacht, wir wären wirklich tot, denn in den Nachrichten kam
ein Bericht über einen Busunfall, in dem auch Kinder waren. Ursprünglich sollten bei uns auch noch mehr Kinder mitfahren und so
wusste Mutti nicht, dass wir statt mit einem Bus mit einem kleinen
Transporter gefahren waren.
Ich glaube, sie würde sterben ohne uns.
Sonntag, 01.06.1997
Papa war am Freitag da, spät am Abend. Er war aber nicht wegen
uns da, nein. Er kam, weil er es nicht lassen kann, fremd zu gehen.
Er ist wirklich hierher gekommen, um mit Mutti Sex zu machen. Ich
verstehe das nicht. Wie kann er sich das trauen, wenn Bastian und
ich da sind (Bastian hat ihn gar nicht bemerkt). Wie soll ich ihn noch
lieben können? Wollte Mutti mir wieder einmal zeigen, wie schlecht
Papa ist? Aber ich kann ihn nicht hassen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, wenn sie es gerade treiben, mit aufgeritzten Armen
137
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
ins Zimmer zu kommen und zu sehen, wie Papa reagiert. Aber ich
könnte es nie, ich würde ihn verlieren (oder habe ich ihn schon verloren?). Er lügt so viel, warum? Er betrügt so viel, warum? Wie soll
ich es denn glauben, wenn er sagt, er liebe uns? Ich glaube, ich werde
mein ganzes Leben lang nur Bastian wirklich lieben können.
Samstag, 07.06.1997
Mutti hat eben Bastian verprügelt (oh Gott, er hat soo geschrien!).
Mich hat sie nur angeschrien, ich solle nicht die Mutter von Bastian
spielen und warf Straßen- und Hausschuhe nach mir. Ich weiß nicht,
wie es Bastian geht. Er soll im Schlafzimmer bleiben und ich hier im
Kinderzimmer.
Am schlimmsten ist, dass ich Mutti verstehen kann, zumindest ein
bisschen. Aber ich will es nicht verstehen. Ich will sie hassen. Ich
will ihr abends nicht mehr beim Putzjob helfen, nicht mehr mit ihr
einkaufen oder auf Ämter gehen müssen (wegen ihrer Ängste braucht
sie mich dafür). Ich will sie nie wieder sehen. Ich will, dass sie aus
meinem Leben verschwindet.
Hinzu kommt, dass ich mich schuldig fühle. Zu einem Streit gehören
immer zwei, aber Bastian hat alles abgekriegt. Hoffentlich hasst er
mich nicht, denn ich liebe ihn mehr, als ich irgend jemand anderen je
geliebt habe.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Verschlossene Tore
Was ist der Mensch?
Ist er sich seiner Existenz bewusst
oder lebt er nur, ohne zu fragen?
Was weiß er?
Was glaubt er zu wissen
aufgrund des Überlebens mehrerer Jahrtausende?
Wie vielen seiner Antworten schenkt er wahren Glauben?
Ist er fähig zu glauben
oder wirft er es immer wieder ab,
um sein Nichtwissen zu verbergen
oder seinen Verstand zu schützen?
Wie definiert er Verstand?
Ist er nicht relativ und individuell?
Was glaubt er, mit ihm zu verstehen?
Muss es verstanden werden,
das, was er nicht weiß?
Es zeigt seinen Nichtglauben,
der ihn versteckt hinter den Antworten.
Wie viel muss er noch verstehen lernen,
um endlich zu verstehen?
Wie viele Teleskope muss er noch schaffen,
um endlich in die Seele schauen zu können?
Wie viele Sprachen muss er noch erforschen,
um den Sinn von Worten zu verstehen?
Wie viele Gehirne muss er noch untersuchen,
um den Geist zu finden?
Warum ist er nicht einfach still und ruhig
und wartet auf die Antworten,
deren Fragen er noch nie erdacht hat,
deren Einfachheit es kompliziert werden lässt?
Warum?
Weil er weiter schauen muss als nur bis zur Grenze,
hinter der er nichts erwartet,
denn sie gilt als unüberschreitbar
und ist geltend.
Warum die Angst, der Zweifel, die Blindheit
vor dem, was ist, war und immer sein wird?
Nicht nachweisbare Grenzen müssen überschritten werden.
139
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Aber wovor hat er Angst?
Dass er vielleicht vergeblich nach Grenzen sucht
und er mit seinem wenigen Wissen weiterleben muss?
Oder davor, dass seine geschaffene Welt ins Bröckeln gerät
hinter den überschrittenen Grenzen?
Aber das tut sie doch schon immer.
Juni 1997
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Freitag, 11.07.1997
Ich glaube, ich werde verrückt.
Heute kam Onkel Peter mit seinem Freund Hans (Name geändert)
vorbei. Wir haben unser Abendbrot auf dem Raclette-Grill von Onkel
Ralf (Name geändert) gemacht. Danach gab‘s Alkohol. Ich habe zwei
Gläser Wein getrunken, fühlte mich aber normal, nur müde. Mutti hat betrunken wieder dummes Zeug gequatscht. Als dann noch
»Don‘t speak« von ‚No Doubt‘ auf Kassette kam, überkam es mich
und ich stürzte auf den Balkon und weinte Rotz und Wasser. Ich
stand dann auf und wollte auf die Balkonbrüstung steigen. Ich sah
mich schon da oben und stellte es mir aufregend vor, kopfüber zu
springen, habe es dann aber nicht getan. Ich wollte schreien, mich
drehen und um mich schlagen, aber das ging ja nicht. Die Anderen
hätten es gehört und gesehen. Stattdessen weinte ich. Als Hans und
Peter weggegangen sind, habe ich es nicht mehr ausgehalten, ging
ins Bad und ritzte mehrmals je in Zeige-, Mittel-, Ring- und kleiner
Finger. Der Schmerz war sehr kurz. Aber die Schnitte sind tief und
es blutete mehr als beim vorigen Mal, viel mehr. Ich musste Pflaster
draufmachen, weil es nicht aufgehört hat. Aber ich bin glücklich, es
getan zu haben. Ich bereue nichts.
Werde ich langsam verrückt?
141
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Maskenträger
Was bringt Menschen dazu,
Lügen als Wahrheiten zu verkaufen?
Sie verschleiern die Wahrheit
mit einem Schwall an Worten;
Worten, die für ihre Lügen missbraucht werden.
Der Redner müsste dabei rot im Gesicht werden,
aber er wird es nicht.
Eine Maske kann sich nicht verfärben.
Juli 1997
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Vom 02.08. - 16.08.1997 war ich mit Klassenkameraden auf einem
Campingplatz in der Mecklenburger Seenplatte. Viele Tagesausflüge
mit Fahrrädern oder Paddelbooten, sowie gemeinsame Spieleabende, Lagerfeuer, Baden in den Seen aber auch Unstimmigkeiten und
Streitigkeiten bestimmten diesen Abenteuerurlaub.
Mittwoch, 06.08.1997
Ich habe schreckliches Heimweh (habe schon geweint). Mit fehlt die
Liebe meines Bruders und meiner Mutter. Es sind hier zwar meine
Freunde, aber ich fühle mich unverstanden. Ich habe bei ihnen keine
Stütze. Ich fühle mich nicht als festes Mitglied unter ihnen. Ich fühle
mich allein. Ist das nur Einbildung? Warum können sie nicht verstehen, wie ich bin?! Ich möchte nur noch schlafen und von meiner
Familie träumen.
Montag, 11.08.1997
Gestern Abend waren fast alle böse auf mich. Ich bin zum Strand
geflüchtet und habe geweint. Sie haben mich nicht vermisst. Nach
Sonnenuntergang bin ich erst wieder zurück. Jetzt sitze ich wieder
am Strand, allein. Die Anderen kochen Abendessen. Ich habe sowieso
keinen Hunger. Ich habe nur noch 43,- DM. Das reicht nicht für die
restlichen Tage, weil wir morgen nach Rostock ins Kino fahren und
am Mittwoch eine Fahrradtour machen. Also hungere ich.
PS: Ich habe mir gestern aus Ärger, Einsamkeit und Enttäuschung,
weil ja alle böse auf mich waren, als ich das Zelt nicht wechseln
wollte, mit dem kleinen Nassrasierer für meine Beine in den Arm
geritzt. Sieben Ritze habe ich, aber sie sind nicht sehr tief, weil ich die
Klingen nicht aus dem Rasierer heraus bekam. Das Blut hat mir wie
immer gefallen. Ich habe extra langsam geritzt, damit der Schmerz
143
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
länger dauert. Dann habe ich die Binde herum gewickelt, die ich um
meinen verstauchten Fuß gehabt habe. […] Warum sperre ich mich
immer vor den Anderen aus?
Dienstag, 12.08.1997
Heute waren wir in Rostock im Kino. […] Ich habe zu Hause angerufen. Der Schock: Mutti ist wieder mit Robert zusammen. Ich
halte das nicht mehr aus, dieses Hin und Her. Wenn Mutti wieder
anfängt, zu heulen und sich über Robert zu beschweren, raste ich
aus. Ich will nicht mehr. Ich mag Robert, aber entweder glücklich
zusammen oder gar nicht.
Jetzt kochen die Anderen wieder ihr Abendbrot. Ich sitze mit dabei,
weil es schon dunkel ist und ich nicht allein am Strand sitzen will.
Ich habe keinen Hunger. Am liebsten wäre ich unsichtbar. Ich vermisse meine Familie, am meisten Bastian.
Montag, 18.08.1997
Als ich Donnerstag Nacht »betrunken« war, fühlte ich mich richtig gut. Ich weiß, es ist blöd, aber in dieser Nacht stand ich mal im
Mittelpunkt, man hörte mir zu. Klar, ich wusste, sie nehmen es nicht
ernst, aber niemand widersprach mir oder unterbrach mich. Ich genoss diesen Schein von Respekt. Ich wusste, am nächsten Tag würde
ich wieder ein Niemand sein. So war es auch und ich wollte wieder
betrunken sein. Das ist doch total bescheuert, nicht wahr? Aber ich
würde es nochmal tun. Ich fühlte mich wie der letzte Dreck, wie das
hässliche Entlein unter den schönen Schwänen am nächsten Tag.
Aber so kam ich mir nicht das erste Mal vor. Bitte, lass mich nicht in
Alkohol oder Drogen abstürzen. Rette mein verletztes Ich.
144
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 31.08.1997
Heute ist etwas Schreckliches geschehen. Lady Diana, Prinzessin von
Wales, ist tot. […] Die Welt ist geschockt. Mutti und ich können es
auch immer noch nicht glauben. Nachdem wir es erfuhren, hielten
wir uns weinend in den Armen.
Dienstag, 09.09.1997
Heute habe ich einen Brief an das BRAVO Dr.-Sommer-Team geschickt, hoffentlich war es kein Fehler. Um 19 Uhr gehe ich mit einer
Freundin in die Marienkirche zu einer Theateraufführung. Thema ist
»Sexueller Missbrauch«.
Samstag, 13.09.1997
Vor einer Woche wurde Lady Diana beerdigt. 2,5 Milliarden Menschen haben es im Fernsehen gesehen, ich ebenfalls. Ich musste oft
weinen. Am Freitag davor, also am 05.09.1997, war auch Mutter
Teresa gestorben. Es ist ein trauriger Monat. […] Es ist zu traurig.
Ich kann nicht mehr drüber schreiben.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Meine Mutter hatte mich dazu
überredet, mit ihr zu einem Rockfestival zu gehen, das in unserer
Stadt (bzw. auf einem großen Platz an der Saale) stattfand. Wir
standen ganz vorn. Ich war total begeistert. Das Beste kam aber erst
noch:
Die Band »Rockhaus« ließ jemanden aus den ersten Reihen auf die
Bühne holen. – Tja, und sie schnappten sich mich! Mich schüchternes
Ding. Da stand ich nun vor (ich weiß nicht wie vielen) Menschen,
Arm in Arm mit dem – für mich damals sehr attraktiven – Sänger
und wusste gar nicht, wie mir geschah.
Das war ein echter Pusher für mich, denn ich fühlte mich zum erstem Mal gefeiert und akzeptiert. Ein echt tolles Gefühl!
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 02.10.1997
Heute ist die Antwort vom BRAVO Dr.-Sommer-Team gekommen.
Sie raten mir beispielsweise eine Aussprache mit einer psychologischen Beraterin. Ich kann mich auch an diesen Herrn, der diesen
Brief verfasst hat, wenden, ob telefonisch oder schriftlich.
Es ist so pervers von mir: Ich wünsche mir indirekt, krank zu sein
– ob physisch oder psychisch. Ist es normal, so zu denken? Ganz
bestimmt nicht.
Durch den Schulstress bin ich viel zu schwach, um über sowas und
anderes nachzudenken. Ich möchte einfach nicht mehr darüber nachdenken. Ich will alles vergessen, wirklich alles.
Montag, 06.10.1997
Ich habe heute wieder einen Brief an das BRAVO Dr.-Sommer-Team
geschrieben. Ich habe jetzt große Angst, dass Mutti den Antwortbrief
in die Finger kriegt und ihn liest. Oh, bitte, bitte nicht.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Jackie – oh mein Lichtblick.
Ich hatte mit 16 Jahren begonnen, Hunde aus dem
Tierheim gassi zu führen. Meine Mutter – das
erzählte sie mir aber erst viel später – spürte, dass
ein Hund meiner Seele sehr gut tun würde. So
fand Jackie, ein ebenso traumatisiertes Wesen, wie
ich es damals war, im Oktober 1997 in mein Leben
und bereicherte es mehr, als mir damals bewusst
war. Als wir unsere ersten Kämpfe miteinander
ausgefochten hatten (denn Vertrauen fiel uns
beiden sehr schwer), liebte ich ihn mehr als mein
Leben – und er liebte mich, wie das Hunde auf so
eine sprachlose Weise tun, bedingungslos.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 04.11.1997
Ich weiß nicht, ob ich das schonmal erwähnt habe, aber mein Opa ist
Alkoholiker, schon immer gewesen. In seinem Rausch ist er schon
häufig gestürzt und hat auch geblutet. Er ist unfähig, sich selbst zu
versorgen, deshalb bekommt er von Oma alles, obwohl die beiden geschieden sind. Vor zwei Wochen war er wieder gestürzt und seitdem
nicht aus dem Haus gegangen, weil ihm dann schwindelig wurde.
Er hat eine Riesenbeule am Kopf. Heute hat Mutti ihn zum Arzt
gebracht und jetzt? Jetzt ist er im Krankenhaus. Wir wissen noch
nicht, was er hat.
Ich weiß nicht, was ich hoffen soll. Soll ich wünschen, dass er stirbt
und erlöst wird von seinem elendigen, unakzeptierten Leben oder soll
er überleben und weiterhin alle vier Wochen im Krankenhaus landen,
weil er wieder im Rausch gestürzt ist? Das ist doch kein Leben! Er
wird überleben und die ganze Familie sieht ihn als eine Last. Ich
möchte nicht darüber nachdenken, weil ich sowieso nicht mit entscheiden darf.
Donnerstag, 06.11.1997
Ich hatte Streit mit Mutti und dabei sagte ich zu ihr, sie sei bescheuert. Ich habe mich zwar gleich entschuldigt, aber ich kann nicht
verlangen, dass sie mir das verzeiht, denn der Streit begann auch
wegen eines Fehlers von mir. Aber was ich gesagt hatte, meinte ich
in diesem Moment total ernst. Wenn ich es zulassen würde, hätte
ich viel Hass gegen sie in mir wegen vieler Dinge, wie das frühere
Schlagen, ihre Männergeschichten, ihr Alkoholproblem, was für sie
keines ist, ihre sprunghaften Launen und die schlechte Erziehung, die
wir von ihr bekommen.
Sie ist dann mit Jackie Gassi gegangen und mit Tränen in den Augen
holte ich die Rasierklinge, ein Zellstoff und ritzte drei Mal. Es ging so
schnell, dass ich nicht darüber nachdenken konnte. Es tat nicht weh
149
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
und blutete ziemlich viel, mehr als bei den vorigen Malen. Ich dachte,
ich würde es nie wieder tun. Es ist schwer, sich selbst hassen zu
wollen, weil man denkt, man müsse es.
Ich habe niemanden und brauche auch niemanden.
PS: Bastian raucht. Er weiß nicht, dass ich es weiß. Er belügt uns.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mutti sage ich nichts. Die rastet nur
wieder aus, weil sie nicht darüber nachdenkt. Sie würde es dumm
angehen. Ich verliere Bastian.
Dienstag, 11.11.1997
Wir (Orchester) waren die Ersten auf der Bühne bei diesem Faschingsfest. Vorher hatte ich Lampenfieber, aber dann war alles weg.
Es machte nur noch Spaß. Nach 22 Uhr (wir feierten noch weiter)
gingen wir. Mutti war nicht dabei. Sie hatte gesagt, ich solle anrufen,
wenn sie mich holen soll, aber es war kein Telefon da. So wollten Katrins Eltern mich mitnehmen, Mutti konnte ich nicht Bescheid sagen.
Mutti hatte aber seit halb 9 auf mich gewartet. Zu Hause gab sie mir
eine Ohrfeige und sagte, ich solle schnell 18 werden, damit sie mich
raus schmeißen kann. Ich habe nicht geweint, warum auch, so war
es ein schöner Abend. Ich hasse Mutti, sie ist keine gute Mutter. Sie
unternimmt nie etwas mit uns, nimmt nicht an den Sachen teil, die
uns Spaß machen, und sie ist ungerecht und schlägt. Nein, ich werde
nicht weinen. Nur noch zwei Jahre, das schaffe ich.
Ich wünschte, sie hätte mich grün und blau geschlagen, anstatt mich
in mein Zimmer zu schicken. Das ist nämlich schlimmer.
War es meine Schuld? Bestimmt, ich habe immer Schuld. Ich bin
schlecht, faul, böse und hinterhältig und rücksichtslos und gewissenlos. Ich verdiene es nicht zu leben. Ich bin doch nur eine Last (jetzt
habe ich doch geweint bei diesen Worten).
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mittwoch, 26.11.1997
Mutti ist betrunken. Als ich nicht dabei war, wollte sie Jackie streicheln. Er hat ihr in den Finger gebissen, warum, weiß sie nicht (er
hatte wohl Angst vor ihr, meine Vermutung). Hilflos wie ein Kind
stand sie mit dem Handtuch da und wischte sich das Blut weg. Ich
machte ihr ein Pflaster drauf, weil es relativ viel blutete. Ich hasse,
wenn sie so betrunken ist, so hilflos ist. Ich kann auch nichts gegen
ihre Trinkerei sagen. Witze kann sie darüber auch nicht verstehen.
ICH VERSTEHE SIE NICHT!
PS: Wenn Mutti betrunken ist, spielt meine Phantasie verrückt – immer – wie jetzt. Wenn sie so oft aufs Klos geht, habe ich Angst, dass
sie reinkommt und Jackie oder gar mich und Bastian umbringt. Ich
fühle mich nicht sicher vor ihr. Ich traue ihr alles zu. Dieses Misstrauen macht mir Angst.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Innere seelische Qual, die ich nach außen gut verbergen konnte, war mein Dauerzustand. In meinen
Bildern konnte ich ihm Ausdruck verleihen, ohne
mich selbst preisgeben zu müssen, denn Mutter
Erde litt ebenso.
Meine privaten Zeichnungen habe ich übrigens
bis etwa zu meinem 20. Lebensjahr niemandem
gezeigt.
152
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 02.12.1997
Opa ist doch nun schon seit längerer Zeit im Krankenhaus. Sie haben
endlich gefunden, was er hat: Alzheimer. Diese Krankheit macht mir
Angst.
Dienstag, 09.12.1997
Ich merke immer öfter, wie sehr ich mich nach einer männlichen
Schulter sehne und ich weiß, ich werde noch warten müssen. Zu
Männern habe ich irgendwie ein gestörtes Verhältnis. Einerseits habe
ich Angst vor ihnen, andererseits fühle ich mich zu ihnen hingezogen, wenn sie anständig und gepflegt aussehen. Dieses Gefühl möchte
ich aber nicht. Ich möchte frei von Begierde und Lust sein.
Montag, 15.12.1997
Ich will dem Normalen entfliehen. Ich will in meine Traumwelt und
dort bleiben. Mit Anderen möchte ich nichts mehr zu tun haben. Sie
verletzen mich und das will ich nicht mehr.
Ich kann diese Gehässigkeiten unter den Menschen nicht mehr
ertragen. Ja, ich bin vielleicht nicht besser, aber ich gestehe es mir
wenigstens ein. Es schmerzt – noch lange. Es wird nie aufhören. Ich
will fliehen. Aber wohin? In eine Welt der Stille.
Samstag, 20.12.1997
Gestern Abend habe ich mir wieder in den Arm geritzt, langsam,
damit der Schmerz länger ist. Ich bin so allein.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Gestern war Weihnachtsfeier von unserem Orchester. Es war schön,
aber ich hatte keine Freude. Ich sah nur die vielen Muttis und Vatis
der Anderen. Sie haben noch beide Elternteile, die sogar mit auf unsere Feier kommen. Ich bin oft auf Toilette und habe geweint.
Heute, auf der Geburtstagsfeier von Onkel Max (Name geändert),
hat Mutti sich wieder betrunken, zwar nicht als Einzige, aber sie hat
es getan. Ich hasse, hasse, hasse es! Beim 22 Uhr Gassi gehen mit
Jackie bin ich mit, weil ich Angst hatte, dass Mutti ihn frei lässt.
Wenn sie betrunken ist, kommt sie auf die seltsamsten und dümmsten Sachen. Danach musste ich Jackie bei uns im Zimmer einsperren,
weil Mutti Hunger hatte und ihm auch was geben wollte. Dabei ist
er doch krank (Gelbsucht)! Jetzt liegen ihre Kleider überall verteilt in
der Wohnung rum und morgen weiß sie gar nichts mehr davon. Ich
fühle mich so verlassen.
Bastian hat mich heute auch im Stich gelassen. Er ist lieber ins Bett
und hätte mich vorhin allein Gassi gehen lassen, wenn Mutti nicht
auf einmal unbedingt mitgewollt hätte.
Ich bin so allein. Ich glaube, aus dieser Einsamkeit komme ich nicht
mehr raus und irgendwie habe ich aufgegeben. Die Schale um mich
herum wird immer härter und der Kern immer verletzlicher.
Ich hatte versucht, Papa anzurufen, aber er war nicht ans Telefon
gegangen. Er hatte den Anrufbeantworter an. Ich vermisse ihn so. Ich
wünsche mir, mit ihm Weihnachten zu feiern.
PS: Ich träume gern von Selbstmord. Aber in dem Traum weiß ich,
dass ich gerettet werde. Hoffentlich kommt es mal nicht so weit, dass
ich mir wirklich die Pulsadern aufschneide.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 21.12.1997
Onkel Richard (Name geändert) übernachtet heute bei uns. Einerseits
freue ich mich, andererseits habe ich Angst vor ihm; Angst, dass er
mich irgendwie belästigen könnte, was totaler Unsinn ist, denn er
hat ja selbst zwei Kinder. So geht es mir aber mit jedem Mann. Ist
das normal? Bin ich normal? Muss ich normal sein?
PS: Ich habe wirklich Angst, sobald ich ihn höre.
Samstag, 03.01.1998
Papa hat angerufen. Er sagte, seine Stimme wäre weg gewesen, deshalb kam er nicht zu Weihnachten. Ich weiß nicht, ob es die Wahrheit
ist, aber ich denke nicht darüber nach. Ich rede mir ein, ihn nicht zu
brauchen. Dann tut es nicht mehr weh, wenn er nicht kommt. Jetzt
will er am Dienstag kommen (wenn überhaupt). Ich freue mich nicht.
Ich will auch nicht mehr darüber nachdenken, wer von meinen Eltern
der schlechtere ist. Ich versuche nur, sie zu akzeptieren. Erschreckend
ist diese Gleichgültigkeit in mir, wenn ich Papa höre. Ich sage ihm
zwar, dass ich ihn liebe, aber eigentlich nur, um ihn nicht vor den
Kopf zu schlagen. Ich kenne ihn doch gar nicht. Kann ich ihn da
lieben?
Durch das Buch »In die Wildnis« ist mir klar geworden, wie sehr ich
mich danach sehne, mich von den Ketten der Gesellschaft zu befreien, aus der Welt der Menschen in die Welt der Tiere und Pflanzen
einzutauchen. Ich würde auch gern durch Amerika trampen, aber für
ein Mädchen ist das zu gefährlich.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 18.01.1998
Papa war heute da und hat mir das Geld für die Orchesterfahrt im
Februar gegeben. Er erzählte mir, dass er seit zwei Jahren selbstständig ist. Das heißt, er belügt uns schon seit zwei Jahren. Er sagt, er
hätte Schulden, und das noch für mehrere Jahre. Aber ich soll Mutti
nichts davon erzählen. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Aber wenn
man Schulden hat, kann man doch nicht umziehen und nach Frankreich reisen, oder? Er erzählte, er wohne jetzt in einer Wohnung mit
116qm. Ich weiß nicht, wie ich ihn weiter lieben soll, wenn ich ihm
doch nicht vertrauen kann.
Sonntag, 25.01.1998
Ich habe heute mit Jackie Papa besucht. Er war mit Susanne allein.
Ich glaube, ich könnte sie lieben. Ich musste drei Mal klingeln, ehe
Susi herunter kam und aufmachte. Sie sagte, Papa hätte aber das
mehrmalige Klingeln gehört. Er hätte ahnen können, dass ich es war,
weil wir heute telefoniert hatten und er mir gesagt hatte, er wäre allein mit Susi und ich könnte kommen. Vielleicht dachte er, ich würde
wieder gehen, weil zunächst keiner auf mein Klingeln reagierte.
Er zeigte mir das Video, das er aufgenommen hatte, als sie in Disneyland Paris voriges Jahr waren. Als seine Lebensgefährtin anrief,
durfte Susi nicht erzählen, dass ich da bin. Aber sie verplapperte sich
und sagte, ein Hund wäre da. Papa musste es nun sagen. Ich weiß
nicht, ob er es gesagt hätte heute Abend, wenn Susi sich nicht verplappert hätte. Ich habe beschlossen, ihn freiwillig nicht noch einmal
zu besuchen. Nur wenn er mich fragt, ob ich will, sonst nicht.
Ich glaube, es war ihm unangenehm, dass ich da war, auch wegen
Susi. Sie versteht ja nicht, warum ich auch »Papa« zu ihm sage.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ich glaube, ich weiß jetzt auch, warum ich mit dem männlichen Geschlecht ein Problem habe: Ich bin auf der Suche nach einer Vaterfigur, die Papa mir nicht geben kann. Ich liebe ihn nicht mehr wie vor
zehn Jahren. Es ist viel Zeit vergangen, zu viel schon. Ich weiß nicht,
ob ich überhaupt noch was für ihn empfinde.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Eine der wöchentlich stattfindenen Orchesterproben. (Ich bin auf dem Photo in der hintersten
Reihe.)
Auch wenn es oft stressig war, anstrengend oder
auch langweilig (weil wir ein Stück immer und
immer wieder wiederholen mussten, bis alle ihren
Part richtig spielten), so waren die Proben, die
Ausflüge und die Auftritte doch mit die schönste
Zeit meiner Jugend.
Photos von unseren Auftritten habe ich nicht. Meine Mutter, die vielleicht Bilder geschossen hätte,
war bei keinem unserer Auftritte dabei.
158
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Zwei Sekunden
Einst
ich glaubte zu träumen
für den Bruchteil einer Sekunde
entschwand ich dem irdischen Denken
der irdischen Realität
verließ diese Dimension
und sah
und fühlte
wie ich es in meinem irdischen Leben noch nie erfahren durfte
Unendlicher Friede
verbreitet über eine Welt ohne Zeit
Ruhe in solch beträchtlichem Maße
dass mein Herz vor Sehnsucht aufschrie
und sich sogleich auch der Liebe bemächtigen wollte
deren innige Tiefe mir eine Träne erzwang
ohne die ich nicht mehr glaubte leben zu können
Alles Existierende in meinen Erinnerungen löste sich auf
und schien nie existent gewesen zu sein
Erleichterung und Zufriedenheit schenkten mir ein Lächeln
die große Last auf meinen Schultern schien entfernt
Aber am Ende dieser einen Sekunde
folgte die nächste
und mit Entsetzen wurde mir bewusst
dass dieser Traum nur geträumt sein konnte
Und wieder spürte ich das schwere Erbe auf meinen Schultern
und aus meiner Freudenträne wurde ein Trauerstrom
der mich in dunkle Bitterkeit führte
aus der ich mich nur mit Mühen befreien konnte
Ich spürte wieder die Enge dieser Welt
und ihre Fesseln, ihren Horror
Ihre Kälte vereiste meine Tränen
Ihr Wahnsinn vernichtete alle Erinnerungen an meinen Traum
Ihre Hartherzigkeit vernichtete mein Lächeln
Panik ergriff mein Denken
da es diese rationale Welt ist
159
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
in der ich leben muss
und nicht meine Welt ohne Zeit
gebettet in allumfassende Liebe
Aber noch regte sich Hoffnung in mir
und ich fragte mich
ob es wirklich nur ein Traum war
und nicht gar das wahre Leben
nach unserem derzeitigen Leben
wenn wir aus diesen Erden-Alptraum erwachen
Februar 1998
Mit diesem Gedicht versuchte ich einen Traum festzuhalten, den ich
mit 14 Jahren geträumt hatte. In diesem Traum flog ich über unseren
Planeten, sah die Kriege, die brennenden Wälder, die verschmutzten
Flüsse und Meere, die Verhungernden, die Slums, uvm. Dann erwachte ich – aber nur im Traum – und befand mich plötzlich in einer
Welt des absoluten Friedens. Ich spürte sofort: Das ist mein Zuhause
und ich war unendlich dankbar, aus diesem Alptraum (dem Leben
auf der Erde) erwacht zu sein.
Dort waren zwei strahlend weiße Gestalten. Die eine saß, die andere stand etwas seitlich dahinter. Ich kniete mich vor das sitzende
strahlende Wesen, legte meinen Kopf in seinen leuchtenden Schoß
und weinte bitterlich über das, was ich in unserer Welt gesehen
hatte. Das leuchtende Wesen streichelte mir die ganze Zeit sanft über
den Kopf und beruhigte mich, dass es ja nur ein Traum gewesen sei
und nun wieder alles in Ordnung war. Bis dahin hatte ich in meinem
Leben noch niemals solch ein Gefühl von Liebe, Geborgenheit und
Sicherheit verspürt, wie in diesem Moment, in diesem Traum.
Tja, und dann wachte ich auf – und musste erkennen: Ich lebte in
diesem Alptraum (auf der Erde) – und aus diesem würde ich so bald
nicht erwachen – erst durch den Tod. Das war solch ein Schock für
mich, dass ich den ganzen Tag dann nur geweint hatte.
Ab diesem Moment aber war ich fest davon überzeugt, im Traum
tatsächlich zuhause gewesen zu sein, dort, wo ich hinkomme, wenn
ich sterbe. Es nahm mir ein wenig die Angst vor dem Tod – machte
mich sogar neugierig auf den Tod.
160
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Freitag, 06.02.1998
An irgendeinem Tag mal, da lag ich im Bett und für eine Sekunde
glaubte ich, der 2. Weltkrieg, die Atombombenabwürfe, all das Leid
auf der Erde wären nur ein Traum gewesen und ich würde aufwachen in einer friedlichen Welt. Es war schrecklich. Es versetzte mich
in Panik, weckte Scham und Angst, als mir klar wurde, dass all die
Gewalt und Zerstörung kein Traum waren. Diese Taten wurden
wirklich von Menschen auf unserer Erde begangen. Diese kurze
Erfahrung war für mich so entsetzlich, dass ich sie immer noch
nicht vergessen kann. Vielleicht durfte ich hinter den Tod schauen.
Vielleicht träume ich wirklich nur einen endlos scheinenden Traum
und wenn ich sterbe, wache ich auf und bin im »Himmel«, in einer
friedlichen Welt. Was ich in diesen wenigen Sekunden fühlte, kann
ich gar nicht wirklich in Worte fassen.
Samstag, 28.02.1998
Ich habe mir wieder den Film »Prinzen für einen Sommer« angeschaut. […] Ich musste schon wieder weinen an den selben Stellen,
und zwar bei den Liedtexten »Free, free, he just wanted to be free.«
und »Wall, burn, burn, to see the other side.« Dieser Film beinhaltet
so viel Hoffnung und Heilung!
Mittwoch, 11.03.1998
Heute hatte ich ein schönes anderthalb stündiges Gespräch mit meiner Deutschlehrerin Frau Otto. Ich hatte ihr vier Gedichte von mir
zum Lesen gegeben. […] Sie war begeistert. Es war schön, mal mit
jemandem über meine Gedichte zu reden, der sich damit auskennt.
Ich hätte noch stundenlang mit ihr weiter reden können.
161
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mahnung
Meine Fortsetzung zu dem Gedicht
»Mahnung« (geschrieben von Annemarie Bostroem)
Hier hast du meine Hände und mein Herz,
kannst du ihn damit lindern den Schmerz
der Welt? Sag mir, wie viel Zeit ist uns noch gegeben,
wie oft muss ich dir noch mein Herz und meine Hände geben?
Dächt ich über den Wahnsinn nach nur eine Stunde,
würd es in mir aufreißen eine klaffende Wunde.
Unsere Weltmeere, rot würden sie sich färben,
dächte die gesamte Menschheit nach über das sinnlose Sterben.
Gib du mir bitte keine Schuld.
Siehst du denn nicht auch meine Wut,
die in Flüsse verwandelt meine Tränen?
Ich bin zu schwach. Ewig werde ich mich grämen.
Denn ich höre sie schreien, die Opfer, gestorben durch den Unverstand.
Ihre Schreie wehen übers Meer an jeden Strand.
Woher sie kommen? Ihre Heimat ist jedes Land
der Welt, eingebettet in der roten Wiege des Untergangs.
Doch solange die Sonne aufgeht Tag für Tag,
solange neues Leben die Erde erstarkt,
solange wir noch das Gefühl von Freude erleben,
dürfen wir die Hoffnung auf Besinnung nie aufgeben.
März 1998
162
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sommernacht
Eine weitere Strophe von mir zu dem Gedicht
»Sommernacht« (geschrieben von Annemarie Bostroem)
So warm ist die Nacht,
dass das Meer die Wellen nicht tragen kann
und die Fische
in die tiefe Kühle fliehen,
aus der geheimnisvoll und leise
auf seltsame und doch vertraute Weise
die Dunkelheit entweicht.
Von glänzendem Staub bedeckt gleicht
das Meer Träumen
aus vergessenen Erinnerungen der Kindheit.
Verborgen unter der Last der Zeit
ruhen sie weitab
der Schwüle der Sommernacht
in der Tiefe der Glückseligkeit.
April 1998
163
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 24.05.1998
Eine sogenannte Freundin hat am Samstag eine Riesengeburtstagsparty mit Übernachtung gemacht. Ich wurde nicht eingeladen. Das
ganze Wochenende fragte ich mich, wie viel Spaß die wohl alle miteinander haben und warum ich nicht eingeladen wurde. Liegt es an
mir oder an ihnen? Bestimmt an mir, weil ich selbst keine Geburtstagsfeier mache. Die besagte Freundin kenne ich seit der 7. Klasse,
wir waren zusammen zelten und sind Partner im Volleyball.
Die Tatsache, dass ich von meinen sogenannten Freunden nicht zu
ihren Feiern eingeladen werde, bringt mich zu der Entscheidung,
dass ich mich ändern muss. Ich gebe mir so viel Mühe, andere zum
Lachen zu bringen, ihnen wirklich zuzuhören, Anteil zu nehmen
an ihren Erlebnissen und Gefühlen, ohne dass ich jemals Dank in
irgendeiner Form erhalte. Es kostet mich nur Kraft und nützt mir
selbst überhaupt nichts. Ich sollte vielleicht wieder das kleine schwarze Entlein werden, das nichts sagt, nichts fühlt und nichts sieht von
dem, was um es herum geschieht. Ich sollte vielleicht wieder in meine
kleine Welt fliehen und einen Schutzwall um mich bauen.
Dienstag, 26.05.1998
Mutti hat heute bei Bastian in der Hosentasche eine Kippe gefunden.
Als er von der Schule kam, sollte er in der Küche fünf starke Zigaretten hintereinander rauchen. Ich war nicht dabei. Ich wollte nichts
hören und nichts sehen, deshalb hatte ich die Kinderzimmertür zu
und habe mit Kopfhörern Musik gehört (ich hätte Mutti nicht davon
abbringen können). Die 1. Zigarette soll er ganz cool geraucht haben.
Bei der 2. und 3. soll er schon gezittert haben. Bei der 4. konnte er
auf einmal seine Arme und Hände nicht mehr bewegen. Mutti hatte
einen totalen Schreck gekriegt und dachte, er würde sterben. Sie rief
nach mir, doch ich hörte es nicht. Sie gab ihm Milch und brachte ihn
in ihr Bett. Er hat schon zwei Mal erbrochen und ist käseweiß. Hätte
164
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
er wirklich sterben können? Warum tut er sowas? Warum hört er
nicht auf uns? Fühlt er sich von uns vernachlässigt? Ich weiß es
nicht. Ich liebe ihn und bin enttäuscht. Ich habe große Angst um ihn.
Sonntag, 14.06.1998
Heute war der letzte Gottesdienst von der Amerikanerin Susan. Sie
war sieben Jahre in Deutschland und hatte in vielen Ortschaften
hier bei uns gepredigt. Sie hat Schwung und Humor in die Kirche
gebracht, aber dabei die Ernsthaftigkeit nicht vergessen. Ich war
begeistert von ihr. Unser Orchester spielte ein paar englische Lieder
als Begleitung. […] Susan wollte, wenn sie die Gemeinden schon
verlassen musste, wenigstens etwas in den Herzen und Köpfen der
Menschen verankert sehen: »Liebet einander; liebet euch selbst; streitet, aber reicht euch danach wieder die Hände. Das ist normal.« Es
ist aber gar nicht so leicht, sich wieder die Hände zu reichen, wenn
der Schmerz des Streites tief im Herzen sitzt und sich davor der Stolz
postiert hat. Ich bin kein Christ, aber ich möchte am Ende meines
Lebens sagen können, dass ich ein guter Mensch war und den Weg
der Weisheit gegangen bin.
Samstag, 20.06.1998
In meinen Gedichten sage ich oft, dass die Einsamkeit mein bester
Freund sei. Das stimmt aber nicht. Ich fühle mich so oft einsam, dass
es schmerzt. Der Schmerz wäre aber unerträglich, würde ich die
Einsamkeit als einen Feind ansehen. Deswegen ernannte ich sie zu
meinem Freund.
165
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mehrere Tage – weinend – habe ich an diesem Bild
gezeichnet.
166
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 27.06.1998
Ich fühle mich scheußlich. Bastian raucht immer noch. Wir haben
aufgegeben, es ihm abzugewöhnen. Er gleitet mir aus den Händen.
Ich habe die Beziehung von Mutti und ihrem neuen Freund zerstört.
Es ist Schluss mit den beiden, weil jeder zu seinen Kindern hält.
Mutti sagt zwar, es sei nicht mein Fehler gewesen, aber angefangen
hat es doch durch mich. […] Mutti ist jetzt in der Stube, hört laut
Musik und hat eine Flasche Schnaps.
Papa hat uns morgen zu sich eingeladen. […] Ich weiß, dass ich mich
auf meinen Vater nicht verlassen kann. So tut es nicht weh, wenn er
mal nicht anruft oder wenn er mal wieder (wie die letzten Monate)
nicht erreichbar ist. Mir ist egal, ob er lebt oder tot ist. Mir würde
es nur um die kleine Susanne leid tun. Ich habe keinen Vater mehr –
aber sie. Bei ihr hat Papa die Chance, alles wieder gut bzw. besser zu
machen, was er bei Bastian und mir nicht geschafft hat. Ich hoffe, er
nutzt diese Chance. Ich muss aufhören – ich weine.
Sonntag, 28.06.1998
Ich habe heute etwas Schreckliches bemerkt: Ich glaube, ich liebe Papa
wirklich nicht mehr. Ich empfinde nichts, wenn er mich umarmt.
Früher fühlte ich noch Wärme, Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen
und Sehnsucht. Jetzt nichts mehr.
167
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Stille
Tief.
Berauschende Klänge.
Lebendige Harmonie.
Alles verschlingender Akkord des Herzens.
Poch, poch … poch, poch.
Melodie der Phantasie.
Freiheit im Denken.
Erkenntnis.
Tief.
Juni 1998
168
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 29.06.1998
Wir haben viele Rechnungen zu bezahlen. […] Mutti wurde zum
15.07. gekündigt. […] Die Putzstelle bei Dr. Schneider ist jetzt auch
weg. Wie sollen wir mit 900,- DM Arbeitslosenhilfe im Monat (für
alles!) auskommen?
Freitag, 03.07.1998
Ende April sollten wir im Deutschunterricht Geschichten oder
Gedichte schreiben, die dann im Deutschraum ausgehängt wurden.
Heute hat mir Frau Otto erzählt und gezeigt, dass mein Gedicht –
und nur meines – gestohlen wurde. Es lag auch nicht im Papierkorb,
also denkt sie, hat es jemand genommen, dem es gefällt. Soll ich mich
jetzt darüber freuen oder mich ärgern, weil derjenige jetzt sagen
könnte, dass er es selbst geschrieben hat? Denn auf dem Blatt steht
kein Name, da wir alle unsere Werke anonym ausgestellt haben. Zwei
aus meiner Klasse hatten es gelesen, als es nach Abgabe auf dem
Lehrertisch lag. Sie konnten nicht glauben, dass ich es allein geschrieben habe. Es hat den Titel »ICH«.
169
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
ICH
ICH bin ein Kind des Todes,
mein Leben ist die Qual.
ICH bin die Grausamkeit des Mordes,
meine Handlungen sind fatal.
ICH bin die Angst des Sterbens,
meine Macht ist die Dunkelheit.
ICH bin der Engel des Verderbens,
meine Flügel bergen die Einsamkeit.
ICH verkörpere die Intoleranz eurer Taten
und bin euer Freund.
ICH nähre den Hass gegen eure Taten
und bin euer Feind.
ICH wurde geboren in den ersten blutigen Erdenstunden,
die Ewigkeiten überdauern werden,
bis auch die letzten an ihren Wunden
eines sinnlosen Todes sterben.
ICH entstamme den Kriegen der vergangenen Zeiten,
die Felder, Wälder und Straßen noch immer mit Blut bedecken.
ICH erschaffe die unzähligen, tödlichen Krankheiten
und Seuchen, an denen noch weitere Tausend verrecken.
ICH bin der Begründer der Armut eurer Herzen.
Ihr seid meine Väter, ich euer dienender Sohn.
ICH bin die Mutter des Reichtums eurer Schmerzen.
Euer Untergang ist mein endgültiger Lohn.
Meine Seele ist frei,
mein Geist ist mächtig,
mein Gewissen ist rein, denn
ich selbst bin nicht schuldig.
April 1998
170
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 07.07.1998
Ich kann wahrscheinlich nicht mit nach Spanien fahren (Abschlussfahrt 12. Klasse). Wir sollen bis 23.07. bezahlt haben (ca. 330,- DM).
Mutti hat keinen Pfennig mehr. Unser Kühlschrank ist leer. Ich habe
noch 3,- DM für Jackies Hundefutter. Papa sagt, er käme erst am
Donnerstag an sein Konto und er würde dann anrufen. Lügner, der
meldet sich nicht wieder. Oma brauchen wir nicht fragen. Morgen
fragen wir Opa, aber wenn er was gibt, brauchen wir das zum Überleben, weil Mutti erst zwischen 16. und 25.07. Geld kriegt. Noch
weine ich nicht.
Donnerstag, 16.07.1998
Die Theateraufführung in der Schule, die ich seit Wochen gefürchtet
habe, ist vorüber. Wir haben es alle mit Bravour gemeistert. Das
Publikum war begeistert. Ich bin ein bisschen unzufrieden mit mir,
weil ich zwei mal hängen geblieben bin. Aber Freunde, die zugeschaut haben, sagten, sie hätten es gar nicht gemerkt. […] Frau Otto,
die Leiterin unserer Theatergruppe, hat sich auch sehr gefreut. Der
Applaus am Ende ist toll. Das Publikum ist sogar aufgestanden.
Euphorie ist was wunderbares. Ich könnte süchtig danach werden.
Freitag, 24.07.1998
Seit gestern sind Sommerferien. Ich langeweile mich vor mich hin,
d.h. ich schaue fern und lese (gerade Lori Schiller »Wahnsinn im
Kopf«). Darin steht ein Abschnitt aus dem Lied »Easy« von den
Commodores, der mir gefällt und auf mich zutrifft:
Everybody wants me to be
what they want me to be.
171
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
I‘m not happy
when I try to fake it.
Mir kommt es auch manchmal so vor, als würde ich nur schauspielern, um bei den Anderen gut anzukommen. Wenn sie mich nur
wirklich kennen würden, wären sie vorsichtiger und zurückhaltender.
Samstag, 25.07.1998
Wenn ich etwas falsch mache, schreit Mutti immer gleich rum und
sagt: »Dumme Zicke, wie kann man nur so dumm sein!«. Sie meint
es nicht ernst, ich weiß, aber ich muss trotzdem immer weinen.
Manchmal glaube ich, wenn ich sie weniger lieben würde, könnten
mich ihre Worte nicht so sehr verletzen. Ich versuche es, vergeblich.
Jeder braucht doch jemanden, in dessen Armen er sich ausweinen
und reden kann oder einfach nur gehalten werden will.
Das Schlimme ist, wenn Bastian Fehler macht, reagiere ich wie
Mutti und beschimpfe ihn, obwohl ich weiß, dass es ein Versehen von
ihm war. Ich nehme mir immer wieder vor, mich zu bessern, aber es
klappt nicht. Ich hasse die Art, wie Mutti uns erzieht. Vor allem, weil
ich sie übernehme und meine Kinder später ebenfalls darunter leiden
werden.
Wie sehr wünsche ich mir, ruhiger zu sein, nicht so oft laut zu sein
oder mich einmischen oder mitreden zu wollen. Ich rede oft so sinnloses Zeug, dass ich mich dafür unendlich schäme. Ich sehne mich nach
Ruhe und vor allem möchte ich nicht, dass jemand meine Gedanken
und Gefühle kennt. Deshalb fühle ich mich schlecht, da Frau Otto
und Mutti und Bastian zu viel wissen über mich. Ich fühle mich
nackt ohne meine kleinen geheimen Gedanken und Gefühle.
172
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 26.07.1998
Mutti geht es sehr schlecht. Sie hat heute eine halbe Flasche Schnaps
getrunken (aus der Tasse!) und ihre Lieblingsmusik (»Moviestar«,
»Horoscope«) gehört. Sie hat geweint aus vielen Gründen. Sie ist
allein (Christoph (Name geändert) ist weg, Robert ist weg), sie ist
arbeitslos, sie zieht sich zurück und ihre Ängste steigen. Sie hat kein
Geld und kann uns somit keine schönen Ferien bieten (Eisessen,
Kino, Urlaub). Sie hat niemanden zum reden (Ich bin zu jung. Und
wenn ich versuche, mich in ihre hoffnungslose Lage zu versetzen,
dann ist es unerträglich. Darum tue ich es nicht mehr. Verzeih bitte
meinen Egoismus!). Wie kann ich ihr nur helfen? Sie hat so viel
Kraft, trotz all der Sorgen (die Rechnungen stapeln sich). Ich will
ihr helfen, aber wie? Sie tut mir so leid. Sie hatte nur Pech im Leben.
Womit soll ich sie aufbauen? Am Tag ist sie immer so stark. Da
lässt sie sich nichts anmerken. Ich wusste ja nicht einmal, dass sie
Schlaftabletten nimmt, ohne die sie nicht schlafen kann. So schlecht
ist sie doch nicht, dass sie so bestraft werden muss. Sie soll endlich
wieder glücklich sein. Es war so ungaublich schön anzusehen, wie
sie strahlte, als sie in unseren Nachbarn Christoph verliebt war. Ich
hatte sie vorher noch nie so glücklich gesehen. Sie wirkte kraftvoll,
schön, stark, zuversichtlich, zufrieden. So möchte ich sie gern wieder
erleben.
Bitte, meine Mutti soll endlich wieder das Leben genießen können.
Montag, 27.07.1998
Ich habe mich oft gefragt, warum ich mich mit der Rasierklinge selbst
verletzt habe. Fühlte ich wirklich so starken seelischen Schmerz?
Wollte ich vielleicht nur anders sein als normale Menschen? Wollte
ich einfach nur aus dem Rahmen fallen? Vielleicht dachte ich, endlich
ein Geheimnis haben zu müssen, von dem niemand weiß, nicht einmal meine Mutter, die meint, mich doch »so gut« zu kennen?
173
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Vielleicht brauchte ich etwas, um mich nicht mehr seelisch nackt zu
fühlen? Auf alle Fälle hatte der kleine Schmerz oder das Blut (oder
meine Einbildung?) irgend etwas in mir gelindert. Ein beruhigendes
Gefühl durchdrang mich, wenn ich nur an die Wunden dachte, die
ich für die nächsten Tage und Wochen verstecken musste. Deshalb
tue ich es jetzt auch nicht mehr. Wir haben Sommer, es ist heiß. Aber
ich verspüre auch nicht mehr den Drang, mich selbst verletzen zu
müssen. Vielleicht werde ich schon bald darüber lachen – ich meine,
wenn ich die Pubertät endlich hinter mich gebracht habe.
Dienstag, 25.08.1998
Mit Sebastian verstehe ich mich ganz schlecht. Ich komme nicht mehr
mit ihm zurecht. Er ist schrecklich trotzig, aggressiv, rebellisch, faul,
respektlos und auch sonst anders. Er muss ja so werden, wenn er nur
auf der Straße herum hängt.
Seit Tagen könnte ich nur weinen.[...] Es ist so schrecklich, dass ich
mit ansehen muss, wie die Welt aus allen Fugen gerät (Hochwasser in China, Russlands Währungsabsturz und Regierungszerfall,
Bedrohung durch Afghanistan, […]).
Ich habe Angst. Die Menschen sind so krank im Kopf. Es könnte so
schön auf der Welt sein, aber nein, überall sind Gefahren, nirgendwo
ist man sicher.[...] Ich möchte doch nur in Ruhe leben. Aber ich glaube, es gab noch nie eine Generation, der das Leid des Krieges erspart
geblieben ist im Laufe ihres Lebens. Ich habe Angst. Und die Angst
wächst.
PS: Onkel Richard hatte einen Herzinfarkt und liegt noch auf der
Intensivstation zur Beobachtung.
174
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 12.09.1998
Heute mussten Mutti und ich Bastian vom Polizeirevier abholen. Die
Polizei hat ihn beim Kokeln erwischt und zwar in einem Schuppen,
der vor zwei Wochen abgebrannt ist.[...] Als das Telefon geklingelt
hatte, habe ich abgenommen. Als ich hörte, dass die Polizei dran ist
und es um Bastian geht, dachte ich nur: »Oh Gott, nein!« – Ich sah
Bastian schon tot vor mir. Ich möchte da jetzt aber nicht mehr drüber
schreiben.
Morgen beginnt die Abschlussfahrt nach Spanien.
175
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Die Familie hatte Geld gegeben, damit ich doch an meiner Abschlussfahrt nach Spanien teilnehmen konnte. Das Folgende hat
mich besonders fasziniert und beeindruckt:
Der Markt in Barcelona. Da ich
bisher von der Welt noch nichts
gesehen hatte (außer über
Medien), war ich hin und weg
darüber, was es dort für ein
großes Angebot an Obst und
Gemüse gab.
Die Sagrada Familia in Barcelona, Kirche von Antoni Gaudí.
Das Dali Museum in Figueres.
176
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Abschiedsbrief
Ich gehe fort von hier,
nichts hält mich mehr auf.
Weint nicht, ich will es.
Ich muss gehen
oder ich werde verrückt vor Gram
um des Lebens Wasserlauf.
Höllenfeuer ziehen ihrer Wege viele,
kaum zählbar im Sande der Geschichte,
doch auch nicht verwehbar ihre Spuren,
verwest und rot im grellen Lichte.
Ich muss fort von hier,
Sandkörner bedecken mir den Atem meines Lebens.
Panik vor dem Ersticken
lässt mich gehen diesen Weg.
Keine Furcht begleitet mich
während des Entfliehens vor fesselnden Mächtegnadenflehen.
Feuerwolken ziehen über unsere schutzlosen Häupter,
ewige Funken zerstürzen auflebende Gedanken unserer Zeit.
Der Rauch verschlingt ihre vorstoßenden Worte,
führt sie ins Grau und ins Leid.
Ich bin fort von hier
in nur wenigen Sekunden.
Meine Augen sind geschlossen,
sie sehen den Weg, den ich zu gehen wage.
Vor mir das Licht, hinter mir die Dunkelheit,
die sich entfernt mit ihren alles niederbrennenden Sturmgewaltenwunden.
Oktober 1998
177
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 24.10.1998
Wir sind gerade so arm, wie wir es noch nie waren. Mutti geht es
deshalb sehr schlecht. Wir haben viele Rechnungen und müssen
aber noch Weihnachtsgeschenke kaufen. Ich hoffe, Mutti zerbricht
innerlich nicht noch mehr. Sie ist sehr depressiv. Ich wünschte, ich
könnte ein wenig die Last von ihren Schultern nehmen. Ich fühle
mich sowieso schon schlecht, da ich so viel unterwegs bin (Orchester,
Ausflüge mit Freunden) und dafür Geld brauche, während wir zu
Hause nur von Dosensuppe leben.
Donnerstag, 05.11.1998
Es ist etwas Schreckliches in Mittelamerika passiert. Der Hurrikan
»Mitch« brachte Jahrhundertüberschwemmungen und Erdrutsche
und tötete 10.000 Menschen, 11.000 werden noch vermisst. […]
Über 20.000 Menschen tot innerhalb eines Tages. Ich kann das gar
nicht begreifen und könnte nur heulen. Auch in Afrika war vor ein
paar Wochen eine Katastrophe passiert (Vulkanausbruch): 2.000
Tote. Diese Zahlen sind so hoch. Unfassbar!
Dienstag, 17.11.1998
Gestern ca. 17 Uhr ist unsere Nachbarin Frau K. hoch gekommen
und hat sich mit Mutti angelegt. Sie sagte, Mutti sei eine Alkoholikerin und sie habe Unterschriften von allen im Haus, damit unser
Hund wegkommt. Wir haben einige Nachbarn gefragt. Sie würden
sowas nie unterschreiben.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 23.11.1998
Gestern Abend hatte Robert leicht angetrunken angerufen und über
eine halbe Stunde mit Mutti geredet. Sie will wieder etwas mit ihm
anfangen, was ich nicht gut heiße. Zur Zeit bin ich sehr taktlos und
gefühllos und gleichgültig Mutti und Bastian gegenüber, als ob ich
ihre Liebe nicht brauche. Alles lässt mich kalt. Ich finde das ziemlich
schlimm, aber andererseits auch ganz gut, dann werde ich nicht irgendwie verletzt. Erschreckend ist es aber schon, wenn ich mich dabei
erwische, wie ich Mutti nur mit halbem Ohr zuhöre, und es aber
etwas ist, was sie sehr beschäftigt und nicht schlafen lässt.
Mittwoch, 25.11.1998
Mutti ist bei Robert, um sich mit ihm einmal auszusprechen. Ich
kann ihr aber nicht abnehmen, dass er auf der Couch schlafen wird.
Ich versuche, nicht darüber nachzudenken und einfach abzuwarten,
wie die Dinge sich entwickeln. Ich kann aber sagen: Ich fühle mich
irgendwie sehr allein.
Samstag, 28.11.1998
Onkel Hans aus Niedersachen, der einmal der Lebensgefährte von
Onkel Peter und früher auch oft bei Familienfeiern mit dabei war,
wird sterben! Ich fühle mich jetzt total schlecht, weil ich es wage, dies
zu schreiben, ohne dass mir bewusst ist, wie schlimm und leidvoll das
für Hans sein muss. Ich mag ihn sehr, aber ich habe ihn lange nicht
gesehen. Ich wollte ihn gern besuchen, aber wie? Nun darf ich nicht
mehr. Er hat eine gefährliche Nervenkrankheit, die dazu führt, dass
seine Nervenzellen abgebaut werden. Also er verliert sein Gedächtnis
und wird sich bald nicht mehr bewegen können. Mutti sagt, er ist
schon auf einer Seite gelähmt und er würde sich schämen, uns
179
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
anzurufen, weil er nicht mehr richtig sprechen kann. Die ganze
Zeit ging es ihm schon schlecht und wir wussten nicht, dass es so
schlimm um ihn steht. Er ist vielleicht 38 Jahre alt und wird wohl
mit 40 in ein Pflegeheim kommen. In dem Pflegeheim, wo ich vorigen
Oktober ein Praktikum gemacht hatte, wurden die Menschen nicht
mehr ernst genommen, ihre Würde wurde ihnen genommen. Wenn
ich mir vorstelle, dass Hans auch in so ein Heim kommt, könnte ich
heulen. […] Mutti will ihn besuchen, wenn Robert sie fährt. Ich darf
aber nicht mit, weil ich ihn so nicht sehen soll. Ich weiß nun nicht,
für was ich für ihn beten soll oder ob ich überhaupt beten soll, denn
was ist das für ein Gott, der einen so jungen Menschen so leidvoll
und demütigend sterben lässt? Wie soll ich jetzt jeden Abend weiter
beten, wenn ich weiß, dass meine Gebete für Hans sowieso nicht
helfen können, weil Gott sie nicht erhört, er es so will oder weil es
ihn gar nicht gibt? Auf der Erde leben so viele schlechte, falsche und
böse Menschen, warum muss Hans, der beste Mensch, den ich kenne,
sterben? Warum so leidvoll? Es gibt keine Worte für das, was ich
ausdrücken will. Es gibt nur Tränen. Ich wünsche mir von Herzen,
dass alles gar nicht so schlimm ist, wie Mutti es beschrieben hat und
falls doch, dann wünsche ich mir, dass es einen Himmel gibt – keine
Reinkarnation – denn Hans wäre für ein weiteres Leben hier auf der
Erde zu gut.
180
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 29.11.1998
Hans (oben ein älteres Photo mit ihm, Mutti, Bastian und mir) hat
heute noch einmal angerufen. Ich habe ihn kaum verstanden, weil er
so lallt. […] Seine Nervenkrankheit hat nicht einmal einen Namen,
weil die Ärzte nicht wissen, was es ist. Sie verläuft anscheinend
ähnlich wie Multiple Sklerose: spastische Lähmungen, Augenzittern,
Seh- und Sprachstörungen, mit ungeklärter Ursache. Mutti erzählte
mir, er hätte die Absicht, sich etwas anzutun, weil er nicht leiden
will. Ich glaube, ich würde das auch tun. […] Bitte, ich wünsche mir
so sehr, dass Hans geholfen werden kann.
181
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Freitag, 11.12.1998
Mutti ist seit gestern im Krankenhaus. Heute wurde ihr der Polyp
in der Gebärmutter ausgeschabt. Sie will morgen schon wieder nach
Hause. Robert hat heute Abend angerufen, er war angetrunken,
wenn nicht gar total betrunken. Ich wimmelte ihn schnell ab, weil
ich mich mit Menschen in so einem Zustand nicht unterhalten kann.
Mich ärgert, dass er erst jetzt angerufen hat. Mutti hatte ihn vor
zwei Wochen gebeten, uns zu Hans zu fahren, der morgen wieder ins
Krankenhaus muss. Aber wer sich nicht gemeldet hat, war Robert.
Dafür hasse ich ihn. Er hätte ja wenigstens absagen können.
Sonntag, 03.01.1999
Wir sind zur Zeit ziemlich arm. Diesen Monat hätten wir drei nach
Abzug von Miete, Strom, Versicherung etc. nur 370,- DM zum
Leben. Das würde nie reichen, da Mutti ins Krankenhaus muss
wegen ihrer Schilddrüse, weil ich nach Halle, Frankfurt und Magdeburg fahren muss (Vorstellungsgespräche für eine Ausbildung
zur Krankenschwester) und weil jetzt auch noch die Waschmaschine
kaputt ist. Deshalb waren wir heute betteln bei Onkel Max. Es war
so demütigend. Ich hatte mich ins andere Zimmer verkrochen und
hörte zu, wie Mutti weinend alles vorrechnete. Max ist total lieb
und gab uns, ich meine lieh uns, 600,- DM. Davon müssen wir aber
auch noch Rechnungen bezahlen, die wir seit Monaten schon vor uns
herschieben. Mutti und ich, wir können schon seit Wochen (sie) bzw.
Tagen (ich) nicht schlafen deswegen. Ich hoffe, sie kann jetzt besser
schlafen.
Ich werde wohl das ganze Jahr nicht gut schlafen können, weil ich
so viele Prüfungen bestehen muss, vor denen ich große Angst habe:
Vorstellungsgespräche, Referate, Vorabitur, Abitur schriftlich und
mündlich, Fahrschule, Ausbildung in einer fremden Stadt.
Das hört jetzt wohl mein ganzes Leben lang nicht mehr auf.
182
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ich näherte mich meinem 18. Geburtstag. Davor hatte ich Angst. Ich
hatte das Erwachsenwerden nicht verhindern können. Ich wurde
eine Frau – eine sehr nachdenkliche, feinfühlige, tiefsinnige Frau.
Dieses Bild zu zeichnen, so erinnere ich mich, fiel mir sehr schwer.
183
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 11.01.1999
Ich habe heute erfahren, wann wir Schulschluss haben und ich Abitur schreibe. Schluss ist am 30.04. und ich schreibe gleich darauf am
05.05. Biologie, am 06.05. Französisch und am 07.05. Englisch, das
heißt, ich habe nur vier freie Tage, um mich intensiv auf mein Abi
vorzubereiten.
Es ist schlimm, wenn ich daran denke, was mich dieses Jahr alles
erwartet. Niemand weiß wohl, wie ich mich fühle. Mir scheint, als
würde ich langsam zerquetscht werden. Der Druck wird immer höher
und ich hoffe, dass ich ihm standhalten kann. Bin total fertig vom
vielen Lernen.
Montag, 25.01.1999
Mein erstes Vorstellungsgespräch in Frankfurt am Main habe ich
überstanden. Ich war unheimlich aufgeregt und bin froh, dass ich
überhaupt ein paar Worte heraus gekriegt habe. […] Sie fragten mich,
warum ich Krankenschwester werden will, wie ich auf ihre Schule
aufmerksam geworden bin, mit welchem Notendurchschnitt ich mein
Abitur abschließen will, warum ich nicht Medizin studieren will,
was ich während meines Praktikums getan habe und was mir dabei
unangenehm war. […] Als ich ging, war ich überglücklich, dass ich
es hinter mir hatte, und auch sehr optimistisch, was sich mittlerweile
aber wieder gelegt hat. Über einen Monat wird es dauern, bis ich
Antwort erhalte. Mal sehen.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Februar 1999 – Das letzte Faschingsfest mit meiner
damals besten Freundin.
In diesem Jahr blühte ich so richtig auf (war viel
mit Freunden unterwegs), denn ich sah die (vermeintliche) Freiheit vor mir, da ich in diesem Jahr
endlich mein belastendes Elternhaus verlassen
würde.
Gleichzeitig aber entwickelte sich eine Riesenpanik
in mir, die meine Freunde nicht nachvollziehen
konnten.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 11.02.1999
Wir haben zwei Wochen Winterferien, sogar mit etwas Schnee und
Frost. Ich glaube, dass ich vor lauter Druck zerquetscht werde. Diese
Woche wollte ich das Referat für Religion fertig machen, und? Nicht
einmal die Hälfte habe ich geschafft. Nächste Woche wollte ich für
das Biologie-Abitur lernen, muss aber auch noch für das 6stündige
Französisch-Vorabitur, eine Biologie-Kurzkontrolle und eine Englisch-Kurzkontrolle gleich in der Woche nach den Ferien lernen. Ich
schaffe das nicht!
186
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ein Ausflug in die Stadt von Goethe und Schiller
– Weimar (wo dieses Photo gemacht wurde) – war
für unsere Theatergruppe in diesem Jahr 1999 natürlich Pflicht, als Weimar zur Kulturstadt Europas
ernannt wurde.
Frau Otto (links im Photo), meine Deutsch-Lehrerin und die Leiterin der Theatergruppe, hat mich
über viele Jahre immer wieder darin ermutigt, das
Schreiben nicht aufzugeben, wofür ich ihr sehr
dankbar bin. Noch heute schreiben wir uns Briefe.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 22.02.1999
In nächster Zeit werde ich ganz schön viele Prüfungen zu bestehen
haben: die Vorstellungsgespräche, das Abitur, den Kurs, um als
Betreuer mit ins Ferienlager fahren zu dürfen, vielleicht noch einen
Erste-Hilfe-Kurs und die Fahrschule, die ich seit Donnerstag vorige
Woche mache. Morgen müsste ich noch zum Baumarkt, weil ich mich
dort für die Inventur nächstes Wochenende angemeldet habe. Morgen
schreibe ich auch noch 6stündiges Französisch-Vorabitur. Ich muss
unbedingt optimistisch, ruhig und fleißig an alles rangehen. Trotzdem habe ich jetzt sehr große Angst vorm Versagen.
Mittwoch, 24.02.1999
Heute bekam ich Antwort von Frankfurt und … ich habe eine
Ausbildungsstelle!!! Ich bin zwar sehr erleichtert, weil es den Druck
nimmt, aber richtig kann ich mich nicht freuen, weil ich Angst vor
dieser großen Stadt habe, Angst vor den Gefahren, die sie verbirgt.
Samstag, 27.02.1999
Heute habe ich mein erstes eigenes Geld verdient (52,- DM) – von
7:30 Uhr bis 15 Uhr bei der Inventur im Baumarkt.
Am Freitag schreibe ich eine 4stündige Biologie-Klausur und ich
habe noch nichts gelernt. Am Donnerstag noch eine Deutsch-Kurzkontrolle, zu der ich noch einiges, was wir lernen sollen, ausarbeiten
muss. Irgendwie schaffe ich das nicht. Der Stress frisst mich auf. In
Englisch sollen wir auch noch eine Kurzkontrolle schreiben. Aber
der Gedanke, dass es das letzte Mal ist, ermutigt mich. Nur noch bis
Juni und dann habe ich es hinter mir. Jetzt muss ich mich ganz schön
zusammenreißen.
188
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 09.03.1999
Heute bin ich 18 Jahre alt geworden. Komisches Gefühl ist das. Die
nächsten Geburtstage werden nicht mehr so bedeutsam sein, weil ich
dann einfach nur noch »älter« werde.
Nicht wegen der wenigen Geschenke, sondern
wegen dem, was das Erwachsensein nun von mir
fordern würde, war ich unglücklich und verzweifelt. Ich wollte raus in die Welt, doch fürchtete ich
mich gleichzeitig so sehr davor, dass ich an dieser
Angst fast zerbrach.
Aber es ging kein Weg daran vorbei: Ich musste
ins Berufsleben, so wie das alle mussten.
189
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 14.03.1999
Der Tag gestern war ganz schön, endete aber schlimm. […] Eigentlich wollte ich noch mit Alex zum Baumarkt, wo ich meine erste
Fahrstunde von ihm erhalte hätte, aber Bastian hatte wieder Mist
gebaut und Mutti war fertig mit den Nerven und ist es immer noch.
Bastian sollte 15 Uhr wieder nach Hause kommen – und als er kam,
war er besoffen. Beim gemeinsamen Einkaufen soll er sich unmöglich
benommen haben. Mutti hatte ihn dann ins Bett geschickt und war
Gassi gegangen. Als sie wieder heimkam, war Bastian abgehauen.
Am Garderobenspiegel klebte ein Zettel: »Wird spät«. Mutti war
verrückt vor Sorge, war herumgefahren, hat ihn gesucht und wollte
schon die Polizei anrufen. Nach 20 Uhr kam er dann endlich.
Jetzt hört er schon nicht mehr auf Mutti. Sie hat geweint und sagte
mir, dass sie keine Wahl mehr habe und ihn ins Heim bringen muss.
Ich musste weinen bei diesem Gedanken, aber jetzt empfinde ich
Gleichgültigkeit für ihn und wünsche mir, dass er verschwindet. […]
Irgendwann schlägt er mich vielleicht noch. Was soll das nur werden,
wenn Mutti nächste Woche zehn Tage ins Krankenhaus geht? Mit
ihm allein sein? Oh Gott, das will ich überhaupt nicht.
Sonntag, 21.03.1999
Ich bin total fertig. Dieses Wochenende hatte ich kaum Zeit zum
ausruhen und vor der nächsten Woche graut mir. Die ganzen nächsten Wochen sind schlimm, sie sind verplant: Klausuren, Referate,
Fahrschule, Jugendgruppenleiter-Seminar, Haushalt führen (wenn
Mutti im Krankenhaus ist), Vorstellungsgespräch in Naumburg
und für den Theaterauftritt am 12.04. in Zeitz haben wir auch noch
kein einziges Mal geprobt. Ich versuche, alles in Ruhe anzugehen,
aber wir lange halte ich das durch? Ich will mich nicht vom Stress
auffressen lassen, auch nicht vom Abitur in sechs Wochen. Ich freue
mich auf meinen Schlaf und werde nicht daran denken, dass ich für
die morgige Mathe-Klausur kaum gelernt habe.
190
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dienstag, 30.03.1999
Zur Zeit träume ich sehnlichst davon, meiner Familie zu entfliehen.
Zu entfliehen vor meinem Bruder, für den ich keine Gefühle momentan finden kann; vor meinem Vater, der wohl nie mit dem Lügen
aufhören wird; vor Oma, die immer nur von sich und ihren Problemen redet; vor Opa, der trinkt und trinkt und trinkt; vor Mutti,
deren ganze Art (ihre Lügen, ihre Erziehung hinsichtlich mir, ihre
Einstellung) mir fast körperliche Schmerzen zufügt.
[…] Von Mutti bin ich abhängig, da ich mich nicht allein nach
Frankfurt traue. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich lieber eine
Ausbildung in einer kleineren, näheren Stadt angenommen bzw.
mich dort erst mal beworben [Anm.: Meine Mutter wollte mit meinem Bruder ursprünglich auch nach Frankfurt umziehen, doch es
sollte anders kommen.]. Zur Zeit ist das Einzige, was mich zuhause
wohlfühlen lässt, mein Hund Jackie. […]
Es ist eine sehr egoistische Phase, die ich gerade durchlaufe.
191
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ein Zeitungsbericht über einen unserer Theaterauftritte im April 1999. Ich bin die Frau mit der
Schürze in der Mitte des Bildes.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Samstag, 17.04.1999
Die Direktorin unserer Schule hat uns gebeten, das Theaterstück,
welches wir in Zeitz aufgeführt haben, nächsten Freitag noch einmal
aufzuführen. […] Ich bin bestimmt nicht gut darin, aber es macht
mir Spaß zu »theatern« und ich wünschte, wir hätten mehr Zeit
gehabt, um noch mehr Stücke einzuüben. Nächste Woche Freitag
wäre der 1. Hilfe-Kurs, den wir für den Jugendgruppenleiter-Ausweis brauchen. Wir machen ihn dann eine Woche später. Auch das
Orchestertreffen auf der Rudelsburg ist am Freitag, zu dem wir dann
später kommen werden.
Donnerstag, 22.04.1999
Mit Onkel Hans bin ich nun in Briefkontakt. Er hat ganz schönen
Lebensmut. Das freut mich. Hoffentlich schreitet die Krankheit nicht
weiter fort, er ist doch erst 38 Jahre alt und hat das ganze Leben noch
vor sich. Ich freue mich schon auf seinen nächsten Brief.
Morgen wird ein langer Tag: Geschichts-Referat, 19 Uhr Theaterauftritt, danach Orchesterfeier auf der Rudelsburg. Hoffentlich habe ich
gute Laune.
Samstag, 24.04.1999
Ich hatte keine gute Laune, sondern ich wurde zur Feier lustlos, still
und redefaul. Der Theaterauftritt hat gut geklappt, besser als die
Male davor. Danach sind wir zur Rudelsburg. […] Ich hatte absolut
keine Lust zum Reden. Ich weiß auch nicht warum. […] Ca. 24 Uhr
verließen wir die Feier und fuhren zu McDonalds, wo ich am liebsten, als ich auf der Toilette war, losgeheult hätte, weil ich mich bei
meinen Freunden so überflüssig und einsam gefühlt habe. Aber ich
193
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
weinte nicht, denn ich will nicht mehr weinen. Seit einem Monat
etwa halte ich das schon durch. Es ist nicht leicht, aber ich will nicht
mehr wegen Kleinigkeiten weinen. Ich bin mir sicher, dass noch
schlimmere Zeiten in meinem Leben kommen werden, in denen ich
genügend Tränen verschwenden werde.
[Mein bester Freund, in den ich verliebt war, erzählte mir, dass er
schwul ist und vielleicht Diabetes hat.] Mich hat das so bedrückt,
dass ich mir im Bett gestern spät abends voller Sehnsucht meinen
Selbstmordversuch vorgestellt habe; mit dem Auto gegen einen
Baum. Eigentlich wollte ich nicht sterben, nur ins Koma fallen und
anderen damit den Schmerz und die Sorgen bereiten, die ich spüre.
Hinzu kommt, dass Hans heute noch angerufen hat. Seine Krankheit
und die Gespräche mit ihm belasten mich sehr. Ich weiß am Telefon
nicht so recht, wie ich auf bestimmte Gedanken von ihm reagieren
soll. Über seine Krankheit rede ich mit ihm gar nicht.
Dann kommt noch die Panik hinzu, die ich jetzt anderthalb Wochen
vor dem Abitur empfinde, weil ich noch nichts gelernt habe, die
Angst vor der mündlichen Abiprüfung, die Angst vor dem Abschied
von meinen Freunden und dass wir uns entfremden, die Angst vor
der Fahrschulprüfung, vor der Arbeit, die ich mir suchen muss und
die Angst vor Frankfurt und davor, den falschen Beruf gewählt zu
haben.
Am liebsten wäre ich unsichtbar und würde nach dem Abi von Kontinent zu Kontinent ziehen, von nichts abhängig sein, frei sein, leben,
träumen, ungebunden sein. Das ist nicht das Leben, das ich will, was
mich da erwarten wird. Ich will nicht in dieser verkommenen (ich
weiß, ich bin nicht besser) Gesellschaft leben, in diesem Alltag, der
mich ersticken lässt, der meine Lebenslust tötet und meine Angst vor
dem Versagen ins Unermessliche steigert.
Will ich sterben? Nein. Will ich leben? Nein, nicht so. Was will ich?
Was wird aus mir? Werde ich den Anforderungen dieser Welt
194
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
standhalten können? Ich weiß es nicht. Alles macht mir Angst.
Warum muss ich auf dieser Welt leben? Gibt es keine Bessere? Vor
dem Tod habe ich aber genauso viel Angst wie vor dem Leben. Ich bin
gefangen und so fühle ich mich auch; eingesperrt in eine Welt, die
mich nicht braucht und die ich nicht will; eine Welt, deren Schönheit
von den schrecklichen Taten seiner Bewohner beschmutzt wird; eine
Welt, die mich das Fürchten lehrt.
PS: Manchmal glaube ich, der einzige sichere Ort für mich ist die
Psychiatrie.
Montag, 26.04.1999
Ich weiß jetzt, dass ich so schnell wie möglich unabhängig sein will,
um nicht mehr an Muttis Seite sein zu müssen. Ich liebe sie, aber
ich kann und will nicht mehr mit ihr leben. Ich glaube, ich bin jetzt
in dem Alter, in dem ich mein Leben nicht mehr von ihr bestimmen
lassen will, und die Geborgenheit, die ich mir wünsche, kann sie mir
schon lange nicht mehr geben. Ich fühle mich bei ihr nicht sicher!
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
30.04.1999 – Der letzte Schultag. Rechts mit meinem damals besten Freund.
Die Sicherheit der Schule war beendet. – Der
»Ernst des Lebens« kam immer näher.
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Jeden Moment mit meinem Hund genoss ich sehr.
Es quälte mich, dass ich ihm nicht erklären konnte,
warum ich ihn schon bald verlassen würde.
Die schwere Zeit der vielen kleinen täglichen Abschiede hatte begonnen.
197
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 30.05.1999
Ich werde wohl für immer Jungfrau bleiben, mich nie richtig verlieben, weil ich vor Sex panische Angst habe. Ich weiß auch nicht,
warum, aber ich will es nicht. Ich will keinen Sex. Ich finde, dem
wird zu viel Bedeutung beigemessen. Und wenn ich es irgendwann
doch will, dann nur mit einem Mann, den ich wirklich gut kenne,
dem ich absolut vertraue, der mich akzeptiert, wie ich bin, der (fast)
alles über mich weiß und von dem ich (fast) alles weiß. Hat meine
Angst vor Sex etwas mit meinen Bindungsängsten zu tun? Ich weiß
es nicht. Aber ich habe Angst, dass ich mal eine alte Jungfer werde.
Noch geht es, aber wenn ich 20 Jahre und älter und dann immer noch
Jungfrau bin, wird es peinlich. Das würde ich meinem Freund dann
nicht erzählen. Ich fühle mich, als wäre ich in Zeitnot, als würde ich
entjungfert werden müssen, um irgendwie dazu zu gehören. Dumm,
nicht?
198
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sein
Wer weiß und versteht
das, was alles ist,
erkennt,
dass alles ist?
Wer ist gewillt und nennt
die Worte für alles,
was ist,
fühlt und begreift
die Bedeutung aller Dinge,
die sind,
schreit es heraus im Nichts
und weiß doch, es ist nicht nichts?
Wer ist umgeben von Stille
und spürt, dass sie ist,
ohne Grund, ohne Fragen,
einfach gegenwärtig,
ohne bedrohlich oder einsam zu sein,
nur zu sein
und nicht nichts zu sein?
Wer glaubt zu sein
und sein will,
weiß,
dass alles ist
und nicht nichts sein kann,
so wie er selbst ist.
Juni 1999
199
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Donnerstag, 17.06.1999
Ich habe das Abi geschafft. Heute 11:30 Uhr hatte ich meine mündliche Abschlussprüfung in Geographie. Ich muss sagen, ich hatte echt
Glück mit dem Thema: »Atmosphärische Prozesse«. [...] Ich bestand
mit 15 Punkten. Das ist unglaublich! [...] Abi mit 1,3. So viel Glück
habe ich doch gar nicht verdient.
Montag, 21.06.1999
Das Leben ist toll zur Zeit. Ich habe noch nie so viel Zeit mit Freunden verbracht wie in den letzten Monaten. Am Freitag Abend war
unsere Theatergruppe bei Frau Otto. Wir aßen Pizza, redeten, führten Sketche auf und tranken Bowle. […] Eben hat mein bester Freund
angerufen und mir gesagt, dass er Karten für das Rosenstolz-Konzert
in Hamburg hat. Ist das Leben nicht toll? Spontan und voller Überraschungen.
200
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Unsere Deutsch-Lehrerin hatte jedem Schüler meiner Klasse zum
Abschied ein paar persönliche Zeilen geschrieben und als Karte
überreicht. Ihre geschriebenen Worte für mich boten mir über viele
Jahre immer wieder Zuversicht und Bestärkung.
Ich staun’, was du drauf hast
an Wort und Ideen - so vielfältig,
ernsthaft - ich durfte es sehn (mitunter):
trotzdem sage ich:
Sei heiter und ernst, je nach Maß,
das Leben ist schön, das Leben
macht Spaß!
Und daß du Talent hast
zum Schreiben ist klar; auf dich
würd’ ich bauen noch etliche Jahr.
Mit herzlichen Wünschen
für alles, was du beginnen wirst!
Im Unterricht hast du dich leider
»verschwiegen«,
Gedanken und Stimme war’n
hier kaum zu kriegen von dir - ich
denke, ich weiß;
Brigitte Otto
18.06.1999
201
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Montag, 28.06.1999
19:30 Uhr war Einlass. Wir waren ziemlich weit vorn. […] Ca. 20:30
Uhr begann das Rosenstolz-Konzert. […] Zum Schluss sangen sie
noch einmal das Lied »Lass sie reden« und ich wünschte mir, dass es
nie enden möge. Ich musste weinen. Mir ging viel durch den Kopf,
z.B. dass ich wegen Mutti nie so sein durfte, wie ich sein wollte, und
dass ich schon immer anders sein wollte und auch weiß, dass ich es
bin, aber nicht ausleben durfte. Ich dachte an meine große Angst vor
Frankfurt und dem ganzen Leben.
Mein Leben ist zur Zeit so …. ach, ich weiß auch nicht. Ich habe
jetzt so viel Zeit, wie ich es nie wieder haben werde, vor allem ohne
Probleme. Wenn ich daran denke, dass mich ein »Erwachsenenleben«
erwartet, das nur aus Arbeit besteht und in mir viele Ängste aufleben
lässt, bekomme ich Gänsehaut und mein Magen dreht sich um. Die
Ausbildung, die Fahrschulprüfung, die Blutspende (die ich freiwillig
mache), die Arbeit bei der Zeitung bald (Austragen morgens) – das
alles werde ich nie schaffen. In praktischen Lebensdingen stelle ich
mich so dumm und tolpatschig an. Hoffentlich stehe ich das durch.
202
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sommertagsträume
Wolkenlose Sommertagsträume
neigen sich im Wind
wie wilde Baumkronen
der Sonne zu,
schweben über die Wiesen
der schwelgerischen Phantasie
und erblühen zu rosigen Hoffnungen,
gleiten über das glänzende Wasser
wie blendend weiße Schwäne
und hinterlassen auf ihm
sanfte, verstohlene Wellen
der Melancholie,
berühren zärtlich den Schnee
auf den Wipfeln der Berge
und formen aus ihm
sehnsüchtig schmelzende Herzen,
umarmen das verblassende Blau
des abendlichen Himmels
und lassen in ihm wie stille Segler
schlafende Emotionen
zum goldenen Streifen des Horizonts
hinabsinken
in die romantische Schönheit
der untergehenden Sonne.
Juli 1999
203
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
09.07.1999 – Abiball
Ich (in beiden Bildern ganz links) war die Drittbeste von über 100 Schülern in meinem Jahrgang
(nur 1 Berechnungspunkt an der Abschlussnote 1,2
vorbei geschlittert, was mich damals sehr ärgerte).
Natürlich war ich stolz, aber ich konnte mich nicht
lange darüber freuen. Ich spürte, gute Noten würden mir nicht helfen können bei dem, was mich
nun erwartete.
Karriere war das wenigste, an was ich dachte. Ich
fragte mich eher: Werde ich das Kommende überleben? Werde ich wiederfinden, was ich während
meiner ersten 18 Lebensjahre verloren habe? –
MICH?
Zu diesem großen Ereignis hatte mich meine Mutter nicht begleitet. Mein Vater aber war anwesend.
204
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 25.07.1999
Ich habe schon vor längerer Zeit versucht, Gründe zu finden, die
meine Angst vor Sex verursacht haben könnten.[...] Gründe sind
wohl, denke ich, Muttis Sexleben, aus dem sie mir immer intensiv
erzählt hat; der Verlust der Liebe meines Vaters, also die Angst,
einen geliebten Menschen zu verlieren; weil ich in meinem Leben fast
nie mit Männern zusammengelebt habe, die mir Sicherheit vermitteln konnten; vielleicht auch ein wenig die Gewalt von Mutti nach
der Scheidung. Von all dem habe ich schon geschrieben, aber ich
glaube, das eine Erlebnis habe ich noch nicht aufgeschrieben. Vor ein
paar Wochen habe ich kurz mit Mutti darüber gesprochen, und dann
schien es die Lösung bzw. die Ursache meiner Angst vor Sex zu sein.
Vor allem wegen der Art und Weise, wie Mutti es bezeichnete. Nach
langem Überlegen sagte sie nämlich wirklich, dass es im Grunde eine
halbe Vergewaltigung war. Aber das hört sich gleich so schlimm an.
Ich weiß, dass es grausam war und dass es in mir etwas zerstört hat,
aber es ist so lange her.
Ich hatte ja schon immer, seit ich denken kann, Probleme mit dem
Magen bzw. mit dem Unterleib. Als ich vielleicht zwischen vier und
sieben Jahre alt war, da waren die Bauchschmerzen eines Abends sehr
sehr schlimm. Also ging Mutti mit mir um die Ecke in die Kinderklinik. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich vor Schmerzen
kaum laufen konnte. Zumindest … jetzt kommt der schwerste Teil
des Erlebnisses. Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finden werde. Also, da war eine Ärztin. Sie wollte mich untersuchen. Ich musste
mich mit dem Rücken auf eine Liege oder etwas ähnliches legen. Ich
weiß gar nicht, ob sie mir meine Hose ausgezogen hat oder ob ich das
vorher selbst tun sollte. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Ärztin während der kurzen Untersuchung etwas Beruhigendes gesagt
hat oder so. Mutti stand daneben. Mir schien sie weit weg, und ob
sie was gesagt hat, weiß ich auch nicht. Zumindest kann ich mich
nur an einen Teil der Untersuchung erinnern, ob sie überhaupt mehr
gemacht hat, keine Ahnung. Die Ärztin drang – für mich unerwartet
und brutal – mit zwei Fingern in meine Scheide ein. Es war ein total
grauenvolles Gefühl. Ich fühlte mich wie ein kleines, hilfloses Baby,
205
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
das nicht weiß, was mit ihm geschieht. Noch heute glaube ich, ihre
Finger an meiner inneren Bauchdecke spüren zu können. Unglaublich schlimm war, dass ich so klein, schwach und wehrlos und dieser
Frau hilflos ausgeliefert war und nicht mal Mutti mir geholfen
hat. Schlimm genug, dass auch sie so hilflos nur daneben stand. Im
Grunde ist es egal, ob es nun zwei Finger waren oder ein Penis. Das
Ergebnis ist dasselbe. Genützt hatte diese Untersuchung natürlich
nichts. Mutti sagte, dass ich noch Tage danach Schmerzen an meiner
Scheide gehabt hatte.
Samstag, 07.08.1999
Vorigen Samstag hatte ich mit Mutti einen Riesenkrach, der laute
Worte, viel Wut und mir eine Ohrfeige einbrachte. Als sie mich aufforderte, doch gleich zu meinem Vater zu ziehen, und ich darauf antwortete, dass Bastian und ich schon oft darüber nachgedacht hätten,
war sie sehr schockiert. Sie redete am nächsten Tag gleich mit Oma,
weil sie nicht wusste, wie sie mit mir umgehen solle. Aber Oma hatte
ich ja schon Tage zuvor mein Herz ausgeschüttet, so dass sie meinen
Standpunkt kannte und verteidigte. Am Sonntag drauf war ich Gott
sei Dank von halb zwei bist halb zehn abends weg – bei Papa.
Mit Mutti hatte ich eben wieder mal Streit. Ich muss nicht weinen,
weil ich in zwei Monaten ja von ihr weg bin. Ich sagte ihr, sie solle
mich nicht mehr ansprechen. Sie antwortete nur, ich solle das auch
nicht. So ist es für mich echt einfacher. Ich muss ihr nicht erklären,
wo ich am Wochenende hingehe und außerdem habe ich ihr eh nichts
zu sagen. Außer dass sie finanziell für mich sorgt, brauche ich sie im
Grunde schon lange nicht mehr. Das ist gut so. Morgen bin ich Gott
sei Dank den ganzen Tag mit Freunden unterwegs.
206
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Sonntag, 08.08.1999
Heute Abend kam es wieder zum Streit mit Mutti und ich muss
sagen, es war noch schlimmer als voriges Wochenende. Sie weint
auch wieder. Über eine Stunde habe ich noch mit Bastian darüber
geredet. Als sie dann irgendwas in der Küche gemacht hat, bekam ich
schreckliche Panik, dass sie reinkommt und mich absticht. Wirklich,
ich wollte zu Basti ins Bett. Aber wenn sie rein gekommen wäre,
hätte sie sich aufgeregt, denn ich hetze ihn ja angeblich gegen sie auf.
Morgen will sie ein Gespräch mit Papa und mir führen. Sie glaubte
mir heute nicht, dass ich mit Freunden weg war. Sie ist überzeugt,
dass ich lüge und in Wahrheit bei Papa gewesen bin. Naja, mal sehen,
was morgen kommt.
Ich habe den Drang, mich selbst zu verletzen. Ich werde es tun. Wie
soll das nur weitergehen?
Montag, 23.08.1999
Übermorgen habe ich Fahrschulprüfung. Niemand aus dem Familien- und Bekanntenkreis weiß das. Wenn ich durchfalle, ist das eine
Katastrophe, vor allem wegen dem vielen Geld, das wir nicht haben.
Mittwoch, 25.08.1999
Ich habe niemanden, dem ich es sagen kann: Soeben habe ich meine
Fahrschulprüfung bestanden. Ich heule immer noch vor Glück. Ich
kann‘s kaum fassen. Es ist ein wunderschöner Tag. Mutti und Bastian sage ich es erst, wenn sie aus Frankfurt zurückkommen.
PS: Mein Fahrschullehrer hat mir die Prüfungsgebühren von 151,96
DM geliehen. Das macht er nicht für jeden, denke ich. […] 688,96
DM muss ich eh noch zahlen. Er sagte, ich solle einfach anrufen,
wenn ich Geld habe.
207
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Ruhelos
Bin gefangen
eingesperrt
angekettet
im Kerker der Zeit
Stille
doch sie läuft weiter
und zerschneidet
wie ein Blitz
die Ruhe in der Luft
Meine Ketten glühen
rasseln
schleifen
auf dem Boden meines Lebens
folgen mir
unendlich lang
Flucht
unmöglich
unsichtbare Ketten fesseln
nur die Phantasie
die Angst
sind nicht abzuwerfen
fesseln fester
Ewige Straße
ohne Ende
ohne Horizont
über das Leben
über den Tod
Schritt für Schritt
unendlich
gegen meinen Willen
muss ihr folgen
laufen ohne Rast
und die Uhr tickt
mit mir
gegen mich
208
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Stunden um Stunden
Tage zu Jahren
Leben zur Ewigkeit
Hoffnung
ein Ziel
August 1999
209
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Mittwoch, 15.09.1999
Heute war ich zum ersten Mal beim Frauenarzt. Ich kenne den
Mann. Er ist der Vater von einem ehemaligen Klassenkameraden. Er
sagte mir, ich hätte ein erhöhtes Brustkrebsrisiko, weil ich meine Periode schon mit zehn Jahren bekomme habe. Er tastete meine Brust ab
und sagte mir, wie ich sie selbst abfühlen kann. Dann ließ er mir die
Wahl, ob ich lieber Ultraschall oder den Untersuchungsstuhl wolle.
Natürlich wählte ich das Erste.
Meine inneren Geschlechtsorgane sind in Ordnung. Mutti hatte
ihm kurz vorher von meiner einen Erfahrung, die ich als kleines
Kind hatte, erzählt – die halbe Vergewaltigung durch die Ärztin.
Hinsichtlich dem bot mir der Arzt an, vielleicht mal mit ihm darüber
zu reden, um meine Ängste abzubauen und den psychischen Schock
zu überwinden. Ich finde das wirklich sehr nett von ihm. Ich würde
auch wirklich gern einmal darüber reden, aber was sollte das bringen? Wenn eines Tages ein Junge mit mir schlafen wollte, stünde ich
wieder vor dem Problem. Ich müsste es dem Jungen erzählen, damit
er viel Verständnis, Geduld, Vorsicht und Zärtlichkeit mit in die
Beziehung bringt.
Ich bin jetzt ziemlich aufgewühlt. Ich will mir nicht so viele Gedanken darüber machen. Vielleicht löst sich alles von allein und es ist
nur halb so schlimm. Aber irgendetwas hat es in meiner Psyche verursacht. Mutti hat mir heute noch erzählt, dass ich nach der besagten
Untersuchung als Kind aus der Scheide geblutet hätte – also war
es damals wohl doch so schlimm, wie ich es empfunden hatte. Was
soll ich nur tun? Ich werde niemals einen Jungen finden, der mich
versteht und liebt, wenn es sowas wie Liebe überhaupt gibt.
Jetzt schreibe ich etwas über meine abgründigste Seite und wofür ich
mich sehr schäme: Früher, als ich so zwischen 12 und 14 Jahre alt
war, hatte ich ganz abartige Einschlafträume; so eine Art Tagträume, aber abends, vor dem Einschlafen, die man selbst beeinflusst. Ich
träumte von sexuellen Dingen, ob brutal (Vergewaltigung, Entführung, Folter) oder sanft. Ich befriedigte mich auch selbst dabei.
210
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Dann irgendwann schämte ich mich zu sehr wegen dieser Träume –
sie waren krank, abnormal, und im Grunde wusste ich gefühlsmäßig
ja gar nicht, was ich da träumte (obwohl ich dabei auch Schmerzen
in Vagina und Unterleib hatte). Also verbot ich sie mir. Ich hörte
einfach auf mit diesen Träumen. Der Drang nach Selbstbefriedigung
schwand dann auch. Bis heute habe ich das durchgehalten. Wenn ich
heute nur an Geschlechtsverkehr denke, verkrampft sich alles in mir.
Das jetzt alles aufzuschreiben, kostete mich sehr viel Überwindung,
aber es hat geholfen, mich zu beruhigen.
211
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
Trotz allem war da in mir immer ein winzig kleines Fünkchen Hoffnung, dass mein Leid irgendwann ein Ende haben würde, was ich in diesem
von mir gezeichneten Bild festhielt. Aber ich spürte auch: ICH musste mich für das Ende meines
Leides entscheiden – wofür ich viele viele Jahre
brauchen und am Tod nur knapp vorbeischlittern
sollte. Denn ich wusste nicht, was mir dann noch
übrig bleiben würde; ich kannte nur Leid und
Einsamkeit. Dies war trotz allem mein Zuhause.
Ein anderes war für mich lange Zeit kaum mehr
vorstellbar.
212
15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Immer weiter fliehen wir vor unserer inneren Wüste,
unserer Leere, da wir ohne liebende Beziehung zu uns
und anderen sind, und fliehen damit vor unserer eigenen Vergangenheit.
Arno Grün
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15 – 18 Jahre / Gymnasialzeit II
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18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
So verließ ich im September 1999, 18 Jahre jung
– im Nachhinein betrachtet völlig verwirrt, verträumt, verängstigt, naiv, menschenscheu, unvorbereitet, orientierungslos und auf mich allein
gestellt (ohne Unterstützung von den Eltern, was
mir damals nicht fehlte, weil ich das einfach nicht
kannte) – meine Heimatstadt und zog über 350km
weit in die ferne Großstadt Frankfurt am Main für
meine Berufsausbildung zur Krankenschwester.
Meine Angst unterdrückte ich vor anderen Menschen, immerhin war ich ja nicht die Einzige, die
für nen Job ihre Heimat aufgeben musste.
215
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Donnerstag, 30.09.1999
Ich bin jetzt im Schwesternwohnheim. Es ist echt schwer, die Tränen
zurück zu drängen. Aber bis jetzt funktioniert es. Gott sei Dank habe
ich einen Radiowecker. Die Stille würde ich nicht aushalten. Onkel
Peter hat mir Essen fürs Wochenende mitgegeben und einiges mehr,
was ich gebrauchen könnte.
Die Leute hier sind eigentlich alle sehr nett. Die Meisten kommen
aus dem Osten: Halle, Wittenberg, Großkorbetha. Mit denen, die ich
schon kennen gelernt habe, verstehe ich mich gut. Mal sehen, wie
es weitergeht. Ich hoffe, dass ich nichts falsch mache beim weiteren
Kennenlernen und ich wirkliche Freunde finde. […]
Heute Abend wollen sie noch eine Flurparty veranstalten. Oh Gott,
hoffentlich überlebe ich das ohne Peinlichkeiten.
216
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ich wollte völlig neu beginnen. Ich wollte nicht das Landei sein,
nicht die Introvertierte, nicht die Schwache und Verrückte, auch
nicht die Streberin. Ich wollte mein Leben in Naumburg vergessen –
und einfach nur endlich leben.
Und da war ich nun unter vielen jungen Menschen, die nur so vor
Lebenskraft, Humor, Plänen, Selbstbewusstsein und Begeisterung
strotzten. Ich fühlte mich wie ein schwarzes Schaf unter ihnen, in
dem ein schlimmen Geheimnis ruhte – mein bisheriges Leben – von
dem sie nichts erfahren sollten.
Parties, Zigaretten, Alkohol und Sex (für mich bis dahin kaum Teil
meines Lebens) waren plötzlich »Pflicht«, wenn ich dazugehören
wollte (Es gab oft Flur-Parties, und da das Schwesternwohnheim
etwa 11 Stockwerke hatte, gab es eine Menge Parties).
Im Grunde überrollte mich ab diesem Moment das (Erwachsenen-/
Berufs-)Leben mit voller Wucht – und ich rollte in den darauf folgenden Jahren einfach mit, ohne etwas dagegen tun zu können – und
ohne zu wissen, was mir da eigentlich geschah.
217
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Sonntag, 03.10.1999
Heute war ich wieder mit Marcel (20 J., Name geändert) zusammen.
[…] Ich bin so unnahbar. […] Ich fühle mich bei ihm, also in seiner
Nähe, sehr wohl, aber das ist für mich kein Grund, körperlich zu werden. Ich würde ihm gern zeigen, dass ich ihn mag, aber es geht nicht.
Ich bin unfähig, die Liebe körperlich zu leben. Ich habe auch keine sexuelle Begierde oder so etwas Ähnliches. Das macht mich total fertig.
Samstag, 09.10.1999
Ich bin zu Hause in Naumburg. Seltsam, ich fühle mich hier nicht
wohl, zumindest nicht so wohl wie in Frankfurt (bei Marcel). Irgendwie ist die seelische Verbindung zu meiner Familie und meinem
Hund nicht mehr so intensiv. Der Abschied morgen wird mir nicht
schwer fallen.
Montag, 11.10.1999
Gestern war Marcel noch bei mir bis früh um fünf. [...] Wir kuschelten wieder im Bett. Gestern ging er mir zum ersten Mal unters
T-Shirt, streichelte meinen Rücken und meinen Bauch. [...] Es war
kein sexuelles Gefühl dabei in mir, eher Angst und Unsicherheit. Ich
spürte, dass ich nicht mehr wollte. Wir haben uns bisher auch noch
nicht geküsst. Irgendwann sollte er von meinen Ängsten wissen,
oder? Sollte ich es ihm nicht erzählen? Ich weiß es nicht. […] Sage
ich ihm die Wahrheit, weiß er vielleicht nicht damit umzugehen oder
nutzt es aus. Ich bin verzweifelt.
218
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Dienstag, 12.10.1999
Gestern hat mich Marcel wieder abgeholt. […] Ich scheine seine Nähe
zum Leben zu brauchen und jetzt ist mir zum Heulen zumute, weil
ich nicht weiß, wie ich mich ohne ihn mit so quälenden Gefühlen
aufs Lernen konzentrieren soll. Wenn Liebe so weh tut, dann will ich
sie nicht. Aber ich bin machtlos. […] Wenn die Klausuren kommen,
werde ich sterben.
Marcel ist zur Zeit mein Leben. Ich lebe nur für die Zeit mit ihm. So
was wollte ich nie, aber es passierte von allein, ich konnte es gar nicht
beeinflussen. Warum kann ich nicht einfach glücklich sein?
Freitag, 22.10.1999
Marcel scheint mich wirklich sehr gern zu haben und körperliche
Nähe ist ihm sehr wichtig. […] Er wird immer mehr wollen, doch ich
bin nicht bereit, habe gar kein sexuelles Verlangen.
Mutti, Bastian und Jackie wollen morgen kommen für eine ganze
Woche. Am Mittwoch hatte ich Streit mit Mutti am Telefon. Sie legte
einfach auf. Seitdem sprachen wir nicht mehr miteinander. Unbedingt will ich sie nicht sehen.
Mittwoch, 27.10.1999
Mutti ist mit Bastian und Jackie am Montag Abend einfach wieder nach Hause gefahren. Ich war ganz schön traurig und weinte
gestern viel, da ich nicht wusste, warum sie so plötzlich abgereist ist.
Gestern, als sie anrief, fragte ich sie, ob ich sie vergrault hätte. Sie
verneinte und sagte, sie müsse sich erst daran gewöhnen, dass ich
219
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
nun erwachsen bin und ich sie nicht mehr brauche. Ich verstehe es ja,
aber ich fühle mich von ihr im Stich gelassen.
Montag, 01.11.1999
Ich fühle mich zur Zeit so, als würde ich auf einer Bombe sitzen,
wenn ich daran denke, wie viel ich noch für die Klausuren lernen
muss und wie viel Zeit ich doch mit Marcel verbringen will. Ein Tag
ohne ihn, eine Nacht ohne ihn, kann ich nicht überleben. Ich würde
eingehen hier im Wohnheim. Oh Gott, hoffentlich schaffe ich das.
Montag, 29.11.1999
Ich hatte einen totalen Depri. Ich bekomme immer mehr Angst vor
meinem 1. Einsatz auf Station. Ich werde das vermasseln, mich blamieren und total dumm anstellen. […] Ich möchte leben, aber bekomme ich das mit der Ausbildung unter einen Hut? Die Angst vor dem
nächsten Jahr wird immer größer. Weihnachten und Silvester sind
schnell rum. Danach sterbe ich (weil Stationseinsatz beginnt).
Montag, 06.12.1999
[…] Wir spürten und sagten es auch, dass wir miteinander schlafen
wollten. Ich hatte Angst. Wir versuchten es, aber er kam bei mir nicht
rein. Es tat schrecklich weh. Ich weiß nicht, ob ich mich verkrampft
habe oder so – wegen des Schmerzes hörte er auf. […] Es liegt an mir
und ich fühle mich schlecht. Die Angst ist nun auch nicht gerade
weniger geworden. Ich würde es gerne hinter mich bringen, aber
220
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
irgendwie will ich es jetzt nicht mehr. Es ist so peinlich und beschämend für mich. […] Am nächsten Morgen wollte Marcel mit
mir schlafen, aber es schmerzte wieder und ich bat ihn aufzuhören.
Danach fühlte ich mich wieder wie ein Versager und ich möchte es
ehrlich gesagt nicht mehr machen. […] Warum klappte es nicht? Ich
wollte es doch auch? Ich werde Marcel verlieren!
Freitag, 10.12.1999
Ich bin nur noch anderthalb Wochen hier. So richtig will ich gar
nicht nach Hause. Ich will schon, aber am liebsten mit Marcel.
Gestern haben wir wieder versucht, miteinander zu schlafen. Wir
küssten und streichelten uns sehr lange. Als er eindringen wollte,
tat es wieder schrecklich weh. Für ein paar Sekunden dachte ich, es
wird schon aufhören und klappen. Aber nein, der Schmerz wurde
schlimmer und Marcel ließ nach. Ich war geschockt vor Schmerz
und enttäuscht von mir. […] Ich fühlte mich total schlecht, ich habe
wieder versagt. Männer wollen Sex und keine verkrampften, kleinen
Mädchen. […] Ich platzierte ihn neben mich, schloss die Beine und
weinte, ohne dass er es merkte. So lagen wir eine Weile im Bett. Ich
wartete, bis die Schmerzen vorbei waren. Ich fühlte mich so wahnsinnig schlecht. Nochmal will ich es nicht probieren.
Dienstag, 14.12.1999
Nach langem Schmusen gestern sind wir es langsam angegangen.
Ganz langsam drang er mit seinem Penis ein paar Zentimeter ein.
Ich sollte sofort sagen, wenn es wehtut. Es tat die ganze Zeit weh,
aber es war zu ertragen.
221
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Donnerstag, 23.12.1999
Ich bin zu Hause, es ist ein gespaltenes Gefühl. Gestern Abend beim
Einschlafen kamen mir die Tränen, weil Marcel mir fehlte. Ich habe ja
seit Wochen kaum einen Tag oder eine Nacht ohne ihn verbracht.
Heute früh war ich beim Frauenarzt und hab mich endlich untersuchen lassen. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, aber ich habe es
überlebt.
222
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ich hatte plötzlich kein Zuhause mehr – war zu
Hause nur noch ein Besucher. Trotz allen schmerzlichen Erinnerungen und emotionalen Schwankungen war es mein Zuhause – und es fehlte mir sehr.
Hier 1999 – Das letzte Weihnachtsfest mit meiner
Mutti (und Brüderchen natürlich), was ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen konnte.
223
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
1999 – Das letzte Weihnachtsfest auch mit meiner geliebten Oma
mütterlicherseits.
Es war während meiner Kindheit und Jugend diese Oma, durch
die ich Zugang zu vielen interessanten Büchern erhielt (z.B. über
Parapsychologie, Nahtod-Erlebnisse, UFOs, Kornkreise, Telepathie,
Telekinese, uvm.), welche mich total faszinierten und letztlich wohl
den starken Funken in mich pflanzten, der mir immer wieder Hoffnung und Zuversicht schenkte, denn ich wusste durch diese Bücher
einfach, dass es auf dieser Welt mehr gab, als wir sehen und hören
konnten.
Es war auch diese Oma, von der ich viel über den 2. Weltkrieg
erfahren habe. Schon als Kind hatte ich ihr stundenlang zugehört,
wenn sie von ihrem damaligen Leben (und dem Leben ihrer Familie)
während des Krieges erzählte. Und ich erinnere mich noch genau
daran, wie sie einmal sagte: Deutschland sei immer noch ein faschistisches Land. – Es sei in Wirklichkeit nichts besser geworden. – Nur
»der Führer« fehle.
Wie sagt man so schön: »Wenn ich gewusst hätte, dass dies mein
letztes Weihnachtsfest mit ihr sein sollte, …« – Aber dieses Wissen
hätte alles nur noch schwerer gemacht.
224
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Sonntag, 26.12.1999
Manchmal glaube ich, Marcel passt nicht zu mir, weil er bei vielen
Themen, die mich so sehr interessieren, sehr oberflächlich ist und sich
noch nie Gedanken darüber gemacht hat. Zum Beispiel können wir
nicht lange telefonieren, weil wir uns kaum was zu sagen haben. Andererseits können wir uns stundenlang in den Armen liegen und das
tut sehr gut. […] Ob wir überhaupt zusammen passen? Eigentlich
will ich darüber gar nicht nachdenken.
Montag, 27.12.1999
Ich bin wieder in Frankfurt. Ich freue mich auf Marcel, der uns
gerade was zu Essen holt. […] Hoffentlich vergehen die nächsten drei
Tage, die wir für uns haben, nicht so schnell. Am Donnerstag muss
ich ja schon wieder weg, nach Hamburg. Am liebsten würde ich mit
Marcel ins 3. Jahrtausend rutschen, aber ich habe es meinen Freunden versprochen. Naja, ich werde wohl noch viel weinen. Liebe kann
ja so weh tun.
Freitag, 31.12.1999
Am Mittwoch Abend haben Marcel und ich mit Sekt angestoßen und
zwei Mal miteinander geschlafen. Es hat nicht mal mehr wehgetan.
Ich hoffe nur, ich bin nicht schwanger, denn ich hatte zwei Tage die
Pille vergessen.
Freitag, 14.01.2000
Ich bin zur Zeit in Naumburg, weil ich fünf Tage frei habe, noch bis
Montag. Gestern hatte Marcel krank gemacht, damit wir den Tag
225
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
gemeinsam verbringen können. [...] Ich kann jetzt sagen, dass ich
offiziell am Freitag, den 07.01.2000, wirklich richtig Freude und
Leidenschaft beim Sex spürte.
Auf der Arbeit geht’s gut. Mittlerweile habe ich sogar schon Thrombose-Spritzen gegeben. Jetzt kommt aber wieder die Angst, weil jeden
Tag etwas Neues von mir verlangt wird. Das geht jetzt drei Jahre so
weiter! Am schlimmsten ist die wenige Freizeit. Ich bin froh, wenn
ich Frühdienst habe, obwohl ich dabei totmüde bin, aber ich habe
dann wenigstens den Nachmittag und den Abend noch für mich.
[…] Mir graut vor den nächsten zehn Arbeitstagen. 5 Uhr geweckt
zu werden und das Haus verlassen zu müssen, während der Freund
noch im Bett liegt – das ist nicht leicht.
Mutti will umziehen, aber nicht nach Frankfurt sondern nach
Bayern. Ihre Jugendliebe Jörg (Name geändert) hat sie seit Jahren
gesucht und jetzt endlich gefunden. Seit Wochen telefonieren sie
täglich. Ende Januar fährt sie ihn besuchen in Niederbayern. Oh, ich
hoffe von ganzem Herzen, dass das klappt und sie mit ihm ein neues
zweites Leben anfangen kann. Sie freut sich da so drauf. Das muss
klappen.
Donnerstag, 20.01.2000
Mir geht es zur Zeit ganz schlecht. Ich könnte nur heulen und tue es
auch jetzt schon wieder. […] Ich glaube, ich schaffe die Ausbildung
nicht. Meine Angst vor jedem nächsten Arbeitstag wird immer größer. Mit Marcel kann ich nicht darüber reden und das ist sehr sehr
schrecklich für mich. Er ist so stark, hat Selbstvertrauen, und ich?
Ich bin ne feige Heulsuse. Heute und morgen habe ich Spätdienst.
Ich dachte, ich könnte dann wenigstens mal ausschlafen, aber meine
Angst verbietet es mir. Ich habe wieder Magenkrämpfe und kann
nichts essen. Ich lebe nur, um zu arbeiten. […] Wenn ich Frühdienst
226
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
habe, ist es besser, obwohl ich dann ständig müde bin. Ich bin so
fertig. Ich fühle mich so allein. Ich versuche, die Angst zu verdrängen. Das hatte zwei Wochen lang geklappt, aber jetzt bin ich dafür zu
schwach. Ich lebe doch gar nicht mehr!
Mutti sitzt gerade im Zug nach Nürnberg, wo Jörg sie abholen will.
Ich hoffe, dass wenigstens bei ihr alles klappt.
Montag, 07.02.2000
Mutti hat ihre zweite große Liebe gefunden. Jörg ist jetzt grad in
Naumburg und Mutti hat mich nicht angerufen, obwohl sie es drei
Mal versprochen hat. […] Mit Marcel läuft es zur Zeit nicht so gut.
Wir streiten bzw. schweigen uns dauernd an.
Donnerstag, 10.02.2000
Ich traue mir kaum, es zu schreiben, aber zur Zeit macht mir die Arbeit richtig Spaß. Gut, das frühe Aufstehen ist wirklich sehr quälend,
aber das Personal ist sehr nett und der Umgang mit den Patienten
bereitet mir echt viel Freude.
Freitag, 25.02.2000
Das Wochenende zu Hause war ganz schön. Mit Jörg verstehe ich
mich eigentlich, aber seit er da ist, komme ich mit Mutti nicht mehr
so gut klar. Ich will auch am Telefon nicht mit ihr reden.
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18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Seit vorige Woche Donnerstag ist sie mit Bastian und Jackie bei ihm
in Bayern zu Besuch. Es geht allen gut. Mutti habe ich 350,- DM für
die Zugfahrt geliehen. Sie will es zurückgeben, aber ich glaube nicht
so recht daran. Da sie am 25. März schon umziehen will, habe ich
von zuhause mitgenommen, was mir wichtig erschien. Als ich mich
von Jackie verabschiedete, kamen mir die Tränen. Am Auto kurz vor
der Rückfahrt bekam ich einen schrecklichen Weinkrampf.
Ich bin nun endgültig ausgezogen und werde meinen Heimatort so
bald nicht wiedersehen. Den Schlüssel habe ich auch schon abgegeben. Mutti will, dass wir beim Auszug helfen, aber ich werde nicht
hinfahren, auch nicht an meinem Geburtstag. Nach Bayern werde ich
auch nicht so schnell fahren, denn das sind fast 500km.
Mit Marcel läuft es auch nicht so gut. Er weiß es nicht, aber das ist
mein Gefühl. […] Außerdem ist es doch in einer Beziehung üblich,
dass man über alles Mögliche reden kann, oder? Wir reden kaum,
wenn, dann nur über belanglose Dinge. Manchmal glaube ich, dass
ich nur mit ihm zusammen bin, weil ich Angst davor habe, allein zu
sein. Wen habe ich denn außer ihm? Ist das noch die große Liebe?
[…] Bin ich glücklich mit ihm? Verlange ich zu viel? Könnte ich
überhaupt in einer Beziehung glücklich werden für immer?
Dienstag, 29.02.2000
Am Sonntag hatten Marcel und ich einen furchtbaren, seltsamen
Streit. Ihm passt es nicht, dass ich rauche. Er wollte, dass ich aufhöre.
Das will ich aber nicht. Wir schwiegen uns an, diskutierten, schwiegen. Ich verletzte ihn, wollte es, kniff, biss, kratzte, schlug. Er ließ
alles still über sich ergehen. […] Er kam immer wieder auf mich zu.
Nach drei Versöhnungsversuchen – und vier Stunden später – wurde
ich wieder »normal« im Kopf und konnte mich ihm wieder öffnen. Es
war seltsam in mir. Ich war nicht ich selbst während des Streits und
ich konnte es aber nicht ändern, konnte nicht mehr zurück.
228
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Einsame Trauertränen
Tränen weinen in mir,
fließen unter meine Haut.
Kalt ist es, ich frier,
doch ist die Kälte vertraut.
In meinem Kopf ist sie
und sie umgarnt mein Herz,
das schon immer schrie
und nun schweigt vor Schmerz.
Ständig wacht mein Geist,
ruht auch nicht bei Nacht.
Ich fühle mich verwaist
und umgebracht.
Ich warte und warte und bleib allein,
Zigaretten überbrücken die Zeit,
zu allem Essen sag ich nein.
Ich bin entzweit.
Ich und ich sind nicht mehr eins,
ich lebe nicht mehr für mich.
Mein Innerstes schweigt,
es kennt mich nicht.
Für die Suche danach
bin ich zu schwach.
Ich hab mich fallen lassen.
Ich hab mein früheres Ich verlassen.
Ich sehne mich so sehr,
ich weine ihm nach.
Warum ist es so schwer?
Warum bin ich so schwach?
März 2000
229
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Leer
Ich folge mir
mit großen Schritten,
doch ich verlier
mich aus den Blicken.
Ich suche verzweifelt,
schaue verängstigt umher.
Welchen Weg ich auch wähl,
mein Ich gibt’s nicht mehr.
Allein bin ich,
leer und klein.
Ich find mich nicht,
kann nicht mehr sein.
Ich will schreien, lachen, weinen,
mich finden,
mich vereinen,
doch meine Kräfte schwinden.
Ich liege auf der Erde,
ängstlich und schwach.
Ich sterbe,
doch bleibe wach.
Ich will nicht sterben
so allein.
Ich will gefunden werden,
nicht ich-los sein.
Ich schwebe leicht,
hab kein Gewicht.
Ein Augenblick entweicht,
streift mein Gesicht.
230
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Es löst sich der Raum,
ich fliege hinauf,
entfliehe dem Traum
und wache auf.
März 2000
Dienstag, 14.03.2000
Mir graut vor dem frühen Aufstehen für die nächsten acht Wochen.
Ich könnte kotzen. Zur Zeit bin ich ständig müde. Was soll das nur
werden, wenn ich 4:50 Uhr aufstehen muss?
Muttis Paket zu meinem Geburtstag ist auch noch nicht da. Auf
niemand ist Verlass.
Zur Zeit sehe ich wieder mal alles ganz grau. So kann das doch nicht
weitergehen?
Dienstag, 25.04.2000
Ich war endlich mal wieder in Naumburg. […] Jetzt bin ich wieder
in einem totalen Tief, könnte nur heulen. […] Das Schlimmste in
Naumburg war, dass ich dort kein Zuhause mehr habe. […]
Heute muss ich bis 20 Uhr arbeiten. Am Wochenende muss ich auch
arbeiten. […] Noch zwei Wochen und sechs Tage, dann habe ich
Urlaub. Das ist das Einzige, was mich jetzt am Leben hält.
231
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Nach acht Monaten in der KrankenschwesterAusbildung (und einem Loch im Kopf, das genäht
werden musste, deswegen die sehr kurzen Haare)
spürte ich bereits: Ich schaffe das niemals bis zum
Ende.
Ich schaffe das nicht, jeden Tag fremdbestimmt
arbeiten zu gehen. Das war mir einfach zu wenig,
so sinnlos, denn mit dem verdienten Geld konnte
ich mir Glück und Zufriedenheit nicht kaufen. Es
diente nur dem Überleben. Aber ich biss die Zähne
zusammen, passte mich an, tat, was alle taten. –
Noch hatte ich die Kraft dazu.
232
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Heimweh
Ich habe Angst
kann nicht mehr leben
bin starr
bin stumm
würd alles geben
wäre doch mein Kopf nur frei
will fliehen
schreien
weinen
für immer im Gestern verweilen
nicht vorangehen
stehen bleiben
den Himmel bemalen
in die Dämmerung entgleiten
würd alles zahlen
könnt ich zurück
ins Glück
in mein Zuhaus
ich will hinaus
will leben
keine Tränen mehr vergeben
Sonne
nimm mich mit
nur ein Stück
ist schon genug
käm ich zurück
Zeit
bleib stehen
ich bin bereit
in meine Erinnerungen zu gehen
will sie leben
will sie lieben
nur noch einmal
mich in Vertrautheit wiegen
233
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Fremde Luft
und fremde Straßen
ich muss
mich auf mich selbst verlassen
kenne nichts
kenn kein Gesicht
hab kein Gewicht
will fliegen
will siegen
mein Dasein bezwingen
will glücklich sein
will heim
Mai 2000
234
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ein Lichtblick zwischendurch:
Mit Marcel war ich zwei Wochen im Urlaub auf Ibiza. Das war der
erste wirkliche Urlaub meines Lebens.
Mein Körper war zu einer schönen Frau herangereift – in mir drin
aber war ich noch immer das verletzte Kind, das ich mit aller Gewalt
zu verstecken versuchte.
235
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Montag, 31.07.2000
(Streit mit Marcel gestern [...]) Ich sagte ihm nach langem Überlegen, dass es besser sei, wenn wir uns am nächsten Tag (heute) nicht
sehen. […] Jetzt sitze ich hier allein in meinem Wohnheimzimmer
und überlege, wo ich mir den Arm aufschlitzen will. Meine Augen brennen. Ich habe gestern Abend noch im Bett zu viele Tränen
verschenkt. Heute bin ich wie taub. Viele Gedanken gehen mir durch
den Kopf, aber ich fühle nichts. […] Ich vermisse Marcel, will ihn
aber nicht in meiner Nähe haben. Was soll das? Ich verstehe das
nicht! Habe ich vielleicht übertrieben? Ich habe doch nur aus meinen
Gefühlen heraus gehandelt.
Die Pusteblume
»Wenn ich fliegen kann, bin ich dann frei?«,
fragt die Pusteblume.
»Nein«, antwortet der Baum,
»der Wind zeigt dir den Weg, der Regen bringt dich zu Fall,
die Erde nimmt dich wieder zu sich.«
»Wenn ich’s nicht bin, dann will ich nicht fliegen«,
sagt darauf die Pusteblume.
»Dann wirst du nie leben«, antwortet der Baum.
August 2000
236
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
EKSTASE
Ich will mit dir unsere Träume leben,
dich im Schlaf zärtlich verwöhnen,
mit dir die Sonne am Horizont erheben,
dich vom Gewohnten entwöhnen.
Ich will mit dir über die Meere gleiten,
dich im tiefen Wasser berühren,
mit dir durch die Wüste reiten,
dich in Oasen verführen.
Ich will mit dir in den Wolken schlafen,
dich im lauen Wind entkleiden,
mich mit dir an purer Leidenschaft laben,
das Paradies dir zeigen.
Ich will mit dir durch die Sternennacht tanzen,
dich an die Sichel des Mondes fesseln,
mit dir neue Sterne in den Himmel pflanzen,
jegliche Hemmungen vergessen.
Ich will mit dir Explosionen erleben,
dich zu heißer Glut entfachen,
mit dir knisterndes Feuer legen,
nach deinem feuchten Körper schmachten.
Ich will mit dir durch die Hitze unserer Gefühle reisen,
dich streicheln, küssen, lecken, beißen,
mich mit dir in lauter Lust vereinen,
vor ekstatischem Befreitsein weinen.
August 2000
237
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Eine meiner damalig bewegendsten und tiefgreifendsten Erfahrungen mit 19 Jahren: Ein zweimonatiger Einsatz auf der Schwangeren-/Geburtenstation mit mehreren Tagen in der NeugeborenenAbteilung.
Ich hätte ein Händchen mit den Kleinen, sagte man mir, dabei war
all mein Tun von tiefem Respekt und Demut vor diesen gerade von
Gott gekommenen kleinen Menschen (und ihren Müttern) geprägt.
238
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Auf dieser Station habe ich hautnah – da ich täglich mit diesen Frauen zusammen war – erfahren, wie eng Geburt und Tod miteinander
verbunden sind:
Eine Frau hatte einen toten Zwilling in ihrem Bauch. Diese – eigentlich sehr fröhliche – Frau hatte jeden Augenblick mit der Angst zu
kämpfen, dass auch ihr zweites Baby jederzeit sterben könnte. Sie
bekam sehr starke Medikamte, damit ihr Körper den toten Zwilling
(und damit auch den noch lebenden Zwilling) nicht abstieß. Nach
einigen Wochen war ihr Herz dadurch so geschädigt, dass sie in
Lebensgefahr schwebte. Das Baby – es war so winzig – wurde per
Kaiserschnitt herausgeholt und mit dem Hubschrauber in eine andere Klinik auf eine Frühgeburtenstation gebracht.
Eine andere Frau hatte eine Fehlgeburt und verlor sehr viel Blut.
Und sehr viel Hoffnung.
Wieder eine andere Frau verlor über mehrere Tage all ihr Fruchtwasser – obwohl ihr Becken hochgelagert wurde – und der Fötus »vertrocknete« in ihrem Bauch. Sie litt unsäglich, denn diese Erfahrung
machte sie nicht zum ersten Mal. Ich sehe noch heute ihre Augen vor
mir: Leid, da war nur noch einsames Leid.
Eine weitere Frau starb nach der Geburt. Während des Kaiserschnitts
wurde ein Gefäß in ihrem Bauch verletzt. Man entdeckte es zu spät.
Sie verblutete innerlich. Ich erinnere mich noch an das Gesicht des
Vaters, als man es ihm erzählte.
Es gab aber auch eine Frau, die mich sehr beeindruckte. Sie kam
hochschwanger – bereits mit ersten Wehen – auf Station, konnte
keinen Mutterpass vorzeigen und trat sehr selbstbewusst auf, als die
Ärzte ihr vorwarfen, es sei sehr unverantwortlich von ihr gewesen,
während der Schwangerschaft zu keiner Voruntersuchung gegangen
zu sein. Sie hatte bereits mehrere Kinder, zeigte keine Angst, keine
Unruhe. Ohne großes Aufsehen brachte sie ihr Kind zur Welt und
verließ noch am selben Tag die Klinik.
Das kleine Mädchen, das ich da auf dem Arm halte, hätte ich am
liebsten mitgenommen. Es hatte keine guten Eltern und sollte in ein
Heim kommen. Was mit ihm geschah, erinnere ich leider nicht.
239
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Montag, 18.09.2000
Maria (Name geändert) wohnt zwei Zimmer neben mir und ich
empfinde sehr viel für sie – oder dachte es zumindest. Sie hat mir in
einem 4seitigen Brief die Freundschaft gekündigt. Ich habe angeblich
neben dem Job und neben Marcel nicht genügend Zeit übrig, die für
eine beste und innige Freundschaft nötig ist. Ja, sie hat Recht. Aber
es tut mir im Moment nicht weh, nicht sehr. Ich verdränge es.
Gestern habe ich mit Bastian und gezwungenermaßen auch mit Jörg
telefoniert. Er möchte, dass ich doch mal komme und mich mit Mutti
ausspreche. Er will mich doch auch lieb haben, mich, »seine Kleine«(?!). Gott, grade sowas brauche ich jetzt gar nicht.
Donnerstag, 05.10.2000
Am Sonntag Abend haben Marcel und ich uns böse gestritten. […]
Ich habe mir viele Gedanken gemacht, was passieren würde, wenn ich
ihn verließe. Nicht nur gefühlsmäßig würde ich viel verlieren, sondern auch materiell (Wäsche waschen, Essen, Internet (mit Bruder
kontakten), Auto, uvm.). Ich bin zur Zeit zu stolz und zu eiskalt, um
für Marcel Einsicht zu zeigen. Wir streiten nur und verletzen uns
gegenseitig. […]
Es ist alles so schwer zur Zeit. Mein ganzes Leben in Frankfurt war
ein Leben mit Marcel. Ich kann es mir ohne ihn nicht vorstellen. Ich
will ihn nicht verlieren, und doch will ich ihn auch nicht in meiner
Nähe haben. Es liegt an mir und ich kann und will mich nicht ändern. […] Wie soll ich allein überleben? Ich müsste ein völlig neues
Leben beginnen. Seit Tagen gehen mir diese Gedanken nicht mehr
aus dem Kopf. Ich schlafe schlecht ein und wache nachts häufig auf
durch wirre Träume.
Ich will und will nicht wissen, wie es weitergeht. Aber lange ertrage
ich diesen Zustand nicht mehr.
240
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ab November 2000 war ich für mehrere Wochen
auf einer neurologischen Kinderstation.
Ich weinte die ersten zwei Wochen fast ununterbrochen und quälte mich jeden Tag dorthin.
All diese zauberhaften Kinder waren bereits auf
viele verschiedene Weisen gestorben (ertrunken,
erstickt, erhängt, erschlagen, Autounfall, Krebs,
plötzlicher Herzstillstand, uvm.) und waren wieder belebt worden. Sie stahlten und lachten aber
so sehr, dass ich letztlich nicht anders konnte, als
mein eigenes Leid zu vergessen und sie zu lieben.
Salvatore hieß der etwa 9jährige Junge (2. von
rechts im obigen Photo), der so schön Faxen macht
und nie von seinen Eltern in der Klinik besucht
worden war. Ich hatte ihn sehr in mein Herz
geschlossen. Als ich ihn eines Tages unüberlegt in
seinen niedrigen Kinder-Rollstuhl setzte, begannen
die Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich.
241
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ein Besuch in Bayern. Der Kontakt zu meiner Mutter wurde immer schwieriger.
Dienstag, 12.12.2000
Ich war zuhause (wenn ich Bayern mal als mein Zuhause bezeichnen
möchte) vom 19.11. bis 25.11. Die ganze Strecke hin und zurück
durfte ich allein Auto fahren (ca. 1000km). Mutti hat sich sehr
gefreut und Jackie hat mich sogar erkannt. Mutti musste Marcel und
mir natürlich gleich die ganze Gegend zeigen. Sie fuhr uns ständig
irgendwo hin. Nur am Mittwoch hatten wir mal »frei« von ihr. […]
242
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Als wir wieder gefahren sind, habe ich nicht zurückgeschaut, versuchte nicht daran zu denken. Aber die Tränen rollten von allein.
Hätte ich nicht selbst Auto fahren müssen, hätte ich einen schlimmen
Heulkrampf gekriegt. Die ganze Woche dort habe ich meine Gefühle
unterdrückt und versucht, nichts zu nah an mich rankommen zu
lassen; auch nicht die Tatsache, dass Mutti plant, Jörg zu verlassen,
um mit Robert aus Naumburg ein Haus in Bayern zu mieten.
Montag, 18.12.2000
Zur Zeit weine ich nur noch. Weihnachten ohne Familie – das ist
schwer zu ertragen. Ich würd‘s am liebsten ausfallen lassen. Ich
dachte, ich krieg‘s hin, hier ein glückliches neues Fest zu feiern, aber
je näher es kommt, umso schwerer ist es. Und dann fängt heute mein
neuer Einsatz im Seniorenstift an, und dann auch noch Spätdienst.
Ich hoffe nur, der Einsatz wird erträglich und ich kann ein wenig
Freude empfinden.
Jetzt weine ich wieder. Mein Leben hier gefällt mir nicht. Es macht
mich nicht glücklich. Ich glaube zu wissen, dass es am Beruf liegt.
243
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Grenzgänger
Meine Tränen zerfließen
mein Gesicht
und hinterlassen auf seiner Haut
Brandwunden und
hässliche Narben
Mein wässriger Blick
zersplittert
wie vereistes Glas
Meine Ohren verstärken
den leisesten Ton
zu einem unerträglichen
Schwall an
Missgeräuschen
Meine Stimme
schreit in mir
und findet nicht
den Weg nach außen
Meine Gedanken
zerschlagen sich
gegenseitig
und überlassen mich
der einsamen Lethargie
Meine Hoffnungen
und Träume
werden von der Realität
ständig und immer
zerfressen und
gepeinigt
Meine Arme
flüchten vor dem
Rumpf und
drohen
ihn zu zerfetzen
244
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Meine Beine laufen
vor mir davon
erstarren jedoch
zu Stein
und bleiben
schmerzhaft
an mir hängen
Mein Rumpf
wehrt sich gegen
alle Organe
und zerquetscht
sie
Mein Herz vergiftet
mit jedem Schlag
meine Gefäße
mehr
und füllt
meinen Körper mit Leid
bis ich ihn dazu veranlasse
meine Seele
von ihm
zu befreien
Dezember 2000
245
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Dienstag, 19.12.2000
Ich bin krank geschrieben bis 22.12.
Seit 6 bis 7 Wochen habe ich schon starke Rückenschmerzen.
Auf der neurologischen Kinderstation hatte ich mich verhoben. Gestern waren die Schmerzen so schlimm wie nie zuvor. Und ich hatte
ein mächtiges Tief. Den ganzen Tag habe ich nur geweint. Am Morgen hatte ich mich wieder geritzt. Ich konnte mich vor Schmerzen
kaum bewegen. Frau Günther hatte mich dann zum Arzt gefahren.
Die Ärztin untersuchte mich und fragte mich aus über mein Verhältnis zur Familie, zur Arbeit, zum neuen Leben hier. Ich konnte
nicht leugnen, dass ich eigentlich sehr unglücklich bin. So meinte sie,
dass die Schmerzen psychisch verstärkt werden würden. Ich bekam
nur eine Salbe und wenn es nicht besser würde, solle ich noch zum
Röntgen gehen.
Danach war ich noch fertiger. Und dann erfuhr ich, dass ich am
Wochenende Spätdienst habe. – Der Tag war für mich gelaufen. Das
wird ein tolles Weihnachten. Spät-Früh-Wechsel am 24. und 25.12.
– perfekt.
Ich bin tottraurig, kann aber nicht mehr weinen. Die Augen tun mir
furchtbar weh. Ich mag nix essen, nicht schlafen, nichts tun.
Samstag, 30.12.2000
Am 22.12. wurde meine Wirbelsäule kernspintomographiert. Zwei
Wirbel sind angeblich von Geburt an nicht richtig zusammen
gewachsen, dadurch verschiebt sich ein anderer Wirbel, der meine
Nervenstränge einquetscht. Also nichts Schlimmes. Ach, und im
Steißbeinbereich seien Vernarbungen zu sehen, was mich sehr überrascht hat. Der Unfall in meiner Kindheit könnte die Ursache sein.
246
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ichverzicht
Berührst du mich
zerbreche ich
Berühre ich mich
blute ich
Fühlst du mich
vereise ich
Fühle ich mich
schmerze ich
Siehst du mich
verschwinde ich
Sehe ich mich
weine ich
Hörst du mich
verstumme ich
Höre ich mich
zweifle ich
Willst du mich
flüchte ich
Will ich mich
verstoße ich
Hast du mich
zerstöre ich
mich
Januar 2001
247
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Dienstag, 30.01.2001
Gestern war ich nochmal beim Arzt wegen meinem Rücken.
Diagnose: Chondrosen der Disci BWK12/L1 bis L2/L3, Discusprolaps L4/L5, Hyperlordose im LWS-Bereich, bilaterale Spondylolyse
L5/S1 mit Spondylolisthese Grad 2, Ventralversatz beträgt 12mm,
mit Impression der Nervenwurzeln beidseits bei linksseitiger Dominanz.
Auf deutsch: degenerativ bedingte Veränderungen der Knorpel
BWK12/L1 bis L2/L3 (Abnutzungserscheinungen der Bandscheiben),
Bandscheibenvorfall L4/L5, Hohlkreuz im LWS-Bereich, Erkrankung
der Wirbelsäule mit Defektbildung im Bereich der Wirbelbögen,
Verschiebung eines Wirbels (Wirbelgleiten L5/S1) um 12mm, mit
Einengung der Nervenwurzeln beidseits bei linksseitiger Dominanz.
Therapie: Krankengymnastik und bei neurologischen Ausfällen OP.
Das heißt, ich muss meinen Beruf wechseln. Und ich brauche alle
meine Röntgenbilder der Wirbelsäule von den vorigen Jahren. Mutti
will mich anrufen und mir sagen, ob sie meinen früheren Orthopäden
ausfindig machen konnte.
Außerdem habe ich heute erfahren, dass Oma einen Herzinfarkt
hatte und seit Samstag Nacht im Krankenhaus liegt, zusätzlich mit
Pneumonie und Wasser in der Lunge. Ich habe sie gleich angerufen.
Sie klang optimistisch. Das Jahr fängt gut an.
Meine Gefühle kann ich nicht aufschreiben, weil ich wie betäubt bin.
248
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Röntgenaufnahme meiner Lendenwirbelsäule aus
dem Jahr 2010.
249
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Doch ich …
Aus meinem Kopf
in Wort und Tinte
aufs Papier
Doch ich
verdränge das Wort
vergieße die Tinte
und zerreiße das Papier
Gegen die Wand
mit Kopf und Händen
schlagen
Doch ich
verfehle die Wand
und treffe mich
Durch die Glasscheibe
meiner Wohnungstür
laufen
Doch ich
zersplittere
und nicht sie
Von der Brücke
ins tiefe Nass des Flusses
springen
Doch ich
ertrinke nicht in ihm
sondern in mir
Januar 2001
250
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Freitag, 09.02.2001
Gestern schlief Marcel mit mir. Ich wollte es von Anfang nicht. Ich
konnte ihm aber nicht sagen, dass ich nicht wollte. Es war furchtbar. Ich versuchte, mir einzureden, dass es schön ist, dass ich ihn
doch liebe. Es tat weh, als er eindrang, wie auch am Abend davor,
und dauerte ewig. Ich betete, dass er schnell zum Orgasmus kommt,
damit endlich Schluss ist. Ich bewegte mich mit trotz meiner Rückenschmerzen und er deutete dies wohl als Lust von mir. Am Ende
entschuldigte er sich, weil er seine Erregung nicht länger hatte unterdrücken können. Erst dann verstand ich, dass er glaubte, mir eine
Freude zu machen. Er wollte mir nicht wehtun. Ich hätte nur von
Anfang an ehrlich sein müssen. Bei diesem Geständnis musste ich
weinen. Er schlief dann ein. Ich ging duschen und merkte, dass meine
Scheide außerhalb etwas blutete, sie also verletzt war. Ich schlief auf
der Couch, weil ich Marcels Nähe nicht ertragen hätte. Bitte lass
mich das schnell vergessen!
Sonntag, 25.02.2001
Wo fange ich nur an. Also, bis 05.03. bin ich krank geschrieben wegen meinem Rücken. Ich habe drei Tage auf der Erwachsenen-NeuroStation gearbeitet, dann ging vor Schmerzen nichts mehr.
Ich wiege 51kg. Seit Wochen esse ich kaum was, und wenn ich mal
was essen muss, erbreche ich es wieder.
Meine Bewerbungen für eine neue Ausbildung schicke ich nächste
Woche ab. Ob dies dann nun der richtige Weg ist, weiß ich nicht. Ich
hoffe, denn hier im Krankenhaus halte ich es nicht mehr aus.
Nächsten Freitag fahre ich nach Bayern: Bastian hat Tanzabschlussball – da muss ich doch als große Schwester dabei sein.
251
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Ich war überglücklich, mit meinem kleinen – mittlerweile groß gewordenen – Bruder zu tanzen.
Und er (auch meine Mutter) war sehr stolz, dass
seine große Schwester extra aus Frankfurt angereist war.
Was beide nicht wissen konnten, da ich es sie nicht
wissen ließ: Ich war unglücklich, ich war verzweifelt, ich hatte starke Rückenschmerzen, ich verletzte mich häufig selbst und hatte nun auch noch
den Weg in eine Esstörung (Bulimarexie), die mich
über Jahre besitzen sollte, eingeschlagen, ohne
dass ich es wusste.
252
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
09.03.2001 – Mein 20. Geburstag.
Für diesen Abend konnte ich mein Leid vergessen und mit meinen liebsten Freunden, die eine
Überraschungsparty für mich organisiert hatten,
ausgelassen feiern.
Am Morgen dieses Geburtstages, als ich mit meiner Ausbildungsklasse an einer Führung im Krankenhaus teilgenommen hatte, war ich ohnmächtig
zusammen gebrochen. Ich wusste nicht warum.
Ich wollte nicht wahrhaben, wie sehr ich unter all
den Erlebnissen sowie den anstehenden Veränderungen und Herausforderungen in meinem Leben
litt.
Ich wollte stark sein.
253
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
Sonntag, 11.03.2001
Zum 31.03. kündige ich meine jetzige Ausbildung, kann aber bis
Oktober im Wohnheimzimmer bleiben. Vorigen Montag hatte ich ein
Vorstellungsgespräch und kann am 01.04. ein Praktikum in einer
Marketingfirma in Frankfurt anfangen, zwei Monate später eine
Ausbildung zur IT-Systemkauffrau. Ich habe furchtbare Angst, kann
sie aber noch unterdrücken. Ich sehe dies als letzte Chance für meinen
Berufsweg, sonst mache ich Schluss.
Da es mit Marcel nicht gut läuft, planen Maria und ich, zusammen
eine Wohnung zu nehmen. Aber während des Praktikums verdiene
ich nur 500,- DM und auch während der neuen Ausbildung bekomme ich weniger Geld als jetzt. […] Ich weiß nicht, wie ich die
nächsten Monate finanziell überstehen soll. Noch kann ich alles gut
verdrängen.
Oma wurde am Mittwoch oder Donnerstag am Herzen operiert. […]
Bis gestern war sie noch nicht aufgewacht. Sie wird noch die ganze
Woche auf der Intensivstation liegen, hoffentlich aufwachen und danach gesunden. […] Wir wollen sie auf keinen Fall verlieren. Sie ist
doch erst 70 Jahre alt. Sie war schon vorher einige Wochen in einem
anderen Krankenhaus. […]
Eben brachen die Tränen zum ersten Mal richtig aus. Ich verdränge
zur Zeit so viel, zu viel. [...] Gestern Abend habe ich wieder erbrochen. Ich habe einfach keinen Appetit und wenn ich dann doch was
essen muss, ist mir danach so übel, dass es von allein hochkommt. Ich
will nicht unbedingt dünner sein. Vielleicht ist es ein Hilfeschrei und
ich kompensiere damit all das, was ich verdränge.
254
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Es interessiert mich nicht, wo oder was du gelernt hast.
Ich will wissen, was dich von innen hält, wenn sonst
alles wegfällt.
»The Invitation« von Oriah
255
18 – 20 Jahre / Ausbildungszeit I
256
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 07.04.2001
Der neue Job ist ok. Ich habe in der ersten Woche schon viel gelernt
über Excel und Website-Erstellung mit HTML. […]
Was mich zur Zeit sehr schmerzt und quält, ist, dass ich Maria sehr
weh getan habe (ich ziehe ja nun mit Marcel in die Wohnung, die ich
mit ihr angeschaut hatte) und sie mir nun endgültig die Freundschaft
gekündigt hat. Das Schlimme ist, ich bin froh drum. Es ist besser
für sie. […] In der Pflege von Freundschaften bin ich echt schlecht.
Deswegen werde ich wohl nie beste Freunde haben. Aber das ist mir
momentan egal. Ich glaube, dazu ungeeignet zu sein. Und ich habe es
auch nicht verdient. Irgendwie nutze ich Andere ja eh nur unbewusst
aus, leider.
Ich freue mich sehr auf unsere gemeinsame Wohnung. Einerseits,
weil es dann unsere eigene ist und andererseits, weil ich hier unbedingt raus und alles abschließen und vergessen will.
Ich erbreche immer noch. Meine neue Hose, Größe 32, wird mir
langsam auch schon zu groß. Und das völlig Dumme ist: Ich bin
noch stolz drauf. Bin ich krank und verrückt? Aber ich fühle mich
wohl damit. Es ist endlich mal was, das ich wirklich durchhalten und
durchziehen kann. So vieles hatte ich mir in meinem Leben schon
vorgenommen und nicht bis zum Schluss durchgezogen. Sorgen
mache ich mir nur, wann und wie der Schluss meiner »Hungerkur«
aussehen wird?! Jedes fünfte Mädchen stirbt an Bulimie.
Warum gefällt mir der Gedanke, mich vor allen Menschen zugrunde richten zu wollen, ohne dass diese es bemerken oder irgendetwas
dagegen tun können? Weil mein Leben schon genug von anderen
Dingen abhängt und manipuliert wird? Weil es etwas ist, was ich
ganz allein entscheiden und lenken kann? Oder ist es ein Hilferuf?
Dadurch, dass ich keine Waage habe, denke ich immer, ich hätte wieder zugenommen. Beim letzten Wiegen waren es 49,1kg. Ist es jetzt
nach zwei Wochen mehr oder weniger oder gar gleich? Doch auch
257
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
wenn es weniger wäre, wäre es für mich kein Grund, mit dem Hungern aufzuhören.
Gestern hatte ich bei Marcel nach einem schönen Spielfilm einen
furchtbaren Heulkrampf, weil mir klar geworden war, dass ich wohl
den schlimmsten März meines Lebens überstanden hatte. All der
Druck, die Sorgen und Ängste waren gestern dabei von mir abgefallen. Die Kündigung, die Angst vor Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit, die kurze Pause mit Marcel, Christian ((Name geändert) wegen
dem ich Marcel verlassen wollte), Maria, der neue Job, Versöhnung
mit Marcel, Trennung von Christian und Maria – das war so viel in
nur einem Monat. Dann noch das Ritzen, Hungern und Erbrechen.
So viel Angst und Tränen hatte ich wohl noch nie in so kurzer Zeit,
auch nicht so viele Entscheidungen, die mich quälten und fast wahnsinnig gemacht haben.
Ich hoffe, einen Neustart begonnen zu haben, der besser wird. Wenn
die Einsicht kommen sollte, dass er es nicht ist, werde ich zugrunde
gehen. Davor habe ich große Angst: wieder den falschen Weg zu gehen. Aber ich will es packen, das mit dem neuen Job und mit Marcel.
258
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Nur einen Tag nach Beginn meiner neuen Ausbildung, am
02.06.2001, starb meine geliebte – damals 71jährige – Oma mütterlicherseits in einem Krankenhaus in Halle.
Eine Woche vorher hatten die Ärzte die gesamte Familie zusammen
gerufen (meine Oma hatte 6 Kinder, 8 Enkelkinder, 1 gerade neu
geborenes Urenkelkind). Eine Woche verbrachte so auch ich am
Krankenhausbett meiner sterbenden Oma (mein neuer Chef hatte
mir freigestellt, was ich später nacharbeiten musste).
259
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Als ich sie auf der Intensivstation – sie lag im Koma – zum ersten
Mal besuchte, war ich an ihrem Bett vorbeigelaufen, denn ich hatte
sie nicht wieder erkannt. Still weinend legte ich ihre Hand auf meinen Kopf und betete für sie.
Kurz darauf kam sie wieder zu Bewusstsein und wurde zum Sterben auf eine andere Station verlegt. Als sie mich sah (viele Monate
hatte sie mich nicht mehr gesehen), kam Leben in ihren schwachen,
aufgedunsenen Körper. Sie streckte die Arme nach mir aus, wir umarmten uns, sie hielt mich lange ganz fest (ich war über die Kraft in
ihren Armen erstaunt), ihre Worte an meinem Ohr konnte ich nicht
verstehen.
Als ich sie am 01.06.2001 verließ (ich musste zurück nach Frankfurt),
schaute sie mit einem zufriedenen Blick aus dem Fenster. In diesem
Moment wusste ich sofort: Sie wird uns in den nächsten Stunden
verlassen. Sie wird in das Licht gehen, von dem sie mir früher einmal erzählt hatte, als sie gestorben und wiederbelebt worden war.
Und ich würde sie nie wieder sehen.
Samstag, 16.06.2001
Zu viel Gutes und Schlechtes ist geschehen. Ich konnte deshalb lange
nicht schreiben. Nächste Woche fahre ich zur Beisetzung von Oma.
Mehr möchte und kann ich darüber nicht schreiben. Seit 30.03. wohnen Marcel und ich in der neuen Wohnung. Maria habe ich vorigen
Sonntag erstmals wieder in liebevoller Umarmung gesehen. Der
Rest, der noch geschehen ist, scheint mir jetzt nicht mehr erwähnenswert.
(Keine weiteren Einträge im Tagebuch für über 3 Monate.)
260
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Das war zu viel für mich; ich, die schon als Kind so sehr an ihrer
Oma gehangen hat.
Ich verfluchte Gott und begann, mehr Alkohol zu konsumieren,
noch weniger zu essen, noch öfter zu erbrechen und mich noch mehr
selbst zu verletzen.
261
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Oma
Dein Körper um dich zerfällt
und fließt erbarmungslos über das weiße Laken
auf meine Schuhe
vor deinem Krankenbett.
Ich ziehe die Schuhe aus,
doch dein sterbender Körper
hat sich in meine Fersen gebrannt
und wird mich mein ganzes Leben lang verfolgen
mit jedem Schritt,
den ich in dieser Welt gehe.


Dein Schatten steht vor mir,
ich erkenne dich nicht.
Er schreibt Worte mit deinem Blick in die Stille
und zerbirst mit ihnen
das Antlitz meiner jungen Welt.
Die weißgraue Farbe der Vergänglichkeit
umrahmt dein liebliches Gesicht
und zerbricht
deinen Schatten ins himmlische Licht.


Über unseren tränenreichen Schmerz
treibst du in deiner Urne in dein Grab
und wir decken dich zu
mit zitternden Händen
Häufchen Erde auf Häufchen Erde
mit blindgeweinten Augen
des endgültigen Abschieds unfähig.

262

20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Deine leblose Hand
leg ich mir aufs Haupt,
weich und sanft;
ein letzter Hauch
deines Lebens
verdunstet quälend
in meinen heißen Tränen.


Geräuschlos und sacht
im Takt eines Pendels
fallen meine Tränen
wie Federn
auf dein Grab.
Der Wind umgarnt sie,
lässt sie tanzen
und spielerisch wirken.
Er treibt sie davon,
doch sie kommen zurück
immer wieder
noch für lange Zeit
und betten dich weich.


Ein leerer Kirchhof;
über die neuen Namen und Grabsteine
peitscht der eisige Wind
die Regentropfen wie Geschosse
in mein blutendes Herz.
Ich wünschte,
ich könnte es stillen.
Womit?
Mit der Erde,
die mir der Wind
aus den zitternden Händen entreißt
und das endgültige Dach deiner Urne
damit baut.
263
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Abschied?
Nein – ewige Liebe.


Ein Tag vor deinem Abschied,
letzte Worte,
letzte Streicheleinheiten,
letzte Liebkosungen.
Ewig scheinen die letzten Stunden,
ewig qualvoll für dich und mich.
Meine Tränen fließen in deinen Augen
über unsere gemeinsamen Zeiten,
so fern, ewiglich vorüber.
Wir wissen,
du wirst von uns gehen.
Ich blicke nicht zurück,
während ich die Tür zu dir hinter mir schließe,
denn ich weiß und weine
um die Endgültigkeit.


Der Schmerz reißt sich wie Glassplitter
durch jedes Körperglied.
Jeder Gedanke,
jedes gesprochene Wort,
jede ausgeführte Bewegung,
jeder Traum schließt ihn ein.
Der letzte Anblick vor dem Abschied
umschlingt wie eine würgende Schlange
frühere Erinnerungen.
Verzweifelte Schreie, Schluchzer.
Nichtverstehenwollen
sticht des Verlustes Klinge
264
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
noch tiefer in die Wunden.
Die Worte wenn und falls und ob
schwirren wie eingefangene Geister
um den schwarzen Trauerschleier.
Mit einem einzigen Satz
zerdrückte mich der schwere Stein
der schon ewig zehrend scheinenden Hoffnung
und zersplitterte
in ewig fließende Tränen,
die mein Herz in sich
ertränken.


Regentropfen fallen schwer
auf deine Todesstätte.
Ich betrachte die frisch gebettete Erde,
die Blumen,
deinen Namen eingraviert in einem Stein;
wie kalt er ist,
seine Worte, seine Bedeutung er in meine Seele frisst.


Ich folge unter der grellen Sonne
den wandernden Dünen
der Wüste.
Vom Wasser eines tiefen Brunnens
sättige ich meine Tränen,
die von der sengenden Hitze aufgefressen werden,
ehe sie mein Kinn erreichen.
Sie wässern meinen Blick
und der Sand der Wüste
verweht sich mit dem Staub deiner Urne
zu einer Silhouette deines Körpers;
halb Mensch, halb Wind.
265
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ich bin das Kind,
das sich in deinen Armen wiegen will,
gleich ob Wind, ob Sturm.
Ich laufe mit ausgebreiteten Armen
in die Umarmung des Sandsturms,
der sich meines Körpers bemächtigt
und mich bei dir in deiner Urne
begräbt.
Juni 2001
266
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Was ist Liebe ?
»Was ist Liebe?«
»Liebe heißt leben«, sagte der Meister.
»Dann sind nur Tage der Liebe gelebte Tage?«
»Nein«, erwiderte der Meister »nur sie hüllen das Leben in Wahrheit ein.«
»Und wenn die Liebe stirbt, stirbt dann auch die Wahrheit?«
»Nein, wir verschließen die Augen vor ihr.«
»Aber warum?«
»Weil wir das Leben ohne Liebe nicht wahrlich leben können.«
Juli 2001
267
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Glas
schuldloses reines glas
glänzend klar seelengleich
greifbar nah
ein blick
und des spiegelbilds angesicht
posiert in den geschmacklosesten posen
wie eine marionettenpuppe
bis die fäden reißen
ein wort
und des spiegelbilds angesicht
liegt zerstückelt und massenhaft
als reflektionen der splitter
unnütz im wege rum
ein schlag
und des spiegelbilds angesicht
zerbirst bis zur unkenntlichkeit bleich
blutüberströmt
auf dem polierten badezimmerboden
August 2001
268
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 24.09.2001
Es ist so viel geschehen, dass auch das dickste Buch nicht reichen
würde. Wo fange ich an – bei der Welt oder bei mir?
11. September 2001 – Ein Tag, der jetzt schon traurigerweise Geschichte geschrieben hat und noch weiter schreiben wird. Der Tag
verursachte die gegensätzlichsten Gefühle und Reaktionen auf dem
Globus: Angst, Entsetzen, Trauer, Hass, Rache aber auch Jubel, Glorie und »Gerechtigkeit«. […] Angst wohnt seitdem in den Seelen der
Menschen, nicht zu vergessen die Trauer derer, die ihre Verwandten,
Bekannten und Freunde verloren haben bei diesem Terrorakt, der fast
jegliches menschliches Verstehen übersteigt.
Sonntag, 30.09.2001
Jetzt berichte ich, wie mein Leben sich verändert hat:
Voriges Wochenende von Samstag auf Sonntag habe ich mit Marcel
Schluss gemacht, nachdem ich mir mit Wodka kräftig Mut angetrunken hatte. Er war sofort in Weinkrämpfe versunken und ich auch. Es
war eine Horrornacht – Vorwürfe und Entschuldigungen, Vergangenheit und Zukunft zerfielen. Am Sonntag musste ich meine Sachen
packen (2 Koffer) und bin gegangen in die Arme eines neuen, ganz
besonderen Mannes namens Sascha (20 J., Name geändert). Er ist
mein Arbeitskollege, wir sind im selben Ausbildungsjahr. […] Seit
Sonntag wohne ich bei ihm, seiner Mutter und seiner Schwester und
fühle mich sehr wohl bei ihnen.
Ich bin sehr schreibfaul geworden. Sich aber intensiv schriftlich mit
seinen Gefühlen und seinem ganzem Leben auseinander zu setzen,
fällt mir zur Zeit sehr schwer. Ich schalte viel ab und vergrabe meine
Gefühle, sonst ersticke ich an ihnen, vor allem an der Angst vor der
Zukunft.
269
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Das war der Beginn einer 9monatigen Wohnungslosigkeit (bis Juni
2002) und der Verlust fast all meines Hab und Gutes.
Während der Wohnungslosigkeit war ich abwechselnd bei meiner
Freundin Maria aus meiner Krankenschwester-Ausbildung (die in
einem kleinen Wohnheimzimmer in Frankfurt lebte) oder bei der
Familie meines neuen Freundes in Idstein untergekommen.
Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie schwer die einfachsten
Dinge des Lebens werden, wenn du keinen Briefkasten hast? Wenn
du keine Postadresse hast? Wie füllst du ein Formular aus, wenn du
270
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
keine Meldeadresse angeben kannst? Und wie unbedeutend wird
Konsum auf einmal für dich, weil du keine Wohnung hast, in die du
das Gekaufte bringen kannst, weil du nur aus Koffern lebst? Weil
du keinen Platz hast für neue Bücher oder neue Klamotten, schöne
Kerzen oder bunte Tücher (oder was man sonst noch zur Wohnungsdekoration so kauft)? In dieser Zeit erfuhr ich es!
Ich versuchte, zu lächeln und stark zu sein, doch mein sinkendes
Körpergewicht und die Wunden auf meiner Haut ließen die eigentliche Wahrheit erkennen.
Montag, 29.10.2001
Mein Leben ist total aus den Fugen. Ich bin immer noch wohnungslos. Seit gestern wohne ich bei Maria in ihrem Wohnheimzimmer.
Die Arbeit ist sehr anstrengend und deprimierend, weil wir viele
Überstunden machen müssen und nicht genug Geld zum Überleben
verdienen.
271
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Wohin
ich
verfliege
entschwebe
verrauche
im sog der haltlosigkeit
keine mauern hindern
keine stützen stärken
kein boden hält
meine schritte
zitternd
nervös
angstvoll
graben meine gedanken
ziele durch den sumpf
des verlorenseins
kein schrei
kein blick
keine träne
bringt licht
in meine zukunft
November 2001
272
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Kelch der Leidenschaft
Ich trinke, trinke
aus deinem Kelch
den süßen Wein
der hemmungslosen Leidenschaft
Deine heißen Lenden
pressen sich in
meinen feuchten Schoß
und tanzen rhythmisch
nach dem Schlag
unserer verschmolzenen Herzen
Ich trinke, trinke
aus deinem Kelch
den süßen Wein
der ekstatischen Leidenschaft
Dein glühender Körper
windet sich unter
meinen fordernden Bewegungen
und explodiert
im Feuer
meiner pulsierenden Scham
Ich trinke, trinke
aus deinem Kelch
den süßen Wein
der gelebten Leidenschaft
Unsere verschwitzten Leiber
versinken sanft
Arm in Arm
unter der unendlichen Zärtlichkeit
unserer warmen Küsse
in die Knospe der Liebe
November 2001
273
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 25.12.2001
Der Heilige Abend ist vorbei. Ach, wie verfliegt doch die Zeit. Ich
habe die Weihnacht mit Maria verbracht. […] Nach allem, was nun
geschehen ist, will ich es trotzdem mit Hoffnung ins nächste Jahr
wagen, beginnend mit einem 4tägigen Urlaub mit meinem Schatz
Sascha.
(Keine weiteren Einträge im Tagebuch für 5 Monate.)
274
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Am Ende
lethargisch
ausgebrannt
gedankenschwach
wortverbraucht
leergelebt
zehrende hetzjagd
tag nacht wind wasser
regen schnee sonne sturm
lachen weinen worte gesten
taten werte charaktere
leben klebt
an meiner kleidung
verdreckte bleigewichte
entkleide mich
schreibe
nachlasslieder
letzte verse
abschiedsbriefe
lege mich nackt
auf bleistift und papier
unterstreiche
das geschriebene
mit meinem blut
Januar 2002
275
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Eine Leinwand und zwei Farben
ich streiche
erst weiß, dann schwarz
dann wieder weiß
im ständigen wechsel
die verwendeten farben
sind hoffnung und angst
als leinwand stellt sich
mein leben zur verfügung
die führung des pinsels
übernimmt meine seele
zum reinigen des pinsels
bieten sich meine tränen an
und ich streiche
erst schwarz, dann weiß
dann wieder schwarz
im ständigen wechsel
bis
die farbtöpfe ausgeschöpft sind
die leinwand gesättigt ist
der pinsel abgenutzt ist
die tränen versiegt sind
Februar 2002
276
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 19.05.2002
Was soll ich nur von meinen letzten Lebensmonaten schreiben, wenn
ich mir so vorkomme, als stünde ich neben ihnen, als stünde ich neben mir. Alles, was ich erlebe, was Gefühle verursacht, vergesse ich so
schnell wieder. Ich fühle mich sehr sehr weit entfernt von mir selbst.
Ich schwebe, drifte, irgendwohin ohne Ziel. Ich kann nicht mehr
denken, will nicht mehr fühlen, alles ist mir zu viel:
1. Wohnungssuche,
2. mein Eigentum über Anwältin von Marcel einfordern,
3. Suche nach einem guten Psychotherapeut,
4. Suche nach neuen beruflichen Zielen (Studium?),
5. Aufrechterhaltung der guten Beziehung mit Sascha,
6. zu wenig Geld für ein eigenständiges Leben,
7. Verdrängung der Schuldgefühle meiner Mutter gegenüber.
All das zerschlägt sich in meinem Kopf und Leere bleibt übrig. […]
Auch in Gedichten kann ich meine Gedanken, Gefühle und Ängste
nicht ausdrücken, weil ich einfach keine passenden Worte finde und
die Suche nach ihnen ist mir zu anstrengend. Ich habe keine Ziele.
In allen Dingen bin ich motivationslos und begeisterungsunfähig.
Weinen sehe ich mittlerweile als Schwäche an. Meine Arme sind
hässlicher denn je und der Sommer ist da.
Sonntag, 26.05.2002
Lang war diese Woche wieder und ich bin total fertig. Aber an drei
der im vorigen Eintrag aufgezählten Punkte habe ich gearbeitet:
Zu Punkt 2: Ich habe die Anwältin angerufen. Sie schreibt Marcel
einen Brief, damit ich auch den Rest meiner Habseligkeiten noch
bekomme (einen kleinen Teil bekam ich am 06.05. mit Hilfe eines
Arbeitskollegen und Onkel Peter).
277
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Zu Punkt 3: Mein Hausarzt gab mir die Adresse von einer Psychotherapeutin in Frankfurt. Sie hat Erfahrung mit Selbstverletzung
und Bulimie. Ich rief sie an und am 07.06. ist mein erstes Gespräch.
Zu Punkt 1: Gestern schauten wir uns wieder Zimmer in Frankfurt
an, die nichts waren. Heute besichtigten wir ein 21qm Zimmer in
Wiesbaden, was ich gleich genommen habe. 195,- € Warmmiete,
vollmöbliert, Dachwohnung mit vier Parteien, eine Gemeinschaftstoilette, Dusche, Gasofen, Herd, Kühlschrank sind im Zimmer. Einzug
ist am 15.06.
Mehr möchte ich nicht schreiben, nur noch, dass ich Angst habe und
mich noch nicht richtig freuen kann, trotz dass das Zimmer echt gut
ist – aber eine neue große Stadt inklusive.
Montag, 17.06.2002
Ich bin am Wochenende eingezogen in das Zimmer in Wiesbaden und
hocke jetzt hier am Fenster und rauche. Ein Arbeitskollege, Sascha
und ein Freund von Sascha haben mir geholfen. […] Mein Fernseher
ist anscheinend kaputt, Mist. […] Ich glaube, ich könnte mich hier
wohlfühlen, aber mir ist zum Heulen zumute. So richtig habe ich
das noch nicht verinnerlicht, dass ich jetzt eine eigene Bleibe habe.
Ich mag mich hier gar nicht wohnlich einrichten aus Angst, alles am
Ende doch wieder zu verlieren.
Zu Punkt 2: Die Anwältin hatte einen zweiten Brief an Marcel
geschrieben mit Frist bis zum 03.06. Aber er meldete sich nicht. Sie
wird ihm noch einmal schreiben. Wenn er wieder nicht darauf antwortet, kommt es wahrscheinlich zu einem Prozess.
Zu Punkt 3: Ich war bei der Psychotherapeutin. Sie ist ok. Wir redeten 50 Minuten. Es war anstrengend. Morgen habe ich den zweiten
Termin. Zur Zeit habe ich ja die Hoffnung verloren, dass mir eine
Therapeutin helfen könnte.
278
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Im Juni 2002 hatte ich also ein kleines Zimmer
gefunden – endlich ein eigenes Zuhause. Ich
erinnere mich noch, dass ich glaubte: »Jetzt kann
mich nichts mehr umhauen! Ich habe diese schwere Zeit der Wohnungslosigkeit überstanden – und
das während einer neuen Ausbildung (der Chef
wusste lange Zeit nichts von meiner Not), nach
dem Tod meiner Oma und mit einer schmerzenden »neuen« Wirbelsäulenerkrankung.«
Ich war 21 Jahre jung, blickte zurück auf viele
schwere Zeiten und bestandene Lebensprüfungen.
Doch mein Leben war nicht leichter geworden,
neue Probleme waren da. Sollte das denn nie aufhören?
279
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 17.07.2002
Vor drei Wochen war ich mit Sascha für ein paar Tage in Naumburg
(wegen Omas erstem Todestag). Übernachtet hatten wir bei Robert.
Es war wirklich sehr schön. […] Die Abreise fiel mir sichtlich schwer.
Zu Punkt 2: Marcel hatte der Anwältin einen Brief geschrieben.
Alles gehöre ihm, ist seine kurze Antwort. Diesen Montag war ich
wieder bei der Anwältin. Auf drei Seiten beschrieb ich mein noch fehlendes Eigentum. Gestern schickte sie den letzten Brief an Marcel ab.
Danach muss ich aufgeben, denn meine Aussichten auf Erfolg seien
zu gering und mir würde aus diesem Grund keine Prozesskostenhilfe
bewilligt werden. Dann aber sollte mir Marcel nicht mehr über den
Weg laufen.
Zu Punkt 3: Das Therapiegespräch vor zwei Wochen fiel aus. Neuer
Termin ist am 09.08. Aber meine psychischen Krankheiten (Essstörung und Borderline) machen mir keine Sorgen momentan. Das
letzte Mal habe ich mich vor zwei Monaten selbst verletzt und mein
Gewicht schwankt zwischen 46 und 47kg.
Zu Punkt 5: Mit Sascha läuft es zur Zeit sehr gut. Das Elend auf
Arbeit schweißt uns wohl zusammen (unsere Firma steht kurz vor
der Insolvenz – Gehälter werden zu spät gezahlt).
Zu Punkt 6: Für diesen Monat hatte ich 107,- € zum Leben. Das ist
jetzt schon weg für Essen und Haushalt. Ich mache mir große Sorgen
(ich weine und verzweifle oft deswegen), wie ich mein Leben so finanzieren soll. Jetzt habe ich zwar endlich ein Zimmer, aber kann mir
dafür überhaupt nix leisten.
Zu Punkt 1: Ich habe versucht, Geld zu beantragen, das mir zusteht:
Unterhalt, Kindergeld, BaB. Papa (wohnt jetzt bei Offenburg/BW)
hat Schulden und kann nicht zahlen. Die von der Kindergeldkasse
wollen schon wieder, dass ich was Neues ausfülle und beim BaB
muss Mutti sich widerwillig bemühen. Ich stehe auf Kriegsfuß mit
meinen Eltern. Papa will ich vergessen, Mutti soll sich um meine
Anträge kümmern, und dann will ich meine Ruhe von beiden.
280
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 27.07.2002
Ich fühle mich gar nicht gut. Tief in meinem Inneren ist etwas zerstört worden, eingebrochen oder verloren gegangen. Ich spüre es, wie
ich ständig unglücklich bin trotz eines Lächelns auf meinen Lippen.
Ich weiß nicht, ob es die derzeitigen Sorgen und Nöte sind, die mich
so quälen. Das würde ja irgendwann wieder vergehen. Aber manchmal spüre ich, dass … es ist so schwer zu beschreiben, dass alles, was
diese Welt mir zu bieten hat, mich nicht zufrieden oder glücklich
machen kann, als hätte ich schon in einer »besseren« Welt gelebt.
All die Fehler des menschlichen Charakters, die auch mich immer
mehr zerfressen und wertlos werden lassen, sind nie allumfassend zu
bereinigen. Auch wenn ich noch so perfekt und weise werden könnte:
An meiner Umwelt – so verständnislos und egoistisch – werde ich
immer eine nahe Grenze finden. Wie in einem Gefängnis. Entfaltung
ist nicht möglich.
Ich frage mich: Wozu noch leben, wenn ich eine für mich wichtige
Grenze nie werde überschreiten können? Wenn mein ganzes Leben
nur daraus besteht, weiter im Sud der Falschentscheidungen anderer
um mein Leben und meine Erfüllung kämpfen zu müssen? Dafür
möchte ich meine ganze Lebenskraft nicht aufbringen müssen.
Mutti hat Bastian (16 Jahre) diese Woche raus geworfen. Er wohnt
bei einer Freundin.
Sascha und ich machen uns das Leben schwerer, als es sein muss.
Ich würde dies alles gern beenden, bin aber zu feige.
Ich habe so viel Angst in und vor dieser Welt, dass ich sie nicht einmal verlassen kann.
281
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 04.08.2002
Ich bin schon seit einiger Zeit blond. Oben das Photo ist ein Passbild
von vor sechs Wochen. So lachen kann ich nur für Photos. Ich fühle
mich furchtbar. Sascha muss nächste Woche in einer anderen Firma
arbeiten. Vor einer halben Stunde ist er gegangen. Ich bin allein,
wahrscheinlich die ganze Woche. Das macht mir Angst, denn ich
bin ziemlich schlecht drauf, würde mich am liebsten selbst verletzen.
Alleinsein kann ich nicht ertragen. Und dann auch noch auf der
Arbeit ohne Sascha sein. Die Stimmung dort ist so schlecht, dass ich
nicht daran interessiert bin, mit den anderen Mitarbeitern mal fröhlich, mal heuchlerisch zu kommunizieren, nur um mehr Inhalte für
ihre Schandmäuler zu schaffen. Kontakte pflegen und knüpfen fällt
mir sowieso sehr schwer seit langer Zeit bzw. habe ich kein Interesse
dafür.
282
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
hand an mich gelegt
gestern abend
war ich wieder allein
und ich war wütend
auf mich
wütend
auf dich
enttäuscht
von mir
nur von mir
gestern abend
stand ich wieder am fenster
und ich war ratlos
was war
ratlos
was wird
verwirrt
in mir
alles in mir
gestern abend
las ich wieder in meinem leben
und ich war entfremdet
von meinen gefühlen
entfremdet
von mir
brutal
gegen mich
komplett mich selbst
August 2002
283
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 04.09.2002
Ich habe eine Horrornacht hinter mir. […] Ich bekam einen alten
Fernseher geschenkt, den ich gestern fünf Etagen hoch in mein Zimmer geschleppt habe. Die Rückenschmerzen folgten und sie waren
wohl noch nie so schlimm. In der Nacht halb drei wachte ich auf vor
Schmerzen. Meine ganze linke Seite (ab Nierenhöhe, der Unterleib,
der Po, das linke Bein) schmerzte so sehr, dass ich weinen musste. Sascha wurde davon wach und fühlte sich hilflos. Ich nahm ein
Schmerzzäpfchen. Eine halbe Stunde später saß ich mit Saschas Hilfe
mit Durchfall auf der Toilette. Ich nahm noch ein zweites Zäpfchen
und schlief dann ein. Die Schmerzen waren echt der Wahnsinn, jede
Bewegung war eine Qual. Am nächsten Morgen waren die Schmerzen etwas geringer. Was für eine Erleichterung. Seit heute Morgen
kann ich wenigstens Liegen, Sitzen und Laufen, ohne vor Schmerzen
aufzuschreien. Sascha will mich nach der Arbeit ins Krankenhaus
fahren.
Montag, 09.09.2002
Mir geht es wieder gut. Es zieht noch ziemlich im Rücken, aber es ist
auszuhalten. An dem Tag fuhr mich Sascha noch in eine orthopädische Klinik in Wiesbaden. Dort bekam ich aber nur Tabletten.
Jetzt habe ich eine Woche Urlaub und meine Koffer sind gepackt. Warum? Ich fahre morgen früh allein mit dem Zug nach Bayern. Richtig
gelesen. Nach fast anderthalb Jahren werde ich meine Familie wieder
sehen. Ich habe so große Angst davor! […] Ich habe keine Ahnung,
wie ich mich in Bayern fühlen werde. Ich weiß auch nicht, wie ich
mich verhalten soll. Es ergab sich spontan beim Telefonat heute mit
Mutti. Sie ist wieder arbeitslos. Ich erwähnte meinen Urlaub, sie war
begeistert und wollte gleich einen Brief mit Geld für die Zugkosten
abschicken. Ich muss es auf mich zukommen lassen und sehr stark
sein.
284
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mit meiner Mutter.
Sie wollte mir sicher nur eine
Freude machen. Aber mit mir
in der Öffentlichkeit Essen zu
gehen, war mir damals sehr
zuwider.
Mit meinem Bruder.
Dieses Bild war lange Zeit
mein Lieblingsphoto mit ihm.
Mit meinem Hund Jackie.
Oh, wie sehr vermisste ich ihn.
285
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 17.09.2002
Bei Mutti und Bastian war es total schön. Ich habe mich wohl gefühlt
in der Wohnung und in der Gegenwart meiner Mutter und meines
Bruders. Jackie hatte mich erst nicht erkannt. […] Ich war gern dort,
denn es war ja nicht für lange und doch nur eine Scheinwelt. Mutti
verwöhnte mich von vorne bis hinten. Das war mal schön und ich
genoss es. Der Abschied aber fiel mir nicht schwer. Ich freute mich
auf hier, denn das hier ist jetzt meine Heimat – eine traurige, aber befreiende Erkenntnis. Wer weiß, wann ich meine Familie wieder sehe.
Sonntag, 06.10.2002
Was mich doch noch mehr quält, als ich dachte, ist die Vergangenheit
mit Marcel und was er getan hat. Wut, Hass und Machtlosigkeit
fressen sich immer tiefer in meine Seele. So viel Materielles und
Persönliches, was große Bedeutung für mich hatte, habe ich verloren.
Alles musste ich mir neu erkämpfen und aufbauen. Sogar in eine
andere Stadt bin ich geflüchtet. Wie oft träume ich davon, dass er mir
über den Weg läuft und ich ihn klein und blutig schlage für das, was
er mir angetan hat, auch sexuell. So absurde und irrationale Gedanken verfolgen mich. Ich bin schwer damit beschäftigt, sie zu begraben,
wenn sie wieder an die Oberfläche wollen. Aber es tut so weh. Es
tut so wahnsinnig weh, dass ich nicht einmal weinen kann. Ich habe
so viele schmerzhafte Einzelheiten aus dieser Beziehung und der
fürchterlichen Nachtrennungsphase vergessen. Aber all das wuchs
zusammen zu einem Riesenschmerz, kaum fassbar und erklärbar.
Aber immer da und so erdrückend schwer.
Gleich schreibe ich auch noch meinem Vater wegen Unterhalt. Warum tut alles weh, wenn es kaputt geht?
PS: Gestern habe ich endlich meine MRT-Röntgenaufnahmen vom
Dezember 2000 nachbestellt und abgeholt (kostete 17,- €). Die Originale sind ja noch bei Marcel.
286
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Die Ausbildung zur IT-Systemkauffrau war im ersten Jahr ein
Spießrutenlauf. Der Chef mochte mich irgendwie nicht, ließ mich die
unwürdigen Arbeiten machen, zu erledigen am besten gestern als
heute, und warf mir sogar Diebstahl vor (es war aber die Putzfrau,
was sich später herausstellte).
Ich nahm die Arbeit mit nach Hause und lernte autodidaktisch
(Word, Excel, Photoshop, SPSS, HTML, SQL, usw.), damit der Chef
mich nicht rauswarf. Jeden Tag begleitete mich die Angst mit auf
Arbeit, die ich abends mit Alkohol, Erbrechen und Selbstverletzen
abzutöten versuchte.
287
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
[Anm.: Dies nehme ich zum besseren Verständnis zeitlich vorweg,
da es im Tagebuch nicht ausdrücklich erwähnt wird.]
Irgendwie schaffte ich es, dass ich nach 2,5 Jahren am Ende der (verkürzten) Ausbildung (Januar 2004) die wichtigste Mitarbeiterin für
den Chef geworden war (Leiterin der Marktforschungs-Abteilung,
Referentin in Seminaren und Workshops, Buchlektorin, uvm.). Vielleicht lag es daran, dass sich meine Noten langsam gebessert hatten
(es fiel mir sehr schwer, diesen ganzen technischen Lernstoff zu
verstehen) und ich diese Ausbildung letztlich mit Note 1 abschloss,
als Beste des Jahrgangs, und somit seine Firma indirekt in ein positives Licht stellte, als ich bei der IHK-Besten-Ehrung auf die Bühne
gerufen wurde.
Vielleicht war ich aber auch einfach nur eine sehr gehorsame, loyale,
intelligente, kreative, flinke und vor allem billige Arbeitssklavin, wie
sie sich jeder Chef wünscht.
288
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 02.12.2002
Es geht mir wieder einmal nicht gut. Ich bin allein. Am Wochenende
hatten wir auf Arbeit eine Schulung, danach waren wir mit zwei
Arbeitskollegen essen und auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt.
[…] Die Stimmung mit Sascha ist sehr schlecht. Am Freitag hatte
er wieder einmal einen Wutanfall. Ich warf daraufhin genervt seinen
Wecker auf den Boden … und er erhob seine Hand gegen mich. Ich
schreckte zurück. Er meinte, er hätte nie zugeschlagen, aber allein die
Geste lässt mich daran noch immer zweifeln. Ich bin seit einer Weile
sehr unglücklich in unserer Beziehung. Ich fühle keine starke Liebe,
Leidenschaft oder Sehnsucht mehr. Ich fühle mich von ihm im Stich
gelassen hinsichtlich meiner »Borderline-Erkrankung«. Wir reden
zur Zeit selten über uns, der Alltag nimmt uns total ein. Ich fühle
mich unverstanden und nicht akzeptiert. Ich ziehe mich mehr und
mehr zurück. Ich fühle mich weder von Sascha, noch von der Schule
oder von der Arbeit bestätigt. In allem bin ich schlechter als er. Mein
Chef merkt gar nicht, wenn ich da bin und regt sich aber mächtig auf,
wenn ich mal krank bin. Was ist nur los mit mir?
Auch meine Therapeutin regt mich auf. Ich schweige meist. Denn sie
sagt Dinge, die ich nicht hören will. Ich verschließe mich dann und
stoße sie mit Worten weg.
Meiner Mutter habe ich auf ihre Bitte hin Bücher über »Borderline«
geschickt. Beigelegt habe ich auch ein Buch über Selbstverletzung.
Heute muss sie das Paket bekommen haben. Der Gedanke daran
macht mich total fertig. Soll sie das alles von mir wissen? Aber
warum soll sie nicht? Ist es egal? Wie reagiert sie? Wird sie wieder
anrufen? Wird sie verkraften, dass sich ihre Tochter schon seit Jahren
selbst verletzt?
Eben habe ich es wieder getan. Es war gut. Ich hörte Musik, rauchte genüsslich eine Zigarette am Fenster. Am Ende drückte ich den
noch glühenden Rest der Zigarette auf meinen linken Arm, die Glut
verstreute sich auf der Haut und blieb liegen, bis sie verglimmte. Den
Schmerz ertragen zu können, zu merken, dass er mir nichts anhaben
289
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
kann, war ein kurzes aber berauschendes Gefühl. Ich tanzte mit
einem glühenden Arm. Danach habe ich mich noch von dem Essen
befreit, das ich mir vorher mit viel Geduld und Liebe zubereitet hatte.
So beende ich nun dieses 4. Tagebuch nach über drei Jahren, die ich
in Frankfurt und mittlerweile in Wiesbaden lebe. Wer weiß, wie
es mit mir weitergeht. Vielleicht schmerzt irgendwann vieles, was
hier drin steht, nicht mehr so sehr und ich kann eines Tages darüber
stehen und vielleicht sogar lächeln.
Die Melly, die dieses Tagebuch Nr. 4 am 28.09.1999 begonnen hat,
verlor sich irgendwann irgendwo darin. Beendet hat es ein Wesen,
das sich selbst nicht mehr kennt und sich auf die Suche begibt. Eine
Suche ohne Weg und ohne Ziel.
[Anm.: Ich habe mit dem Schreiben von Tagebüchern nie aufgehört, auch wenn es teilweise
zeitlich lange Unterbrechungen gab, und bin heute
mittlerweile bei Tagebuch Nr. 7 angelangt. Während all den teils sehr chaotischen Phasen meines
bisherigen Lebens war es mir immer das Wichtigste, meine Tagebücher (auch meine Gedichte) in
meiner Obhut und somit in Sicherheit zu wissen.
Denn sie beinhalteten mein Leben, über dem sich
oft innerhalb sehr kurzer Zeit immer wieder der
Schleier des Vergessens ausbreiten wollte, was ich
durch das Schreiben dieser Bücher (und Gedichte)
zu verhindern versuchte.]
290
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 01.01.2003
Wieder Januar, wieder von vorn beginnen. Ich habe Angst. Ich bin
mutlos, ziellos. Ich fühle mich dem neuen Jahr nicht gewachsen.
Montag, 13.01.2003 – Gewicht 47,6kg
Seit Beginn meiner Psychotherapie beschäftige ich mich sehr mit
meiner Krankheit, die sich »Borderline-Persönlichkeitsstörung«
schimpft. Im Grunde nimmt diese alles ein, was ich bin. Die Therapiestunden (acht mittlerweile) haben mir noch nichts gebracht.
Borderline ist ja im Grunde, rein theoretisch, unheilbar und Verbesserungen seien wohl ambulant eher selten eingetroffen. Ich habe auch
selten Lust hinzugehen und etwas zu erzählen. Es frustriert mich
vielmehr. Ich hätte nicht die erstbeste Therapeutin nehmen sollen.
Jetzt muss ich aber die Kurzzeittherapie (25 Sitzungen) durchhalten.
Verlängern möchte ich auf keinen Fall, obwohl die Therapeutin es
wünscht. Diesen Freitag muss ich nach vier Wochen Pause wieder
hin. Seit vorgestern mache ich mir Gedanken, was ich dort erzählen
könnte, damit die 50 Minuten nicht wieder so unangenehm schweigsam werden. Denn die Therapeutin fragt so gut wie nichts. Aus mir
selbst müsse alles kommen. Sie könne nicht ahnen, was in meinem
Kopf vorgeht, was mich im Moment bewegt. Ich werte es als Desinteresse. Ich muss unbedingt lernen, dort sofort zu sagen, was mich
nervt und was ich gern anders hätte oder brauche. Ich rede nicht
gern von mir einfach so drauf los. Alle meine Worte scheinen mir so
nichtig.
Mittlerweile habe ich etwa fünf Bücher über die Themen Borderline,
Bulimie, Magersucht und Selbstverletzung. Einen Teil hatte ich
ja bereits vor Weihnachten Mutti geschickt. Sie weiß von meiner
Krankheit und welche Symptome ich habe. Als sie letztes Weihnachten da war (wir trafen uns nur einmal kurz in Frankfurt bei Onkel
Peter), sah sie auch die Folgen meines selbstverletzenden Verhaltens.
291
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittlerweile bzw. im Moment bevorzuge ich das Verbrennen der
Haut mit Zigarettenglut, da das kleinere Narben hinterlässt und viel,
viel länger zum heilen braucht. Aber abgesehen davon bin ich eine
ziemlich »gesunde« / »normale« Borderlinerin. Ich habe von anderen gelesen, denen es viel schlechter geht. Sie tun mir sehr leid und
gleichzeitig beneide ich sie.
Ich würde es auch gern mal schaffen, meine harte Hülle der Vernunft
zu durchbrechen und so richtig auszurasten. Ich merke, wie sehr es
mich anstrengt, mich zusammen zu reißen. Ich weiß, der Abgrund
mit all der Wut, dem Schmerz, der Trauer, der Angst ist unter bzw.
in mir. Aber noch hält das Seil. Noch kommen keine Tränen. Noch
ist alles weit weg von mir. Ich komme nicht dran und es kommt mir
auch nicht näher.
Ich müsste nur die Klinge holen, das Licht ausmachen, abschalten,
unkonzentriert werden und schon wäre es passiert: Ich stürze ab in
etwas, das so schwer zu beschreiben ist, das nicht physisch sichtbar
gemacht werden kann. Leere, Angst und noch mehr Leere und deswegen noch mehr Angst und Trauer und Tränen. Es ist unbeschreiblich. Es ist der Horror. Nur einmal bin ich bisher so tief abgestürzt,
dass meine Wahrnehmung und mein Zeitgefühl gerissen sind: Alles
war dunkel, das Radio zu laut, ich hockte unterm Tisch und fühlte
nur, dass ich nichts fühlte. Nichts und daraus resultierend Angst
und Trauer. Davor habe ich Angst. Seitdem bin ich beim Selbstverletzen nie wieder »entglitten«, sprich aus der Realität so stark
gewandert. Denn ich weiß, ohne meinen Freund Sascha wäre ich da
allein nicht wieder raus gekommen. Und jetzt bin ich allein.
Allein der Gedanke, dass ich allein bin, ist so unwirklich und so
undefiniert in meinem Kopf. Ich darf dieses Wort »Einsamkeit« nicht
zu sehr wachsen lassen in meinem Kopf. Denn dann gewinnt es an
Bedeutung und weckt damit Gefühle der Panik in mir.
Ich bin unter Strom. Ich bin ständig am Kämpfen und Verdrängen.
Am schwierigsten zu verdrängen ist aber die Traurigkeit. Die
292
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Traurigkeit, die in mir ist, wenn ich morgens aufwache (trotz eines
schönen Tages zuvor) … und anhält; einen Tag, zwei Tage. Ich kann
sie nicht begründen, sie ist einfach da. Immer und ständig stehen die
Tränen in meinen Augen und ich kann es nicht erklären. Ich hoffe
dann abends immer, dass sie weg ist, wenn ich am nächsten Morgen
aufwache.
Ein Thema gibt es, das hat mich die letzten zwei Wochen des vorigen Jahres sehr verwirrt. Ich konnte an nichts anderes denken, lebte
nur noch von den Antworten im Borderline-Internet-Forum. Meine
ganze Welt schien eingestürzt. Mit Wechsel des Jahres habe ich es
auch wieder in die Schublade »Verdrängung« gelegt bzw. gestopft.
Und da liegt es nun, weil ich mich nicht konzentrieren kann, um
darüber nachzudenken. Es handelt sich um einen Verdacht. Es kann
also wahr sein, muss aber nicht. Meine Mutter hatte es mir kürzlich
am Telefon wieder erzählt, nachdem sie von meiner Krankheit gelesen
hat. Es handelt sich um ein Kapitel in meinem Leben, das ich noch
nie in einem meiner Tagebücher erwähnt habe. Das liegt daran, dass
ich mich an diese Zeit überhaupt nicht erinnern kann. Es ist wie ausgelöscht. Ich wage gar nicht, es aufzuschreiben. Ich habe Angst, dass
es vielleicht der Anfang eines Riesenschmerzes ist, der mein Leben
verändern könnte – oder aber dass es nur eingebildeter Schwachsinn
ist, der mir peinlich ist, wenn ich es in ein paar Jahren wieder lesen
sollte, hier auf diesen Seiten. Gut, ich wage es trotzdem.
In vielen Büchern und Internetseiten habe ich gelesen, dass 80% aller
Borderliner in ihrer Kindheit sexueller Gewalt ausgeliefert waren.
Und das ist, was meine Mutter vermutet, und was auch in meinem
Kopf herumgeistert, seit ich mich erinnern kann. Kurz nach der
Scheidung war Mutti mit einem Mann zusammen. Er hatte auch
einen Sohn, damals doppelt so alt wie ich (also etwa 14). Der Sohn
war geistig behindert. Ich schlief bei ihm mit im Zimmer. Meine
Mutter begründete ihre Behauptung u.a. wie folgt: Sie habe sich immer gewundert, was der Mann manchmal nachts in meinem Zimmer
suchte und warum er solange mit mir badete. Da mir diese Gründe
zu »luftig« sind, habe ich ihr gestern einen langen Brief geschrieben
293
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
mit vielen Fragen. Wahrscheinlich schreibt sie nicht zurück. Jetzt
schon möchte ich darüber aber eigentlich nicht mit meiner Therapeutin reden. Ich meine, so ganz ohne Erinnerungen und Bilder kann ich
ja auch nur recht wenig erzählen. Aus Internet-Foren weiß ich nur:
Es ist möglich, so etwas so stark zu verdrängen, dass es Monate oder
gar Jahre dauern kann, bis man sich wieder daran erinnert. Vorausgesetzt natürlich, es gibt da überhaupt etwas zu erinnern. Somit habe
ich nun Angst vor mir selbst. Die Ursache, der Grund für meine
Ängste, die geschürt werden könnten, ist vielleicht in meinem Kopf.
Ich bin also wieder allein. Aber vielleicht hilft mir ja meine Mutter.
294
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Durchgeknallt
Heute Nacht
will ich leiden
will ich schreien
will ich bluten
ich will
Fenster und Türen verschließen
dem Schmerz und mir jegliche Fluchtmöglichkeiten verwehren
ich will
die Musik voll aufdrehen
und meine Gedanken aus meinem Kopf schleudern
ich will
die Klinge zärtlich liebkosen
und dem Schmerz Gesicht und Stimme herausschneiden
Heute Nacht
will ich fühlen
will ich weinen
will ich sein
Januar 2003
295
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 14.01.2003 – Gewicht 47,1kg
Es fiel mir heute sehr schwer, mich auf die Berufsschule zu konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ab, ich schrieb ein Gedicht
weiter, welches ich gestern begonnen hatte. Gestern, es war, als hätte
sich eine Kluft aufgetan. Eine Kluft zu meinen schlimmsten und
brutalsten Erinnerungen. Aber mit Abstand, von oben betrachtet,
wie durch Nebel und auch nur schemenhaft. Aber es tat gut. Zwei
Gedichte schrieb ich (»ich bin« und »nicht meine schuld«), offener
und brutaler als alle anderen zuvor. Ich empfinde es zumindest so,
weil ich von Gewalt anderer gegen mich geschrieben habe und nicht
von Autoaggression, die von mir selbst kommt, die kontrollierbar
und berechenbarer ist als Gewalt von außen. Da ich mich aber so sehr
hinein gesteigert hatte, schaffte ich es bis jetzt nicht, wieder in die
Realität zurück zu kommen.
Ich glaube, ohne Bücher – ohne neue Bücher – über Borderline und
Missbrauch kann ich im Moment nicht mehr leben. Ich brauche sie.
Wenn ich schon nicht reden kann, dann sollen es diese Bücher tun –
und natürlich auch meine Gedichte. Ich lese im Moment »Fremdkörper« von Gesa Herbst. Magersüchtige Menschen erzählen von ihrem
Handeln und Denken. Heute in der Schule suchte ich mir zehn sehr
gut bewertete Bücher bei Amazon raus, die ich nach und nach kaufen
will.
Eben habe ich mich wieder übergeben, weil die Tasse Pudding, die
eine Praline und die drei Stückchen Apfel zu viel waren. Ich will
wieder hungern. Ich will wieder Kontrolle über mich und mein Leben
haben. Ich habe Angst vor diesem Jahr und alle sollen es sehen. Ich
will mich selbst fertig machen, bevor sie es tun: mein Chef, meine
Therapeutin, meine Familie, meine Freunde. Ich habe so viel Angst,
so viel unbegründete und bilderlose Angst. Ich will sie weg hungern.
Ich bin nicht normal, ich bin nicht gesund geworden, nur weil ich
mal wieder 49kg gewogen habe vor ein paar Wochen. Nein. Alles ist
nur noch schlimmer und tiefer vergraben worden.
296
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
ich bin
ich bin
und das reicht aus
damit du mich nicht mehr schlägst
nicht mehr missbrauchst
ich bin
und werde vergessen
um endlich zu leben
nach meinem eigenen ermessen
ich bin
solange ich kann
um neue wege zu beschreiten
ohne schmerzen und ohne angst
ich bin
aus eigenem willen
um mir zu beweisen
die wunden von dir sind zu stillen
Januar 2003
297
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
nicht meine schuld
ich schweige in mir
weil ich angeschwiegen wurde
ich weine um mich
weil ich beweint wurde
ich zweifle an mir
weil ich bezweifelt wurde
ich belüge mich
weil ich belogen wurde
ich lege hand an mich
weil an mich hand angelegt wurde
ich schlage mich
weil ich geschlagen wurde
ich strafe mich
weil ich bestraft wurde
ich zwinge mich
weil ich gezwungen wurde
ich demütige mich
weil ich gedemütigt wurde
ich schreie in mir
weil ich angeschrieen wurde
ich blute in mir
weil mein blut gefordert wurde
ich verletze mich
weil ich verletzt wurde
ich verstoße mich
weil ich verstoßen wurde
298
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
ich hasse mich
weil ich gehasst wurde
ich quäle mich
weil ich gequält wurde
ich missbrauche mich
weil ich missbraucht wurde
ich zerbreche an mir
weil ich zerbrochen wurde
ich bin das unschuldige abbild
meiner peiniger
Januar 2003
299
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Donnerstag, 16.01.2003 – 47,1kg
Ich bin wieder bettlägrig. Gestern während des Erbrechens hat es
Knack gemacht in meiner Wirbelsäule. Ich sackte zusammen, besabberte mich an Ärmel und Hose. Das war mir sehr peinlich. Etwa vier
Stunden lang konnte ich nicht allein stehen, gehen oder sitzen. Die
zwei Toilettengänge in dieser Zeit – gemeinsam mit Sascha – waren
der Horror. Ich fühlte mich so furchtbar alt und hilfebedürftig. Er
musste mir sogar die Hose aus- und anziehen. Ich musste bitterlich
weinen, weil ich so abhängig war, und natürlich auch wegen der
furchtbaren Schmerzen. Irgendwann konnte ich nicht mehr liegen
und lief und stand und bewegte mich gegen den Schmerz. Jetzt ist es
zu ertragen. Aber ich verpasse heute eine Klausur und morgen habe
ich Psychotherapie. Ich muss also morgen wieder fit sein.
Montag, 20.01.2003 – 47,1kg
Ich bin allein, trinke Wodka mit Blutorange. Denn heute habe ich Erholung verdient. Die letzten Tage waren nicht leicht wegen meinen
Rückenschmerzen und weil zwei letzte Klausuren heute noch hinter
mich gebracht werden mussten.
Heute Abend war ich bei einem Allgemeinmediziner. Seine Praxis
ist nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Er ist jung, optimistisch, freundlich. Die Schmerzen strahlen aus in Po, Unterleib
und linkes Bein. Nun habe ich wieder ein neues Medikament und bin
krank geschrieben bis einschließlich Freitag. Ich gehe aber trotzdem
zur Berufsschule. Wenn es mir akut wieder so schlecht geht, macht er
auch Hausbesuche. Ich bin etwas erleichtert. Wenigstens einen Arzt,
den ich nun in Wiesbaden habe.
300
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 03.02.2003 – Gewicht 48,2kg
Es geht mir nicht gut. Ich arbeite an meinem Kokon und kann es
selbst nicht mehr beeinflussen. Sascha hat es seit Wochen recht
schwer mit mir. Ich werde immer verschlossener und merke, wie
schwer es mir fällt, etwas von meinen Gedanken preiszugeben.
Nichts. Ich könnte dann nur weinen und mich in den Arsch beißen,
weil ich mich nicht zusammenreißen kann. Daher war der Besuch bei
der Psychotherapeutin letzten Freitag die reine Qual. Von den angesetzten 50 Minuten fand vielleicht höchstens zehn Minuten so etwas
wie Konversation statt, ansonsten über 40 Minuten Schweigen. Es
war im Nachhinein furchtbar und sehr kraftraubend. Daraus zog ich
folgende Konsequenz: Den Termin kommenden Freitag habe ich heute
abgesagt, vielleicht sage ich auch noch den Termin nächste Woche ab.
Ich weiß, Flucht ist keine Lösung, aber ich kann mich diesen Terminen nur mit genügend Kraft stellen, über die ich im Moment aber
nicht verfüge.
Heute war ich nach zwei Wochen Krankschreibung wieder zum
ersten Mal auf Arbeit. Ich hatte riesige Angst davor. Am meisten
vor den Menschen, mit denen ich mich befassen muss (einen Neuen
musste ich einweisen). Die Angst drohte, mich aufzufressen. Aber
kaum auf Arbeit war ich locker, cool, keck, witzig, …., leer. Jetzt bin
ich nur noch leer.
Ich kann nicht weinen, kann nicht lachen, nicht nachdenken. Wenn
ich es zu sehr versuche, könnte ich abstürzen in die schwarzen Tiefen
meiner kindlichen, blutenden, ängstlichen Seele. Gestern wollte ich
mich selbst verletzen. Jetzt bin ich vor lauter Leere in mir auch dazu
nicht fähig und sitze vor meinem dritten Glas Wodka Blutorange.
Das warm gemachte Essen habe ich schon wieder erbrochen, weil ich
– wie an meinem Gewicht ersichtlich ist – sehr inkonsequent gewesen
bin die letzten Tage. Das stimmt mich sehr unzufrieden.
Mutti hat Bastian (16 Jahre) vorige Woche schon wieder rausgeschmissen. Ich konnte sie nicht davon abbringen. Seitdem hat sich
keiner von beiden bei mir gemeldet. Ich merke, wie froh ich bin, dass
ich so weit weg lebe. Damit will ich nichts mehr zu tun haben.
301
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Freitag, 07.03.2003 – Gewicht 47,6kg
Ich habe geweint. Obwohl der Tag gut war, habe ich eben beim
Durchblättern meines vorigen Tagebuches geweint. Ich habe so vieles
vergessen und wollte es darin wieder finden. Aber damals schienen
mir wohl andere Erlebnisse wichtiger zu sein oder ich schrieb es gar
nicht erst auf. Ich suche den Beginn meiner Essstörung und wie
ich im Jahr 2000 den Kontakt zu Mutti verlieren konnte. Ich suche
die schönen Zeiten mit Marcel in unserer gemeinsamen Wohnung,
welche Mutti nie gesehen hat. Die Wohnung war toll, ich hatte gern
dort gelebt. Ich suche die Zeit, in der ich Sascha kennen- und lieben
gelernt habe, unseren ersten gemeinsamen Urlaub im Januar 2002,
die vielen schönen Momente, die ihn mir so wichtig haben werden
lassen, die Gründe, warum ich ihn so sehr liebe. Ich suche die letzten
gemeinsamen Jahre mit meiner Oma. Im Grunde suche ich mich.
Die Therapie war zum ersten Mal gut heute. Wir sprachen hauptsächlich über meine Schmerzen, die ich habe und früher schon hatte
(Bauchschmerzen, Schläge, Rückenschmerzen) und dass es im Zusammenhang damit steht, wie grob und unfürsorglich ich mich selbst
behandle (hungern, SVV (Selbstverletzendes Verhalten), bei Schmerzen nicht zum Arzt gehen). Ich soll lernen, wieder eine Verbindung
zu den Gefühlen aus meiner Kindheit zu finden. Ich soll die Angst,
die Schmerzen, die Panik, die Scham und die Erniedrigung wieder
fühlen. Das aber fällt mir sehr sehr schwer, nein, es ist sogar absolut
unmöglich. Ich will es nicht fühlen. Es war der Horror. Ich hatte
immer Angst, war nie ich selbst. Vielleicht ist das ein Grund dafür,
warum ich heute total launisch werde, wenn es nicht nach mir geht.
Ich kann es nicht ertragen, wenn ich mich anpassen muss bzw. wenn
ich nachgeben muss.
Im Moment sage ich jedem, was mich an ihm stört und tue die Dinge, die ich will mit wenig Rücksicht auf Verluste. Es muss für Sascha
so schwer sein, mich zu ertragen. Aber er will mich verstehen. Immer
noch hat er Interesse für mich. Einzige Bedingung ist, dass ich ihn
teilhaben lasse an meinen Gedanken und Gefühlen. Gestern Abend
hatten wir einen kleinen Streit. Er hatte sich auf Sex gefreut. Ich
302
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
wollte nicht (Ich habe keinen Sex mit ihm, wenn ich es nicht will,
nie, nie. Wenn ich da an die Zeiten mit Marcel denke, wird mir sehr,
sehr übel und ich ekle mich vor mir selbst.). Wir redeten ernsthaft
darüber. Mit Sascha habe ich das Reden wieder ein bisschen gelernt:
meine Meinung vertreten, nachgeben oder nicht locker lassen. Ich
hatte es verlernt, für mich selbst zu reden, für mich einzustehen, für
mich zu kämpfen. Alles, was ich früher hatte Marcel machen lassen,
regle ich heute selbst. Wenn ich Angst habe, kann ich es Sascha sagen
und wir planen gemeinsam, wie ich das Problem letztlich selbstständig lösen kann. Das ist sehr gut. Er fördert meine Selbstständigkeit.
Wenn ich wirklich mal ein Problem nicht allein bewältigen kann,
merkt er es und nimmt es mir ab.
Früher habe ich alles hingenommen, habe nie Veto eingelegt oder
meine Interessen verteidigt. Geprägt hat mich da natürlich die
schwerste Zeit meines jungen Lebens: die Wohnungslosigkeit. In
dieser Zeit bin ich ein wenig gestorben. Ich habe mich sehr verändert
in dieser Zeit. Nichts zu besitzen, niemanden, der mir wirklich helfen
konnte, alles nur allein regeln zu können – das waren unzählige Herausforderungen, an denen ich sowohl zerbrochen als auch gewachsen bin. Und trotz der Stärke, die ich durch das Überstehen dieser
immens harten Zeit bekommen habe, weine ich manchmal darüber.
Zum Einen, weil ich meine Naivität, mein Unbeschwertsein, meine
tiefe Freude und mein Vertrauen in Sicherheit verloren habe. Und
zum Anderen, weil es mich tief in die Thematik »Borderline« geworfen hat. Und somit komme ich zu dem, was ich eigentlich schreiben
wollte (mmh, ganz schön lange Einleitung):
Ich habe mich ein wenig geöffnet. Neben meiner Website »gedichtsheft.de« habe ich meine Borderline-Website überarbeitet und am
Montag wieder online gestellt unter der Domain »koerperfremde.de«
[Anm.: beide Webseiten sind mittlerweile nicht mehr online]. Mich
auf diesem Wege mit meiner Krankheit auseinander zu setzen – endlich auch meine »kranken« Gedichte vorstellen zu dürfen – hat mir
sehr gut getan. Wahrscheinlich wird es nie eine stark frequentierte
Seite, aber das ist mir auch nicht wichtig. Ich habe einen Kanal nach
303
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
außen gefunden, der einzige im Moment. Und ich trete in Kontakt
mit anderen »Leidensgenossen«. Ich frage mich zwar manchmal,
warum ich das tue, aber ich kann es ja jederzeit wieder rückgängig
machen.
Opferidentität
Depression
B O R D E
Bulimie
Ritzen
Rückzug
R
Extreme
Instabilität
L
Lethargie
Ende
I N E
Narben
ein Auszug von der damaligen Website
Freitag, 21.03.2003 – Gewicht 47,6kg
Schwere Arbeitswochen liegen hinter mir. Ich war Projektleiterin
einer Studie über »Competitive Intelligence« und diese Woche auch
noch zuständig für die Pflege eines neuen Kundenwebservers. Es gab
Tage, da meinte ich, es nicht mehr zu schaffen.
Nun kommt die letzte, wichtige Berufsschulphase und gleich am
Montag ist Zwischenprüfung. Viel gelernt habe ich nicht. Soweit
bin ich in meiner letzten Ausbildung nicht gekommen. Aber ich habe
Angst. Diese Schulphasen waren noch nie gut für mein Selbstwertgefühl.
Die Psychotherapie (17. Sitzung) lief heute sehr schlecht. Meine
Therapeutin empfand es als Machtkampf. Ich sagte, ich nehme Abwehrhaltung ein, wenn ich merke, dass ich von Menschen nicht so
angenommen werde, wie ich bin. Ich erzählte vorher, dass ich noch
304
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
immer hungere und erbreche. Daraufhin griff sie mich total an, ich
hätte im Umgang mit mir vor allen Anderen immer die Oberhand.
Sie könne mir ja gar nicht helfen, weil ich es nicht zulasse. Ach, es
war so viel und ich fühlte mich so angegriffen, dass ich zumachte.
Und den größten Teil der restlichen 20 Minuten schwieg ich. Es war
furchtbar. Bald steht die Frage an, ob ich die Therapie verlängern
will. Ich habe nicht sonderlich großes Interesse daran.
Ich mache mir Sorgen. Wie tief darf das Loch sein, in das ich fallen
kann, um mit eigenen Kräften und eigenem Willen wieder heraus zu
klettern? Warum muss ich immer fallen? Warum fühle ich mich jetzt
so einsam und ständig so »unnormal«?
Will ich akzeptieren, werde ich es können, will ich verstehen, dass
alles, was ich bin, was ich denke, was ich fühle, was ich tue, …, dass
das alles falsch sein soll? Dann kann ich doch auch gleich sterben?
Ich soll in der Therapie mein jetziges »Ich« durch neu erlernte Verhaltensweisen ersetzen! »Ich« ist dann tot. Das kann ich nicht. Ich
habe alles, was ich bin, hart erarbeitet. Das töte ich lieber, als dass ich
es an irgendeinen Therapeutenmenschen verliere.
305
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
unfürsorglich
aus meinem mund
erbreche und würge ich
um
schmerz
hass
und zorn
nicht mehr zu spüren
auf meine haut
schneide und brenne ich
was
vergangenheit
gegenwart
und zukunft
an ängsten in mir schüren
aus meinen augen
schreie und weine ich
um
liebe
vertrauen
und sicherheit
endlich wieder zu mir zurück zu führen
März 2003
306
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Wenn ich ... bin
Wenn ich es zulasse
und eine Träne
einen Teil meiner
schweren Gefühle
über meine Wange
fließen lässt,
bin ich schutzlos.
Wenn ich liebe
und dieses junge
lebendige Gefühl
immer wieder von
Angst, Zorn und Misstrauen
zu Boden getrampelt wird,
bin ich verletzlich.
Wenn ich träume
und ein Gedanke
entführt mich
in sich
und vergewaltigt mich
mit seiner Widersprüchlichkeit,
bin ich verwirrt.
Wenn ich rede
und mein Seelenleid
wie Krebs
in jedem meiner Worte
eigene Worte
krankhaft wuchern lässt,
bin ich verrückt.
Wenn ich verliere
und die Klinge
in stiller Vereinbarung
mit meiner Verzweiflung
gegen meinen Schmerz
307
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
tiefe, rote Linien hinterlässt,
bin ich machtlos.
Wenn ich abstürze
und die Zigarettenglut
mit meinen Gefühlen und
deren Nähe zum Wahnsinn
auf meiner Haut
zu einem Ganzen verschmilzt,
bin ich leer.
Wenn ich erbreche
und mit dem Essen
und mit jeder Träne
mein Wille zur Existenz
mehr aus meinem Körper
heraus gepresst wird,
bin ich todgeweiht.
Wenn ich es zulasse
und eine Erinnerung
mich an die Hand nimmt
und rücksichtslos
über die Gräber spaziert,
die meine Gefühle beherbergen,
bin ich verloren.
März 2003
308
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Freitag, 04.04.2003 – Gewicht 47,6kg,
Ich befinde mich in einem Tief. Die Therapiestunde vorige Woche lief
ebenfalls sehr schlecht. Meine Therapeutin war ungeduldig, bezeichnete sich als hilflos und ohnmächtig mir gegenüber. Ich würde es mir
zu einfach machen und die Therapie durch meine Unkooperation zum
Stillstand bringen. Ich war maßlos enttäuscht, wehrte sie ab, so weit
es ging. Ich sah mich im Recht und sie als unfähige Therapeutin. In
einem Internet-Forum wurde ich eines Besseren belehrt: Ich bin dazu
da, meiner Therapeutin zu helfen, mir zu helfen. Ich muss reden,
mich öffnen, mich mitteilen. Diese Schuldzuweisung riss mich tief
runter. Ich betrachte mich nun als therapieunfähig. Wenn es an mir
liegt, kann mir die beste Therapeutin nicht helfen, weil ich mir nicht
helfen lassen will. So ist es in meinem Kopf. Ich glaube nicht, dass ich
mein Verhalten ändern kann.
Am Montag rief meine Mutter an. Sie war zwei Mal im Krankenhaus wegen Magenschwür und Zysten, drei Wochen krank geschrieben. Sie hat daher ihren neuen Job verloren und ist wieder arbeitslos.
Das Schlimme daran ist, dass es mir egal ist. Ich kann ihre Situation
nicht nachfühlen. Es interessiert mich nicht. Ich will damit nichts
mehr zu tun haben. Aber sie ist doch meine Mutter?!?!?!
Gestern kam dann noch die Nebenkosten-Abrechnung. […] Ich war
total down. Ich bezweifelte den Sinn meiner Existenz. Es war ein
langes Gespräch deswegen gestern mit Sascha nötig.
Heute bin ich entsprechend reuevoll zur Therapie, depressiv und
schwach. Ich entschuldigte mich bei meiner Therapeutin und sie sich
auch bei mir! Themen waren die aufgezählten Punkte und vier Gedichte von mir. Es war eine ruhige, depressive Stunde und sie konnte
nichts daran ändern, dass ich weiter von SVV träumte.
So kam ich heim und tat, was ich mir schon seit einiger Zeit vorstelle:
mich mit gekochtem, heißen Wasser verbrühen. Löffelweise schüttete ich das dampfende Wasser über mein linkes Handgelenk. Der
Schmerz war enorm. Aber es hinterlässt keine Narben. Ich war wie in
309
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Trance, löffelte, bis das Wasser alle war. Nun ist mein Handgelenk
ziemlich rot und brennt. Eigentlich wollte ich mir die Arme aufschlitzen, aber die Angst vor den Narben hielt mich zurück. Eben
habe ich Sascha angerufen, damit er kommt. Heute ertrage ich die
Einsamkeit nicht. Heute werde ich verrückt allein.
Ich bin verloren. Ich bin verrückt. Ich zerbreche und verzweifle an
dieser Welt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich immer mehr dem
Moment nähere, der eigenen Willens mein letzter sein wird.
Sonntag, 13.04.2003 – Gewicht 47,4kg
Es geht mir nicht gut. Ich bin allein. Ich bin leer, langweile mich,
habe zu nichts Lust. Seit einer Woche schon bin ich im Tief. Donnerstag und Freitag waren Sascha und ich bei seinen Großeltern. Ich
musste viel essen und viel erbrechen. Ich will mich schon so lange
selbst verletzen. Das Verbrühen hat nicht gereicht. Ich will Blut
sehen. Ich habs noch nicht getan, aber ich will raus aus dem Tief.
Habe eben schon zwei sinnlose Stunden lang einen 2seitigen Brief an
Marcel geschrieben. Ich stehe total neben mir. Kann nichts mit mir
anfangen. Und ich will morgen nicht auf Arbeit. Ich fühle mich nicht
stark genug.
Ich will ja leben. Aber ich kenne den Weg zurück ins Leben nicht.
Donnerstag, 17.04.2003 – Gewicht 48,4kg
(19:15 Uhr) Ich habe mich nicht verletzt. Es geht mir auch etwas besser. Doch ich habe das Gefühl, die Schwankungen meiner Stimmung
haben sich insgesamt nach unten verlagert. Die Hochstimmungen
erreichen nicht mehr die Höhen von früher und die Tiefstimmungen
gelangen von Mal zu Mal weiter hinab in die Untiefen meiner selbst.
310
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ich muss mich ständig beschäftigen. Jede freie Minute ist eine Gefahr
für mich. Ich werde verrückt, wenn ich nichts zu tun habe, was mich
von mir ablenken kann. Deshalb schrieb ich auch noch einen Brief an
Frau Otto, bastelte gestern zwei Stunden lang an Muttis Geburtstagskarte und habe mich jetzt schon bis zur Übelkeit voll gefressen.
An erster Stelle denke ich ans Essen, an zweiter Stelle denke ich an
SVV. Ich habe mir extra wieder Ideen für meine Webseiten mit nach
Hause genommen zur Beschäftigung. Grad gehe ich meine Tagebücher nochmal durch wegen besonderer Eintragungen, die evtl. im
Zusammenhang mit meiner Krankheit stehen könnten. Jetzt habe ich
auch keine Lust mehr zum Schreiben. Die Leere und Langeweile und
Lustlosigkeit bringen mich noch um.
(19:45 Uhr) Habe mich eben zwei Mal geritzt. Fühlte mich danach
plötzlich freier und glücklicher. Die Angst vor der Leere und Langeweile ist weg. Ich kann genießen, einfach nur im Bett liegen, Musik
an, und nichts tun. Ich habe keine Schmerzen, keine Schuldgefühle,
kein Reuegefühl. Ich fühle mich dem Leben näher. Ich lache und bin
unglaublich leicht. Es ist beeindruckend. Ich möchte leben und ich
habe das Gefühl, so viel davon nachholen zu müssen. Ich kann denken und fühlen, bin nicht leer. Es ist wunderbar.
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20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Photo von Mai 2003
Donnerstag, 29.05.2003 – Gewicht 48kg
Ich bin so traurig. Weiß nicht warum. Würde gern alles raus weinen,
aber es kommt nichts. So traurig. Alles ist so schwer. Trinke wieder
Wodka. Sascha ist nicht da. Hab auch noch nicht angerufen. Alles ist
so leer, so traurig. Habe Angst vor der Arbeit morgen. Es sollen 30
Grad werden die ganzen nächsten Tage.
Ich hasse, nein, fühle mich überfordert vom Leben. Ich will das nicht
mehr. Ich kann das nicht mehr. Nur leer. So unerträglich leer. Und
doch so voller Schmerz, dass ich fast platzen könnte. Will schreien,
rauchen, saufen, schlagen. Alles soll raus aus mir. Ich bin so allein.
Mache jetzt das Handy aus.
312
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Was für eine Horrorzeit für mich:
Wir Auszubildenden mussten mehrere Monate
lang auf der Straße und in Supermärkten die Menschen anquatschen und versuchen, sie davon zu
überzeugen, dass sie beim Telefonieren Geld sparen, wenn sie bei uns einen Preselection-Vertrag
unterschreiben. Der Chef verlangte Quote – und
ich konnte das absolut nicht! Ich wäre jedes Mal
am liebsten im Boden versunken. Verkaufen ist
absolut nicht meine Stärke.
313
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Alles gelogen
Ich schwieg so leise,
dass die Ecke,
in der ich hockte,
mich ganz verschluckte,
weil ich gar nicht war.
Ich weinte so bitterlich,
dass der Schmerz,
der mich quälte,
seine Arme um mich legte
und für mich litt.
Ich trauerte so schwarz,
dass das Leben,
dem ich entrann,
mir täglich bunte Kleider
an den Körper legte.
Ich fürchtete so ängstlich,
dass die Panik,
die mich lähmte,
Schutzwälle um mich baute
gegen jeden Schlag.
Ich blutete so rot,
dass die Waffe,
die mich verletzte,
sich selber
aus dem Fenster warf.
Ich hasste so bösartig,
dass das Schweigen,
in dem ich fluchte,
mir die Strafe
der Einsamkeit auferlegte.
Ich leugnete so lügnerisch,
dass mein Verstand,
314
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
der sich von mir spaltete,
fest in seiner Faust
meine Gefühle mit sich nahm.
Mai 2003
315
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 02.06.2003 – 48kg (Omas 2. Todestag)
Eigentlich müsste ich jetzt in Naumburg sein. Ich habe Zugfahrkarten für Sonntag (gestern) hin und Dienstag (morgen) zurück.
Wir – Mutti, Bastian und ich – wollten uns bei Robert treffen. Mutti
hatte es versprochen, tausend Mal, und am Samstag Abend abgesagt.
Ich bin so wütend und enttäuscht. Ich habe ihr einen 3seitigen Brief
darüber geschrieben. Es geht mir im Moment auch ganz gut. Ich
scheine stabil zu sein, trinke nur Alkohol. Ich denke ans Ritzen, habe
Angst vor einem Absturz, aber ich bin noch in der Realität und kann
sie ertragen. Hoffentlich bleibt es so.
Mittwoch, 30.07.2003 – Gewicht 47,4kg
Am Sonntag bin ich wieder in ein Loch gefallen. Am Abend zuvor
hatte ich Streit mit Sascha provoziert und er war dann einfach gegangen. Sonntag Abend, ich war total gefühlsleer, habe ich mich dann
verbrannt und geritzt. Die Schnitte waren nicht tief, klafften aber
weit auseinander. Ich rief Sascha an, fühlte mich furchtbar schlecht,
und wir fuhren in die Ambulanz der HSK. Die Wunden wurden
geklebt, eine Psychologin sprach mit mir (»Wollten sie sich umbringen?«) und tags darauf sollte und bin ich noch zum Hausarzt, der
sehr verständnisvoll und nett mit mir umgegangen ist.
Das war das erste Mal, dass ich wegen SVV im Krankenhaus gewesen bin. Es war seltsam – ich stand dabei neben mir.
316
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Akutchaos
Gehirn ohne Gedanken
Gewissen ohne Schranken
Körper ohne Schmerz
Seele ohne Herz
Gefühle ohne Inhalt
Existenz ohne Gestalt
Leben ohne Schicksal
Wahnsinn ist meine Wahl
Juli 2003
317
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 13.08.2003 – Gewicht 48,2kg
Dieser Sommer ist etwas ganz Besonderes. Ich bin zum ersten Mal
frei, denn ich verstecke mich nicht mehr. Ich kleide mich in Röckchen
und Kleidchen, gehe dem Wetter entsprechend (40 Grad) gekleidet in
die Stadt, in Cafés, ins Schwimmbad, zu Freunden. Ich genieße diese
neue Freiheit sehr. Bis jetzt erhielt ich auch noch von niemandem
einen negativen Kommentar. Sogar meine frischen, grässlichen Narben verstecke ich nicht und ich fühle mich gut dabei. Nur auf Arbeit
verstecke ich mich natürlich unter langärmeligen Blusen, was mir
nun umso schwerer fällt. Aber ganz glücklich bin ich nicht.
318
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Die Narben auf meiner Seele waren von Jahr zu
Jahr mehr in die Sichtbarkeit vorgedrungen.
Ich führte ein Doppellleben: Auf der Arbeit versteckte ich die Wunden und Narben unter langärmeligen Oberteilen (auch im Sommer) und im
Privatleben hoffte ich stets, dass mir niemand von
der Arbeit begegnete und meine »Verrücktheit«
entdeckte.
319
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 23.08.2003 – 48,3kg
Ein Tief habe ich wieder gut und ohne neue Narben überstanden.
Jetzt bin ich ganz euphorisch und voller Tatendrang, denn ich habe
die kretische Ernährungsweise für mich entdeckt. Es ist wahrscheinlich nur eine Phase von mir, aber ich genieße sie. Die kretische Küche
ist an sich nichts Neues: viel Getreide, Pasta, Reis, Obst, Gemüse,
wenig Tierisches. Ich habe schon einen Nudelsalat (super lecker) und
einen Gemüsesalat mit Lachs (auch super lecker) gemacht. Morgen
will ich Obstsalat machen. Die Rezepte habe ich aus dem Internet.
Es gibt ja so viele tolle und gar nicht mal schwere Rezepte. Es macht
mir Spaß, mir dieses Essen zuzubereiten. Und das ist für mich etwas
ganz Neues: Essen mit etwas Positivem verbinden. Alles ist gesund
und macht nicht dick. Es macht mir jetzt aber auch ein wenig Angst,
mich so viel mit Essen zu beschäftigen. Essen war noch nie mein
Freund. Ob das wohl gut geht?
Montag, 01.09.2003 – 48,5kg
Heute habe ich die letzte meiner ehemals vier schwarzen mongolischen Rennmäuse tot geborgen. Sie wurde exakt drei Jahre und drei
Monate alt. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit Langem wirklich richtig
allein.
Gestern, habe ich entweder was richtig Gutes oder was total Dummes
gemacht. Ich habe mich im »Eisenhauer Training« angemeldet für 18
Monate. Das ist ein konservatives Fitnesscenter in Wiesbaden mit
Spezialisierung u.a. auf Rückentraining (Muskelaufbau), was ich ja
dringend brauche. Saschas Mutter hat sich auch angemeldet. Ich bin
ziemlich skeptisch und traue mir (und dem) nicht so ganz. Ob ich
das durchhalte? Habe ich so viel Disziplin? Traue ich mich am 24.09.
überhaupt zum ersten Training hinzugehen wegen den Narben an
meinen Armen? Ich habe doch seit der Grundschule nicht mehr freiwillig Sport getrieben!
320
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Diese vier süßen Kerlchen (Farbmäuse) wurden
meine neuen treuen Begleiter durch die Einsamkeit
für über drei Jahre (2003 – 2007):
König Löwenherz, Captain Nemo, Captain Hook,
Zauberer Merlin (von vorn links nach hinten
rechts).
321
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ein Wochenende im September 2003 besuchte
mich mein Bruder aus dem hintersten Bayern
(30km nordöstlich von Passau) in Wiesbaden.
Mensch, hatte ich mich gefreut, ihm zu zeigen, wie
ich lebe und wie sich das Wiesbadener Nachtleben
anfühlt. Er war mittlerweile zu einem stattlichen
jungen Mann herangewachsen, war plötzlich nicht
mehr der »Kleine«. Er war nun mein »großer«
Bruder, der mich beschützte, obwohl er fünf Jahre
jünger ist als ich.
Um wie viel Tonnen schwerer aber lag die Einsamkeit (Familienlosigkeit) auf mir, als er wieder
abgereist war.
322
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Im September 2003 starb mein geliebter Hund
Jackie, den ich nur so selten sehen konnte, in den
Armen meiner Mutter. Er musste eingeschläfert
werden, weil er eine Lungenembolie hatte (vermutete zumindest der Arzt).
323
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 01.10.2003 – Gewicht 48,1kg
Ich bin furchtbar schlecht. Sascha wird wegen mir oft wütend und
jähzornig. Er meint, ich würde ihm nie helfen und mich einen Scheißdreck um ihn kümmern. Auch zu anderen Menschen sei ich so und
in vielem würde ich zu kindisch handeln. Ob es stimmt? Ich weiß
es nicht. Seit ich durch die Therapie erkannte habe, dass ich meine
Kindheit verleugne, glaube ich meinen eigenen Gedanken, Gefühlen
und Erinnerungen nicht mehr. Ich bin durcheinander, verwirrt und
gleichzeitig leer. In unserer Partnerschaft bin ich öfter unglücklich.
Wenn ich Sascha sage, was mich an ihm stört, kommt von ihm ein
Bombardement an Fehlern zurück, die ich begangen habe und die
ihn stören. Dann fühle ich mich furchtbar schlecht. Und weil ich so
ein schlechter Mensch bin, glaube ich auch, dass ich kein Recht habe,
mich über ihn oder andere Menschen zu beschweren. Ich bin ja 3000
Mal schlechter und mit mehr Fehlern behaftet.
Ich will ritzen und saufen. Es kümmert eh keinen. Für Sascha ist das
wieder einmal kindisch, weil ich mir damit und überhaupt mit so
vielem, was ich tue, selbst nur im Weg stehen würde. Das sei dumm.
Somit kann ich mit ihm über so vieles nicht mehr reden. Er blockt es
ab, mich macht es traurig, das widerum reizt ihn und ich ziehe mich
daraufhin noch mehr in mein Schneckenhaus zurück.
Montag, 03.11.2003 – Gewicht 48,9kg
Ich habe Angst. Die Angst macht mich ganz wahnsinnig. Denn
ich kann sie nicht packen und einfach raus werfen. Am 25.11. ist
schriftliche Abschlussprüfung. Entweder ich bestehe (und weiß danach nicht weiter) oder ich falle durch (und weiß danach auch nicht
weiter). Aber das ist es nicht einmal. Es ist das ganze Leben, diese
Welt, diese Kreisläufe ohne Sinn. Ich stehe wieder einmal im Nichts,
gleich neben der Geringschätzung des Lebens, der Undankbarkeit
meiner Person. Es tut mir ja leid. Aber ich weiß nicht, warum ich all
das noch weiter machen soll?!?
324
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 15.11.2003 – Gewicht 48,8kg
Ich habe mich in den letzten sieben Tagen fünf Mal mehrmals selbst
verletzt, davon einmal mit Zigarette. Es sind keine tiefen Schnitte,
aber dafür viele. Ich würde mich am liebsten täglich verletzen.
Sascha und ich hatten heute Morgen wieder einen bösen Streit. Ich
glaube, ich bin wirklich beziehungsunfähig und mache alles falsch
oder komplizierter. Jetzt bin ich allein bei mir daheim, verletzt habe
ich mich schon vor lauter Wut auf meine Unvollkommenheit, mein
Unverständnis für Saschas Ansichten und meine paradoxen Gedanken, die keiner nachvollziehen kann, ich es aber erwarte. Dadurch
entstehen ständig Konflikte; offen mit Sascha und verdeckt mit allen
anderen Menschen. Mir ist schon vor einiger Zeit klar geworden,
dass ich ganz sicher noch mindestens eine weitere Therapie machen
muss. Denn die Beziehung zu Sascha wird immer schlechter und
komplizierter (trotz unser beider Bemühen um Besserung) und meine
Zukunftsaussichten werden immer schwarzer.
Nächsten Dienstag in einer Woche ist die schriftliche IHK-Abschlussprüfung. Ich muss diese unbedingt bestehen, sonst kann ich
für nichts garantieren. Andererseits, was ist danach? Was mache ich
dann? Diese »Lebensentscheidungen« machen mir immer Angst. Ich
kann jetzt bestimmen, wie es für meine nächsten Jahre weitergehen
soll: Studium? Arbeitslosigkeit? Job irgendwo? Aber was will ich???
Niemand kann mir dabei helfen. Jeder Mensch ist bei den wichtigsten
Entscheidungen in seinem Leben immer allein!
Freitag, 28.11.2003 – Gewicht 49,4kg
Die schriftliche Prüfung ist geschafft. Inoffiziell habe ich 85 (=Note
2), 93 (=Note 1) und 84 (=Note 2) von je maximal 100 Punkten. Der
ganze Druck ist nun abgefallen und ich weiß jetzt nicht, was ich mit
mir anfangen soll. Könnte heulen. Auf Arbeit bin ich zwar wieder
der lustige und freche Wirbelwind, aber hier allein daheim … denke
wieder ans Ritzen.
325
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 23.12.2003 – Gewicht 48,5kg
Für meine Projektarbeit (Titel: »Entscheidungsorientierte Leserstrukturanalyse und deren Zufriedenheitsmessung mittels geeigneter Software als Grundlage für Marketingmaßnahmen und Planung eines
Webportals«) bekam ich 98% (=Note 1). Am 27.01.2004 um 17 Uhr
muss ich sie in der mündlichen Abschlussprüfung noch präsentieren.
Ich habe viel vor und glaube doch nicht daran, dass ich eine Zukunft
habe. Ich habe meine Bewerbung an die FH Wiesbaden für den Studiengang »Medienwirtschaft« abgeschickt. Im Januar habe ich auch ein
Vorstellungsgespräch für ein Praktikum in einem Marktforschungsinstitut. Und einen Termin bei einer neuen Psychotherapeutin habe
ich auch, denn meine Arme sahen noch nie so schlimm aus und die
Traurigkeit und Leere sitzen tief in mir.
Mein Umfeld ist mir oft zu laut, Wege zur Bahn, zum Training oder
zum Einkaufen sind mit Angst verbunden. Der kindliche Drang, die
Freiheit haben zu wollen, alles tun zu können, war noch nie so stark
in mir. Bekomme ich nicht, was ich will, werde ich totunglücklich.
Mir ist sehr oft nach Weinen zumute. Ich kann nur noch Kinderfilme
sehen, weil viele andere Filme mich schon psychisch zu sehr anstrengen. Ich kann die weltlichen Probleme nicht (er)tragen, sehe auch
keine Nachrichten mehr. Es macht mir alles Angst. Und nun habe ich
auch noch erfahren, dass sich Ben (Name geändert, aus meiner Krankenschwesterausbildung) das Leben durch Sprung vom Balkon (11.
Stock) genommen hat. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf, auch
wenn ich ihn bestimmt anderthalb Jahre nicht mehr gesehen habe.
Nächstes Wochenende fahren Sascha und ich nach Bayern für zwei
Tage. Mutti hat uns ein Hotelzimmer reserviert. Mal sehen, wie es
wird. Bastian ist ja in Berlin bei der Familie seiner Freundin.
Wieder ein Jahr um. Wieder ein Jahr voller Prüfungen und Schmerz
hinter mir und vor mir. Es hört nie auf. Wird irgendwann die Angst
vor dem Leben aus mir entweichen? Werde ich irgendwann einfach
nur leben können?
326
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ein Besuch bei meiner Mutter im Dezember 2003.
Photos sind mir als einzige Erinnerung geblieben.
Mit meiner Mutter und ihrer neuen Hünding Hera,
wieder ein Hund aus einem Tierheim. »Hera« wurde ausgesprochen wie im englischen Wort »Hero«.
Also »Hira«.
Hera und ich.
Sie war ebenfalls ein sehr
traumatisiertes Wesen.
Sie brauchte sehr lange
(knurrte und schnappte zu),
bis sie anderen Menschen
vertraute. Aber wenn sie
aufblühte, war sie ein Turbowirbelwind.
327
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 30.12.2003 – Gewicht 49,4kg
Es ist nicht besser geworden. Ich fürchte mich so sehr vor dem nächsten Jahr: Therapeutenbesuche, zwei Vorstellungsgespräche, mündliche Abschlussprüfung, Studium. Es macht mir Angst. Ich ziehe mich
zurück, bin traurig, will Silvester morgen nicht feiern.
Der »Urlaub« in Bayern war eine Katastrophe. Das Appartement
war toll, Mutti war supernett, das Wetter und das Frühstück im
Hotel waren klasse. Aber Sascha hatte sich alles anders vorgestellt.
Wir waren zu selten für uns, zu viel mit Mutti unterwegs. Kurz vor
der Abreise ist er ausgerastet und hat eine Szene gemacht. Es war
furchtbar. Für seine Fehler und Trotteligkeiten gibt er mir die Schuld
und die Wut, die er gegen sich selbst hat, lässt er an mir aus. Ich war
total fertig. Die Rückfahrt war dementsprechend sehr unangenehm.
Er überging auch meine Angst vor zu hoher Geschwindigkeit auf der
Autobahn und raste zurück. Eben hat er sich für seinen Ausraster
entschuldigt.
Ich bin jetzt ziemlich leer, weiß nicht, was ich fühlen soll, verschließe
mich vor der Außenwelt. Ich zweifle an mir, ob ich zu viel von Sascha
verlangt habe, ob ich ihn trotz aller Bemühungen nicht doch vernachlässigt habe, ob mir meine Mutter fehlt oder was auch immer das für
ein Gefühl war, dass es mir so schwer gemacht hatte, als wir wieder
zurück gefahren sind. Und warum ich das Gefühl habe, dass Sascha
mich seit Wochen nicht mehr verstehen will und ich mit ihm nicht
mehr über alles reden kann.
Mittwoch, 31.12.2003 – Gewicht 49,4kg
Ich bin allein zu Silvester, weil ich einfach nicht unter Menschen
will. Saschas Mutter, seine Schwester und Sascha haben schon angerufen, dass ich doch gern auch mit ihnen feiern könne. Mit Sascha
war ich heute Morgen frühstücken. Wir haben ewig diskutiert, wo er
328
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
und wo ich heute feiern wollen. Er entschied sich für seine Familie,
ich blieb bei meinem Standpunkt. Ich weiß gar nicht, was ich fühlen
soll. Ich bin ihm böse wegen seiner Wutausbrüche im Urlaub. Ich bin
traurig, habe Sehnsucht nach meiner Familie und meinen Freunden.
Ich habe Angst vor dem nächsten Jahr. Ich bin leer und doch auch
nicht. Ich will allein sein und doch auch wieder nicht. Ich will weinen
und kann nicht. Ich will lachen und kann nicht. Ich wünsche mir Gesellschaft und will aber keine Last sein. Ich will allein sein und fühle
mich einfach … keine Ahnung, alles und nichts.
Dieses Tief scheint schon sehr lange anzuhalten. Seit Wochen trage
ich ständig diese Traurigkeit mit mir herum und bekomme sie nicht
los. Nie fühle ich mich von ihr befreit, bin nie einfach nur glücklich.
Sascha hat sich an der FH Karlsruhe beworben. Unsere Wege werden
sich trennen. Ich will das nicht. Ich will keine Veränderungen. Ich
weiß nicht, was ich will.
Und alles beginnt wieder von vorn. Was soll das? Jedes Jahr verliere
ich jemanden oder etwas. Werde ich nächstes Jahr mich selbst verlieren? Erfüllt sich die Angst, die ich jedes Jahr zu Silvester habe?
Diese Welt macht mir Angst, so viel Angst!
Donnerstag, 01.01.2004 – Gewicht 49,4kg
Ich weine und weine. Sascha meinte, er wolle mich sehen, er sehnte
sich nach mir. Und jetzt ist er, nachdem er schon stundenlang bei
seinen Freunden gewesen war, mit ihnen ins Kino gegangen in einen
Film, den ich nicht sehen will und daher ablehnte. Gleichzeitig aber
regt er sich auf, dass wir uns am kommenden Wochenende nicht
sehen können, weil ich da bei Maria in Frankfurt bin. Er sagt, er liebt
mich, und doch wirft er mir die schlimmsten Worte und Sätze an den
Kopf, wenn er einen seiner Wutausbrüche hat. Ich bin so enttäuscht
329
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
und wütend auf ihn, weiß aber nicht, ob ich dazu ein Recht habe.
Denn schließlich war ich bisher immer diejenige, die alles übertrieben
und verschlimmert hat.
Ich bin so durcheinander, will schreien, etwas zerschlagen, mich
wieder verletzen – wie gestern. Ich will es als Gedicht schreiben, aber
ich ersticke an der Masse meiner Gedanken. Sie kommen nicht raus,
zerschlagen sich gegenseitig. Es quält mich so. Ich will es nicht mehr
runterschlucken. Ich hasse mich dafür.
330
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
hier und gleich
im morast
der angst
und hilflosigkeit
bin ich gefasst
hier und gleich
endgültig zu entzwei’n
zerrissen zu werden
mich in den scherben
meiner gedanken
zu verlieren
im angesicht
der panik
und verzweiflung
bin ich gefasst
hier und gleich
endgültig zu verwirren
wahnsinnig zu werden
mich am galgen
meiner hirngespinste
zu erhängen
Januar 2004
331
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 19.01.2004 – Gewicht 48,5kg
Ich habe mich wieder mehrmals geritzt. Beim ersten Mal war es nicht
tief genug. Erst bei den nächsten Malen, als die Wundränder auseinander klafften, war ich innerlich zufriedener.
Ich hatte so eine heftige Panik in meiner Brust gespürt: hohl, leer,
schwarz, ausstrahlend in alle Glieder beim Einatmen. Ich musste
weinen, so stark war das Gefühl. Schaffe ich die Zukunft? Oder
mache ich mir über zu vieles Gedanken, so wie Sascha meint? Bin ich
psychisch gesund, versuche aber unbewusst durch angebliche psychische Leiden von der Realität abzulenken, weil ich zu große Angst
habe, mich ihr zu stellen? Ist alles nur Einbildung und ich bin nur
eine großartige Schauspielerin?
332
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Hilferuf
Bitte
helft mir
ich ertrinke in meinen Tränen
ich verlaufe mich in meinen Gedanken
ich erfriere zwischen meinen Gefühlen
ich bin am Boden
auf mir das Gewicht
aller Worte
die mich als schuldig bezichtigen
deren Unwahrheit meine Wahrheit ist
aller Blicke
die mich nicht wahrnehmen
deren Kälte mein Körpergefühl ist
aller Schreie
die mich mit Hass übergießen
deren Schall mein Hilferuf ist
aller Schläge
die mich brechen und zerbrechen
deren Wunden mein blutiges Erbe sind
Bitte
befreit mich
aus der Flut der Lügen
aus dem Labyrinth der Blindheit
aus der Kälte der Erniedrigungen
hebt mich auf
und pflegt meine Wunden mit Zukunft
Januar 2004
333
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 21.01.2004 – Gewicht 48,5kg
Das Vorstellungsgespräch heute war nicht gut, da will ich aber nicht
weiter drüber schreiben. Habe mich auch schon selbst verletzt.
Gestern war ich zum ersten Mal bei einem Psychiater. Er hat mir ein
Medikament (»Elmendos«) gegen meine Stimmungsschwankungen
verschrieben. Seitdem bin ich total hippelig und nervös, voller Tatendrang und bin doch leer, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.
Ich war heute wegen einer Erkältung nicht auf Arbeit. Ich weiß nicht,
wie ich mich fühlen soll. Morgen gehe ich mit Nicole (Name geändert), einer E-Mail-Bekanntschaft auch mit Borderline, zur Frankfurter Borderliner-Anonymous-Gruppe. Habe mit dessen Ansprechpartner, auch ein Borderliner, bestimmt über eine Stunde lang telefoniert
und über sehr private Sachen gequatscht, z.B. auch, dass ich mit
Sex ein Problem habe. Mir ist das jetzt total peinlich. Werde mich
deswegen wohl auch noch bestrafen. Wie konnte ich so etwas einem
wildfremden 35jährigen Mann erzählen? Ich verstehe es nicht!
Bin müde und kann doch nicht schlafen. Trinke schon das zweite
Glas Wodka. Ich bin sehr hippelig.
Montag, 26.01.2004 – 48,5kg
Mit Nicole habe ich mich super gut verstanden. Der Besuch bei der
BA-Gruppe war auch in Ordnung, aber wir sehen darin noch keine
echte Hilfe für uns. Daher ist noch unklar, ob wir nochmal hingehen.
An dem Abend war ich total euphorisch: viel geredet, viel gelacht,
viel gestikuliert, viel Optimismus in mir. Am Samstag dann kam der
Absturz. Wahrscheinlich habe ich von dem neuen Medikament zu
viel erwartet. Ich zog mich zurück und weinte aufgrund innerlicher
Traurigkeit, deren Ursache ich nicht kannte. Ich war auch sehr enttäuscht, weil das trotz der Einnahme des Medikamentes passiert ist.
334
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ich fühlte mich die drei Tage davor dem Leben so nah, wie schon
lange nicht mehr. Und ich fühlte mich der Prüfung gewachsen. All
das war ganz plötzlich wieder weg und ich vermisste es umso stärker.
Jetzt geht es wieder etwas besser.
Morgen ist die mündliche Abschlussprüfung. Wenn ich 86 Punkte
schaffe, habe ich als Gesamtnote 90 Punkte (eine 2+). Damit wäre ich
hoch zufrieden. Ich rechne jedoch aber immer mit dem Schlimmsten.
Ich habe aber auch die Möglichkeit, eine Gesamtnote von 1 (mindestens 92 Punkte) zu schaffen, wenn ich morgen 94 Punkte erreiche.
Aber daran glaube ich nicht. Ich will mich nur nicht blamieren und
stolz auf mich sein können.
Sascha ist beim Basketball. Wir sehen uns wohl erst morgen, wenn
wir zusammen zu unseren Prüfungen fahren.
335
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Welt sein
Bin ich
oder ist nur die Welt
mir fehlt der Boden
auf dem sie steht
über dem sie zusammenfällt
Ich muss gewesen sein
schwer liegen ihre Trümmer
auf meiner Brust
doch nichtig der Kummer
über meinen Verlust
Januar 2004
336
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 01.02.2004 – Gewicht 49kg
Sascha kam doch noch am Abend zu mir und wir übten seine Präsentation. Am nächsten Morgen ging ich ins Fitnesscenter, danach
fuhren wir zu ihm, übten nochmal jeweils unsere Präsentationen, danach fuhren wir mit dem Auto nach Frankfurt in die Firma, von dort
aus dann zum Prüfungsort. Wir waren sehr gut und erreichten beide
die Abschlussnote 1 (ich habe einen Punkt mehr als er). Am Abend
gingen wir teuer essen mit Chef, Frau vom Chef und Arbeitskollegen. Am Donnerstag war Meeting bei einem A-Kunden, am Freitag
billige Zeugnisvergabe im Hausflur der Berufsschule. Zu Mittag
aßen Sascha und ich im Allianzgebäude und ließen uns vom Chef
der Küchenverwaltung, einem Freund und Geschäftspartner unseres
Chefs, beglückwünschen. Eigentlich wollten wir jetzt am Wochenende feiern, aber ich bin viel zu schlecht drauf. Die Leere und Lethargie
haben von mir Besitz ergriffen. Die Tabletten wirken nichts.
Ich will nicht neben dem Studium in Marktforschungs-Instituten
arbeiten und viele Erfahrungen in mehreren Firmen sammeln. Ich
glaube nicht mehr daran, dass ich Freude am Studium haben werde
und es durchziehe. Und ich glaube auch nicht daran, dass die Beziehung mit Sascha weiter hält, wenn er in Karlsruhe studiert.
Ich habe den Sinn meines Lebens mal wieder verloren. Die ganze
Woche schuften und lernen, wenig Geld haben und die Liebe nur am
Wochenende erleben können. Das ist kein Leben. Das bedeutet nur
Verzicht.
Ich will im Moment nicht mehr. Ich würde gern im Bett bleiben und
warten, bis meine Motivation und Lebensfreude wieder da sind. Aber
morgen und übermorgen muss ich mit auf ein Seminar. Am Dienstag
muss ich danach mit einem Arbeitskollegen auf eine Messe, auf dem
ein A-Kunde einen Stand hat. 19 Uhr dann zu viert mit Chef Abendessen im Steakhouse und die Geschäftsbeziehungen schön pflegen.
Alles Stress und Anforderungen an mich. Ich werde das hinkriegen.
Aber ich bin tot in der Zeit.
337
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Arbeit raubt mir Zeit für mich, raubt mir Lebenszeit. Ich opfere mein
Leben für 5 Euro die Stunde. Ich verstehe nicht, wie so viele Menschen das ertragen können. Ist das das Leben? Arbeiten?
Daheim sehne ich mich nur noch nach Ruhe. PC, TV, Stereoanlage
ist alles tabu, so wie jetzt gerade, um Kraft für die kommende Woche
zu tanken.
Montag, 02.02.2004 – 49,1kg
Der Seminartag heute war sehr sehr schlimm. Ich bin höchst unzufrieden mit mir. Mein Wille zur Kommunikation ist gleich Null. Ich
habe mich so gut wie an keinem Gespräch, an keiner Gruppenarbeit
beteiligt. Ich fühle mich wie eine Versagerin. Ich bin in der Seminargruppe die Jüngste und die Einzige, die nicht studiert hat. Für
mein geringes Wissen schäme ich mich. Und ich schäme mich dafür,
dass ich mich nicht traue, vor der Gruppe zu reden. Ich habe das
Gefühl, mein Selbstwertgefühl war noch nie tiefer gesunken. Morgen
wird der Chef mich dann zwingen, eine Gruppenarbeit vorzustellen.
Und ich werde mich blamieren. Ich kann doch nichts und weiß doch
nichts. Der Chef hält so viel von mir! Morgen wird er meine Maske
fallen sehen (wenn er es nicht schon heute bemerkt hat) und wird
erkennen, dass ich ein Nichts bin.
So furchtbar fühle ich mich. Nichts hat mehr einen Sinn für mich.
Natürlich zweifle ich nun stark daran, ob ich wirklich Medienwirtschaft studieren will. Wozu? Oh, ich habe dieses Gefühl der Motivation, der Antriebskraft, des Optimismus, der Zukunftssicherheit so
geliebt. Ich hielt es für ein paar Wochen in den Händen; wohl zum
ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Sinn in meinem Tun.
Umso schlimmer ist es nun zu ertragen, wieder mit leeren Händen
dazustehen. Wird nun alles zerfallen? Hat der Verfall schon begonnen?
338
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Donnerstag, 05.02.2004 – 48,2kg
Am Montag habe ich mich noch selbst verletzt. So konnte ich den
Dienstag doch zufriedenstellend meistern. Am Mittwoch, gestern,
war wieder ein tiefes, leeres Loch in mir. Habe mich selbst verletzt.
Heute traf ich Nicole. Wir waren wieder bei der BA-Gruppe in
Frankfurt und es war wesentlich lockerer. Danach fühlten wir uns
beide besser.
339
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
in der leere
ich fühle mich weg
und gehe in der leere
im kreis im kreis
trage die alte luft
in den körper und hinaus
und laufe in der leere
bergauf bergab
schleppe das gelebte leben
im rucksack mit
und renne in der leere
nach nord nach süd
ziehe den wartenden tod
über die zielgerade hinaus
und hetze in der leere
hierhin dorthin
hebe die massive realität
über meinen kopf
und fühle mich weg
Februar 2004
340
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 14.02.2004 – Gewicht 48,2kg
Ich hatte eben ganz plötzlich eine sehr starke Erinnerung aus meiner
Kindheit vor Augen: Mutti schlägt mich auf den Hinterkopf und ich
knalle mit dem Gesicht so hart auf den Tisch, dass meine Nase blutet.
Ich lag noch im Bett, als die Erinnerung kam. Mein Körper zuckte
dabei zusammen, rollte sich ein, meine Hände hielt ich vor mein
Gesicht und ich brach in Tränen aus. Es war alles wie ein Reflex. Ich
erinnere mich ein wenig an die Angst. Sie war immer da, weil Mutti
jeden Moment wütend werden und uns plötzlich schlagen konnte. Sie
fand immer irgend einen Grund. Mein Hauptreflex bei jeder bedrohlichen Bewegung war damals, mich sofort auf den Boden zu hocken
und die Arme schützend über meinen Kopf zu halten.
Mittwoch, 18.02.2004 – Gewicht 49,1kg
Ich fühle mich fett und hässlich, regelrecht widerlich und abstoßend.
Deswegen funktioniert es wohl seit Wochen nicht so gut mit dem
Sex.
Ich bin jetzt offiziell ab 01.03. als Studentin an der FH Wiesbaden
immatrikuliert. Ich habe so sehr das Gefühl, dass es ein Fehler ist. Ich
weiß nicht, ob ich das will. Ich weiß gar nichts von mir im Moment.
Sonntag, 29.02.2004 – Gewicht 48,3kg
Michael (Name geändert), ein Freund aus der Abi-Theater-AG hat
sich umgebracht. Er war in meinen Augen ein begnadeter Schriftsteller. Aber zu schwach für diese Welt, sehr depressiv. Ich habe Freitag
Abend fast die ganze Zeit nur geweint. Ich glaube, ihn zu verstehen.
Ich beneide ihn – er hat es geschafft.
341
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Gestern bin ich auf Notebook-Suche (»Studenten gewähren wir keine
Finanzierung!«) und auf Wohnungssuche (»Sie brauchen einen
Elternteil als Bankbürgen sowie Geld für Kaution und 1. Miete!«). –
Alles in allem sehr deprimierend. Ich fühle mich sehr allein. Ich hätte
gern eine etwas größere Wohnung, aber die nächsten vier Studienjahre geht das wohl nicht, bleibe ich hier im winzigen Zimmer.
Ich bin und bleibe allein. Warum mich dann noch mit meiner Umwelt befassen?!? Ich habe keine Lust mehr, ständig mehr als andere
kämpfen zu müssen.
Freitag, 05.03.2004 – Gewicht 48,3kg
Es geht mir nicht gut. Jeden Abend erbreche ich alles, was ich gegessen habe. Der Grund ist wohl klar: Sascha zieht dieses Wochenende
nach Karlsruhe. Wir werden uns voraussichtlich nur noch an den
Wochenenden sehen. Ich kann mir diese Einsamkeit, das Verlassenwerden nächste Woche nicht vorstellen. Sascha war immer mindestens einmal pro Woche bei mir und ich habe in seinen Armen gelegen.
Wenn ich es mir vorstellen will, dass er weg ist, kommen sofort die
Tränen und ich verdränge es. Ich habe so Angst.
Auf Arbeit habe ich jetzt einen 64h-Vertrag pro Monat. Und ich habe
auch einen weiteren privaten Kunden, für den ich eine Website erstelle. Am liebsten aber würde ich alles stehen und liegen lassen, selbst
für lange Zeit liegen bleiben. Denn worin liegt der Sinn des Lebens,
wenn nicht in der Liebe? Meine Liebe aber zieht weg! Mein Leben ist
vorbei.
Meiner Mutter habe ich vor vier Wochen erzählt und geschrieben,
wie ungeliebt und verlassen ich mich von ihr fühle, weil sie nie, aber
auch wirklich nie anruft. Es tut irgendwie schon sehr weh, wenn ich
daran denke. Auch von meinem Vater kommt nichts. Vor anderthalb
342
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Wochen schickte ich ihm Unterlagen zum Ausfüllen wegen meinem
BAföG-Antrag, aber er schickt sie nicht zurück, obwohl es dringend
ist. Ich bin allein. Nur zu meinem Geburtstag nächsten Dienstag
wird sich vielleicht der eine oder andere an mich erinnern. Aber
darauf kann ich verzichten. Denn nichts kann mir das Gefühl der
Einsamkeit abnehmen oder es ersetzen.
Sonntag, 07.03.2004 – 47,4kg
Ich komme gerade aus Karlsruhe zurück und fülle meinen Kopf und
meinen Körper mit Leere, damit der Wegzug von Sascha nicht zu
sehr schmerzt. Ich muss nun lernen, mit mir allein in der Einsamkeit
auszukommen. Und auch die Tatsache, dass ich allein bin, muss ich
verdrängen. Ich habe keine Ahnung, was wird. Ich spüre nur, dass
ich mich zugrunde richten will. Ob es so kommen wird, kann ich bei
meinen Stimmungsschwankungen nicht sagen.
Mittwoch, 10.03.2004 – Gewicht 46,8kg
Ich verhungere, zumindest im Moment. Ich genieße es, zu sehen, wie
dünn ich bin. Aber in meinem Kopf reicht es nicht! Ich weiß, es ist
vergeudete Lebensenergie, aber ich kann nicht anders. Essen widert
mich an. Und wenn ich doch essen muss, erbreche ich es. Vielleicht
wird es besser, wenn die Vorlesungen an der FH beginnen. Oh, ich
habe so Angst. Wenn es so wird wie in der Berufsschule, dann bin ich
verloren, dann kann ich das Studium aufgeben.
An meinem Geburtstag gestern haben mir überraschend viele Freunde, Bekannte und Verwandte gratuliert. Aber das ist nicht gut. Sie
zwingen mich, im Leben zu bleiben.
343
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Da ich nur 64 Stunden pro Monat in Frankfurt arbeite, habe ich
viel Zeit, eigene Dinge zu regeln und produktiv mit meinem neuen
Notebook zu arbeiten (Sascha hat mir das Geld geliehen, denn fürs
Studium brauchte ich unbedingt ein Notebook).
Heute war ich wieder beim Psychiater. Ich nehme mittlerweile
200mg/Tag »Lamictal« (anderer Name für »Elmendos«). Es wird alle
vier Wochen kontrolliert. Der Arzt ist nett. Es tut weh. Er bietet mir
Hilfe an und ich schlage sie wie immer aus. Ich sehne mich so sehr
nach Hilfe, die ich auch annehmen kann.
Sonntag, 14.03.2004 – Gewicht 46,7kg
Es geht mir sehr schlecht. Ich habe zu viel getrunken. Ich habe alles
vom Wochenende erbrochen. Ich habe den heutigen Abend mit einem
Arbeitskollegen in einer Bar in Wiesbaden verbracht. Er ist ein toller
Mann. Ich habe ihm so viel von mir erzählt. Er hat so viel verstanden, mich aber gleichzeitig so stark provoziert (»Warum bringst du
dich nicht um, wenn du es so stark willst?«). Ich habe versucht, die
Cocktails zu erbrechen. Mir geht es immer noch schlecht. Ich habe
versucht, mich zu verbrennen, aber die Glut war zu schnell aus. Ich
habe mich geritzt und nichts dabei gefühlt. Die Schnittwunde ist
bestimmt 10mm breit. Soll ich zum Arzt gehen? So weit hat es noch
nie auseinander geklafft. Was soll ich nur mit mir anfangen? Ich bin
so kaputt. Warum mache ich dem kein Ende? Ich bin so allein. Und
auch wenn physisch jemand anwesend wäre, wäre ich trotzdem allein. Wer kann mich schon ertragen? Kann ich mich selbst ertragen?
Wie schaffe ich es bis morgen? Wie schaffe ich das Leben überhaupt?
Ich mag den Arbeitskollegen so sehr, kann es ihm aber nicht sagen,
weil ich der letzte Dreck bin und nicht verdiene, dass jemand mich
mag. Wer bin ich überhaupt? Ich fühle mich nicht nach irgendwas.
344
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 21.03.2004 – Gewicht 48,1kg
Was für eine Horrorwoche. Es ging so viel schief, ich war so viel
unterwegs. Es war kaum Zeit nachzudenken. Und ich habe über eine
Woche (bis letzten Freitag) nachts nicht einmal eine Stunde schlafen
können, war Tag und Nacht wach. Am Freitag war ich dementsprechend k.o. Die letzten beiden Nächte (eine davon mit Sascha) waren
wunderbar, endlich mal wieder durchschlafen. Ich wollte nie wieder
aufwachen.
BAföG dauert noch. Mein Vater stellt die von ihm nötigen Unterlagen und Daten nicht zur Verfügung. Er bekommt einen Bußgeldbescheid. Meldet er sich nicht, wird er gerichtlich eingeladen. Verdient
er letztlich zu viel (so dass ich kein Anrecht auf BAföG habe), kann
ich dies über das Amt einklagen lassen. Das kann ewig dauern.
Morgen beginnt die Einführungswoche an der FH. Ich bin etwas
aufgeregt, weiß nicht, ob oder was ich erwarten soll. Hoffentlich bin
ich nur besser drauf als jetzt.
Donnerstag, 25.03.2004 – Gewicht 47,5kg
Die drei Tage der Einführungswoche an der FH sind hinter mir.
Meine ersten Eindrücke sind positiv, aber ich will mich nicht zu sehr
darüber auslassen aus Angst, dass später noch eine große Enttäuschung folgt. Mal die nächsten Wochen abwarten.
Am Freitag fahre ich zu Sascha nach Karlsruhe. Gestern sind es zweieinhalb gemeinsame Jahre geworden, viele Hochs und Tiefs haben wir
seitdem durchgestanden. Ich weiß nicht, wie das weiter funktionieren
soll. Wir müssen uns doch einfach auseinanderleben, oder? Aber im
Moment, und hoffentlich für lange, liebe ich ihn sehr.
345
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 28.03.2004 – Gewicht 48,4kg
Sonntag Abend ist immer schlimm. Ich war Freitag Mittag bis heute
Spätnachmittag bei Sascha in Karlsruhe. Es war schön, wieder bei
ihm zu sein. Bis jetzt hatte ich einen Heulkrampf nach dem anderen.
Ich dachte, ich werde verrückt. Die Welt geht unter, wenn ich daran
denke, die nächsten fünf Abende und Nächte allein mit mir zu sein.
Warum noch leben? Es hat so wehgetan, mich so verzweifelt gemacht, weil mich niemand davon befreien kann. Ich muss mich stark
zusammenreißen, nicht wieder abzustürzen. Es schmerzt wahnsinnig. Ich will nicht allein sein! Und nun spielen auch noch meine
Mäuse verrückt. Sie jagen und beißen sich. Hook blutet. Es macht
mich verrückt. Ich bin überfordert. Ich werde das nicht vier Jahre
schaffen!
Freitag, 16.04.2004 – Gewicht 47,6kg
Die Welt ist jetzt noch in Ordnung, weil ich mich in zehn Minuten
auf den Weg zu Sascha mache. Ich will so viel vom Wochenende
und weiß doch, dass ich davon nie »satt« werde. Jedes Mal danach
weine ich um den Verzicht, den ich gezwungen bin, unter der Woche
zu ertragen. Aber jetzt geht es mir gut. Sonne, 20 Grad, ein kühler
Wind, ein bevorstehendes Wochenende mit meinem Schatz. Warum
kann ich Sonntag Abend nicht von diesen schönen Gefühlen zehren?
Warum ist es mir nur möglich, immer im Jetzt zu leben, das Gestern
zu vergessen und das Morgen zu fürchten?
Sonntag, 18.04.2004 – Gewicht 48,3kg
Sonntag Abend!!! Weinen, weinen, weinen – wie jeden Sonntag
Abend. Das Wochenende war nicht gut. Meine positive, gute Laune
346
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
war bereits Freitag Abend in den Keller gesunken und ich hatte »keinen Bock« (»wie immer«, war Saschas Kommentar dazu). Wir kamen
uns das ganze Wochenende nicht näher, ich konnte den Gedanken an
Berührung nicht ertragen. […] Ich fühlte mich abseits, konnte mit
Sascha nicht reden, weil wir entweder zu tun hatten oder nicht allein
waren. Wir stritten und so war die letzte Nacht eine Horrornacht.
Wir verabschiedeten uns aber »in Frieden« und betrauerten die
verlorene gemeinsame Zeit. Der Abschiedskuss am Bahnhof trieb mir
Tränen in die Augen bis jetzt und wohl noch länger.
Freitag, 23.04.2004 – Gewicht 46,9kg
Es geht mir nicht gut. Sascha kommt dieses Wochenende nicht und
ich bin auch nicht bei ihm. Ich hätte es auch nicht gewollt. Ich kann
dieses Auf und Ab der »Liebes«(?)-Gefühle nicht ertragen. Ich muss
mich von den letzten Wochenenden erholen. Mein Handy ist aus.
Das ist nicht gut, aber ich will niemanden sprechen. Er wird sich
Sorgen machen. Aber wenn er hört, dass es mir schlecht geht, ich
wieder einen Teil meiner Haut verbrannt habe, wird er sich noch
mehr Sorgen machen. Wir sind heute zwei Jahre und sieben Monate
zusammen. Ich habe ihm eine Karte geschickt. Aber was soll eigentlich diese blöde Zählerei? Wenn ich an Zärtlichkeit, Umarmungen,
Küsse, Sex denke, schmerzt es unsäglich stark in mir. Ich lehne es
ab, will es nicht, weil ich es vor Schmerz nicht ertragen kann. Ich
bräuchte es immer, beständiger, aber das geht nicht! Und wenn doch,
dann würde es irgendwann auch nicht mehr wirken.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal richtig glücklich war. Ich meine nicht, nur gut drauf zu sein. Ich meine das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu wollen, das Leben so innig zu lieben, keine Sorgen und Ängste vor dem Morgen, gefüllt mit tausend
positiven Gefühlen, die Liebe wahrhaftig zu fühlen, zu greifen. Dieses
Gefühl ist unbeschreiblich. Aber es ist weg. Ich weine dem nach.
347
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Das Psychomedikament hilft nicht. Ich soll es noch diesen Monat
probieren und dann absetzen. Ich habe ohne ärztliche Anweisung seit
neun Tagen 100mg/Tag mehr genommen. Aber es macht mich innerlich irgendwie nur taub, gedämpft. Klar, dadurch bin ich ausgeglichener. Aber es fühlt sich so falsch an, so gezwungen. Ich werde das
Medikament ab morgen schrittweise absetzen. Ich weiß nicht, ob das
gut ist, denn ich kann mich nicht mehr erinnern, kann nicht mehr
fühlen, welche Verzweiflung mich vor drei Monaten dazu veranlasst
hatte, das Medikament einzunehmen. Vielleicht wird es schlechter.
Aber ich weiß, dass ich früher glücklicher aber auch depressiver war.
Jetzt habe ich weder das Eine noch das Andere. Nur noch Traurigkeit. Und ich kann sie nicht mehr ertragen.
Ich bin so leer, keine Gefühle für andere Menschen, keine Erinnerungen. Nur Angst vor Kontakt mit ihnen. Ich habe das Gefühl,
noch mehr zu vereinsamen. Ich bin verzweifelt. Denn wonach ich
mich sehne (Liebe, Kontakt, Nähe), lehne ich gleichzeitig rigoros ab.
Warum? Ich fühle mich so sehr in mir selbst gefangen, mir selbst
gegenüber so hilflos. Ich würde gern aus mir entfliehen. Aber woher
weiß ich, dass es draußen besser ist als in mir drin und ob ich dann
auch wirklich besser leben kann?
Sonntag, 02.05.2004 – Gewicht 48kg
Ich habe das »Lamictal« verdoppelt auf 400mg/Tag.
Am Freitag Mittag war ich bereits zu Sascha nach Karlsruhe
gefahren. Vor einer Stunde bin ich wieder daheim gewesen. Es war
ein sehr schönes Wochenende. Eines dieser seltenen Wochenenden,
von denen man weiß, dass sie etwas Besonderes waren. […] Es war
so ausgeglichen, ich war so ausgeglichen, spürte, dass sich meine
Stimmung nicht ins Negative verändern würde. Ich war offener für
Gespräche aller Art (über Persönliches, Politik, Sport, uvm.) und
348
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
für Berührungen. Ich spürte, wie sehr ich mich nach Nähe gesehnt
habe. Umso schwerer ist es jetzt, wieder allein zu sein. Aber es geht
mir gut, weil es ein wundervolles Wochenende war. Ich muss dies
schreiben, weil ich noch vor ein paar Tagen sicher war, dass unsere
Beziehung keine Zukunft hätte und ich alles kaputt machen würde. Diese Gedanken sind auch weiterhin in mir und werden immer
wieder ausbrechen und mich isolieren. Solche Wochenenden wie das
letzte bzw. diese Glücksmomente müsste ich in Schachteln packen
und immer hervorholen können, wenn mir das Leben zu schwer und
zu sinnlos erscheint.
Aber ich zweifle trotzdem weiterhin, ob und wie unsere Beziehung
weitergeht. Es fällt mir schwer, zwischen Einsamkeit und Zweisamkeit ständig zu »switchen«. Vielleicht gewöhne ich mich daran.
Vielleicht zerstöre ich aber auch alles.
Donnerstag, 06.05.2004 – Gewicht 46,7kg
Die FH hat mich ganz schön in Beschlag genommen, aber es ist toll,
gefördert und gefordert zu werden und etwas für sich selbst zu tun.
Es geht mir gut. Ja, glaube mir. Es ist heute der dritte Tag, an dem
ich sagen kann, die innere Traurigkeit und Leere werden von Freude,
Kontaktfreudigkeit, Lebendigkeit, Humor und vielem mehr überdeckt.
Wie lange ist das her? Ich will nicht zu viel jubeln. Der Fall kommt
vielleicht umso tiefer, aber vielleicht ja nicht? Ich habe zwar das
Gefühl, dass ich im Moment nicht ich selbst bin, weil die Traurigkeit
(die mir so vertraut ist und immer bei mir war) in einer Ecke in mir
zusammen gekauert hockt und eine andere Person sich an ihrer statt
so breit gemacht hat in meinem Kopf, aber ich genieße es, trotz des
Gefühls, dass ich mich selbst »verarsche«.
349
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 09.05.2004 – Gewicht 46,6kg
Das war kein gutes Wochenende. Sascha war da und so vieles lief
schief (sein Auto sprang nicht mehr an, wir mussten es verschrotten
lassen). […] Ich war weiterhin gut drauf, aber ich musste von Sascha
körperlich und psychisch heute frühzeitig Abschied nehmen, weil
das Wochenende so enttäuschend war und ich beim Abschied nicht
weinen wollte.
Als ich eben nach Hause kam, wog ich 46,6kg. Als ich gestern ging,
waren es 45,7kg. Es ärgert mich, dass ich übers Wochenende immer
zunehme, nur weil ich bei Saschas Familie essen muss. Ich war so
wütend deswegen, weil das Wochenende so schlecht gelaufen war,
dass ich alles Essbare (aus Kühlschrank, Tiefkühlfach, Schränke) in
Tüten packte und dann die vier Tüten in die Mülltonne warf. Jetzt
fühle ich mich besser und sicher. Vorher hatte ich mich aber noch mal
vollgefressen und es erbrochen.
Da mir alles so sinnlos scheint mit unserer Wochenendbeziehung,
meine Eltern sich einen Scheißdreck um mich kümmern, ich mich
verloren und verlassen fühle und nur auf mich allein gestellt sehe,
ist es mir nicht so wichtig, ob ich »gesund« bleibe. Da kann ich auch
hungern, kotzen, ritzen – mich heimlich davon stehlen. So allein mit
mir ist das Leben nichts für mich wert – außer zur selbst gewählten
Zerstörung.
Ich bin so einsam und es kostet mich so wahnsinnig viel Kraft, es zu
verdrängen und nicht in Weinkrämpfen zusammen zu brechen. Was
soll ich noch schreiben? Ich kenne das Ende nicht, habe keine Ziele.
Hatte ich schon mal bessere Zeiten?
350
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 18.05.2004 – Gewicht 46,7kg
Der Sommer ist da und ich fürchte mich vor ihm so sehr. 26 Grad
heute. Ich bin nicht zur FH aus Angst vor der Frage: »Ist dir denn
nicht warm in den langärmeligen Klamotten?«. Seit Wochen bin
ich innerlich damit beschäftigt, mir für diese Frage eine passende
Antwort zurecht zu legen und zu üben: »Ich trage nie kurzärmelig«.
Auf weitere Fragen wird es keine Antworten von mir geben. Ich will
auf keinen Fall lügen und sagen: »Nein, mir ist auch im Sommer
kalt, weil ich so dünn bin.«. Aber ich werde wohl doch auf igendeine
Weise lügen, und das jedes zweite Semester!
Ich hatte heute regelrecht Angst, aus dem Haus zu gehen in die
Gesellschaft, in die Welt. Ich fühlte mich all dem nicht gewachsen.
Aber ich ging doch und schwebte durch die Massen, durch die Straßen. Meine Augen waren halb blind, meine Beine liefen von allein,
die Wärme spürte mein Körper nicht. Ich fühlte mich so sehr nicht
dazugehörig, so schwebend über allem und es tat gut. Aber warum?
Die Antwort kam in mir: Wenn mir die Welt und das Leben in ihr so
viel Angst machen, werde ich mich doch nicht da mit hinein begeben.
Es wäre mein Untergang. Dann glaube ich lieber, ich sei anders oder
besser und stünde über ihnen, weil ich glaube, mehr als sie zu wissen.
Und ich weiß mehr: Ich weiß um die Sinnlosigkeit einer jeden Existenz. Der Preis dafür ist meine psychische Störung, ohne Ziele oder
Aufgaben oder Freundschaften oder Familie, die die Sinnlosigkeit
sinnvoller machen könnten.
Immer öfter halte ich in meinem Tun inne und stelle mir die ewige
Frage: Was hat das alles (das Leben) für einen Sinn? Die Leere, die
mir nach dem Stellen dieser Frage durch den Körper fährt, überwältigt mich mit Angst, Schock, Tränen. Warum lernen, streiten, ritzen,
weinen, arbeiten, …? Am Ende ist man alt und weint um die Zeit,
die man nicht genutzt hat … um zu lieben, zu lachen, zu shoppen,
sich zu erholen, zu genießen, …! Warum mache ich mir das Leben so
schwer? Morgen schon kann mich ein Auto überfahren, ein Treppensturz töten, Krebs meinen Körper befallen, Terroristen sich neben mir
in die Luft jagen, …! Und wofür dann mein Leben? Wofür das
351
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Leben all der Menschen, von deren Tod ich tagtäglich in den Nachrichten höre und lese?
Das alles ist für mich so ohne Substanz. Manchmal glaube ich,
dass ich nur allein aus diesem Grund verrückt geworden bin: um
die Sinnlosigkeit dieser Welt (eine Tatsache, die kaum ein anderer
Mensch so schwer und logisch mit sich herum schleppen muss) zu
akzeptieren. Denn schon allein dies zu akzeptieren, gelingt keinem
normalen Menschen. Manchmal glaube ich, dass andere Geisteskranke sich teilweise deswegen umbringen, weil ihnen die Last dieser Tatsache zu schwer wird, sie mit dieser Erkenntnis auf so viel Ignoranz
und Intoleranz stoßen. Aber ich kann mich auch irren. Nur: Warum
soll ich weitermachen? Für ein paar Momente des Glücks? Würde
man diese Momente komprimieren, läge das Höchstalter weit unter
dem derzeit Erreichbaren. Diese Frage macht mich so einsam. Niemand kann mir Antwort geben. Niemand kann meine Angst lindern
und die Leere in mir füllen.
Ich habe Mutti vorige Woche Dienstag einen Brief geschrieben. Auf
sechs Seiten schreibe ich Gedanken, die mich schon so lange quälen
und eigentlich nie zu Papier hätten gebracht werden dürfen. Ich
schreibe auch, dass ich den Kontakt zu ihr abbrechen will, weil ich es
leid bin, ständig darauf zu hoffen, dass sie sich meldet; weil ich unsere oberflächlichen Telefonate für Unsinn halte, da sie in den letzten
fünf Jahren so wenig Interesse an meinem Leben gezeigt hatte; weil
sie mich, entgegen ihrer Aussage, nicht mehr verstehen kann; weil sie
unfähig ist, mir ihre Liebe zu zeigen, falls sie mich überhaupt liebt;
weil sie mir das Leben immer schwer gemacht hat und ich meine
Energie lieber zur Bewältigung meines Lebens nutzen will, anstatt es
an ihr zu vergeuden. Ich habe so vieles geschrieben, was endlich mal
raus musste. Es tat so gut. Und weil ich nichts verschönte und meine
Worte bis heute nicht bereue, tat und tut es nochmals tausendfach
besser gut. Ich hatte den Brief geschrieben, weil mir in den letzten
Wochen aufgefallen ist, dass ich immer seltener an sie dachte, selten
hoffte, sie würde sich melden. Ich spürte, wie ich vielleicht endlich
von ihr befreit werde, sie nicht mehr wie ein dunkler Schatten über
352
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
mir hängt. Also nutzte ich diese Chance der Gefühllosigkeit in mir
ihr gegenüber und schrieb es ihr. Ein Kontaktabbruch sollte klar
sein – für beide Seiten. Jetzt ist es wieder schlimmer: Ich warte und
hoffe auf Antwort von ihr. Ich schrieb im Brief, dass es nun an ihr
liegt, ob unsere Beziehung weitergeht. Wenn sie, wie immer, nicht
reagiert, sehe ich es als Antwort, dass der Kontakt abgebrochen ist. Es
ist wirklich das, was ich innigst will und doch fühlt es sich schlecht
an. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben und doch wünsche
ich mir eine Mutter. Ich habe doch nur die eine. Die aber liebe ich
nicht. Es ist eine Zwickmühle. Sie wird mir nie geben können, was
ich mir wünsche, immer gewünscht habe. Denn es ist jetzt zu spät.
Diese Sehnsucht ist ein Fass ohne Boden geworden und oben drauf
sogar mit Deckel. Der Versuch, sie zu stillen, würde schmerzen und
vergebens sein.
Ich habe heute mal meine Narben gezählt von den ganz schmalen bis
zu den ganz breiten, von den kürzesten bis zu den längsten. Es sind
pro Arm über 50 Narben vom Schneiden und etwa 10 Narben von
Verbrennungen. Erschreckend? Das bin ich! Ich habe zwar Angst,
mich mit ihnen in der Öffentlichkeit blicken zu lassen, aber ich liebe
sie auch.
353
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Zeitlos
Heute
im Schatten des Mondes
streife ich umher
in meinem Kopf
zerplatzen die Sterne
verbrennen meinen Körper
Heute
im Schein der Nacht
hinter Fenstern
vor meinen Augen
zerbersten die Nebelschleier
verunstalten meinen Geist
Morgen
wenn Regenbögen weinen
zerreiße ich die Farben
in tausend Splitter
Morgen
wenn Sommerlieder leiden
zerbreche ich die Töne
in tausend Tränen
Denn morgen
wenn die Sonne scheint
trage ich wieder
die Masken der Alltäglichkeit
Mai 2004
354
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 29.05.2004 – Gewicht 46,6kg
Im Moment (wieder nur eine Stimmungsschwankung?) ist Sascha
nicht mehr Teil meines Lebens. Ich verheimliche ihm Ereignisse aus
meinem Leben und lüge sogar. Ich grenze ihn aus. […] Ich isoliere
mich sehr. Ich fühle mich familienlos. Das tut sehr weh. Noch mehr,
wenn ich bei Saschas Familie bin. Damit komme ich im Moment gar
nicht klar. Ich werde nie ein Teil seiner Familie sein können. Seine
Mutter tut so furchtbar viel für ihn, seine Schwester auch. Es bricht
mir jedes Mal das Herz, weil ich dies nie hatte. Ich kam mit einem
Koffer 1999 nach Frankfurt. Bis heute habe ich zum größten Teil alles
allein (ohne Familie) in meinem Leben regeln müssen. Kaum einer
war da, der mir etwas hätte abnehmen können oder mir gar etwas
geschenkt hätte. Dies ist kein Mitleid, denn ich kann und wollte es
nicht ändern. Es schmerzt nur so furchtbar zu sehen, dass es Menschen gibt, die nicht allein sind mit ihren großen und kleinen Problemen und immer jemanden um Rat und Hilfe bitten können, der auch
wirklich berät und hilft – und sogar noch mehr tut.
So vieles aus meinem Alltag erzähle ich Sascha nicht mehr. […] Ich
log, als er fragte, ob ich mein Interview beim »Wiesbadener Kurier«
bereits hinter mir habe. Ich hatte es letzten Donnerstag und nächsten
Mittwoch erscheint der Artikel (Ich will damit eine Selbsthilfegruppe
für Borderliner ins Leben rufen). […] Und schon gar nicht erzähle
ich ihm, wann und warum es mir schlecht geht. […] Ach, es sind so
viele große und kleine Dinge, die ich ihm früher mit Begeisterung
erzählt habe. Jetzt vergesse ich es oder habe einfach keine Lust, es
ihm zu erzählen. Wahrscheinlich sehe ich keinen Grund, warum er
es wissen sollte. Wir sehen uns ja kaum noch. Ich vermisse ihn nicht
im Herzen und freue mich auch nicht besonders, ihn zu sehen. Im Interview sagte ich, er habe mich bereits verlassen. Und so ist es auch.
Hier bin ich allein. Was nützt er mir? Die Treffen am Wochenende
sind doch nur Illusionen einer heilen Welt. Probleme werden nicht
mehr wie früher gemeinsam besprochen und gelöst. Wenn er anwesend ist, ist der Raum für mich trotzdem leer. Er umarmt mich und
ich fühle es nicht. Nur wenn ich ihn küsse, zerreißt es mich. Die lange gemeinsame Zeit wird mir dann ins Gedächtnis zurück gerufen.
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20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Alles, was ich vermisse und mit dem ich abgeschlossen habe, fühle ich
in einem einzigen Kuss. Es schmerzt so furchtbar, dass heiße Tränen
unter meiner Haut meine Seele verbrennen. Aber mein Schutzschild
vor Verletzungen und Enttäuschungen wird von Woche zu Woche
stärker. Es scheint, als würde ich mich von Sascha verabschieden, um
die heran nahende Trennung nicht fühlen zu müssen. Oder verabschiede ich mich langsam vom Leben? Denn nichts ist mir im Moment lieber und verhasster zugleich, als in meinem Zimmer allein zu
sein, Alkohol zu trinken, zu schreiben und das Leben auszusperren.
356
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
schweigen fühlen
schweigen
bedroht den raum
läuft von den wänden
auf schnee
erbaut
brüllen türme
in blühende spiele
mutieren sonnen
zu monstern
spricht die nacht
kriecht in den schlaf
auf flammende gesichter
sticht der grashalm
mit roten armen
um rosen zu finden
in schwarzen regenbögen
kreisen schwerter
über regenfälle
stürzt der himmel
auf blanke haut
streichen die wände
schweigen
Juni 2004
357
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch – 02.06.2004 – Gewicht 46kg
Heute (3. Todestag meiner Oma) erschien der Artikel von bzw. mit
mir im »Wiesbadener Kurier«. Die Resonanz ist groß. Aber im Moment fühle ich nichts. Keine Freude – Angst!
358
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Trotz oder gerade wegen meiner Verzweiflung hatte ich es satt, mich
zu verstecken und wie Tausende andere Menschen stillschweigend
zu leiden und ignoriert zu werden. Also brach ich im Namen dieser
Tausenden von Menschen das Schweigegebot bzw. Redeverbot ganz
öffentlich und betete doch gleichzeitig innigst, dass mein Chef und
meine Kommilitonen nicht in diese Zeitung schauten. Im Grunde
wusste ich selbst nicht, was ich da tat. Ich folgte einfach nur einem
starken inneren Drang.
Mithilfe einer Wiesbadener Tageszeitung (Auflage ca. 60.000) rief ich
– mehr naiv denn mutig – zur Selbsthilfe auf und wollte eine Selbsthilfegruppe für Borderliner gründen (was ich auch tat).
Durch diesen Zeitungsartikel hatten sich damals einige TV-Sender
(u.a. auch RTL, SAT1) bei mir gemeldet. Ich entschied mich fürs Hessen Fernsehen. Es folgte ein 3stündiges Interview vor der Kamera –
es wurde meines Wissens nie ausgestrahlt.
Die Wiesbadener Selbsthilfegruppe für Menschen mit Borderline
existierte bis ins Jahr 2006.
359
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 07.06.2004 – Gewicht 46,5kg
Mir wächst grad alles über den Kopf. Ich habe Angst, das Studium
nicht zu schaffen, weil es so viel und teilweise auch so schwer ist. So
viel Zeit zum Lernen habe ich gar nicht, wie ich eigentlich bräuchte.
Und Sascha fehlt mir sooo. Wir hatten eine schöne Woche und auch
ein sehr schönes Wochenende. So schön war es seit Langem nicht
mehr. Auch weil ich mich so richtig zu ihm hingezogen gefühlt hatte.
Das ist für mich etwas Besonderes und daher auch etwas Wunderbares. Wir hatten auch verhältnismäßig gesehen oft Sex. Und ich fühlte
mich gut davor, dabei und danach. Jetzt will ich, dass er mich in den
Arm nimmt. Ich muss mich sehr zusammenreißen, nicht zu weinen
und hinab zu stürzen.
Es ist so schwer. Jetzt weine ich schon wieder. Sascha sehe ich am
Wochenende vielleicht gar nicht, weil er auf der Goldenen Hochzeit
seiner Großeltern ist. Ich fühle mich so allein. Es ist schrecklich,
innerlich breche ich zusammen. Aber auch wenn ich in Gesellschaft
wäre, würde es mir bzgl. des Studiums schaden. Und weil mir BAföG
bewilligt wurde (524,- € im Monat) fühle ich mich noch mehr unter
Druck gesetzt: Ich sitze unnötig auf Schulden, wenn ich das Studium abbreche. Ich habe so Angst vor dem, was noch kommt. Aber in
sechs Wochen sind ja schon Semesterferien – vorher aber noch sechs
Klausuren.
Freitag, 11.06.2004 – Gewicht 45,8kg
Es ist alles so einseitig im Moment. Ich muss all meine Zeit fürs Studium aufwenden. Das raubt mir so viel Kraft. Ich bin immer kurz vor
einem Heulkrampf, muss mich dann aber zusammen reißen. Denn
wenn ich losheule, ist es nur noch schwerer, wieder Sinn in all dem
zu sehen, was ich tue. Das ist doch kein Leben: nur lernen, in FH
gehen, arbeiten, schlafen. Ich muss mit aller Kraft gegen die Panik in
mir kämpfen, gegen die Angst, bei den Klausuren zu versagen. Ich
weiß nicht, ob das so weitergehen kann.
360
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Weg(ent)scheid
die nacht im kopf
zerschneidet mir die fußsohlen
blut
rahmt mir die augen
schwarz
legt den weg
mir in die hände
krallen
greifen nach
schildern und ampeln
werfen alles auf den weg
der zerbricht
mein augenlicht
in fußabdrücken der nacht
verschlingt
Juni 2004
361
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 04.07.2004 – Gewicht 46,5kg
Es geht mir überraschender Weise gut. Das bedeutet, ich bin mir dem
bewusst, freue mich darüber und genieße es. Mit dem Essen funktioniert es schlecht (Fressattacken und erbrechen, wieder fressen und
erbrechen, bis vier Mal pro Abend). Ich bemühe mich um Besserung.
Morgen beginnen die zwei Klausurwochen. Vor etwa einem Monat
habe ich mit dem Lernen begonnen, an einem Tag mal mehr, am
anderen Tag mal weniger. Ich fühle mich gut, relativ sicher und bin
optimistisch. Es ist wunderbar. Natürlich habe ich auch Angst, aber
dieses Gefühl des Vertrauens und des Glaubens an mich überwiegt
im Moment jegliche Angst. Ich weiß nicht, ob ich gut genug vorbereitet bin. Aber ich will mein Bestes geben. Wie damals zur schriftlichen IHK-Abschlussprüfung versuche ich, Dinge für mich zu tun,
die mir gut tun (Trickfilme schauen, Musik hören, Rückentraining,
Telefonate mit Freunden, Sicherheit durch Disziplin beim Lernen).
Ich habe natürlich Angst vor einem psychischen Tief und achte daher
auf triggernde Dinge in meiner Umgebung und umgehe, ignoriere
oder verharmlose sie. Ich bin überrascht über die Stärke, die Selbstsicherheit, den Optimismus in mir. Es kann sich schnell ändern. Ich
will fest daran glauben, dass ich zwei Wochen lang psychisch stabil
bin. Ich will meine Energie für das verwenden, was ich gewählt habe:
mein Studium. Ich hoffe sehr, in zwei Wochen ebenso positive Worte
in dieses Buch schreiben zu können. Ich wünsche mir, Recht zu
haben mit meinem Glauben an mich selbst!
Mittwoch, 07.07.2004 – Gewicht 46,5kg
Es geht mir im Moment körperlich nicht gut. Ich fühle mich schwach,
müde, ausgebrannt, ohne Konzentration. Den Grund kenne ich: Seit
einer Woche oder länger erbreche ich wieder jeden Abend, manchmal
vier Mal hintereinander. Jedes Mal danach ist mir total schlecht bei
dem Gedanken an Essen. Doch schon kurze Zeit später plündere ich
362
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
wieder den Kühlschrank und die Schränke. Ich habe mich überhaupt
nicht mehr unter Kontrolle! Es ist so anstrengend. Ich fühle mich so
hilflos! Warum kann mich niemand von mir befreien?
In der BWL-Klausur vom Montag habe ich eine 1. Das Fach »Medientechnik« habe ich heute geschafft. Kommen noch vier Klausuren
nächste Woche. Hoffentlich reicht meine Kraft.
Donnerstag, 22.07.2004 – Gewicht 46,4kg
Die Klausuren sind hinter mir. Am 04.10. ist mein erster Tag im
2. Semester. Bis dahin habe ich frei, arbeite lediglich 8 Stunden pro
Woche in Frankfurt. Die Selbsthilfegruppe ist so gut wie gegründet.
Das Gesundheitsamt stellt uns einen Raum, den ich heute besichtigt
habe, zur Verfügung. Der Vertrag (plus Schlüsselübergabe) wird
demnächst unterschrieben.
Sascha wohnt die nächsten Wochen bei mir, weil er von Wiesbaden
aus besser zu seiner Arbeitsstelle kommt.
Essen und Nichtessen klappt nicht gut. Habe eben wieder zwei Brezel
und zwei Schokoriegel erbrochen, die ich von vorn herein mit dem
Wissen gegessen hatte, sie danach zu erbrechen. Es ist seit Wochen
ein großes Problem.
Freitag, 30.07.2004 – Gewicht 46,4kg
(9 Uhr) Ich fühle mich seltsam. Das hessische Fernsehen kommt heute um 11 Uhr zu mir nach Hause, bzw. zwei Reporter. Sie äußerten
damals Interesse, als mein Zeitungsartikel erschienen war. Im Moment habe ich vor ihnen weniger Angst als vor den Klausuren, aber
363
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
das wird wohl noch kommen. Eine Freundin, die ich im Studium
kennen gelernt habe, wird mir beistehen. Ich bin unsicher, habe
Angst davor, wie es ablaufen wird, ob ich Antworten auf die Fragen
finde ohne zu persönlich oder zu grenzüberschreitend zu sein. Und
ich habe natürlich Angst davor, nicht ernst genommen zu werden, in
eine Schublade der »psychisch Gestörten« gesteckt zu werden. Aber
mir wurde zugesagt, dass ich es auch ablehnen kann, dass dieser Beitrag produziert wird. Ich warte ab und versuche bis dahin, Vertrauen
und Selbstsicherheit in mir aufzubauen.
(12:30 Uhr) Ich werde gerade gefilmt und es überfordert mich (ich
soll so tun, als würde ich in mein Tagebuch schreiben – also schreibe
ich). Ich könnte heulen, aber ich reiße mich zusammen. Was soll ich
auch anderes tun? Mich wegzaubern? Ich wäre gern weg.
Donnerstag, 05.08.2004 – Gewicht 45,8kg
Ich klettere so langsam aus meinem schwarzen Tief heraus, das das
Interview vom Fernsehen in mir verursacht hat. Mir scheint momentan meine Lebensenergie verloren gegangen zu sein. Ich fühle mich
klein, leer, unnütz, unmotiviert. Die Arbeit bereitet mir Versagensängste. Das Essen fällt schwer. Jeder Schluck oder Bissen kostet
Überwindung. Und schon recht kleine Mengen erbreche ich. Mich
belastet etwas sehr. Aber ich weiß nicht was. Vielleicht der wirklich
geschehene Kontaktabbruch zu meiner Mutter und die Schwierigkeiten zur Kontaktierung meines Bruders. Ich fühle mich schwach,
überlebensunfähig, stark verängstigt vor dieser Welt und der Grausamkeiten, dem schnellen Tod in ihr.
Gestern war ich nach Jahren mal wieder beim Orthopäden. Rücken,
Knie und Fuß wurden geröntgt. Rücken: Wirbel ist zu zwei Drittel
verschoben. Knie: Patella ist etwas nach außen verschoben. Fuß:
Hallux Valgus entwickelt sich, aber langsam. Bei Beschwerden soll
ich mich wieder melden.
364
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ich lebe so vor mich hin. Wir haben Urlaubswetter (30 Grad) und ich
genieße, dass ich ohne innere Probleme in meinen neuen ärmellosen
Shirts herumlaufe. Ich arbeite zwei Mal pro Woche und es ist mir
zu viel. Ich fühle mich auf Arbeit sehr unwohl, fühle mich aber zu
schwach, um mir eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Mit Sascha läuft
es gut, außer dass wir seit drei Wochen keinen Sex mehr hatten, weil
ich mal wieder ein großes Problem mit sexuellen Berührungen habe.
Sonntag, 22.08.2004 – Gewicht 46,5kg
Ich bin verwirrt, nein, eher leer. Ich hatte, habe noch immer, Streit
mit Sascha. Es geht um …, mmmh, Charakterfehler von mir, Folgen
meines Egoismus. Er ist eben mal um den Block gelaufen, nun wieder
da. Ich hatte, habe noch immer, den starken Drang mich zu schneiden. Aber das wäre ja wieder egoistisch gewesen. Also riss ich mich
zusammen. […] Ich will nicht streiten. Ich weiß nicht, ob er Recht
hat, weiß nicht, ob ich mir von ihm sagen lassen will, wie scheiße ich
doch bin. Ich weiß, dass ich schlecht bin, meine Mitmenschen mitunter ohne schlechtes Gewissen verletze oder ihre Sorgen nicht bemerke.
Aber das zu richten, zu strafen, obliegt allein nur mir.
Samstag, 04.09.2004 – Gewicht 46,6kg
Ich habe mich wieder sehr an Sascha gewöhnt. Wir sind zwar nur
nachts zusammen, aber ich habe mich daran gewöhnt und dies nicht
bemerkt, nicht sofort. Er arbeitet viel. Ich bin viel allein oder mit
Freundinnen zusammen. […] Ich habe nichts von ihm und er hat
nichts von mir. Das spiegelt sich auch darin, dass wir seit über vier
oder fünf Wochen keinen Sex hatten. Mich stört das ja nicht. Ich
muss mich in den wenigen Minuten, die wir für uns haben, zusammenreißen und auf ihn Rücksicht nehmen.
365
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Diese Urkunde erhielt ich im Rahmen der IHKBesten-Ehrung im September 2004. Im Tagebuch
habe ich dieses Ereignis nicht festgehalten und ich
kann mich auch kaum noch daran erinnern.
366
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 10.10.2004 – Gewicht 46,2kg
Morgen ist mein erster Tag in der FH. Das 2. Semester scheint mir
sehr technik-lastig zu sein. Ich hoffe, die Kraft zu haben, wieder gute
Leistungen zu erbringen.
Ich bin wieder in Therapie, besser gesagt in einer ambulanten Gruppentherapie. Das Ganze nennt sich »Fertigkeitentraining«. Daher
heißt die Gruppe »Skillsgruppe«. Sie ist jeden Montag Nachmittag in
der Tagesklinik der Institutsambulanz ganz in der Nähe der FH. Ich
war erst einmal dort und kann daher noch nichts weiter dazu sagen.
Ich war auch bereits zwei Mal bei einer neuen Therapeutin in meiner
Nähe. Ich habe das Gefühl, dass sie schon recht gut ist, aber sie fordert auch viel von mir. Sie hat mir erklärt – aufgrund dessen, was ich
von mir schon erzählt habe – unter welchen Voraussetzungen eine
Therapie sinnvoll bzw. sinnlos ist: Ich soll mich entscheiden, ob ich
wirklich an mir arbeiten will und ein Leben ohne Borderline für mich
vorstellbar ist. Ich soll einen Funken in mir spüren, der das will, um
mein wahres Ich zu finden, das sich hinter meiner Störung verbirgt.
Neun Tage ist die letzte Sitzung nun schon her. Ich konnte mich
bisher noch nicht entscheiden.
Ich habe einen Brief von meiner Mutter erhalten, ja wirklich. Fünf
Monate hat sie gebraucht für eine Antwort auf meinen wütenden
Brief an sie. Zweieinhalb Seiten lang ist ihr Brief. Auf den ersten
zwei Seiten schreibt sie über die harten Zeiten damals (schlechter
Vater, Schulden, Aufopferung ihrerseits für uns). Das macht mich
traurig und ich empfinde Mitleid für sie. Sie hätte schon vor langer
Zeit eine Therapie gebraucht, um ihr eigenes Leben aufzuarbeiten.
Sie muss noch so viel Schmerz in sich haben. Am aussagekräftigsten
ist aber der letzte Satz (obwohl ich nicht glauben kann, dass sie ihn
wirklich ernst meint): »Ich habe keine Tochter mehr und ich will nie
wieder etwas mit dir zu tun haben.« Den Brief hat sie nicht unterschrieben. Mir geht dieser Satz aber nicht nah.
367
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dies war ein Projekt an der FH. Wir sollten ein Cover für den Stern
gestalten. Es war kein Thema vorgegeben. Ich ließ einfließen, was
mir auf dem Herzen lag und arbeitete mehrere Tage daran. Ich erhielt eine 2 minus dafür.
368
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Bei jedem weiteren Projekt musste ich immer mehr feststellen, dass
die Inhalte und Botschaften meiner Umsetzungen niemanden interessierten. Nicht der Inhalt, sondern nur die Form wurde beachtet
und bewertet. Am schlimmsten waren Projekte, die auf mich inhaltlich völlig sinnlos oder oberflächlich wirkten, wie etwa die Gestaltung eines Etiketts für eine Weinflasche. Bei solchen Aufgabenstellungen erstarb meine Kreativität urplötzlich und ich war frustriert
und gelangweilt zugleich, weil ich mich so etwas Banalem intensiv
hingegen musste, wenn ich das Studium ernst nehmen wollte.
Der Lernstoff war sehr viel – für jedes Fach 300 bis 500 Buch- oder
Manuskript-Seiten pro Semester; Seiten, die es großenteils nur
auswendig zu lernen galt. Raum für eigene Gedanken während den
Vorlesungen blieb kaum.
Meinen Kommilitonen – von denen die Meisten finanzielle Unterstützung von ihren Eltern erhielten, während ich nebenher in
Frankfurt arbeiten musste – ging es vorrangig nur um Karriere und
Parties.
Das alles war irgendwie nicht meine Welt.
369
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 23.10.2004 – Gewicht 45,5kg
Ich bin allein und komme überraschend gut damit zurecht. […] Ich
merke jedoch, wie ich auf dieses übermächtige Gefühl der Einsamkeit
warte und ich mich endlich wieder selbst verletzen kann, was mir
irgendwie so sehr fehlt. Doch kein Anzeichen eines Absturzes spüre
ich in mir. Alles ist so ruhig, so still in mir. Nichts schreit, das raus
will. Und andere Gefühle? Mir scheint, als fühlte ich zur Zeit nichts.
Sascha fehlt mir überhaupt nicht, als hätte ich gar keinen Freund.
Wir haben heute unseren Monatstag. Doch ich hatte ihn vergessen –
er nicht. Es wäre ein Grund gewesen, ihn in Karlsruhe zu besuchen.
Aber ich spüre nicht im geringsten den Drang, ihn sehen zu wollen.
Wahrscheinlich weil die Abschiede immer so schwer für mich sind.
Es kommt mir so vor, als hätte ich meine Gefühle gezwungen, sich
vor mir zu verstecken. Und es ist auf verwirrende Weise ok. Ja, mein
derzeitiger Zustand verwirrt mich. Ich scheine betäubt, nicht echt,
ein Körper ohne Inhalt.
Sonntag, 14.11.2004 – Gewicht 47kg
Vor einigen Wochen hatte ich Sascha mal ein Buch mit Titel »Partnerbeziehung als Brutstätte für Borderline« geliehen. Diese Woche
hatte er es gelesen und mit mir über eine Stunde darüber gesprochen.
Dieses Buch empfiehlt allen Menschen, sich von Borderlinern fern zu
halten. Die Gefahr sei zu groß, dass der Partner ebenfalls psychische
Leiden davon tragen könnte. Eine Zukunft mit einem Borderliner
sei so gut wie nicht vorstellbar. Sascha meint, es war teilweise ein
Schock für ihn, dieses Buch zu lesen, weil ihm so vieles bewusst
geworden sei. Vor allem, dass er mir nicht helfen kann, dass wir zwei
für immer Kommunikationsprobleme haben würden. Oh, es war
noch so viel mehr, über was wir geredet hatten. Wir sprachen ruhig
über schwere Themen wie Trennung, Zukunft, Co-Abhängigkeit, die
ersten Monate unserer Beziehung. Und er sagte mir, er sei froh, in
Karlsruhe zu wohnen und dort sein eigenes Leben leben zu können.
Sozusagen ein Leben ohne mich, das ihn all die Sorgen und Ängste
370
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
um mich auch mal vergessen lässt. Harte Worte. Er sagte viele Dinge, die mich verletzten, aber ich wusste sie alle schon. Doch er wollte
ja nie auf mich hören. Nun hat er gelesen, dass ich wirklich eine Gefahr, ein Risiko für alle Menschen bin, die mich mögen (wollen). Aber
er hat den Gedanken an Trennung bald verworfen, denn die Fernbeziehung sei das Beste, was uns hatte passieren können. Freiraum ist
wichtig für ihn und für mich. Er meint, seine Kraft hätte nicht mehr
lange gereicht, hätten wir weiterhin in der selben Stadt gelebt. Dann
fragte ich, wie es denn sein wird, wenn wir auch noch nach dem
Studium zusammen sind. Auch er sieht darin und in vielen anderen
besprochenen Dingen Probleme. Doch weder er noch ich sehen Gründe, uns jetzt zu trennen, obschon wir beide das Gefühl äußerten, dass
dieses Gespräch etwas verursachen könnte, was wir jetzt noch nicht
sehen können. Und jetzt bin ich wieder allein daheim, verwirrt und
unsicher. Ich nehme die Menschen, denen ich den Eindruck vermittle, Hilfe zu brauchen, aus. Ich lauge sie aus und werfe sie weg, einen
nach dem anderen. So fühle ich mich. Ich locke Menschen an und
nach mir sind sie »gezeichnet«. Aber ich liebe ihn! So wie ich Liebe
definiere.
Donnerstag, 16.12.2004 – Gewicht 47,3kg
Es geht mir seit ca. zwei Wochen recht gut. Habe auch viel für die FH
zu tun und daher kaum Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen.
Montag Morgen habe ich jetzt immer Einzeltherapie, am Nachmittag
Gruppentherapie und danach noch abends meine Selbsthilfegruppe.
Wahrscheinlich trägt dies auch zu meinem Wohlbefinden bei, das
noch immer anhält, trotz der Dinge, die ich jetzt schreibe:
Gestern rief mich mein Bruder an. Er liegt im Krankenhaus in Passau. Er hat eine arterielle Verstopfung im Daumen, der an der Spitze
vielleicht bereits abgestorben ist (Amputation droht!). Morgen muss
er eine Angioskopie über sich ergehen lassen und dann wissen wir
371
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
hoffentlich mehr. Er erzählte mir auch, dass Opa gestorben ist. Heute
erfragte ich bei einer Cousine, die noch in Naumburg wohnt, Näheres. Opa starb am 04.12. um 07:15 Uhr an Lungenentzündung.
Beerdigung ist morgen.
Mein Bruder erzählte mir auch, dass unsere Mutter Brustkrebs hat,
im Januar operiert wird und dann Chemo und Bestrahlung bekommt.
Das hat sie mir eben am Telefon auch bestätigt. Sie rief mich nämlich
vor ca. zwei Stunden an (wir telefonierten bis eben), weil sie so viel
Angst hat um Bastian. Und sie meinte, ihr erster Freund nach der
Scheidung hätte mich zwei Jahre lang schwer sexuell missbraucht.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Freitag, 31.12.2004 – Gewicht 48,2kg
Irgendwie geht es mir nicht so gut. Sascha sitzt seit drei Stunden am
Laptop und spielt (mit Kopfhörern). Ich habe abgewaschen, abgetrocknet, gebügelt, ein wenig aufgeräumt und fühlte mich unglaublich traurig. Die Tränen standen in meinen Augen und rollten ab
und zu ganz heimlich. Ich wurde unruhig, kein anderes Gefühl außer
Trauer konnte ich spüren und der Drang zum Selbstverletzen stieg
und stieg. Ich rauchte am Fenster, wilde ungeordnete Gedanken, was
Sascha wohl denken würde, wenn ich es jetzt täte, rasten durch meinen Kopf. Doch ich konnte irgendwie nicht mehr, warf alle Bedenken
weg und tat es. Er merkte es nicht, hatte ich auch nicht erwartet.
Und es ist gut so – oder doch nicht? Er zweifelt am Bestehen unserer
Beziehung, erzählte er mir am Weihnachtswochenende. Die Fernbeziehung sei nicht, was er sich von einer Beziehung wünscht. Wir haben seitdem nicht mehr darüber geredet. Vor drei Stunden sagte ich
ihm, dass wir noch einmal darüber reden müssen. Doch während ich
duschte, begann er mit dem Computerspielen. Seitdem haben wir kein
Wort mehr gewechselt. Er ist abwesender geworden, eher rücksichtslos und teilweise ignorierend. […] Eine Freundin meint, es könnte
daran liegen, dass ich ihm zu selten meine Gefühle für ihn mitteile.
372
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Es ist irgendwie sehr verwirrend für mich, denn unter der Woche
fehlt er mir so gut wie nie. Ich freue mich auch kaum auf unsere
gemeinsamen Wochenenden, obwohl ich ihn da unheimlich lieb habe
und die Zeit genieße. Jetzt aber will ich eigentlich nur allein sein.
Seine Gegenwart stört mich manchmal. Und vom Sex muss ich ja gar
nicht erst anfangen. Ich empfinde nie eine Spur von Verlangen nach
ihm im Gegensatz zu ihm. Er muss mich oft »überreden«, bis ich es
zulasse. Nach meinem Orgasmus fühle ich mich verpflichtet, auch
ihn zu befriedigen. Manchmal will ich es und manchmal muss ich
mich auch zwingen und überwinden bzw. es »ertragen«. In den letzten sieben Tagen, die ich mit ihm zusammen war, hatten wir einmal
Sex. Und während dessen stellte ich mir vor, wie Muttis damaliger
Exfreund mich als Kind missbraucht. Diese Vorstellung erregt mich
immens. Und dafür hasse ich mich, ekle ich mich vor mir selbst,
verletze ich zur Strafe meinen Körper. Wenn ich allein bin mit dieser
krankhaften Vorstellung, erregt es mich sehr, so dass ich dem Drang,
mich selbst zu befriedigen, nicht widerstehen kann. Danach verletze
ich mich selbst, weil ich mich deswegen so abstoßend und eklig finde.
Vielleicht ist es nur eine Phase.
Mit meiner Mutter habe ich nicht mehr telefoniert. Bastian wurde am
23.12. aus dem Krankenhaus entlassen (mit beiden Daumen). Heilig
Abend hatten wir telefoniert. Ansonsten stecke ich mal wieder total
in einer bulimischen Phase. In vier Wochen beginnen die Klausuren.
Ich kann mich absolut nicht konzentrieren und habe auch noch nichts
gelernt.
Ich hatte vorhin kurz ein ungutes Gefühl bzgl. des nächsten Jahres,
ein recht intensives Gefühl sogar. So stark hatte ich das bisher noch
nie. Aber mir ist klar, dass es nicht unbedingt etwas bedeuten muss.
Ich muss mich jetzt noch etwas ausruhen für die bevorstehende Silvesternacht, die wir mit Freunden feiern.
PS: In Südasien hat nach gestrigen Schätzungen am Sonntag eine
Monsterflutwelle – ausgelöst durch ein Erdbeben der Stärke 8,9 –
120.000 Menschen in sieben betroffenen Ländern (va. Thailand,
Malaysia, Indonesien, Indien) getötet. Eine unfassbare Katastrophe!
373
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
gejagt
im zorn
im streit
ein jedes wort
fort
und zu viel
erlogene bilder
ohne sinn
doch immer wieder
leise und klein
suchen sie im grau
nach zeit und raum
zu weit
zu laut
wird wahr, was war
im traum
Dezember 2004
374
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 30.01.2005 – Gewicht 48kg
Morgen beginnen die Klausuren. Ich fühle mich nicht sehr gut vorbereitet. Vor zwei Wochen hatte ich ein schweres Tief, das ganz schön
an meinen Kräften gezehrt hatte. Ich wollte nicht mehr studieren,
das Studium abbrechen. Es schien mir unnütz. Diese ein bis zwei
Wochen, schwebend in einer luftleeren Zukunft, waren furchtbar.
Hinzu kam noch das ständige Getrenntsein von Sascha, was mich
fast verrückt gemacht hatte. In der Zeit lernte ich nichts für die FH.
Und jetzt will ich es trotzdem versuchen. Wenn es klappt, habe ich
die Chance, nochmal über meine Ziele in Ruhe nachzudenken. Wenn
ich die Klausuren nicht schaffe, was ich stark annehme, steht mein
Leben wieder Kopf. Ich will nur noch flüchten. Aber wohin? Ich habe
Angst!
Donnerstag, 03.02.2005 – Gewicht 47,7kg
Heute schreibe ich die dritte Klausur, morgen die vierte und fünfte.
Die ersten zwei am Montag und Mittwoch sind schlecht gelaufen.
Ich habe alles gelernt, was möglich war, konnte die Fragen aber kaum
beantworten, weil ich das Gelernte einfach nicht anwenden konnte. Und die Konzentration verließ und verlässt mich so oft! Meine
Gedanken fliegen weg und wenn ich die Fragestellung durchlese,
habe ich, wenn ich am Ende angelangt bin, den Anfang schon wieder
vergessen.
Ich weiß gar nicht, was das alles noch soll. Für wen mache ich das?
Für was? Habe mich eben für mein Versagen mit der Klinge bestraft.
Ist auch schon die Strafe für heute und morgen mit drin. Ich bin
ziemlich weit unten mit meinem Selbstwertgefühl. Es wird wieder
alles so sinnlos.
375
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 07.02.2005 – Gewicht 46kg
Die ersten vier Klausuren habe ich hinter mir. Bis auf die letzte sind
alle sehr schlecht gelaufen. Kann nur noch hoffen. Diese Woche sind
die nächsten vier Klausuren dran. Vor diesen habe ich nicht so viel
Angst, obwohl ich kaum für sie gelernt habe. Es scheint, als solle es
einfach nicht sein. Wenn ich eine Klausur nicht geschafft haben sollte
(was 100%ig der Fall sein wird), dann muss ich mir überlegen, ob
ich noch weiter machen will. Ich kann Versagen schlecht vertragen.
Und es demotiviert mich, dass ich im Studium wohl nie die Beste
sein kann, weil ich in einigen Fächern wirklich schlecht mitkomme
bzw. den Stoff langsamer verstehe als viele andere. Dann lasse ich die
Woche mal auf mich zukommen. Noch geht es mir gut. Doch vorige
Woche hatte ich mich wegen meines Versagens zwei Mal selbst verletzt. Es ging mir wirklich sehr schlecht.
Dienstag, 08.02.2005 – Gewicht 46,5kg
Ich habe so große Angst davor, wieder alles zu verlieren. Wenn ich in
dieser Welt nicht mehr funktionieren kann, verliere ich alles. Denn
wenn ich in die Borderline-Störung abstürze, gibt es weiter nichts
mehr; als hätte ich nie gelebt und auch keine Zukunft. Ich werde
nicht mehr erfahren, dass das Leben vielleicht auch schöner und es
wieder besser werden kann.
Ich will nicht schlafen, als ginge mir im Schlaf zu viel Zeit verloren.
Dieses Jahr fühlt sich anders an: nicht neu, irgendwie zeitlos, ohne
Ende, nicht angefangen, sondern fortgeführt.
376
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Freitag, 11.02.2005 – Gewicht 47,2kg
Die Klausuren sind schlecht gelaufen. Morgen bzw. heute ist die letzte Klausur. Ich schreibe sie nicht mit – konnte mich nicht aufs Lernen
konzentrieren. Es hat keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich werde ich
es bereuen, aber ich kann es nicht mehr ändern. Ich weiß nicht mehr,
was ich will. Alles ist schwarz. Und ich fühle mich so eingesperrt.
Jeden Abend, wenn ich im Bett liege, sehe ich mich in dem Kinderzimmer der Wohnung sitzen, wo der Mann gelebt hat, der mich sexuell missbraucht haben soll. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen,
dass es stimmt. Muss ja auch nicht. Aber ich komme in Gedanken
aus dem Zimmer nicht raus, sehe den Rest der Wohnung nicht! Da,
wo eigentlich die Zimmertür sein müsste, ist alles schwarz. Ich erinnere mich nur noch an ein anderes Zimmer (oder eine Kammer?), das
ich als beängstigend empfunden habe, weil es darin stockfinster war.
Darin »sehe« ich mich – und meinen Bruder in einem Kinderbettchen
liegend – eingesperrt. Und ich habe panische Angst. In dem Kinderzimmer schlief ich mit dem Stiefsohn des Mannes. Er war doppelt so
alt wie ich, also 14. Und er war geistig behindert. Wir schliefen beide
je in einem Doppelstockbett unten Kopf an Kopf. Ich weiß noch, dass
ich irgendwann nur noch oben schlafen wollte. Ich erzählte immer die
Geschichte, dass ich mich oben sicherer gefühlt hatte. Aber sicherer
vor was? Und stimmt diese Geschichte überhaupt? An den Sohn
und den Mann kann ich mich nicht erinnern, ihre Gesichter kann ich
nicht sehen. Eine Erinnerung habe ich noch: Der Sohn wollte mich
nackt sehen und ich sehe mich, wie ich nackt vor seinem Bett stehe.
Das wars. Keine weitere Erinnerung für einen ganzen Zeitraum von
zwei Jahren. Hat das was zu bedeuten? Ich komme nicht aus diesem
Zimmer raus. Ich ersticke bald daran. Ich will da fort! Ist alles nur
Einbildung?
Warum habe ich als etwa 12jährige (früher oder später) immer von
Vergewaltigung geträumt und mich dabei selbst befriedigt? Ich
wünschte mir damals, ich wäre wirklich vergewaltigt worden, um einen Grund zu haben für meine psychischen Probleme. Oder ist diese
Erinnerung falsch? Wusste ich damals noch von dem Missbrauch
377
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
(falls er stattgefunden haben sollte), doch dies ist aus den Erinnerungen gelöscht und durch etwas Neues ersetzt worden? Meine Erinnerungen betrügen mich auch heute noch ab und zu. Ich will es mit
meiner Therapeutin besprechen. Termin ist aber erst am 23.02.
Da fällt mir noch ein: Ich habe in Erinnerung, dass Mutter nach
der Trennung von diesem Mann immer Angst hatte, wenn sie ihm
auf der Straße begegnet ist, und Umwege dann gelaufen ist. Ich war
erbost darüber, dass sie das bei unserem letzten Gespräch abgestritten
hat. Sie meinte, ich wollte diese Umwege laufen. Vielleicht war ich es
ja wirklich, die die Angst hatte, aber in der Erinnerung auf die Mutter schob?! Warum? Kann das sein? Lügt meine Mutter?
Wie geht’s nur weiter? Ich fühle mich so sehr von der Zeit gedrängt,
sie schiebt mich vorwärts, ich kann es nicht ändern. Das macht mich
innerlich fast wahnsinnig.
Sonntag, 20.02.2005 – Gewicht 47,5kg
Ich bin nicht mehr 18! Ich werde alt! Wie furchteinflößend diese
Tatsache für mich ist. Ich fühle mich so sehr zum Altwerden gezwungen, zum Erwachsensein. Was bin ich denn schon wert, wenn ich
erwachsen bin? Weniger als ich es als Jugendliche war, denn ich habe
nichts dazu gelernt! Das Leben zu akzeptieren, mich hier in dieser
Welt zuhause zu fühlen, ich zu sein unter all den anderen Menschen,
fällt mir immer schwerer. Ich fühle mich uralt, als hätte ich nur noch
wenige Jahre zu leben; Jahre, die ich wie in einem Gefängnis absitze,
ungenutzt genauso sinnlos, als wenn ich sie nutzen würde. Was
suche ich? Warum reicht mir nicht, was fast allen Menschen reicht?
Wo will ich hin? Wie werde ich enden?
378
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 23.02.2005 – Gewicht 47,2kg
Ich komme nicht aus meinem Tief raus seit fast drei Wochen. Mein
Psychiater wollte mir am Montag schon Antidepressiva verschreiben.
Doch ich möchte noch einen Monat warten. Eigentlich müsste meine
Stimmung bald wieder »umschwingen«.
Mit Sascha läuft es schlecht. Seit fünf Tagen ist er wieder hier und
gestern hatten wir unseren zweiten Streit. Ich habe das Gefühl, die
Fernbeziehung hat sich in der Hinsicht negativ ausgewirkt, dass
wir nicht mehr so viel Zeit miteinander haben und uns deswegen
auseinander leben. Ich liebe meine Freiheit und will sie für ihn nicht
einschränken. Ich habe die Eigenschaften vergessen, die mich immer
an ihm störten und mit denen ich mich nun wieder auseinander setzen muss. Und natürlich hat er auch neue Verhaltensweisen, an die
ich mich erst gewöhnen bzw. diese akzeptieren lernen muss. Er widerum ist wieder meinen Verhaltensweisen ausgesetzt, wegen denen
er nach Karlsruhe geflüchtet ist: Gereiztheit, Depression, Erbrechen,
Selbstverletzung. Er kann es heute schwerer verstehen als vor unserer räumlichen Trennung. Ich habe ein sehr schlechtes Gefühl. Aber
vielleicht verliere ich mich gerade nur wieder im Augenblick und
projiziere diesen fälschlicher Weise auf die Zukunft.
Dienstag, 01.03.2005 – Gewicht 47,6kg
Ich habe eine Freundin heute in die Psychiatrie begleitet. Sie wird
dort einige Wochen bleiben müssen. […] Gestern Abend gab es
wieder Streit mit Sascha. […] Kurz bevor ich heute aus dem Haus
bin, um mich mit der Freundin zu treffen, habe ich mich noch geritzt;
und es wollte einfach nicht aufhören zu bluten. Ich stehe im Moment
ständig unter Strom und denke oft an Selbstverletzung. Habe dann
drei Pflaster übereinander drauf geklebt und bin zum Bus gehetzt.
Auf der Toilette in der Klinik habe ich dann Ärger, Ekel, Wut und
Frust empfunden, als ich merkte, dass mein Stuhlgang nur aus Blut
379
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
bestand. Also bin ich später noch zum Arzt. Und? Noch eine Entzündung: der Dickdarm. Mit entzündeter Speiseröhre und entzündetem Magen habe ich doch bald alles, oder? Als Ursache nennt der
Arzt meine regelmäßige Einnahme von zu hoch dosierten Abführmitteln. Ich lass das mal einfach so stehen. Beim Arzt hatte ich dann
noch meine wieder stark blutende Wunde am Unterarm kleben und
verbinden lassen.
Warum verrät mich mein Körper so? Warum hintergeht er mich? Ich
hasse ihn dafür. Er ist zu schwach für mich. Andererseits kann er mir
das Ableben auf diese Weise abnehmen, ich muss kaum eigene Hand
anlegen, wenn ich einfach so weitermache wie bisher. Er zerbricht
dann irgendwann einfach, ich falle endlich raus aus ihm und … (ich
weiß nicht, was dann geschieht).
380
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 05.03.2005
Manchmal suche ich mich in meinen alten Tagebüchern. So wie jetzt.
Doch je mehr Zeit vergeht, um so fremder scheint mir die Person,
die die Bücher geschrieben hat. Warum schreibe ich sie überhaupt?
Ich finde mich nicht in ihnen wieder, also habe ich die falschen Dinge
hinein geschrieben!? Was von meinem jetzigen Leben werde ich in
ein paar Jahren in diesem Büchlein suchen und wieder nicht finden,
weil ich es nicht festgehalten habe? Wie sehr werde ich weiterhin an
meinem Leben vorbei leben?
381
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 16.03.2005 – Gewicht 48kg
Ich habe die Therapiestunde heute nach 25 schweigsamen Minuten
abgebrochen. Die vier Tage zu Besuch bei meiner Familie (Mutti,
Bastian und Hera) haben endlose chaotische Leere in mir hinterlassen, so paradox diese Zusammenstellung auch scheint. Ich war dort
zerrissen zwischen Wohlfühlenwollen und Fluchtgedanken. Es war
ein einziger Kampf. Ich gewann ihn, indem ich mich innerlich tot
stellte. Ich bin bis jetzt noch nicht wieder erwacht.
Meine Mutter kennt mich besser, als ich es je befürchtet habe. Aber
woher? … Ihre Worte: »Du kamst zur Welt und ich sah in deinen
Augen, dies ist nicht deine Welt. Du wirst es schwer haben, in ihr
zurecht zu kommen.«
Sonntag, 27.03.2005 – Gewicht 48kg
Ich fühle mich fernab. Die FH beginnt wieder kommenden Mittwoch
und ich habe Angst. Der Vorlesungsplan ist so voll bzw. so unglücklich strukturiert, dass keine freie Zeit bleibt für die Skillsgruppe und
für die Einzeltherapie. Es bleibt ebenso keine Zeit zum arbeiten in
Frankfurt, dabei brauche ich das Geld. Ich fliege in die Leere und will
fallen ins Nichts.
Ich habe noch keinen neuen Termin beim Psychiater, weil der
Vorlesungsplan noch nicht feststand, als ich das letzte Mal bei ihm
war. Ich will im Moment auch keinen Termin mehr haben. Meine
Psychotherapeutin ist für zwei Wochen im Urlaub. Die letzte Stunde
ist auch nicht besser verlaufen. Auch bei ihr soll ich mich telefonisch
melden zur Vereinbarung eines neuen Termins. Doch will ich da
wieder hin? Ich packe die Therapie nicht. Ich flüchte vor mir selbst,
will mich nicht meinen inneren Problemen stellen. So fehlt der Therapie doch jeglicher Sinn? Und die Skillsgruppe? Ihren Nutzen habe
ich noch nicht erkannt.
382
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Folgende Stichpunkte notierte meine Mutter für mich, als ich sie vor
ca. zwei Wochen darum gebeten hatte, ihre Erinnerungen an die Zeit
mit ihrem damaligen Freund aufzuschreiben:
•
•
•
•
•
•
•
Melanies Kleid war mit Blut befleckt
hat gesagt, Melanie soll tun, was er will
sein Sohn hat geweint, als er ins Zimmer ging
Melanie war ruhig, Bastian hat geweint
Kontaktverbot zur Familie
hat immer die Unterwäsche der Kinder gekocht und gewaschen
Erbrechen, Magenprobleme bei Melanie kurz nach Kennenlernen
Ich bin wieder kurz vorm Abdrehen. Die Auseinandersetzung mit
diesem Thema fördert das Chaos in mir. Seit der Rückkehr von meiner Familie ist alles anders. Das Leben scheint mir aus meinen Fingern zu entgleiten. Ich sterbe in mir. Ich finde mich nicht mehr. Alles
ist zu laut und zu viel. Ich fühle nur noch so wenig von draußen und
doch so viel undefinierbaren Schmerz von innen.
Mutti und ich haben versucht, über den Grundriss der Wohnung
dieses Mannes Erinnerungen in mir zu wecken. Sie zeichnete Folgendes:
383
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Ich aber sehe die Küche gegenüber vom Kinderzimmer, das Wohnzimmer an der Stelle der Küche und ein dunkles Zimmer an der
Stelle des Wohnzimmers, in dem in meiner Erinnerung auch das
Kinderbett von Bastian steht. Ein Zimmer, vor dem ich Angst hatte
(weil es so dunkel war?), wo irgendjemand (ich?) zur Strafe eingesperrt wurde. Doch Mutti kann sich an das Zimmer, wenn es überhaupt real ist, nicht erinnern. Sie meinte nur, im Kinderzimmer gab
es einen großen Schornsteinschacht, der als Abstellkammer diente.
An diesen kann ich mich wiederum nicht erinnern. Somit habe ich
weiterhin das Gefühl, keinen Schritt voran gekommen zu sein. Sackgasse. An die drei Wohnungen, die wir zeitlich davor bewohnten und
noch mit Papa zusammen waren, kann ich mich sehr gut erinnern
(und an alle anderen danach ebenso). Und Mutti hat da die selben
Erinnerungen wie ich! Dabei war ich da ja noch viel jünger! Was hat
das zu bedeuten?
384
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
KIND
toten
still und raben
schwarz schleichen kinder
träume aus ihrem zimmer
leichen
blass und angst
verzerrt schweben kinder
schreie über ihrem bett
geister
stimmen und monster
krallen streicheln kinder
haut unter ihrem kleid
feuer
rot und eis
kalt zerreißen kinder
tränen ihren leib
April 2005
385
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Dienstag, 05.04.2005 – Gewicht 48,6kg
Das Gedicht »KIND« habe ich heute geschrieben. Ob der Missbrauch
nun geschehen ist oder nicht, das Gedicht ist beim Lesen immer
wieder ein Schock für mich. Die Worte zu finden, fiel mir überaus
schwer, vielleicht weil es wirklich geschehen ist, vielleicht aber auch,
weil ich es nie erleben musste. Aber ich glaube, vielleicht über Gedichte an die Wahrheit zu kommen.
In der FH erfuhr ich heute, dass mein Vorlesungsplan tatsächlich
fast bis auf die letzte freie Minute vollgepackt ist: keine Zeit für die
Einzeltherapie, für die Skillsgruppe, zum Arbeiten. Ich bekomme
monatlich 33,- Euro weniger BAföG und muss 117,- Euro Strom
und Gas nachzahlen. Als ich vorhin mit zwei starken Cocktails intus
heim gekommen bin, bin ich durchgedreht: Ich bin gleich ans Fenster,
habe eine geraucht und mich verbrannt … aber der Schmerz war so
furchtbar kurz. Ich spüre jetzt nichts mehr. Während des Rauchens
fing ich schon an, mir in Zeigefinger und Daumen meiner linken
Hand zu beißen. Ich knabberte richtig daran, bis ich Haut und Blut
schmeckte. Jetzt habe ich etwa sechs kleine Wunden mit Bluterguss,
Hautabschürfung und offenen Stellen, vor allem zwischen Zeigefinger und Daumen. Aber der Schmerz war so wenig, meine Hand
fühlte sich so taub an. Ich wollte gar nicht mehr aufhören, konnte
nicht glauben, dass es kaum schmerzte und ich mich so tot fühlte. In
meiner Panik und Verzweiflung vor mir selbst rief ich Sascha an. Er
konnte mich beruhigen. Jetzt aber habe ich eine Methode des Selbstverletzens gefunden, für die ich keine Hilfsmittel brauche. Das macht
mir Angst. Aber zumindest ist es nicht lebensgefährlich.
Dienstag, 12.04.2005 – Gewicht 47,2kg
Eine weitere Hemmschwelle ist gefallen. Ich beschränke meine Selbstverletzungen nicht mehr nur auf die Arme, sondern erweitere sie
auch noch auf die Oberschenkel. Eine Riesenmenge Haut bietet sich
mir da an. Ich habe das Gefühl, ein Stück Freiheit entdeckt zu haben.
386
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Montag, 18.04.2005 – Gewicht 48,1kg
Dieses Wochenende habe ich bei Sascha in Karlsruhe verbracht.
Schon seit einiger Zeit kriselte es in unserer Beziehung – hauptsächlich, weil ich mich ihm körperlich und seelisch immer mehr entziehe.
Wir wollten darüber reden, taten es aber nicht. Der Abschied am
Bahnhof vor ca. zehn Stunden war endgültig. Wir haben entschieden,
diese Beziehung unter diesen Bedingungen zu beenden. Sascha hat
geweint. Die ganzen dreieinhalb Jahre habe ich ihn nie weinen sehen.
Ich bin gestorben. Aber tot bin ich ja so lange schon. Ich habe niemandem von unserer Trennung erzählt, damit es nicht Wirklichkeit
wird. Ich weiß nicht, was es für mein Leben bedeutet. Ich weiß nicht,
was ich fühlen soll.
Donnerstag, 21.04.2005 – Gewicht 47,5kg
Vorgestern und heute haben Sascha und ich telefoniert. Ihm war es
wichtig, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Heute sagte ich ihm,
dass ich so aber keinen Schlussstrich ziehen könne, keine Abgrenzung für mich möglich sei. Also verblieben wir mit den Worten »bis
irgendwann«. Ich weiß nicht, ob ich ihn anrufen werde, ob ich es
können werde. Ich habe bisher niemandem von unserer Trennung
erzählt, weil ich die Ausmaße für mein Leben noch nicht abschätzen
kann. Ich belüge mich selbst und andere, indem ich einfach so weiterlebe, als hätte ich immer noch einen lieben Freund in Karlsruhe. Dass
das so nicht ewig weitergehen kann, ist mir jedoch bewusst. Ich habe
noch nicht geweint. Das alles habe ich fest irgendwo in der hintersten
Ecke meines Ichs verstaut und verdrängt.
387
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Samstag, 23.04.2005 – Gewicht 47kg
In meinem Kopf hämmert immer wieder das Wort VERHUNGERN.
Permanent hallt es in meinem Kopf und Tag für Tag fällt mir der
Verzicht auf Essen leichter. Immer öfter ertappe ich mich dabei, wie
ich den Pulsschlag an meinen Handgelenken beobachte und mich
frage, wie tief und wie weit ich wohl schneiden muss, damit ich
verblute.
Ich kann nicht weinen, nicht trauern um den Verlust. Ich bin schon
tot, wie lange, weiß ich selbst nicht mehr. Vielleicht liebte ich auch
gar nicht und muss deswegen nicht weinen oder trauern? Ich belüge
mich und meine Mitmenschen weiterhin. Ich sende ihnen Grüße von
Sascha, erzähle von ihm im Präsenz. Ich kann die Trennung nicht
aussprechen. Denn die Welt würde sich weiterdrehen.
Dienstag, 26.04.2005 – Gewicht 46,4kg
Ich nehme die Psychopharmaka nicht bzw. sehr unregelmäßig seit
einigen Wochen. Und jetzt habe ich das Gefühl, wieder »die Alte« zu
werden: starke Stimmungsschwankungen über den Tag hinweg. Es
ist vertraut. Und auch gut?!?
Ich weigere mich, einen neuen Termin beim Psychiater zu vereinbaren. Warum? Weil er mir nicht helfen kann und er nunmal »nur«
für meine Psychopharmaka zuständig ist. Morgen habe ich nach
sechs Wochen auch wieder Einzeltherapie. Ich habe Angst davor.
Über was kann ich reden, ohne wirklich etwas von mir preisgeben zu
müssen? Werde ich die Trennung von Sascha auch vor ihr verheimlichen können? Wie lange halte ich die Lügen noch durch? Ich spüre,
wie mein Schutzmantel diesbezüglich zerbröckelt, wie verletzlich
ich darunter bin. Ich wehre mich. Ich will diese neue Realität nicht
akzeptieren! Es vergeht keine Stunde, in der ich mir nicht Worte
zurecht lege, die ich Sascha schreiben oder sagen will. Doch ich werde
388
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
mich nicht bei ihm melden. Ich würde damit nur alles noch mehr
zerstören. Ich habe mich noch nicht geschnitten wegen der Hoffnung,
er könnte ja zu mir zurück kommen und wäre dann stolz auf mich.
Doch wie bereits geschrieben, diese Lügen lösen sich auf in meinem
Kopf und das Schwarz ihn mir wird immer dichter. Was soll ich nur
tun? Warum bekomme ich die Wahrheit bei meinen Freundinnen
nicht über die Lippen? Weil ich ihre bemitleidenden Blicke nicht
ertragen will? Weil ich mir und ihnen etwas beweisen will? Weil ich
mich damit selbst nur quälen will?
Sonntag, 01.05.2005 – Gewicht 46,4kg
Meine Freundinnen haben diese Woche von der Trennung erfahren.
In der FH war es eine furchtbar stressige Zeit, weil wir ja am Donnerstag den Film gedreht haben von 15 bis 22:30 Uhr. Nun muss das
Material noch geschnitten und vertont werden. Das ist nochmal eine
Riesenarbeit. Heute Morgen habe ich mit Saschas Mutter telefoniert.
Es war sehr schön und wir wollen uns kommende Woche mal treffen.
Mit einer Freundin habe ich heute zwei Wohnungen besichtigt. Wir
wollen nun definitiv zusammen ziehen. Die zweite Wohnung ist im
Haus neben meinem Haus und einfach toll. Wir wollen sie so gern
haben! Hoffentlich erhalten wir morgen eine positive Nachricht. Wir
dürfen doch auch mal Glück haben, oder? Mit Sascha habe ich heute
auch eine Stunde telefoniert und über dies und das und ein wenig
auch über unsere Trennung geredet. Es war sehr schön. Am Donnerstag fährt er nach Hause. Wir wollen uns mal treffen. Vielleicht
mit seiner Mutter zusammen. Ich bin natürlich etwas aufgeregt. Ach
ja, und der Sommer ist ausgebrochen. Mal sehen, wie ich das an der
FH überstehe.
389
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Mittwoch, 04.05.2005 – Gewicht 46,2kg
Wir haben die Wohnung bekommen! Heute haben wir den Mietvertrag unterschrieben. Am 01.07. können wir offiziell einziehen. Ich
kann mich im Moment nicht so richtig freuen. Große Veränderungen
in meinem Leben stiften immer große Verunsicherung und Zweifel
an der Richtigkeit meiner Entscheidung. Es steht viel Arbeit bevor
und das alles kurz vor und während meiner Klausurwochen. Jetzt
bin ich im Moment auch definitiv pleite. Keine gute Voraussetzung,
wenn noch die Einrichtung und evtl. Renovierung der Wohnung
bevorstehen. Ich weiß nicht, ob ich das alles schaffen werde. Probleme mit meiner derzeitigen Vermieterin kommen wohl auch, weil
die Kündigungsfrist ja drei Monate beträgt, ich aber in weniger als
zwei Monaten ausziehe. Doppelt Miete kann ich unmöglich zahlen.
Morgen Nachmittag werde ich Sascha und seine Mutter treffen. Wie
werde ich mich wohl dabei und danach fühlen?
Donnerstag, 09.06.2005 – Gewicht 48,6kg
Es geht mir gar nicht gut. Ich erbreche mehrmals täglich, verletze
mich täglich (will meinen rechten Unterarm komplett zerschneiden).
Der Grund werden wohl die Entscheidungen sein, die ich getroffen
habe, die viele Arbeit, die dadurch bevorsteht, die Angst, die Ziele
nicht zu erreichen und letztendlich die Panik, dass es die falschen
Entscheidungen gewesen sind:
Ich habe einen Studiengangwechsel beim BAföG-Amt beantragt
sowie einen Klinikaufenthalt auf einer psychosomatischen Station
während den Semesterferien.
390
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
meine schreie
meine schreie
laufen in dein zimmer
reißen und zerren an deiner welt
aus nacht und rausch
suchen vergebens in deinen augen
nach unserer angst
meine schreie
ersticken in deinem nebel
schleichen zurück in mein zimmer
in meinen kleinen körper
beobachten still weinend
unser sterben
Juni 2005
391
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Die gezählten Minuten
Gezählte Minuten
in denen ich sterbe
mein Körper nicht zu mir gehört
sondern in seinem heißen Schoß
zu Porzellan erstarrt und
in später düsterer Einsamkeit
in sich zerbirst
die gezählten Minuten
durch Worte aus Blut
in Schauermärchen verbannt.
Juni 2005
392
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Im Juni 2005 bezog ich mit einer sehr lieben Freundin (links hinten),
die zu einer meiner besten Freundinnen wurde, eine gemeinsame
Wohnung. Ich erinnere mich gern an unsere wilde aber auch gefühlvolle – jedoch kurze – WG-Zeit. Sie (vor allem besagte Freundin) hat
mir sehr viel für meinen Weg mitgegeben und hat mich einiges gelehrt, auch wenn mir das damals noch gar nicht bewusst war. Denn
ich steckte im absoluten Tiefpunkt meines Lebens: Die Erinnerungen
aus meiner Vergangenheit drängten in mein Bewusstsein und verfolgten mich ununterbrochen. Meine Kräfte waren ausgeschöpft.
393
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Sonntag, 26.06.2005 – Gewicht 49,3kg
Eine ganze Woche wohnen wir nun schon in unserer neuen Wohnung. Es herrscht teilweise noch Chaos, doch die Ordnung wird sich
mit der Zeit einstellen, wenn wir erst einmal alle Sachen eingeräumt
haben. Internet und Telefon sind beantragt. Ich fühle mich in der
Wohnung, speziell in meinem Zimmer, sehr wohl. Doch es geht mir
gar nicht gut. Meinen rechten Unterarm habe ich mir ziemlich zerschnitten. Gestern verletzte ich mich während des Duschens mit der
Klinge wieder am Oberschenkel und erstmals am Bauch. Warum?
Ich erhielt gestern den Brief vom Studentenwerk, in dem drinsteht,
dass mir kein BAföG für den neuen Studiengang bewilligt wird. Die
BAföG-Zahlungen sind bereits eingestellt worden! Ich kann da gar
nicht drüber nachdenken. Es zerstört mein Leben.
Der Antrag für die stationäre Therapie läuft. Wahrscheinlich wird
das aber auch nicht klappen.
Vorigen Montag hat Mutti bei der Kriminalpolizei ihren damaligen
Freund wegen sexuellen Missbrauchs an mir als Kind angezeigt!
Wer weiß, was mich da noch erwartet.
Samstag, 09.07.2005 – Gewicht 48,6kg
Ich bin seit letzten Mittwoch arbeitslos gemeldet. Ich bin tot. Fühle
mich nicht. Muss mich verletzen, um da zu sein.
Am 20. Juli 2005 ist mein Aufnahmetag in der Klinik.
Ich drehe langsam durch, höre ab und zu Stimmen, die nach mir
rufen, oder ein Klopfen und Klingeln, was nicht da ist. Wahrscheinlich liegt es nur am derzeitigen Stress, den ich unterdrücke. Ich fresse
und erbreche übermäßig viel und oft.
Ich bin kaputt, will nicht mehr.
394
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
Wahnsinn oder Wahrheit?
niedergeschriebene Gedanken von mir
aus den Jahren 2004 - 2006
395
20 – 24 Jahre / Ausbildungszeit II
396
Wahnsinn oder Wahrheit?
So befreit vom Leben, kann ich mehr als einen Augenblick sein.
Aber das Leben hat seine eigenen Regeln. Was einst war, wird verdrängt.
Was derzeit ist, wird hoffnungslos aufrecht erhalten. Was jemals werden
kann, wird bis ins Mark gefürchtet.
Ich muss mich fesseln, knebeln, zu Boden drücken, sonst falle ich aus mir
heraus.
Gebt mir ein Drehbuch, eine Rolle, etwas, das ich sein kann, denn ich bin
nicht.
Kaum geboren, schon vergessen. Kaum gelebt, schon nach dem Tode gestrebt. Kaum gestorben, schon vergessen.
An manchen Tagen bin ich, an anderen Tagen bin ich nicht. Die übrigen
Tage vergesse ich.
Unter jedem meiner Schritte bleibt ein Teil von mir im Dreck des Weges
zurück und stirbt.
Die Wände atmen mich ein und aus von Raum zu Raum hinter verschlossenen Türen.
Ich lasse mich fallen, hebe mich nicht wieder auf. Ich gehe einfach fort von
mir.
Ich lebe gern! Es raubt mir den Atem und die Sinne.
Die tiefe Bedeutung des Wortes »Leere« wird nicht im geringsten mit diesen fünf Buchstaben betont. Sie ist Befreiung und Gefängnis, Klarheit und
Verwirrung. Sie ist so viel mehr.
Die Gesellschaft, die Weltstruktur lässt mich glauben, dass ich nichts wert
bin, lediglich ein Fußabtreter, irgendetwas, das so schlecht sein muss, dass
es ausgenutzt und ausgebeutet werden kann. Sie zeigt es mir immer und
immer wieder. Es macht mich wütend, wertlos, undurchsichtig, existenzunwürdig.
In tiefster Dunkelheit habe ich das Gefühl zu ersticken.
397
Wahnsinn oder Wahrheit?
Meine Gefühle sind ein Boot. Nein, ... sie sind ein Ozean, ich bin das Boot.
Als ich ein Kind war, war es die Welt, die mich belogen und betrogen hat.
Heute bin ich es, die lügt und betrügt und zu verstecken versucht, was die
Welt hat aus mir werden lassen.
Früher hatte die Gesellschaft keinen Blick für mich übrig und ließ mich leiden. Heute, wenn ich versuche, mich wieder zu integrieren und das Gestern
vergangen sein lassen will, verurteilt sie mich für das, was ich geworden
bin.
Ich sehe mich im Spiegel und kann nicht begreifen, dass ich das bin bis zum
Tod, lebenslang. Und noch weniger kann ich den Gedanken ertragen, dass
die Frau im Spiegel äußerlich immer älter wird, ich aber nicht. Das Chaos
in mir macht alles immer wieder aufs Neue gleich.
Warum ist es mir nicht möglich, nicht immer nur im Jetzt zu leben, das
Gestern zu vergessen und das Morgen nicht mehr zu fürchten? Warum
kann ich nicht alles als Ganzes sehen?
Das Einzige, was mich menschlich macht, ist die Tatsache, dass ich lebe.
Ein Lächeln in meinem Gesicht kann die Welt um mich verzaubern. Es ist
SINNVOLL.
Die Freundlichkeit, die ich fremden Menschen mit meinem Lächeln entlocken kann, rührt mich zu Tränen. Sehe ich die Welt um mich herum immer
nur aus meiner inneren Welt, die mal von Sonne, mal von Regen, mal von
Sturm geprägt ist? Lege ich mir und meiner Umwelt immerzu Masken auf
und beeinflusse damit das Erscheinungsbild der Welt für mich?
Ich sehe die Welt durch Scheuklappen, über die ich willentlich selbst
entscheiden könnte, ob ich sie tragen will oder nicht. Doch noch bin ich
willenlos und überrasche mich oft selbst mit dem Wandel der Welt, den ich
beeinflusse.
Nur ein Moment kann beeinflussen, ob ich die Welt hasse, aber auch ob ich
sie liebe.
Ich nehme Raum ein. So trivial ist es, einfach nur zu sein.
398
Wahnsinn oder Wahrheit?
Jeder lebt sein eigenes Leben. Und doch sitzen alle im gleichen Zug und
schweigen.
Die Welt um mich herum ist mir heute zu hell, zu weit, zu laut, zu schnell.
Ich muss die Augen schließen. Und bin überrascht, wenn ich sie wieder
öffne. Denn die Welt hat sich nicht geändert. Ich hatte sie nur vergessen
und schließe die Augen wieder.
Wie kann ich existieren, wenn ich gar nicht verstehen kann, was Existenz
bedeutet und aus welchem Grund sie existiert?
Ich fühle mich eins mit mir selbst und könnte vor Freude und Dankbarkeit
weinen.
Wenn ich in meinem Leben permanent Dinge tun muss, die ich gar nicht
tun will, werde ich nie erfahren, wer ich bin, da mir keine Zeit bleibt, mich
zu suchen und zu finden.
Ich brauche regelmäßig den Rückzug aus der Welt. Ich muss mich von ihr
erholen, Kraft tanken, um mich wieder in sie hinein stürzen zu können.
Es ist zu spät. Ich werde nie nachholen können, was mir in frühen Jahren
verwehrt geblieben ist; zu spät; es gibt kein Ziel mehr.
Ich kann mich nicht befreien von dem, was ich als Kind überlebt habe.
Wunden, die mir andere damals zugefügt haben, schmerzen und bluten aus
Wunden, die ich mir heute selbst zufüge.
Wenn ich mein Leid ausspreche, erwarte ich von der Welt, dass sie aufhört,
sich zu drehen. Doch das wird sie nie tun. Daher schweige ich.
Mir erscheint oft alles so nichtig und klein ... doch auch oft so wichtig und
groß. Mir wurde kein Maßstab mit auf den Weg gegeben.
Ihr erzählt Sachen über meine Kindheit, einfach so, und fragt mich nicht, ob
sie überhaupt die meine ist.
399
Wahnsinn oder Wahrheit?
Manchmal habe ich das Gefühl, meine Mitmenschen seien zu schwach für
mich und ich müsste alle mit Samthandschuhen berühren, damit sie unter
meinen Worten nicht zusammenbrechen.
Ich lasse mich wehrlos von mir selbst besiegen.
Ich sitze im Zug. Ich fühle mich abgestürzt, fehl am Platz. Hektik, Befremdheit, Realität, Alltag rauscht an mir vorbei. Ich bin mittendrin, ein Teil
davon und fühle mich doch weit weg, in tiefer Leere und doch nicht leer.
Es ist sehr beengend, immer in diesem Körper zu sein.
Ich fließe mit. Ich treibe und ströme mit. Ich hetze in Scharen zur U-Bahn,
quelle mit aus ihr heraus und überflute die nächste Bahn, falle auch aus
ihr raus, belagere die Rolltreppen und verliere mich auf meinem Platz im
nächsten Zug.
Ich fühle mich wie ein Glas Wasser. Ein Glas, geformt, doch zersplittert
in viele kleine einzelne Stücke, die sich zusammen halten aber gegenseitig
schon längst nicht mehr kennen. Ein Schlag, ein Blick, ein Wort und es ist
vorbei. Das Wasser spült die Glassplitter in die Vergessenheit, zu der sie
sich schon immer zugehörig gefühlt haben.
Wenn die Geister aus meiner Kindheit schweigen und sich in mir verkriechen, habe ich das Gefühl, nicht mehr zu sein. Denn ich war noch nie mehr
als ein Spiegel meiner Kindheit. Das Spiegelbild ist weg. Der Spiegel ist
leer.
Ich sehne mich manchmal so sehr nach »Normalität«. Wenn ich aber bemerke, dass ich mitten in ihr drinstecke, raubt es mir die Luft zum Atmen und
ich stelle mich abseits.
Ich schaue aus dem Fenster. Sehe draußen im Sonnenschein die Welt, die
auch drinnen bei mir im Raum ist.
Auf meine Haut sind Leid und Gewalt eingebrannt. Ich stehe neben diesem
gezeichneten Körper und will glücklich sein. Ich bleibe neben dem Körper
stehen, denn ich passe nicht mehr in ihn hinein.
400
Wahnsinn oder Wahrheit?
Ich will nicht mehr laufen, nicht mehr atmen, leer und leblos sein dürfen,
in Stille fallen, nicht mehr sein müssen. Und morgen wieder aufwachen
dürfen.
Ich versperre mir die Tür zu mir selbst und frage mich, warum ich nicht zu
mir reinkomme.
Es ist mir hier zu eng. Ich kann mich nicht mitteilen, weil es dafür keine
Worte gibt. Ich will hier raus!
Der Zug fährt und fährt ... immer schneller. Es gibt keine Haltestelle für
mich. Ich muss abspringen.
Ich brauche nichts an Nahrung zu mir nehmen, denn nichts davon könnte
mich sättigen.
Ich würde so gern einmal ruhen, die Krallen der Zeit nicht in meinem
Rücken spüren.
Ich lebe in Augenblicken. Und jeden Augenblick projiziere ich auf die Zukunft. Daher ist meine Zukunft niemals zu erkennen.
Ich spüre, dass diese Welt mir nichts zu bieten hat, was mich zufrieden oder
glücklich machen könnte, so als hätte ich all das bereits in einer anderen
Welt vor dieser gefunden und erhalten.
Ich verliere an Wert. Mein Körper wird älter, mein Geist jedoch existiert
zeitlos. Er passt sich dem Körper nicht an, die Relationen verzerren sich.
Wenn ich mich im Spiegel ansehe, spüre ich manchmal ganz intensiv, dass
mein Gegenüber mich angreifen und töten will. Doch er tut es nicht, ist zu
feige.
Ich stehe neben mir und schaue zu, wie ich sterbe.
Lauf fort, lauf und blicke nicht dahin zurück, wo du zusammen gebrochen
bist.
Die Straßen, Häuser und Menschen flackern im gleißenden Sonnenlicht.
Ich schwebe irreal an allem vorbei und fühle den Tod.
401
Wahnsinn oder Wahrheit?
Reißt mich auf. Die Nahrung in mir verbrennt mich, meine Gefäße glühen,
meine Augen stehen in Flammen. Bitte löscht mich.
Ich gehe Hand in Hand mit diesem fremden Kind in mir und kann es, trotz
meines Hasses auf dieses Ding, einfach nicht loslassen.
Ich sehe dem Leben zu, wie es an mir vorüberschreitet, mich mit seinen
Krallen umklammert und mitschleifen will. Ich werfe mich zu Boden und
stelle mich tot. Das Leben geht seines Weges ohne mich weiter.
Eine tote Hülle läuft da neben mir, die gezwungen ist, mein Leben zu leben.
Ich bin aus mir ausgezogen, werde fremdbewohnt.
402
Wahnsinn oder Wahrheit?
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der
Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich,
ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr,
sterben zu wollen; man bittet aus der alten Zelle, die
man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man
erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt
dabei mit, während des Transportes werde zufällig Gott
durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen
und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er
kommt zu mir!
Franz Kafka
403
Wahnsinn oder Wahrheit?
404
24 – 26 Jahre / Auszeit
Am 20.07.2005 war mein Aufnahmetag in einer bayerischen Klinik –
der Beginn meiner ersten stationären Psychotherapie.
Die Diagnosen lauteten:
• Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom BorderlineTypus
• Bulimia Nervosa
• Schädlicher Gebrauch von Alkohol
• Muskulotendinöses Schmerzsyndrom
99 Tage blieb ich dort. Ich beschreibe jeden einzelnen Tag in meinem
Online-Roman »Glasglockenleben – 99 Tage Wahnsinn(s)Leben«.
405
24 – 26 Jahre / Auszeit
Er, Alfred, stellte sich mir am ersten Tag in der
Klinik als mein Pate vor. Ich hatte zunächst große
Angst vor ihm – vor allen Männern fürchtete ich
mich.
Er half mir, mich im Klinikleben zurechtzufinden.
Aber noch viel mehr verband uns (nicht nur, dass
wir am selben Tag Geburtstag haben). Er ist ein
Engel in meinem Leben – und ich bin es in seinem.
Bis heute passen wir aufeinander auf und helfen
uns, wenn wir uns (scheinbar) auf unseren Wegen
ver(w)irren.
406
24 – 26 Jahre / Auszeit
Nach so vielen Jahren: Ich befand mich endlich unter einer beschützenden Glasglocke, die mich vor
der Welt da draußen abschirmte. Innen drinnen so
viele verständnisvolle Menschen, die mich so annahmen und liebten, wie ich war: sehr verletzlich,
sehr tiefgründig, sehr verzweifelt und sehr bedürftig nach wahrer Freundschaft.
Unter dieser Glasglocke wurde ich auch von einer
Kriminalbeamtin vernommen wegen der Strafanzeige meiner Mutter. Doch ich konnte keine eindeutigen Erinnerungen vorweisen. Der Fall wurde
somit mangels Beweisen niedergelegt.
407
24 – 26 Jahre / Auszeit
Mein Lachen und mein Lächeln fühlten sich endlich wieder echt an. Wie lange schon hatte ich das
vermisst?
Ich bemerkte schon in dieser Zeit, dass ich eigentlich ein sehr humorvoller und unterhaltsamer
Mensch bin, dem es viel Freude bereitet, andere
Menschen zum Lachen zu bringen.
408
24 – 26 Jahre / Auszeit
nächte mit mutter
dein bett aus wolken
getränkt in alkohol
gefüllt mit tabletten
ich beobachte dich genau
sehe wie
der alkohol deinen geist säuft
die tabletten deinen atem fressen
ich will die wolken
wegziehen unter deiner sterbenden hülle
und mich darin betten
ich gebe dir meinen geist
meinen atem
ohne durst und ohne hunger
saufe und fresse ich
deinen wirren schlaf
bis du wieder erwachst
Juli 2005
409
24 – 26 Jahre / Auszeit
unfähig
blut auf meinem teller
kinderlachen im hof
unfähig zu schlucken
ferne im blick
strenge im rücken
seelen aus beton
unfähig zu leben
blut in meinen augen
schreie im raum
unfähig zu atmen
enge im körper
schläge ins gesicht
herzen aus eis
unfähig zu lieben
Juli 2005
410
24 – 26 Jahre / Auszeit
erbstücke
über felsen, brechend an klippen
schleife ich das meer in mir mit
meterhohe wellen wirft es auf
spült strandgut in meine augen
all der müll
der ins wasser geworfen wurde
spiegelt sich in meinen rasierklingen
deponien, haushoch angehäuft mit schmerzen
das schiff, auf dem riff gekentert
nackt und skelettartig
mit tiefen rissen im holz
und zerbrochenen masten
spült mein leben die toilettenschüssel hinab
ins kanalsystem, düster gefüllt mit ängsten
das salz auf meiner haut
hinterlassenschaft des sturmes
lehrt mich leben tanken aus meinen alten wunden
August 2005
411
24 – 26 Jahre / Auszeit
gefängnis
haut ganz welk vor schmerz
spannt sich faltig um sein wesen
hält die porösen knochen zusammen
alle schritte scheinen schneller
viel ferner als gewollt
stehen still in beiden füßen
jeder schrei hallt lauter
viel weiter als erlaubt
schweigt brav in beiden augen
das kind weint in seinem gefängnis
aus welker haut
aus porösen knochen
und will sein leben zurück
August 2005
412
24 – 26 Jahre / Auszeit
nicht so
nicht so
wie es war
willst du es sehen
ziehst dir
die blutbeschmierten
handschuhe aus
sagst mir
deine hände
waren es nicht
nicht so
wie ich es sah
kann es gewesen sein
ziehe mir
die blutbeschmierten
kleider aus
sage mir
mein körper
war es nicht
August 2005
413
24 – 26 Jahre / Auszeit
Mittwoch, 07.09.2005 – Gewicht 51,9kg
Ich bin nun bereits die achte Woche in der Klinik. Alles, was ich bisher mitnehme, sind drei Kilogramm mehr und ich hasse mich dafür.
Ich habe mich schon lange nicht mehr so gehasst. Ich führe nebenher
ein Therapie-Tagebuch nur für mich selbst. Alles steht also in diesem
anderen Buch.
Ich will nach Hause, doch ich habe wohl nochmal so viele Wochen vor
mir. Ich kann nicht mehr, will nicht mehr. Ich kann doch aber nicht
ohne Erfolge aus dieser Klinik gehen?!
414
24 – 26 Jahre / Auszeit
abgelegt
blut sammelt sich zwischen meinen füßen
jeder tropfen
erklingt in jedem ton meiner kinderlieder
fließt aus jedem wort meiner kinderbücher
sie legt ihre hand auf meinen kopf
»braves kind«, sagt sie
»ich muss jetzt nach nebenan
zu meinen seelentröstern gehen«
und sie legt mich ins bett
er säubert den boden, auf dem ich stand
wechselt meine kleider
sagt: »schlaf schön, meine kleine«
schüttelt noch einmal mein kopfkissen auf
deckt mich zu
geht mit den worten: »dann bis heute nacht«
Oktober 2005
415
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ende Oktober 2005 wurde ich entlassen. Zum
Leben – zu mir – fand ich in dieser Klinik jedoch
nicht zurück. Ich hatte mich sogar noch viel mehr
von meinem Leben entfernt. Die einstige Nähe
zu meinen damaligen Freundinnen spürte ich nie
wieder. Ich fühlte mich einsamer und verlorener
denn je, die Welt wirkte noch bedrohlicher und
unverständlicher auf mich. Es folgten drei Monate
Arbeitslosigkeit, Sinnlosigkeit, Lebensüberdruss,
Einsamkeit, Angst und Armut.
416
24 – 26 Jahre / Auszeit
Auszug aus meinem Roman »Glasglockenleben – 99 Tage Wahnsinn(s)
Leben«:
Wenn ich auf diesen Entlassungstag zurückblicke mit dem Wissen, was
Maya, also mich, die darauf folgenden zwei Jahre erwartete, dann übermannt mich der Wunsch, zu diesem Tag zurück zu reisen und dieser
jungen, verletzlichen Frau zu sagen: »Mein Liebes, es wird noch schwerer. Aber danach wird alles gut, wird alles viel besser, als du es dir je zu
erträumen wagst.« Maya stand erst am Anfang eines begonnenen, harten
Kampfes und wusste es aber nicht – was sicherlich auch gut so war. Dieser
Kampf wurde der härteste überhaupt und beruhigte sich erst zwei Jahre
später.
Ich will aus diesen zwei Jahren berichten, um diesem Roman ein lebensbejahendes Ende zu geben. Es ist das traurigste und glücklichste Kapitel
zugleich. Denn ich habe mich von der Schattenseite des Lebens auf die Sonnenseite begeben. Für andere Menschen klingt das womöglich nicht nach
einem Kampf – aber für eine Frau, die sich vor dem Leben mehr fürchtete
als vor dem Tod, war es der mächtigste Schritt ihres Lebens. Heute bin ich
dankbar und mit Liebe erfüllt, am Leben zu sein, LEBENDIGKEIT in meinem Körper zu spüren. Diese Liebe hätte ich jedoch nicht gewonnen, wären
die Ereignisse der darauf folgenden zwei Jahre nicht geschehen. Ich war
noch nicht nahe genug an den Tod herangetreten. – Ich musste noch von
ihm kosten, um ihn zu schmecken und dabei zu erkennen, dass das Leben
viel genussreicher ist.
417
24 – 26 Jahre / Auszeit
Samstag, 07.01.2006 – Gewicht 54,8kg
Vom 16. bis 18.12. war ich mit ehemaligen Mitpatienten in Salzburg.
[...] Ich fühlte mich sehr wohl mit ihnen. Doch Genießen fiel mir
schwer aus Angst vor der Zukunft.
Vom 23. bis 26.12. besuchte ich Bastian in Bayern. Mutti ist umgezogen, er wohnt also nicht mehr mit ihr zusammen. Wir waren immer zum Mittag- und Abendessen bei ihr. Sie redete wieder auf mich
ein, dass ich doch zu ihr ziehen soll. Es war schlimm. Sonst redeten
wir alle nicht viel. [...] Eine Nacht schlief ich bei Mutti. Ich wollte
nicht mehr zurück nach Wiesbaden, brauchte das Umsorgtsein.
Also fuhr ich vom 30.12. bis 02.01. zu einer ehemaligen Mitpatientin
nach Regensburg. Ich konnte es mir leisten, weil mir Alfred Geld
überwiesen hatte. Von ihr wollte ich gar nicht mehr weg. Sie kümmerte sich so lieb um mich. [...] Zu Silvester waren noch mehr Freunde von ihr und weitere ehemalige Mitpatienten da. Wir lachten viel.
Obwohl ich sehr still war, genoss ich es. [...] Uns verbindet viel. Alle
waren über 40 Jahre alt und bemutterten mich. Das brauche ich. Ich
wäre so gern länger geblieben, aber das war nicht möglich.
Jetzt versuche ich, Kraft daraus zu ziehen und mein Leben in den
Griff zu kriegen.
(Keine weiteren Einträge im Tagebuch für 9 Monate)
418
24 – 26 Jahre / Auszeit
Am 16.01.2006 hatte ich einen Job in einem Frankfurter Call-Center
(mit einem sehr ausbeuterischen Arbeitsvertrag) angenommen.
Das war mein (so schien es) Todesurteil, denn eines Samstages
entschied ich mich unter Tränen und Qualen, versunken in tiefster
Verzweiflung, mir am darauf folgenden Mittwoch (meinem letzten
Urlaubstag) das Leben zu nehmen. Ich wollte nie wieder zu dieser
Arbeitsstelle gehen müssen und sah nur noch diesen Weg als einzige
Möglichkeit.
Auszug aus meinem Roman »Glasglockenleben – 99 Tage Wahnsinn(s)
Leben«:
Sie weinte, sie schrie, sie flehte und betete, denn sie wollte nicht sterben
müssen – aber alle Lösungswege schienen versperrt. Maya hatte bereits
all die Menschen, die ihr hätten helfen können, völlig aus dem Blickfeld
verloren. Und so akzeptierte sie schließlich ihre Entscheidung und nutzte
ihre letzten Lebenstage, um sich von der Welt und von ihrem Menschsein
zu verabschieden. In diesen besonders intensiven Tagen, in denen jeder
Moment tatsächlich der letzte für Mayas Empfinden war, fühlte sie sich
auf einmal nicht mehr fremd, einsam, bedroht, unverstanden oder ungeliebt. Das spielte überhaupt keine Rolle mehr, denn Maya spürte mit jedem
Atemzug und mit jedem Herzschlag, dass sie Teil des Lebensflusses ist, der
alles durchdringt. Mehr als alles andere spürte sie plötzlich den »süßen
Abschiedsschmerz«, schon bald ein Zuhause gegen ein anderes Zuhause
einzutauschen.
Am 03.05.2006, nur vier Monate, nachdem ich den Job im Call-Center
angenommen hatte, versuchte ich somit, mich mit einem Tablettencocktail umzubringen.
Ich überlebte – ging nicht »nach Hause« – und wurde nach einer
Nacht im Krankenhaus in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert.
Zwölf Wochen behielt man mich dort.
419
24 – 26 Jahre / Auszeit
fremd mitleben
verfolgungen morddrohungen
drahtzieher mitwisser
schleichen in verkommene dachböden
kehren wahn und wahnsinn auf
spucken ihn auf unsere tagesblätter
nur mit handschuh bekleidet lesbar
weil wir uns sonst erkennen
und nicht mehr fremd mitleben könnten
psychosen schizophrenien
suizidversuche depressionen
sind gitterstäbe vor fremden fenstern
wir wollen uns doch nicht verbarrikadieren
sondern leben lachen lieben
und mal weinen schreien durchdrehen dürfen
hinter unseren weißen gardinen
fischfangnetze einer freien nation
Mai 2006
420
24 – 26 Jahre / Auszeit
kopflos
mein kopf ist eine bombe
ich hebe ihn
um den wahnsinn
aus meinen augen nach oben zu schießen
alles regnet hernieder
jeden wunsch, jedes gefühl, jeden gedanke
fange ich heimkommend in einer zwangsjacke auf
und schnüre mich damit ein
ihre masse lässt mich stürzen
unbemerkt von der realität
vernarben meine augen
und mein kopf explodiert
Juli 2006
421
24 – 26 Jahre / Auszeit
Erst ein paar Jahre später habe ich mich an ein Telefonat mit meiner
Mutter erinnert. Es muss etwa im Jahr 2002 oder 2003 stattgefunden
haben. Sie war damals total betrunken, redete wirres Zeug und ich
wimmelte sie schnell wieder ab. Etwas aber, was sie damals erzählte,
fiel mir nun Jahre später plötzlich wieder ein und ich höre ihre Worte noch heute, als hätte sie diese erst gestern zu mir gesagt: »Melly,
mit 25 Jahren werden dir die Engel erscheinen.«
Am 03.05.2006 war ich 25 Jahre alt. Und ja, es müssen Engel gewesen
sein, die mich gerettet haben.
Deswegen nenne ich die Kurzgeschichte, die meine Jahre 2006 /
2007 auf eine magische Weise beschreibt: »Gefallene Engel« (siehe
Anhang 1). Ich schrieb sie im September 2007. Sie war mein seelischer Befreiuungsschlag, mein erster »Friedensvertrag« mit meinem
Leben.
422
24 – 26 Jahre / Auszeit
In der Psychiatrie (ich war dort die ersten zwei
und die letzten zwei Wochen auf einer geschlossenen Station) hatte ich nichts mehr zu verlieren.
Viele meiner Freunde in Wiesbaden, meine Wohnung, meinen damals neuen Freund, meine Würde
– all das hatte ich bereits verloren. Ich war nach
meinem Empfinden ganz unten in unserer Gesellschaft angekommen.
So tief unten aber begann auf einmal ein kleines
Lichtchen in mir zu leuchten. Ich wusste es noch
nicht, aber es war da.
423
24 – 26 Jahre / Auszeit
In der Psychiatrie hatte ich sehr viel (nicht ganz ungefährliche) Zeit,
die ich irgendwie rumkriegen musste.
So entdeckte ich in der Ergotherapie nach Jahren das Zeichnen wieder für mich. Es half mir, nicht vollends durchzudrehen, denn ich
war knapp davor oder noch mittendrin:
424
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ich hatte dort versucht, mir die Pulsadern mit einer zertrümmerten
Tasse aufzuschneiden, hatte mir meine Haare mit einem Feuerzeug
genüsslich abgebrannt, hatte nahezu täglich Zigaretten auf meinen
Armen ausgedrückt.
Das Stationspersonal reagierte genervt und unfreundlich:
»Ihr blutverschmiertes Bettlaken können Sie selbst wechseln!«
»Wegen Ihnen stinkt es jetzt tagelang auf der ganzen Station!«
»Hier haben Sie Verbandsmaterial. Ihre Wunden können sie ja selbst versorgen. Darin haben Sie ja schon Übung!«
Dass man mir wirklich helfen wollte, davon habe ich nichts gemerkt.
(Ich zähle übrigens zu den Wenigen, die von einer geschlossenen
Station rausgeworfen wurden. Der Rauswurf war zugleich meine
Entlassung.)
Man verabreichte mir morgens und abends »Seroquel«, »Taxilan«,
»Cipramin«, »Tavor« (und andere mir unbekannte Tabletten) und
meinte wohl, mich (und auch die anderen »Insassen«) dadurch ruhig
gestellt zu haben. Ja, meinen Körper machte es schwerfällig, aber
nicht meinen Geist!
Während ich zeichnete, versank ich völlig darin – wie früher. Ein
paar wenige Stunden Frieden während des Wahnsinns, der in mir
tobte.
In dieser Zeit bekam ich einen gesetzlichen Betreuer. Er blieb es bis
ins Jahr 2010 und ich danke ihm von Herzen für alles, was er für
mich getan hat. Er war zugleich Anwalt, was damals sehr wichtig
war, denn das besagte Call-Center zahlte mir zunächst mein Gehalt
nicht weiter. Sie weigerten sich auch, mir zu kündigen, weswegen
mir die Krankenkasse kein Krankengeld zahlte. Ich war also in der
Psychiatrie und stand ohne Wohnung und ohne Einkommen da. Er,
mein Betreuer, regelte ab 2006 diese »weltlichen, lästigen Störenfriede« für mich.
425
24 – 26 Jahre / Auszeit
So beschrieb ich ein paar Jahre später meine Erfahrungen
in der geschlossenen Psychiatrie:
unterm zirkuszelt
getragen von psychedelischen leidensgebilden
durchstreifen wir sonnenvergessene flure
von deren leergelebten wänden
die wirklichkeit schamlos abblättert
und im ticken der uhr
zu einem normlosen takt aufruft
zusammengepfercht unterm zirkuszelt
– umringt von weißbekittelten ahnungslosen
unseren härtesten kritikern und heimlichen profiteuren –
verlieren wir uns in narrenfreien gesängen
entblößen uns als seelenartisten und todesbändiger
versteckt hinter clownsmaskeraden
– weiße plastiknasen, rotgerahmte augen
einem aufgemalten, breiten grinsen im gesicht –
balancieren wir angekettet in reih und glied
»tablettenausgabe! der nächste!«
versuche, normalität geschmack zu verleihen
schluck für schluck tagein tagaus
versiegt die quelle unseres freigeistigen spiels
zu stigmatisierten hohlkörpern entstellt
treten wir hinaus auf die sinnberaubte bühne
einer berühmt verwahnwitzigten leerlaufwelt
Februar 2010
426
24 – 26 Jahre / Auszeit
Wonach ich mich während der vier Wochen auf der geschlossenen
Station am meisten verzehrte, war die Sonne.
Man fand mich immer dort, wo ein bisschen Sonne in die Flure fiel.
Ich quetschte mich auf die Fensterbänke oder legte mich auf den
Boden, wenn dort nur ein Hauch von Sonnenstrahlen hinfiel.
Das Personal jagte mich jedes Mal nach kurzer Zeit fort. Doch sie
konnten mich nicht davon abbringen, mir sofort meinen nächsten
»Sonnenplatz« irgendwo auf Station zu suchen.
427
24 – 26 Jahre / Auszeit
alles legal
ich quäle mich jeden tag
diesen körper am leben zu erhalten
putze die gitterstäbe
kontrolliere das türschloss
wische den boden
streiche die wände
mit meinem legalisierten wahnsinn
Juli 2006
428
24 – 26 Jahre / Auszeit
Die noch immer in mir lodernde Sehnsucht nach dem Tod stillte ich
mit starken Farben.
Ich hasste mich unsäglich dafür, sogar zu unfähig zum Selbsttöten
zu sein (zum Leben fühlte ich mich ja auch nicht fähig).
429
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ich fragte mich immer und immer wieder, warum wollte Gott mich
nicht bei sich haben? War ich seiner unwürdig? Ich fühlte mich im
Leben und im Tod verlorener denn je. Ich fühlte mich irgendwo
dazwischen und nirgendwo willkommen.
Zarte heilsame Samen legten mir die »verrückten« Mitpatienten ins
Herz. Besonders eine Frau, die ich in meiner Kurzgeschichte »Jesus
und Cosma« in die Rolle des Jesus schlüpfen lasse (siehe Anhang 1).
Meinen Namen »Melanie« hatte ich zu dieser Zeit abgelegt – aber
völlig unbewusst bzw. ungewollt: Als mich während der ersten Tage
in der Geschlossenen ein Mitpatient nach meinem Namen fragte,
hörte ich überrascht aus meinem Mund den Namen »Mia« sagen. Bis
heute bin ich darüber erstaunt, denn dieser Name hatte in meinem
Leben bis zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung gehabt. Ab diesem
Moment gab es »Melanie« nicht mehr.
Etwas war mit mir geschehen, was ich damals noch nicht in Worte
fassen konnte, geschweige denn überhaupt bemerkte.
Erst Jahre spätere recherchierte ich nach der Bedeutung des Namens
»Mia« und war nochmals erstaunt: Er bedeutet »die von Gott Geliebte«, »gewünschtes Kind«.
Etwa ein Jahr lang war ich »Mia«.
430
24 – 26 Jahre / Auszeit
An einem Montag Anfang August 2006 wurde ich also auf der
geschlossenen Station von den Ärzten geladen und sollte einen der
darauf folgenden vier Tage wählen, an dem ich die Station zu verlassen hatte.
Auf einer Nachbarstation hatte ich einen 60jährigen Mann kennengelernt, mit dem ich aus der Not heraus eine Beziehung einging. Bei
ihm kam ich nach meiner Entlassung unter. Meiner besten Freundin
431
24 – 26 Jahre / Auszeit
und WG-Mitbewohnerin konnte ich nicht mehr in die Augen schauen (auch sie wollte und konnte mich nicht mehr sehen, weil sie mir
in ihrem eigenen Schmerz nicht verzeihen konnte) und ich wollte
auch keinen Fuß mehr in die gemeinsame Wohnung setzen. Es war
der Beginn meiner zweiten Zeit der Wohnungslosigkeit (bis Februar
2007).
Durch die starken Tabletten, die man mir in der Psychiatrie verabreicht hatte (mehrere Wochen war ich danach zum Entzug in einer
Tagesklinik), litt ich unter Panikattacken, Hyperventilation, Halluzinationen, Krämpfen, Alpträumen und starker Autoaggression.
Täglich konsumierte ich Alkohol, um die Anwesenheit in mir selbst
nicht spüren zu müssen. Der Schneidedrang und mein Verwirrtheitszustand waren sogar so stark, dass ich mir im Wiesbadener Stadtpark mit dort herumliegenden Glasscherben in die Arme schnitt und
die Wunden in Apotheken verbinden ließ.
Ich hatte völlig aufgegeben. Ein Morgen gab es für mich nicht mehr.
Die Zeit selbst war mir zwischen den Händen zerronnen. Mein Körper lebte – ich selbst fühlte mich tot.
432
24 – 26 Jahre / Auszeit
Dienstag, 03.10.2006
Am 03.05.2006 versuchte ich, mich mit einem Tablettencocktail
umzubringen. Nach einer Nacht in der HSK war ich vom 04.05. bis
09.08. in der Psychiatrie, vier Wochen davon auf einer geschlossenen
Station.
Am 16.01. begann ich in einem Call-Center in Frankfurt zu arbeiten. Dieser Job überforderte mich (zzgl. die Pendelfahrten von über 3
Stunden pro Tag). Am 03.05. verlor ich ihn, verlor ich meinen neu
kennengelernten Freund, verlor ich meine besten Freundinnen, verlor
ich mein Zuhause.
Seit dem 21.08. bin ich in der Tagesklinik in Wiesbaden und werde
diesen Freitag entlassen. Am 31.10. werde ich nochmals aufgenommen. Ich lebe derzeit bei meinem neuen Freund. Mein Zimmer in der
WG habe ich zwar noch, doch da meine Freundin mir nicht verzeihen
kann, kann ich es in der Wohnung nicht ertragen.
Vorige Woche hat meine Mutter versucht, sich das Leben mit
Tabletten zu nehmen. Daher werde ich sie mit meinem Freund vom
kommenden Samstag 07.10. bis 14.10. besuchen. Ich habe Angst! Ich
kann nicht schlafen.
433
24 – 26 Jahre / Auszeit
Meine Mutter und mein Bruder hatten mich während der ersten
Tage in der Psychiatrie besucht. Über 1.000km Autofahrt an einem
Tag, nur um mich für ein paar Minuten zu sehen; Minuten, an die
ich mich nicht einmal erinnern kann.
Für meine Mutter war mein Suizidversuch ein großer Schock. Sie
fühlte sich schuldig. Auch mein Bruder gab ihr dafür die Schuld.
Ende September 2006 – also nur wenige Monate später – versuchte
auch sie, sich das Leben zu nehmen. Es war ihr verzweifelter Hilferuf, ihre Tochter doch endlich wieder in ihrer Nähe zu wissen.
Also besuchte ich sie und unterbrach dafür extra meinen Tagesklinik-Aufenthalt. Während des Besuches bei ihr bekam ich eine
schwere Bronchitis, die von den Ärzten sogar als chronisch diagnostiziert wurde. Das konnte mich aber nicht mehr schocken, hatte ich
doch viel schlimmere Probleme [Anm.: Die Diagnose erwies sich als
falsch].
Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter schon bzw. noch immer sehr
krank. Das Cortison hatte ihren Körper aufquellen lassen.
434
24 – 26 Jahre / Auszeit
Mein Bruder, in diesem Jahr 20 Jahre jung geworden, fühlte sich sehr allein.
Er stellte sich vor, wie sein Leben wohl weiter gegangen wäre, wenn erst seine große Schwester und
dann auch noch seine Mutter durch Suizid gestorben wären. An die Folgen, die mein Tod in seinem
Leben (und auch im Leben meiner Mutter) bewirkt
hätte, hatte ich überhaupt nicht gedacht.
Selbstmord ist eine sehr egoistische Angelegenheit
– jedoch nicht aus Böswilligkeit heraus, sondern
weil die nicht mehr zu ertragende Verzweiflung
zur totalen Isolation führt und dadurch jegliches
Gefühl von Freundschaft, Vertrauen, Anteilnahme,
Verständnis, Liebe und Mitgefühl abtötet, und das
mitunter bereits lange vor der eigentlichen suizidalen Tat (siehe dazu im Anhang 1 auch den Text
»Der Schmerz der Suizidalität«).
435
24 – 26 Jahre / Auszeit
Sonntag, 15.10.2006
Ich kann immer noch nicht schlafen. Die Woche bei Mutter war sehr
anstrengend. Wir wohnten in der leeren Ferienwohnung bei ihr im
Haus. Nun ja, und diese Wohnung haben mein Freund und ich nun
ab Januar 2007 gemietet. Ja, ich will nach Bayern ziehen. Ich nehme
inkauf, dass viel Arbeit und viele neue Probleme auf mich zukommen
werden. Sorgen mache ich mir vor allem darum, wie und ob ich mit
Mutti zurecht komme, denn sie hat sich kein Stück gebessert. Doch
diese Tatsache verdränge ich.
Freitag, 27.10.2006 – Gewicht 55,9kg
Ich weiß, ich begehe den größten Fehler meines bisherigen Lebens mit
dem Umzug nach Bayern, … wegen meiner Mutter, wegen Bastian,
wegen der Isolation, wegen mir, wegen der Zukunft. Doch es gibt
kein Zurück. Die Entscheidung ist gefallen wie zu der Zeit, als ich
meinen Selbstmord beschlossen hatte. Mein neuer Lebenswille ist
zerbrochen, meine Hoffnungen sind versandet. Doch vielleicht …
vielleicht überrascht mich das Leben ja und ich erwache irgendwann
wieder.
Meine Worte fallen auf unfruchtbaren Boden, meine Gedanken verlieren sich in Unverständnis, meine Gefühle sind nicht mehr wahr.
Ich ergebe mich … Carsten (Name geändert), meinem neuen Freund.
Ich schreibe einen Abschiedsbrief. Darin … für Bastian, für Carsten
ist es das Beste, wenn ich nicht mehr bin. Meine Mutter wird leiden
und ich verschulde mich an ihrem Tod. Im Sonnenschein laufe ich die
Straße in Richtung Wald entlang. In meinen Jacken- und Hosentaschen befinden sich meine einzelnen Tabletten … 50? 100? 200? …
in der Hand halte ich eine Wasserflasche. Der Wald ist erreicht. Ich
verlasse den Weg, ziele einen weitab liegenden Baum an, setze mich
darunter und lehne mich mit dem Rücken an ihn. Der Himmel ist
blau, doch für mich grau. Der Gesang der Vögel ist für mich stumm.
436
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ich bin ruhig, weine vielleicht um das, was ich nicht mehr erleben
werde. Ich nehme immer eine handvoll Tabletten mit einem Mal. Es
muss schnell gehen, damit ich nicht einschlafe, ohne vorher die tödliche Menge geschafft zu haben. Ich schlafe zufrieden und erleichtert
ein. Oder doch nicht?
Das Leben könnte mich lieben … und ich es ebenso. Dann war der
Umzug die richtige Entscheidung, für alle. Meine Hoffnung ist also
doch noch nicht vollständig verflogen.
Donnerstag, 23.11.2006 – Gewicht 57,1kg
Alles läuft irgendwie nicht so gut. Finanziell geht es mir ziemlich
schlecht. Die Vermietergesellschaft hat meine Kündigung abgelehnt.
Ich kann die Miete aber nicht weiterzahlen. Doch ich muss es, solange die Kündigung unwirksam ist. […] Wenn ich aber kein Geld habe,
kann doch auch nichts von mir geholt werden!? Die AOK will auch
über 150,- Euro noch von mir. Und die Woche in Bayern steht an.
Gesundheitlich geht es mir auch nicht gut. Habe eine Entzündung in
der Lunge. Aber das Beste war heute der Orthopäde. Er meinte, ich
müsste schnellstmöglich an der Wirbelsäule operiert werden. Auf der
Straße habe ich dann geweint, denn der Heilungsprozess soll über ein
halbes Jahr dauern. Werde ich schon wieder ein Jahr meines Lebens
verlieren? Ich habe so Angst!
Überdies verfolgen mich viele Bilder des letzten Jahres: meine
Arbeitslosenzeit, Angst vorm Call-Center, meine Entscheidung zu
sterben, Schreien auf dem Feld, Polizei vor der Tür (beste Freundin
hatte sie gerufen aus Sorge um mich), Abschied von der Sonne, die
ersten Tage in der Psychiatrie, das Abbrennen meiner Haare, Tasse
zerschlagen und Pulsadern anritzen, neue Freunde und verlorene
Freunde. Ich weine so oft in den letzten Tagen. Bin ich enttäuscht
von mir? Habe ich Angst vor mir? War ich das noch wirklich? Kann
es wieder dazu kommen? Ich kann es einfach nicht abschütteln.
437
24 – 26 Jahre / Auszeit
Sonntag, 10.12.2006
(18:35 Uhr) Es ist alles wieder vorbei. Nach Unterzeichnunge des
Mietvertrages letzten Montag führten Carsten und ich ein ernstes
Gespräch. Wir beschlossen die Trennung. Ich musste hart dafür
kämpfen. Ich legte alles auf eine Waagschale und eine Trennung ist
das Beste, wohl mehr für mich als für ihn. Wir ließen den Mietvertrag kündigen und mussten für die zwei Wochen unseres Aufenthaltes in der Ferienwohnung Miete zahlen, bzw. nur ich. Carsten
trank einiges an Alkohol und verspielte all sein Geld, welches ich ihm
geliehen hatte. Nun hat er nichts mehr. Morgen erfährt er, ob er seine
gekündigte Wohnung behalten kann. Ich darf dann weiter bei ihm
wohnen. Bastian und Mutti suchen mir eine Wohnung in Waldkirchen / Niederbayern. Ich bin gar nicht panisch. Wenn alles nicht
klappt, lasse ich mich eben wieder einweisen und verliere alles.
Seit einer Woche lese ich das Buch »Aussöhnung mit dem inneren
Kind«. Es verwirrt mich ziemlich, denn ich bin von meinem Kind
abgetrennt, lasse es allein mit all seiner Angst, Einsamkeit, Wut und
anderen Gefühlen. Ich muss mich an die Arbeit machen, dieses Kind
liebevoller zu behandeln. Doch in nächster Zeit werde ich wohl kaum
dazu kommen.
PS: Habe mich wieder auf dem Handrücken verbrannt.
(23:30 Uhr) Ich kann nicht lieben, so wie die meisten Menschen es
wohl können. All die Gesten, Worte und Handlungen, die Liebe zum
Ausdruck bringen, sind für mich schwer hervor zu bringen. Ich kann
nur in dem Maße lieben, in dem ich mich selbst liebe und das reicht
nicht aus, um das Herz eines Anderen zu befriedigen. Je mehr ich
zerstöre und verletze, umso mehr Angst zeige ich vor der Liebe, die in
mir aufkeimen will und mich gesunden lassen könnte.
438
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ich hatte ein Horoskop für das
Jahr 2007 aus irgendeiner Zeitschrift in mein Tagebuch geklebt,
siehe Bild rechts, und folgendes
dazu geschrieben:
Montag, 11.12.2006
»Ab September suchen Fische Tiefgang, Harmonie und Verlässlichkeit. Und plötzlich lieben all diejenigen stabil und zukunftsträchtig,
die eher einen kumpelhaften Partner suchen.«
Ich muss nächstes Jahr kämpfen, dass diese Prophezeiung für Liebe
nicht wahr wird.
439
24 – 26 Jahre / Auszeit
Diese Prophezeiung sollte aber tatsächlich wahr werden:
Im Sommer 2007 werde ich mit einem ganz besonderen Mann zum
ersten Mal in meinem Leben höchste Liebes-(auch Sex-)Gefühle
erleben. Während einer letzten körperlichen Verschmelzung mit ihm
erfahre ich unerwartet und unvorbereitet das »Einssein mit allem«,
als ich meinen Körper verlasse und »zum körperlosen Universum
werde«, wo mich absolut überwältigende Ruhe, Frieden, Klarheit
und Liebe durchströmen. Später werde ich lesen, dass solch eine
Erfahrung im Tantra als »kosmischer Orgasmus« bezeichnet wird.
Diese Erfahrung verfestigt innerhalb weniger Sekunden all meine
Vorstellungen und Empfindungen über das »Geist-Seele-BewusstSein im Körper« und wird mich für immer verändern. Leider hat
diese Beziehung aufgrund zu großer räumlicher Distanz keine
Zukunft.
Etwas später, exakt im September 2007, werde ich einem weiteren,
ganz besonderen Mann begegnen. Sein Reichtum an irdischem
Wissen hilft mir zu erkennen, dass ich nicht verrückt bin. Und durch
die Liebe zu ihm entdecke ich die Liebe zu mir selbst. Durch viele
harte Lektionen während einer vier Jahre langen Partnerschaft mit
ihm werde ich das Geschenk erhalten, zu erfahren, wer ich bin und
werde lernen, selbstsicher meinen eigenen Weg zu gehen.
Im Jahr 2006 jedoch hatte ich noch Angst vor der Liebe, weil ich sie
stets nur mit Streit, Ambivalenz und Leid assoziierte. Daher betete
ich um die Nichterfüllung dieses Horoskopes. Meine unbewusste
und starke Sehnsucht nach Liebe war jedoch stärker als diese unbewusst formulierten Worte dieses kurzes Gebetes, welches letztlich
nur auf Angst beruhte und daher unwirksam war.
440
24 – 26 Jahre / Auszeit
Mein Kommentar im Tagebuch zu diesem obigen
Passbild:
Freitag, 15.12.2006
Aufnahmedatum:
Straftat:
Urteil:
Strafmaß:
14.12.2006
Selbstzerstörung
Schuldig
Lebenslänglich
441
24 – 26 Jahre / Auszeit
Sonntag, 17.12.2006 – Gewicht 53,9kg
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal mit einer
Rasierklinge verletzt habe. Heute ist es geschehen. Ich befürchtete,
dass es zu schmerzhaft sein würde. Aber der Schmerz betrug vielleicht nur ein Prozent im Vergleich zum Verbrennungsschmerz. Das
Schneiden aber hat mich nicht beruhigt trotz der Tiefe der Schnitte,
die genäht werden müssten.
Montag, 25.12.2006 – Gewicht 54,5kg
Es weihnachtet, doch nicht bei mir. Habe mich eben wieder in den
Oberarm geschnitten. Mutter erzählte mir gestern, der Prozess gegen
ihren damaligen Partner soll wieder aufgerollt werden. Ich glaube
dem aber nicht so recht.
Ich habe Angst vorm nächsten Jahr, aber nicht so intensiv wie Ende
letzten Jahres. Ich habe noch Hoffnung, dass ich zumindest meinen
Besitz von hier bei Carsten nach Bayern in meine eigene Wohnung
bringen kann. Ich will nicht schon wieder alles verlieren. Ich glaube,
das überstehe ich nicht noch einmal.
Donnerstag, 28.12.2006 – Gewicht 53,9kg
Gestern schickte ich meine Bewerbung ab für ein Stipendium für das
Diplom-Fernstudium »Schriftsteller werden«. Fünf Gedichte, mehrere Auszüge aus meinem Text »Ich und die Welt« sowie Auszüge
aus meinem Roman »Glasglockenleben«, an dem ich seit Wochen
schreibe. Weil ich mit meinem Gedicht »fremd mitleben« an einem
Schreibwettbewerb mitgewonnen habe, bin ich qualifiziert, mich für
dieses Stipendium zu bewerben. Ich versuche trotz allem, an einem
Traum weiterzuarbeiten. [Anm.: Ich erhielt ein 10%iges Stipendium]
PS: Eine weitere Brandwunde ziert mein rechtes Handgelenk.
442
24 – 26 Jahre / Auszeit
Auf ein gutes neues Jahr 2007!
Schlimmer konnte es ja nun nicht mehr werden.
Wie es mit mir weitergehen sollte, wusste ich
nicht. Es war mir irgendwie egal.
443
24 – 26 Jahre / Auszeit
Dienstag, 02.01.2007
Ich habe meinem Hausarzt heute anvertraut, dass ich gern sterben
will. Er hätte mich am liebsten gleich wieder in die Geschlossene
eingewiesen. Ich weigerte mich. Er rief meinen Psychiater an, zu dem
ich dann auch gehen musste. Vorher verabreichte mir mein Hausarzt
noch eine Infusion mit »Haldol« und »Diazepam«. Davon habe ich
Probleme mit meinen Bewegungen und mit dem Sprechen bekommen, wurde müde. Aber es war gegen Nachmittag wieder komplett
weg. »Seroquel« soll ich jetzt morgens und abends 200mg nehmen.
Ich wäre so gern weg. Aber was täte ich Bastian und Mutti damit
an?
444
24 – 26 Jahre / Auszeit
Carsten, bei dem ich seit August untergekommen war, hatte mich
im Januar 2007 rausgeworfen (mein Hab und Gut war aber sicher bei
ihm eingelagert). Ich kam bei meinem Paten Alfred (aus der ersten
Klinik) und seiner Frau in Würzburg unter, während mein Bruder
und meine Mutter in Bayern eine Wohnung für mich suchten.
Ich selbst wusste nicht mehr, was ich wollte. Ich hatte aufgegeben,
mir Ziele zu setzen und (über)lebte nur noch von der Hoffnung. Was
blieb mir auch anderes übrig, wenn Gott mich (noch) nicht bei sich
haben wollte?
Also versuchte ich, irgendwie am Leben zu bleiben. Ich ließ mein
Leben von anderen Menschen planen (mein Betreuer, mein Bruder
und meine Mutter, Alfred und seine Frau) und ergab mich dem.
445
24 – 26 Jahre / Auszeit
nur show
die wertigkeit meines lebens
errechnet sich aus witzen,
humoristischen karikaturen und
verunstalteten protagonisten gleich.
sie liegen in fluren auf dem boden,
der die zeit ihres lebens in sich aufsaugt.
in jedem atemzwang versickernd läuft
so auch mein leben in die kellerräume
und landet bei der nächsten entrümpelung
im container.
Januar 2007
446
24 – 26 Jahre / Auszeit
Freitag, 19.01.2007 – Gewicht 57,3kg
Jetzt bin ich schon den 13. Tag bei Alfred und seiner Frau. Am 05.02.
ist der Umzug nach Bayern, der Sprinter ist gemietet. Am 03.02. fahre ich schon zu Carsten, um den Rest meiner Sachen noch zu packen.
Ich habe mich diese Nacht schlimm geschnitten. Ich habe Angst. Aber
gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, dass die Angst unbegründet
ist. Mal sehen, wie es kommt, ob ich dieses Buch hier noch beende
irgendwann.
Mittwoch, 07.02.2007 – Gewicht: 57,1kg
Ich bin eingezogen und nun auch total pleite für den Rest des Monats. Aber ich hoffe, es hat sich gelohnt.
447
24 – 26 Jahre / Auszeit
Im Februar 2007 zog ich in eine Wohnung, die meine Mutter und
mein Bruder in ihrer Nähe für mich gefunden hatten – und damit
500km weit weg von dem, was mir etwa sieben Jahre lang eine Heimat gewesen war.
Alfred und seine Frau bezahlten den Umzug und halfen mir. Auch
Carsten half mit. Diesen Menschen habe ich zu verdanken, dass ich
nicht noch ein zweites Mal fast mein gesamtes Hab und Gut verloren
habe.
448
24 – 26 Jahre / Auszeit
Ich war bereits für einen weiteren, dritten Klinikaufenthalt angemeldet. Ich betrachtete ihn als meine allerletzte Chance. Würde es dort
nicht besser werden, wollte ich mich umbringen, kostete es was es
wollte. Gott hätte mich nicht noch ein zweites Mal davon abhalten
können, das hatte ich mir geschworen.
Dort jedoch begann mein Erwachen. Dort erwachte »Maja« (den
Namen gab ich mir selbst) – später wurde daraus mein heutiger
Rufname »Maya«.
Zuvor aber durchlebte ich in Bayern – in einem winzigen kleinen
Dorf, wo ich die Sprache der Menschen absolut nicht verstand –
noch einmal etwa drei Monate voll unsäglicher Einsamkeit, Zweifel,
Ängsten, zermürbenden Schuldgefühlen und Armut. All die Ablenkungsmöglichkeiten, die eine Großstadt so attraktiv machen, gab es
dort nun nicht mehr. Ich war großenteils allein – nur mit mir selbst.
449
24 – 26 Jahre / Auszeit
Freitag, 09.03.2007 – Gewicht 55,2kg
Fast zwei Kilo habe ich schon mühsam abgenommen. Ich will es unbedingt wieder auf 49kg schaffen. Und ich werde es schaffen.
Heute ist mein Geburtstag Nummer 26. Es bedrückt mich, wenn ich
daran denke, dass ich etwa seit meinem 16. Lebensjahr mit einer psychischen Krankheit kämpfen muss. Zehn lange Jahre!!! Viele Narben
und viele schreckliche, schmerzliche Erfahrungen in Partnerschaften,
Freundschaften, im Job, in der Psychiatrie. Werde ich irgendwann
jemals gesund werden?
Gestern bekam ich wieder ein neues Medikament: »Stangyl«. Dafür
soll ich »Seroquel« und »Taxilan« weglassen. Aber besser schlafen
konnte ich nicht und in mir ist alles einfach nur traurig. Aber es
merkt keiner, weil ich in Gesellschaft gesprächig und humorvoll
bin und viel lachen kann. Wer bin ich denn? Die Fröhliche oder die
Depressive?
Seit 05.02. wohne ich nun in einem Vorort von Waldkirchen in Niederbayern. Bastian und Mutti sehe ich oft. Sie müssten gleich vorbei
kommen. Ich fühle mich wohl hier, wesentlich besser als in Wiesbaden. Aber ich habe nur zwei neue Menschen in meinem Alter bis
jetzt kennengelernt. Vor allem die vielen einsamen Tage, Abende und
Nächte sind so gefährlich. Ich träume wieder vom Suizid, als wäre
er mein bester Freund. Aber ich bin dabei, einen großen Traum zu
verfolgen: mein erstes Buch. Seit etwa Dezember voriges Jahr schreibe
ich über meine Zeit in der ersten Klinik. [...]
Ich bin bereits in einer neuen Klinik in Mannheim angemeldet und
erfahre Ende März, wann ich aufgenommen werde. Ich denke, ich bin
jetzt wirklich bereit, meine Probleme ernsthaft und ohne Ausgrenzung meiner Gefühle anzugehen.
Jetzt schon fürchte ich mich vor der nächsten Zeit der Arbeitslosigkeit
(bin seit der Psychiatrie durchweg krank geschrieben). Ohne Auto
ist hier alles ziemlich erschwert. Werde ich daran oder an meinem
nächsten Job wieder zerbrechen?
450
24 – 26 Jahre / Auszeit
ein versuch
ich kaufte mir ein schreibheft
und einen stift dazu
weiß, nur weiße geschichten
erzählen alles
was gehört werden will
aber nicht gesehen
nicht im eigenen haus
oh, ich habe viel zu sagen
festgehalten zwischen papier und schreiber
flüstere ich meine memoiren auf die karierten blätter
so eckig und kantig wie meine worte selbst
verfallen sie eines nach dem anderen dem radiergummi
und ich ziehe einen schlussstrich
am ende all der leeren seiten
es ist mein bester roman geworden
März 2007
451
24 – 26 Jahre / Auszeit
Montag, 19.03.2007 – Gewicht 55kg
Ich sitze hier allein in meiner Wohnung, trinke Kirschlikör und Bier,
will mir am liebsten das Hirn wegsaufen. Wen könnte ich anrufen?
Wer könnte, wollte mir helfen? […] An meinem linken Arm sind
Massen an Lagen von Haushaltsrolle um die neuen Wunden mit
Mullbinde gebunden. Es war zu schlimm. Die Wunden sind zu tief,
klaffen weit auseinander. Sie müssten genäht werden. Ich bin so
allein. Ich will mich nur noch zerstören, im Boden versinken.
Sonntag, 25.03.2007 – Gewicht 55,1kg
Ich weiß gar nicht, wie ich formulieren soll, was ich schreiben will.
Ein besonderer Mensch ist in mein Leben getreten und ich hoffe, das
auch noch lange Zeit sagen zu dürfen. Es ist Finn (25 J., Name geändert). Das ganze Wochenende haben wir gemeinsam verbracht, viel
gelacht, viel geredet, viel gekuschelt und auch schon intimer. Kann
ich denn überhaupt lieben? Werde ich auch ihn zerstören? Was geht
in mir vor? Es geht mir gut mit ihm, aber ist dieses Gefühl echt? Ich
schwor mir, nicht wieder den selben Fehler zu machen wie mit M.,
A., C. und J. (eigentlich allen außer Sascha). Diesen Menschen habe
ich mich nur hingegeben, weil sie sich in mich verliebt hatten und ich
es genoss. Ob ich ihnen je wirklich Liebe erwiderte, daran zweifle ich
heute. Immer ließ ich mich erobern. Nie bin ich es gewesen, die sich
in einen Menschen verguckt hatte. Ich musste mich nie bemühen,
sondern ließ mich quasi von ihren Gefühlen überreden. War das so
richtig? Finn ist Sascha sehr ähnlich, die selbe Statur, kurze Haare,
Brille, feinfühlig. Ich glaube, ich mag ihn wirklich. Ich denke, ich
fühle wirklich etwas für ihn und gerade an meiner Angst merke ich
es. Wir kennen uns noch kaum und ich weiß nicht, ob er mich mit
meiner Krankheit, wenn er diese wirklich mit erlebt, noch mögen
wird. Aber ich merke auch, ich habe viel schon dazu gelernt, wie man
eine gesunde Beziehung führen kann. Wichtig ist, kein manipulatives
Verhalten einzubringen, im Hier zu bleiben, an seine Bedürfnisse
und Gefühle zu denken, mich nicht zum Mittelpunkt zu machen.
452
24 – 26 Jahre / Auszeit
schiffbruch
ungläubig blicke ich hinter mich
auf das trügerisch ruhige azur
nur die dreieckförmigen wellen
erinnern, dass ich da gewesen war
dass ich kämpfte und siegte
von tosenden stürmen erzählen kann
in deren wütenden wellen ich tanzte und jubellierte
da, wo das wasser sich nun genüsslich sonnt
sich meine vergangenheit einverleibt, den fischen zum fraß
auf dem grund die überreste
an der oberfläche ein stetes warten
auf gegenwind
furchtsam mein blick nach vorn
auf das trügerisch ruhige azur
nur diese unmengen an wasser in meinem boot
erinnern an mein ewiges treiben hier
März 2007
453
24 – 26 Jahre / Auszeit
Dienstag, 27.03.2007 – Gewicht 55,8kg
Ich habe mich heute wieder zwei Mal schwer am rechten Oberarm
geschnitten. Die Wunden müssten genäht werden, aber wozu?
Eben holte ich im Bad meine Schlaftabletten. Warum nur muss es
Menschen geben, die mich lieben?! Sie ketten mich an eine Welt, in
der ich nicht länger leben will. Ich weine gerade ohne Ende. Es wäre
so leicht, dies alles hier hinter mir zu lassen, aber man erlaubt es mir
nicht.
Die ganzen finanziellen und ständigen Sorgen. Ich will mich nicht
länger mit solch unwesentlichen Dingen beschäftigen müssen.
Wieder eine neue Klinik und danach dann wieder arbeiten müssen,
obwohl ich nie gesund werde.
Ich habe so Angst, soll eigentlich die Klinik anrufen, um den Aufnahmetermin zu erfahren. Was aber soll das Ganze? Einfach 50 Tabletten nehmen und ich werde glücklicher sein, als ich es in diesem Leben
je werden könnte.
Ich will fort. Diese Welt macht mir Angst. Ich kann hier nicht atmen.
Dieser Körper um mich herum ist das Einzige, was noch lebt. Ich bin
… ich will nicht mehr.
454
24 – 26 Jahre / Auszeit
kriegsopfer
was das leben angeht
bin ich zerbombt
ein minenfeld
die kampfflieger verfolgen
schon die nächsten
verfangen in den überall
aufgestellten stacheldrahtzäunen
schreien sie sich das blut
aus augen und ohren
sanitäter sammeln sie ein
auch mich
bahren uns in der kapelle auf
und lassen fremde um uns weinen
März 2007
455
24 – 26 Jahre / Auszeit
Montag, 02.04.2007 – Gewicht 55,4kg
Ich habe heute erfahren, wann ich im Zentralinstitut in Mannheim
aufgenommen werde: exakt in vier Wochen am 30. April. Ich rief
gleich Alfreds Frau an, ob ich das Wochenende davor bei ihnen sein
kann, weil ich Montag bis 12:30 Uhr einchecken muss. Sie bespricht
es mit Alfred und will mich heute Abend anrufen. Hoffentlich klappt
es.
Ich freue mich auf die Klinik und habe gleichzeitig Angst, weil ich
es als meine letzte Chance sehe. Und das Krankengeld geht aus, ich
werde arbeiten müssen.
Es erwartet mich ein sehr hartes Jahr.
Dienstag, 17.04.2007 – Gewicht 54,8kg
Ich kann an nichts anderes denken als an die Klinik – und an das
ablaufende Krankengeld.
Am liebsten würde ich Schluss machen, flüchten vor dem, was mich
erwartet. Ich mache mir große Sorgen, wie ich Miete, Strom, Handy
bezahlen soll, während der Antrag läuft … ja, welches Geld bekommt
man eigentlich, wenn Krankengeld ausgelaufen ist, man aber noch
arbeitsunfähig ist? Ich will nicht wieder alles verlieren!
Ich bin in letzter Zeit sehr traurig und weine viel. Ich habe Heimweh
nach Wiesbaden – vor allem nach meinen verlorenen besten Freundinnen.
456
24 – 26 Jahre / Auszeit
Donnerstag, 19.04.2007 – Gewicht 56,6kg
Ich hasse diesen Körper, in dem ich leben muss. Er ist so fett, so
unförmig, so ekelhaft. Ich will raus aus ihm oder 10kg von ihm abschneiden. Wie viel werde ich wohl in der Klinik noch zunehmen? Ich
will wieder dünn sein, von nichts leben können. Wie konnte es nur so
weit kommen? Es ist unerträglich.
Ich muss mich in der Klinik unter Kontrolle halten, muss diszipliniert essen. Was ist, wenn ich nach dem Essen überwacht werde,
nicht erbrechen kann? Was ist, wenn ich mir Nahrung aufs Zimmer
mitnehme und Fressanfälle bekomme? Ich bin so unglücklich in diesem Monstrum aus Fleisch, aus Narben und Sünden. Für was habe
ich es verdient, weiter zu leben? Doch nur für andere!
Ich soll kämpfen, gesund zu werden, dabei bin ich nichts weiter als
meine psychische Krankheit. Nach der Klinik werde ich in die selben
zerstörerischen Verhaltensweisen zurück fallen und dann werden alle
verstehen, dass es das Beste für mich ist zu gehen. Sie kommen schon
ohne mich zurecht. Wer braucht mich denn schon – wofür?
Niemand sagt mir, wie ich mit mir zurecht kommen soll, mit so viel
Masse, so vielen Narben. Wie ich mit so starker Todessehnsucht
überleben kann, glücklich werden kann. Das ist unmöglich!
Ich werde meine gesammelten Tabletten mit in die Klinik nehmen,
um mich umbringen zu können, wenn es zu schwer wird. Ich sehne
mich so sehr nach Ruhe, Frieden, nach meiner Oma. Das schönste
Geschenk, das man mir machen könnte, wäre, mir zu erlauben, mich
umzubringen.
Warum nur habe ich mich voriges Jahr so dumm angestellt?! Ich
hätte doch wissen müssen, dass die ca. 25 Tabletten (die laut Ärztin durchaus zum Sterben gereicht hätten) schon nach einer halben
Stunde wirken! Ich nahm sie bei meinem damaligen Freund, bevor
er mich heim fuhr. Bei mir angekommen, ging dann nichts mehr. Ich
stieg aus dem Auto und fiel um. Der Krankenwagen kam, ich trank
457
24 – 26 Jahre / Auszeit
Kohle, erbrach, trank noch mehr Kohle, kam am nächsten Tag in die
geschlossene Psychiatrie und weinte tagelang um meinen gescheiterten Selbstmordversuch. Eigentlich wollte ich zuhause noch 100 - 200
Tabletten nehmen, die ich gesammelt hatte. Und dann wäre ich frei
gewesen.
Ich kann nicht schlafen ohne meine 400mg »Seroquel« am Abend
und ich habe sie jetzt nicht genommen, um Zeit zum nachdenken zu
haben.
Morgen sehe ich Finn wieder. Ich habe Angst. Er hat gern Sex und
ich gebe es ihm, wie ich es schon so vielen gegeben habe, ohne es
selbst zu wollen, ohne es genießen zu können. [...] Mit Carsten will
ich am liebsten nichts mehr zu tun haben (er sagt, er liebt mich). Wie
konnte ich mich nur auf einen 60jährigen, hochgradig eifersüchtigen,
alkoholkranken, spielsüchtigen Typen einlassen? Mich ekelt, wenn
ich daran denke, wie er mich angefasst hat, wie ich ihn angefasst
habe. Es hat mich fast zerstört. Nur der Ortswechsel konnte mich
von ihm befreien. [...] Ich habe mich benutzen, mich besitzen lassen,
wollte mich ihm ergeben, mein Leben aufgeben. Bin ich genial oder
geisteskrank?
Alfred und Anita holen mich nächste Woche Dienstag schon zu sich.
Ich freue mich auf die Zeit mit ihnen.
Ich weiß nicht, ob ich aus der Klinik zurück kommen werde.
(Keine weiteren Einträge im Tagebuch für etwa 4 Monate.)
458
24 – 26 Jahre / Auszeit
26 – 31 Jahre / Heilzeit
In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer
Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung. Alle
möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung
und sorgt für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle,
Begegnungen, Hilfen.
Was immer du kannst, beginne es.
Kühnheit trägt Macht, Genius, Magie.
Beginne jetzt.
Johann Wolfgang von Goethe
459
24 – 26 Jahre / Auszeit
460
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Am 30.04.2007 war mein Aufnahmetag im Zentralinstitut Mannheim, der dritten und letzten Klinik.
Die Diagnosen lauteten:
• Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom BorderlineTypus
• Bulimia Nervosa
• Generalisierte Angststörung
• Schädlicher Gebrauch von Alkohol
12 Wochen war ich dort.
461
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Notiz vom ersten Tag:
Seit Dienstag war ich ja bereits bei Alfred und Anita. Den ersten Tag
bei ihnen war ich noch recht froh gelaunt, doch drückte meine Nervosität meine Stimmung sehr schnell runter.
Nun bin ich hier im Zentralinstitut in Mannheim auf der BorderlineStation 4c mit 12 Betten. Es erfolgten die ersten obligatorischen
Gespräche mit der Körperärztin, meiner Psychologin und dem Pflegepersonal, einige kurze Gespräche mit Mitpatienten, Auspacken, die
erste halbe Stunde des montäglichen Flamenco.
Während des Auspackens weinte ich dicke Tränen aus so vielen
Gründen. War es richtig, hierher zu kommen? War es richtig, hier
überhaupt eine neue Therapie zu beginnen? Werde ich Erfolg haben?
Was wird der Erfolg sein?
So viele Ortswechsel dieses Jahr schon: Wiesbaden, Würzburg, Waldkirchen, wieder Würzburg und nun Mannheim für drei Monate. Ich
fühle mich wurzellos und nirgends gibt es ein Zuhause für mich.
Ich setze mich unter Druck, weil ich glaube, dies hier ist meine letzte
Chance. Danach muss ich das normale Leben meistern können.
Zu den Mahlzeiten achtet niemand darauf, was und wie viel ich esse.
Vielleicht kommt es noch, wenn ich hier an Gewicht verlieren sollte.
Es gibt mir Sicherheit, Nahrung zwischen den geregelten Mahlzeiten
hier nicht ausgeliefert zu sein. Aber es löst mein Problem nicht, wenn
ich dann später wieder zuhause bin.
Abends war Kreativ-Abend. Alle 12 Patienten gingen mit Pflegepersonal Kegeln (unten im Keller des Klinikgebäudes). Es war lustig
teilweise, aber ich fühle mich unter den Leuten noch nicht wohl.
Auch auf das Doppelbettzimmer konnte ich mich seelisch nicht
vorbereiten. Ich habe hier keine einzige Möglichkeit, mich zurück zu
ziehen, weil die Klinik sehr groß ist und überall Leute sind. Dann
462
26 – 31 Jahre / Heilzeit
auch noch mitten in der Stadt! Ich weiß noch nicht, wo ich mich hier
selbst verletzen könnte, wenn der Drang zu stark wird. Darüber
mache ich mir jetzt schon Sorgen. Auch wenn es eine offene Station
ist, bin ich doch eingesperrt.
Am Abend kam noch Prof. Dr. Bohus kurz zu mir ins Zimmer, setzte
sich an mein Bett und stellte mir viele unangenehme Fragen über
mich und mein Leben, die ich nicht beantworten wollte. Er rät mir zu
einer Traumatherapie nach der Borderlinetherapie.
463
26 – 31 Jahre / Heilzeit
In dieser Zeit fand ich endlich zu mir!
Ich begann, Schritt für Schritt den »Gefühls-Wahnsinn« in mir anzunehmen und mich mit mir und in mir so richtig wohlzufühlen.
Aber erst, nachdem ich die ersten drei Wochen wie ein Rebell gegen
alles angekämpft hatte (mehrmals mussten neue Schnittwunden
genäht werden) und man mich aus der Klinik rausschmeißen wollte,
sprich in ein 3tägiges Time-Out schickte (wegen den Tabletten, die
ich heimlich mitgebracht hatte, und den Rasierklingen, die ich im
Krankenhaus, wo ich zum Nähen war, geklaut hatte), was dann
schon mein zweites Time-Out war (das erste wegen den mitgebrachten Rasierklingen und weil ich nicht über meine Probleme reden
konnte).
464
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Original-Notiz von Donnerstag, 24.05.2007
Ich bin im Time-Out. Viel ist passiert.
Ich habe mich am Dienstag wieder selbst verletzt. Und in der VABesprechung (Verhaltens-Analyse) am Mittwoch gab ich zu, im
Besitz von Klingen und Tabletten zu sein. Alle waren geschockt. Ich
habe das Vertrauen des Stationsteams in mich zerstört. Und so konnte mit mir nicht weiter gearbeitet werden. Ich sollte bis Dienstag (also
fast eine ganze Woche) ins Time-Out. Ich war am Boden zerstört und
glaubte, sterben zu müssen. Im Gepräch mit Prof. Dr. Bohus wurde
das Time-Out verkürzt.
Morgen vor dem Team muss ich alle davon überzeugen, dass ich es
ehrlich meine und dass ich es wert bin, dass man mich weiter therapiert.
Ich habe mich endgültig entschieden, den »Neuen Weg« zu gehen.
Und davon muss ich sie überzeugen.
Auszug aus meinem Roman »Glasglockenleben – 99 Tage Wahnsinn(s)
Leben«:
Etwa ein halbes Jahr später begab sie sich erneut für zwölf Wochen in die
Fürsorge einer anderen Klinik, ihrer letzten Chance. Und dort geschah es:
Nach drei Wochen, in denen sie märtyrergleich die Borderlineketten enger
um sich schnürte, sich weiterhin rebellisch in ihren selbstschädigenden
Verhaltensweisen austobte, das innere Leidenslabyrinth zu einem unerträglichen Ausmaß in die Höhe baute und ein Rausschmiss aus der Klinik
drohte, erwachte Maya plötzlich. Aus den Tiefen ihrer kämpferischen
Wildnatur heraus entschied sie sich – während eines dreitägigen Time-Outs
(Entlassung aus der Klinik) – unter Qualen und Ängsten für das Leben,
für den Weg der Heilung, und damit gegen den Tod – gegen ihren bis dahin
vertrautesten Begleiter.
465
26 – 31 Jahre / Heilzeit
»ICH WILL LEBEN!« Noch heute überzieht ein Gänseschauer meinen
Körper, wenn ich diese Worte ausspreche, hinaus schreie, denn niemals
hätte ich zu glauben gewagt, sie jemals mit so innbrünstiger Emotionalität
auszusprechen. Tränen unglaublicher Dankbarkeit zieren mein Gesicht
– Dankbarkeit darüber, dass das Leben 26 Jahre lang geduldig auf mich
gewartet hat!
Das Team der Borderline-Station nahm mich also wieder auf, nachdem ich nach meiner Rückkehr aus dem Time-Out verzweifelt und
weinend vor ihm (ca. 10 Menschen) saß mit meiner neuen Erkenntnis: »Ich will leben! Weiß aber nicht, wie das geht!«.
Ab diesem Moment nutzte ich ihre professionelle Hilfe so intensiv,
wie es mir möglich war – an jedem einzelnen Tag, den ich in dieser
Klinik noch verbrachte.
Notiz von Dienstag, 29.05.2007
Ich bin nun in Stufe 2. Ich habs geschafft und werde durchhalten. Ich
werde den »Neuen Weg« gehen und Erfolg haben.
Ich spüre Gelassenheit in mir und wünsche mir, diese in mir behalten zu können bei allen Sorgen und Problemen, die noch auf mich
zukommen werden.
Zur Bestärkung und zum Dank, schrieb ich in den darauf folgenden
Therapie-Wochen u.a. die Texte »Leben auf dem NEUEN WEG«
sowie das Gedicht »Ode an meine Freunde, die mir Familie sind«
(siehe Anhang 1).
466
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Das Lied »Teyata« von Deva Premal begegnete mir während der
Musiktherapie im ZI Mannheim. Ich ließ es mir von der Therapeutin geben, weil es in mir irgendwas, ich wusste damals nicht was,
bewirkte.
Ich ließ es auf der Station oft sehr laut laufen, so dass alle Patienten
es fast täglich hören konnten, es sogar mitsangen – und lieben lernten (24 Menschen insgesamt / die Borderline- und teilweise auch die
Traumapatienten, deren Station ohne trennende Wände genau neben
unserer war).
Der Text (»Teyata om bekandze bekandze maha bekandze rantza
samudhgate soha«) hing ausgedruckt an der Wand im Flur unserer
Station, damit wir ihn leichter auswendig lernen konnten. Diese
Musik (dass es ein Mantra ist, wussten wir nicht) war reine Magie /
Therapie für uns, obwohl uns das wohl gar nicht so bewusst war.
Monate nach meiner Entlassung erfuhr ich, dass es weder vor noch
nach meiner Klinikzeit eine so harmonische und familiäre Borderline-Patientengruppe gegeben hätte.
Und ich wusste bis vor ca. einem Jahr nicht, wie das Lied heißt und
von wem es ist. Heute weiß ich es – und ich liebe es noch mehr denn
je, weil ich um seine tatsächlich heilsame Wirkung weiß.
Als ich im Jahr 2011 dann die Bedeutung dieses Mantras im Internet
fand, weinte ich … denn es passte einfach perfekt. Ich war so dankbar, dass dieses Lied zu mir geführt worden war (oder ich zu ihm):
»Durch die Meditation auf den Medizin-Buddha und die Rezitation seines
Mantras können Krankheiten aller Art aufgelöst werden. Ziel ist es, sich
und anderen zu helfen. Während der Behandlung kann das MedizinbuddhaMantra zur Unterstützung des Heilprozesses verwendet werden. Aber auch
nach der Behandlung und bei der Einnahme von Heilmitteln kann es vom
Patienten angewandt werden.«
(Quelle: http://tibetische-medizin-tuebingen.de/der-medizinbuddha)
467
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Man beachte den Pfleger rechts hinten im Bild. Er hatte in der Regel
immer nur Spätdienst. Ich saß abends oft bei ihm und wir redeten
über Gott und die Welt – nur dass ich seine Welt irgendwie nicht
verstand. Er sprach davon, wie uns unser Ego beherrschte, und viele
andere ähnliche Sachen. Ich verstand rein gar nichts, war aber von
seinen Worten fasziniert.
An meinem Entlassungstag Ende Juli 2007 überreichte er mir einen
dicken A4-Briefumschlag. Ich sollte ihn erst öffnen, wenn ich spürte, dass die rechte Zeit dafür gekommen sei. Dieser Brief-Umschlag
stand dann zu Hause neben meiner Stereoanlage im Wohnzimmer –
für mich immer im Blickfeld. Zwei Monate lang verspürte ich keinen
Drang, ihn zu öffnen.
Bevor ich ihn öffnen konnte (seinen Inhalt verstehen konnte), musste
noch etwas geschehen, was ich aber zu dieser Zeit noch nicht wissen
konnte.
468
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Donnerstag, 09.08.2007
So viel Zeit ist vergangen und so sehr habe ich mich verändert. Die
Therapie im Zentralinstitut in Mannheim war ein riesengroßer Erfolg. Ich habe zum Leben zurückgefunden. Ich rede wie ein Wasserfall, lache viel und gern und erlaube mir, dass es mir gutgeht. Ich bin
voller Elan, Begeisterung und Motivation. Meine letzte Selbstverletzung war am 23.05.
Die Therapie war härter als alles in meinem Leben zuvor und ich
muss weiter hart an mir arbeiten, damit ich diesen heute eingetragenen Tag nicht irgenwann traurig durchlese, weil ich wieder tief in
der Selbstzerstörung versunken bin. Bis heute aber ist der Selbstverletzungsdrang komplett aus meinem Kopf gelöscht. Ich habe gelernt,
es geht alles anders und vor allem konstruktiver zu lösen. Ich habe
dort bei den Mitpatienten eine Familie gefunden. Wir stehen in
Kontakt per Brief, Mail, SMS und ICQ (Festnetzanschluss habe ich
hier leider nicht). Ich habe ein kleines Gerät, mit dem ich ins Internet
komme.
Und ich habe einen neuen Mann in meinem Leben. Dieses Mal kann
ich wirklich sagen, er ist etwas Besonderes, denn zum ersten Mal
in meinem Leben habe ich wirklich erfahren, wie berauschend schön
Liebe und Sex sein kann. Alle vorherigen Beziehungen scheinen mir
im Vergleich dazu so unecht, als hätte ich noch nie geliebt, nicht
einmal Sascha. Er, Josua (24 J., Name geändert), ist auch Borderliner. Er wurde in der Woche entlassen, als ich aufgenommen wurde.
[…] Egal, wie es mit uns weitergeht (er lebt in Baden-Württemberg),
diese überwältigende Kraft der Liebe gespürt zu haben bei und mit
ihm bleibt mir für immer im Herzen.
Ich fahre wieder Auto, was mich unabhängiger macht. Mutti hat sich
ein neues gekauft und wir teilen es uns. […]
So, mein Liebes, ich hoffe sehr, ich schreibe wieder öfter und höre nie
auf zu kämpfen, denn ...
... Ich will leben!
469
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Mich selbst zu photographieren und die Photos am Computer zu
bearbeiten, war ein wichtiger Beitrag dazu, mit mir selbst jeden Tag
Freundschaft zu schließen.
Bilder von mir – August 2007
470
26 – 31 Jahre / Heilzeit
471
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Nach der Entlassung: Ich liebte das Leben so unglaublich stark, als
hätte ich zuvor noch nie gelebt. Ich fühlte mich wie ein neu geborener Mensch. Ich hätte die ganze Welt umarmen können. So vieles
hatte ich nachzuholen.
Meine Mutter kam damit nur sehr schwer zurecht. Je wohler ich
mich fühlte (und es zeigte), umso depressiver schien sie zu sein. Das
zog mich nach etwa zwei Monaten so sehr runter, dass ich wieder an
Suizid dachte.
Dieses Mal aber wählte ich einen anderen Weg, den »Neuen Weg«.
472
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Bereits in der Klinik hatte ich am 19.07.2007 einen Brief an mich
selbst geschrieben genau für den Fall, dass ich einmal wieder in
Verzweiflung versinken sollte. Der Brief trägt den Titel »Lies mich!«
und lautet wie folgt:
Lies mich, wenn du mal nicht weiter weißt!
Liebe Maja,
wenn du wieder zweifelst, Angst hast, alles unlösbar scheint, du verzweifelt
bist und sogar ans Aufgeben denkst, dann lies, was du hier geschrieben
hast:
»Ich vertraue mir. Ich vertraue auf die Erfahrungen, die ich in der Klinik
gesammelt habe. Heute war der Tag, an dem ich in der Skillsgruppe viel
zum Thema »Emotionssurfing« beigetragen habe und die Therapeutin mir
am Ende noch sagte, ich würde in der Gruppe nach meiner Entlassung
fehlen. Ich spürte während meines Redens, wie sehr ich dieses Thema verinnerlicht habe, wie ich es wirklich annehmen kann, wie ich wirklich vertraue,
dass ich das, was ich sage, auch wirklich erfahren habe. Alles ist wie eine
Welle, vor allem bezogen auf Gefühle und innere Anspannung. Ich gehe den
früher so quälenden inneren Zuständen mit Gelassenheit entgegen, weil ich
erfahren habe, dass alles wie eine Welle kommt, Stunden oder auch Tage
bleibt, und dann wirklich wieder geht. Es nimmt mir die Angst vor meinen
eigenen Gefühlen, es sagt mir, sie sind berechtigt, auch wenn ich ihren Sinn
momentan nicht nachvollziehen kann. Aber alle Erfahrungen bringen mich
weiter, geben mir Lektionen auf, die mir nach ihrer Lösung Hilfestellungen
für das Kommende geben. Sehr wahrscheinlich kann ich daher ein Stück
Gelassenheit empfinden und das lässt mich mich dem Leben näher fühlen.«
Natürlich ist es sicher noch sehr sehr schwer, vielleicht sogar noch schwerer
als in deiner Vergangenheit, aber mit Vertrauen in dich, ist es zu bewältigen. Denk dran: Gefühle nicht bewerten oder wegen ihrer Gegenwart
verurteilen, alles Schritt für Schritt angehen, nicht mit dem Kopf durch die
Wand, nicht der perfekten Lösung nachrennen oder die Ziele in unerreichbare Höhen stecken, deine kleinen Erfolge erkennen und dich dafür belohnen, auf deine eigenen Bedürfnisse achten, dich vor Belastungen abgrenzen,
Situationen nicht kontrollieren wollen sondern auch mal von selbst laufen
lassen, aus Rückschlägen Kraft schöpfen, dich wegen ihnen nicht abwerten,
auch nicht, wenn du mit voller Absicht und voller Klarheit ein dysfunkti473
26 – 31 Jahre / Heilzeit
onales Verhalten angewendet hast. Dann wieder zurück zum Punkt: nicht
mit dem Kopf durch die Wand müssen, Schritt für Schritt, an die Kraft in
dir glauben, die dich in der Klinik so stark hat um dich kämpfen lassen.
Weißt du noch, wie ein einfaches Lächeln dich aus deinen Sorgen befreit
hatte, du dich nur mit dir allein im Treppenhaus der Klinik zum Lachen
gebracht hattest? Weißt du noch, wie überwältigend das war, dich selbst
aufheitern zu können? Dich selbst zum Lachen bringen zu können?
Weißt du noch, wie du auf dem Rückweg zur Klinik warst, die Sonne schien
und es begann zu regnen? Weißt du noch, wie du stehen geblieben bist und
das Gesicht den Regentropfen entgegen strecktest und absolut im Hier und
Jetzt warst, du für einige Sekunden all deine Sorgen ablegen konntest? Und
dann suchtest du nach dem Regenbogen, wie du es eigentlich immer machst
und du fandest ihn auch! Dieselbe Erfahrung sammeltest du auch bei den
Indianern (Musiker) in der Einkaufsstraße in Mannheim, am Rhein mit
Josua, auf der Wiese hinter dem Haus, wo Mutter wohnt, und viele mehr.
Such dir diese kleinen Auszeiten und gönne dir, dass es dir gutgehen darf,
dass du dich achtsam von deinen Sorgen entfernen kannst.
Weißt du noch, wie eine Mitpatientin dir sagte, dass du Menschen wirklich
gut aufbauen kannst und in dir natürlich sofort die Angst herauf raste, dass
du dir selbst daheim aber sicher nicht wirst helfen können? Dann stell dich
vor den Spiegel, lächel dich an und sage, was du deine Mitpatienten sagen
würdest.
Erinnere dich an das Malen deines letzten Bildes in der Gestaltungstherapie. Dabei hast du wahrlich gespürt, wie du dich selbst bei einer so einfachen Beschäftigung befreien kannst von deinem inneren Chaos. Du wusstest, dieser innerliche Zustand ist nicht von Dauer und gerade deswegen
konntest du ihn intensiver denn je spüren, beobachten und auch genießen.
Maja, ich mag dich (und viele andere Menschen übrigens auch). Im Moment habe ich das Empfinden, in dir eine Freundin gefunden zu haben, der
ich vertrauen kann.
Weine nicht, wenn du dich jetzt fragen solltest: »Das habe doch nicht
wirklich ich geschrieben? Wie konnte ich nur glauben, für draußen gewappnet zu sein?« Aber weißt du, das spielt gar keine Rolle. Denn allein weil
du diese Erfahrungen gesammelt hast, musst du nur in dir danach suchen.
474
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Denn ich bin überzeugt, diese kleinen Momente sind nicht verloren, nur in
deiner vielleicht niedergeschlagenen Stimmung nicht mehr sichtbar. Und
so unverständlich es klingt, und auch wenn es eine Floskel ist: Die Sonne
geht immer wieder auf. Und darauf musst du vertrauen, mir jetzt einfach
entgegen aller Angst glauben.
Liebes, du hast ein großes Talent dafür, positive Ereignisse und Erfahrungen zu schaffen. Warum suchst du jetzt nicht einfach danach? Ich weiß, du
schaffst das!
Du hast eine Menge erreicht, was im Detail gar nicht aufzählbar ist. Du
gehst nun mit einer immensen Kraft durchs Leben, die für immer in dir
steckt, sowie mit einem starken Vertrauen in das Gelernte und Erfahrene,
auch wenn du das jetzt vielleicht nicht sehen kannst. Es ist immer in dir
und wird wieder präsent, wenn du dir vertraust und dich gut behandelst.
Schau in das »Buch der Erinnerung«, lies, wie andere Menschen dich gesehen haben und du wirst dich wiederfinden.
Ich bin in diesem Moment sehr stolz auf dich. Du schaffst das!
475
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Während der Therapie kauften wir Patienten uns alle ein kleines
Büchlein. So ähnlich, wie früher mit den Poesiealben, schrieben wir
uns gegenseitig, was wir an dem anderen schätzten und was wir
uns für dessen Zukunft wünschten. Anstatt mich also in meiner
Verzweiflung zu verkriechen, las ich die Zeilen meiner vielen neuen
Freunde in meinem persönlichen »Buch der Erinnerung«:
Liebe Maja,
ich wünsche mir, dass du deinen Lebenswillen und deine Motivation
beibehältst. Bleib auch so, wie du bist, denn so bist du ein wertvoller
Mensch. Ich werde dich vermissen. Unsere Zeit und Gespräche werden mir fehlen. Du bist für mich ein wichtiger Mensch. Ich hoffe, wir
bleiben in Kontakt. Ich hab dich arg dolle lieb. Liebe Grüße. Deine M.
Liebe Maja,
ich wünsche dir, dass du hinter dem düsteren Gebirge deiner Sorgen
und Probleme die Sonne ahnst, die morgen wieder aufgehen wird.
Warum vergräbst du dich in dir selbst, wenn du den Duft der Linden
in dich aufnehmen möchtest? Warum grübelst du ohne Ende, wenn
ein Vogel ein Lied für dich singt?
Für deine Zukunft wünsche ich dir alles Gute! Ich habe dich die drei
Monate sehr schätzen gelernt. Du bist eine echt starke Persönlichkeit.
Ich habe oft zu dir hoch geschaut und von dir gelernt! Bleib, wie du
bist. Du bist etwas total Besonderes! Ich wünsche dir von Herzen,
dass du deine Ziele erreichst und dich selbst schätzen lernst. Du bist
so wunderbar!!
»Die Zeit war genial. Ziemlich sentimental.
Schauen wir darauf zurück:
Das war wohl sowas wie Glück.
Und völlig egal, was passiert und was ist:
Es war eine Zeit, die man niemals vergisst.«
Bleib, wie du bist. Hab dich gern. Liebe Grüße. R.
476
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Liebe Maja,
die Zeit mit dir im ZI war wunderbar. Danke, dass du mir immer ein
Lächeln geschenkt hast. Das hat mich immer wieder aufgebaut.
»Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück.«
Ich wünsche dir für die Zukunft von ganzem Herzen alles Gute. S.
Liebe Maja,
»Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht!«
Auf deinem »Neuen Weg« wünsche ich dir viel Kraft, um Hindernisse zu bewältigen und den Mut, niemals aufzugeben! Bleib, wie du
bist und höre niemals auf zu träumen. Alles Liebe, S.
Liebe Maja,
du bist nicht allein, denn du bist ein Teil des Ganzen und auf diese
und deine Weise so einzigartig und besonders.
Ich danke dir für die Zeit, die ich hier mit dir verbringen durfte.
Ich schätze und bewundere dich echt für das, was du hier in deiner
Therapie erreicht hast und so, wie du bist, liebevoll, einfach einzigartig. Die Gespräche mit dir haben mir sehr geholfen, die Dinge wieder
klarer zu sehen. Du wirst mir fehlen, dein Lächeln und deine warmherzige Art. Ich wünsche dir für deinen »Neuen Weg« viel Glück
und Kraft!! Pass auf dich auf. Ein dickes Bussi. M. H.
Liebe Maja,
die Zeit hier mit dir war echt wunderschön. Ich finde es klasse, dass
du immer so ehrlich bist, einfach ALLES an dir ist wunderbar und
besonders. Bleib bitte immer so, wie du bist und verändere dich für
keinen außer für dich selbst. Ich habe dich echt sehr in mein Herz geschlossen. Ich würde auch gerne weiterhin mit dir in Kontakt bleiben.
Ich wünsche dir alles erdenklich Gute. Ich glaube an dich. Ich hab
dich sehr lieb. Deine P.
477
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Liebe »große Schwester«,
ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, mit dem ich ernsthafte
Gespräche genauso genießen konnte wie zusammen zu lachen. Wenn
ich dir etwas sage, weiß ich, dass du mich verstehst und wann immer
du mir etwas anvertraut hast, habe ich mich über dein Vertrauen in
mich gefreut, weil mir bewusst ist, dass das für dich nicht selbstverständlich ist. Maja, ich habe viel von dir gelernt, deine ehrliche und
starke Art, dein Verständnis für andere und die Fähigkeit zu erkennen, wie viel du hier erreicht hast, machen dich zu einem Vorbild für
mich. Trotz deines hohen Status‘ als »sprechendes Skills-Manual«
hast du mich immer gleichwertig behandelt und mir Mut gemacht,
mich bestärkt, für meine Ziele hier zu kämpfen. Dafür danke ich dir
aus tiefstem Herzen. In dir habe ich meine große Schwester, die »Heldin des Alltags«, meine Freundin gefunden. Ich habe dir noch so viel
zu sagen, möchte von dir noch so viel hören, so dass ich mir wünsche,
dass wir in Kontakt bleiben.
Für deine Zukunft wünsche ich dir, dass du dir deine Stärke bewahrst und nie den Mut verlierst, wenn du einmal nicht stark sein
kannst. Denn niemand ist perfekt, niemand. Lass dir nicht nehmen,
was du hier erreicht hast. Du kannst stolz auf dich sein! Ich wünsche
dir, dass du immer von Menschen umgeben bist, die dich lieben, so
wie du bist. Wenn ich eines von dir besonders in Erinnerung behalte,
dann ist es deine Fähigkeit, positive Dinge wahrzunehmen. Mögen
davon reichlich in deinem weiteren Leben vorhanden sein. Du verdienst es, glücklich zu sein.
Ich hab dich lieb. Deine »kleine Schwester« B.
Liebe Maja,
die Zeit mit dir hat mir unheimlich viel gebracht. Du hast mir so viel
Hoffnung für die Therapie hier gegeben und du hast mir viel Mut
gemacht. Du hast so hart an dir gearbeitet, bist von der dunklen Seite
des Lebens auf die helle Seite gegangen. Du kannst sehr stolz auf dich
sein. Du bist ein starker und ehrlicher Mensch. Für deinen weiteren
Weg wünsche ich dir Kraft, Mut und Liebe. Mach weiter so.
Von und mit meinem Herzen. Deine M.
478
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Liebe Maja,
ich danke dir für die schöne Zeit hier mit dir und wünsche mir sehr,
dass wir in Kontakt bleiben.
Du bist so eine wunderbare, einzigartige Person. Du hast so viele
Stärken. Ich bewundere dich für dein so tolles Wesen. Ich habe großen
Respekt vor deiner Leistung. Du kannst alles schaffen, was du nur
willst. Ich glaube ganz fest an dich.
Ich werde dich schrecklich vermissen, denn ich habe dich richtig gern.
Alles Liebe, deine M. R.
Liebe Maja,
du hast so ein wunderbares Lächeln. Ich hoffe, dass das nie verloren
geht. Wenn du lächelst, strahlst du wie die Sonne, mir wird innerlich ganz warm. Ich habe dich so kennengelernt, so lieb, gutmütig,
so leidenschaftlich und sehr verletzlich. Aber wir lernen von unseren Fehlern und Taten. Deshalb werde ich dir nicht sagen, dass du
niemandem vertrauen sollst. Sollst du! Es gibt schlechte Menschen
und es gibt gute Menschen. Es dauert immer ein bisschen länger,
die guten Menschen zu finden. Glaube mir, es lohnt sich, auf sie zu
warten. Sei einfach glücklich, dass du eine Frau bist. Du bist eine
wundervolle Frau. Versuche, dich zu lieben. Du verdienst es. Alles
Gute. Deine K.
Liebe Frau Köbke,
»Mut besteht nicht darin, dass man die Gefahr blind übersieht, sondern dass man sie sehend überwindet.« (Jean Paul)
Mein Eindruck ist, dass es in Ihrer Therapiezeit hier so einige Situationen gab, denen sie sich mutig gestellt haben. Sie haben, so meine
ich, den Mut, die Entscheidung für einen »Neuen Weg« immer wieder gefunden und getroffen. Die Schritte Ihres »Neuen Weges« haben
Sie allein getan. Ich bin sehr gern ein Stück Ihres »Neues Weges« als
Einzeltherapeutin mit dabei gewesen.
Ihnen alles Gute, weiterhin viel Mut, Achtsamkeit und Ausdauer für
Ihren »Neuen Weg«. Ihre Einzeltherapeutin Frau B.
479
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Ich beschloss also, mich so schnell nicht mehr klein kriegen zu lassen
und plante hinter dem Rücken meiner Mutter und meines Bruders
ein Besuch bei einer Freundin, die ich in der Klinik kennen gelernt
hatte. Sie wohnte 400km weit weg. Nur wenige Tage vorher kündigte ich es meinem Bruder an, der mich dann Anfang September
mitsamt meines Gepäckes zum Passauer Bahnhof fuhr.
Während der zwei Wochen bei meiner Freundin geschah Großartiges. Ich befand mich ja mittlerweile auch im 2006 prophezeiten
September 2007 – und es gab immer noch den ungeöffneten Briefumschlag des Pflegers! (an meinen Tagebucheintrag und das besagte
Horoskop erinnerte ich mich zu dieser Zeit aber nicht mehr)
480
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Was geschah?
Durch viele »Zufälle« und viel Mut bin ich in der Nacht vom 18. auf
den 19. September 2007 dem 22 Jahre älteren Adrian (Name geändert) begegnet. Von 3 – 7 Uhr morgens hörte ich ihm zu und stellte
meine Fragen, auf die eine Antwort zu finden, ich schon fast aufgegeben hatte. Diese Begegnung veränderte alles!
In mir war ab diesem Moment der Turbogang eingelegt worden. Es
war der Beginn, mich zu 100% den für mich wichtigsten Fragen voll
und ganz zu widmen:
Wer bin ich? – Wo komme ich her? – Wo gehe ich hin? – Wovon handelt all
dies?
481
26 – 31 Jahre / Heilzeit
ich bin liebe
ich bin liebe
sie kleidet mich warm mit ihrem mantel
aus reinheit
aus purer schönheit
aus freiheiten fern der unseren
ich lege meinen körper, meine hülle
in ihr göttliches herz
er verliert an schwere
und in ihm pulsiert der rhythmus unseres alls
der rhythmus meines geistes, meiner seele
gedanken beengen nicht mehr
erde und himmel sind unbegrenzt
alles verborgene wird ersichtlich
ich fühle intensiver, wie neugeboren
ich bin mehr, als um mich ist
der raum schwingt
die luft tanzt und lacht
streift um meinen körper
berührungslos
liebend
im klang des alls entfalten sich die liebenden
diese töne, diese harmonie,
diese unsichtbaren farben
eingebettet in dieser hypnotisierenden melodie
wiegen sie sich im reigen
sie sind frei
mehr als nur geist und körper
mehr als nur seele und hülle
sie sind ein meisterwerk
der vollkommenen schöpfung
die liebe ist
September 2007
482
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Bilder von mir – September 2007
Bilder von mir – Oktober 2007
483
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Dienstag, 02.10.2007 – Gewicht 49,8kg
Wieder ist einige Zeit verstrichen und ALLES hat sich geändert.
Nichts ist mehr im gleichen Licht. Meine Zerrissenheit ist endlich
beendet!
Ich war zwei Wochen bei Kim (Name geändert). Dort ist mit mir etwas geschehen. Ich traf Adrian, der mich scheinbar aus einem Traum
erweckte. So vieles scheint Fügung gewesen zu sein.
Ich hatte mir einmal vor langer Zeit gesagt, dass Liebe der einzige
Sinn in meinem Leben sei. Doch ich sah nicht weit genug, suchte die
Liebe vergeblich in Partnerschaften, dabei ist sie doch überall. Ich bin
Liebe! Und von ihr kann ich nie genug geben. Josua hatte es mich
gelehrt, hatte es mich spüren lassen und ich schwebte im Kosmos,
im Herzen der Liebe, war eins mit ihr, als sein und mein Körper
miteinander verschmolzen. Ich würde es nicht glauben, dass es diese
Liebe gibt, wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte. Ich will es mir zur
Aufgabe machen, ein bedingungslos liebender Mensch zu werden. Es
ist meine Bestimmung. […] Ich ließ mich in die Schublade »psychisch Erkrankter« stecken, weil ich mir selbst nicht glaubte. Jetzt bin
ich aufgewacht.
Ich bin dankbar für meinen Körper, dieses Werkzeug, mit dem ich
meine Aufgabe in diesem Leben erfüllen kann. Alles, was mir angetan
wurde, all meine Fehlentscheidungen waren notwendig, um endlich
zu meiner Mitte, zu meinem Glauben zurückzufinden.
Mit Mutter hatte ich vorige Woche Sonntag einen heftigen Streit.
Nun habe ich kein Auto mehr (der Kontakt zu ihr ist nun endgültig
beendet). Aber ich werde es auch so schaffen, denn ich vertraue darauf, dass alles Nötige zur rechten Zeit kommen wird. Mein zuverlässigster Führer ist meine Intuition, mein Bauchgefühl.
Am Donnerstag fahre ich mit dem Bus nach Passau zu meinem neuen Therapeuten. Dabei habe ich das Gefühl, keinen Therapeuten mehr
zu brauchen. Ich werde mich nicht wieder beirren lassen. All mein
484
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Denken, mein Fühlen, meine Wünsche waren in eine Diagnose gequetscht worden. Dabei habe ich einfach nur mehr als andere gespürt,
in was für einer geistigen und emotionalen Enge wir alle hier in
dieser Gesellschaft leben. Soll ich dies dem Therapeuten erzählen? Ich
lasse es auf mich zukommen.
Ich wollte mich umbringen, um endlich Frieden zu finden. Nie hätte
ich mir vorstellen können, dass ich dies auch während meines Lebens
erreichen könnte. Ich habe Frieden ihn mir gefunden!
Ich hatte mittlerweile auch den Briefumschlag
des Pflegers geöffnet. Darin waren viele philosophische und spirituelle Texte. Ohne die vorherige
Begegnung mit Adrian, der mir in nur wenigen
Stunden unglaublich viele Informationen geschenkt hatte, hätte ich die Texte nicht verstanden.
Es schien, als hätte sich mein Bewusstsein urplötzlich erweitert – mein ganzes bisheriges leidvolles Leben hatte auf einmal einen Sinn – und ich
erkannte mich nicht mehr als ein »Mensch im
Wahnsinn, in der Angst«, sondern als ein »Mensch
in der Wahrheit, in der Liebe«.
485
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Das ist das letzte Photo mit meiner Mutter (August 2007).
486
26 – 31 Jahre / Heilzeit
eckige herzen
leere ecken
in einsamen herzen
gehören abgerundet
damit sich die liebe
schmerzfrei in sie kuscheln kann
der mensch
das wunderbare geschöpf
welches sich hinter dieser liebe verbirgt
wird dann schon bald
das eckige herz in seine herzform zurückbringen
und mit dem menschen
der dieses wieder erwärmte herz in sich trägt
gemeinsam kuscheln
Oktober 2007
487
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Etwa zwei Monate ließ ich es mir so richtig gutgehen … sehr viel mit mir allein, aber auch mit
wichtigen Freunden, die mich besuchten oder die
ich besuchte.
Ende November sollte meine Berufsfindungsmaßnahme beginnen. Alles war bereits unter Dach und
Fach – und bis dahin fühlte ich mich (sorgen)frei.
Es war einfach eine geniale Zeit, denn wohl zum
ersten Mal lebte ich gern mit mir zusammen und
hatte keine Angst mehr vor mir selbst. Ich fühlte
mich endlich sicher und willkommen in mir.
488
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Montag, 08.10.2007 – Gewicht 49,6kg
Es geht mir sehr gut und das freut mein Herz. Ich muss mich wirklich bemühen, daran zu denken, mein Leben in diesem Buch weiter zu
schreiben, vor allem jetzt, da ich wirklich begonnen habe zu leben.
Mutter hat mir gestern Abend ca. zehn fürchterliche SMS geschrieben, mehr oder weniger immer mit den selben Worten: »Du bist
Abschaum, der es nicht verdient hat, zu leben.« Es war ein Schock
für mich, diese hasserfüllten und zugleich verzweifelt wirkenden
Worte von ihr zu lesen (sie war bestimmt betrunken). Ich leitete diese
SMS gleich weiter an Bastian und Freunde, die mich sofort sehr
bestärkten. Ich bin aber glücklich, denn ich konnte mich selbst von
diesen widerlichen SMS distanzieren und sie haben keine Wunde in
mir aufgerissen oder gar eine neue Wunde verursacht. Mutter den
Kontakt weiterhin und am Besten für immer zu verweigern, ist nach
wie vor eine absolut richtige Entscheidung. […]
Mit Bastian habe ich heute während der Autofahrt lange geredet.
In uns beiden haben sich über viele Jahre viele Worte und Sätze
angestaut, die wir Mutter gern einmal gesagt hätten. Hätte uns ein
Fremder, der Mutter nicht kennt, während dieses Gespräches zugehört, er hielte uns für undankbare, abgrundtief gemeine und bösartige
Menschen. Doch das sind wir nicht. Wir leben einfach und müssen
uns von dem Ballast, der uns viel Leid, Angst und Wut gebracht hat,
befreien.
Ich habe Vertrauen, dass ich alles richtig mache und was bzgl. Mutter nun geschehen wird, soll geschehen. Die Verantwortung für ihr
Leben trägt sie – nicht ich.
489
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Nur einen Tag, nachdem der Kontakt zu meiner
Mutter beendet wurde (es war ein Sonntag), begegnete mir Yoga – bzw. eine Frau.
Diese Frau, der ich während eines Gespräches
(auf einer Behörde) erzählte, das ich seit über zwei
Jahren gern mehr über Yoga lernen würde, stand
plötzlich ein paar Tage oder Wochen später vor
meiner Wohnungstür und schenkte mir ein altes
Yoga-Buch. Ich sah sie nie wieder – aber Yoga ist
mir geblieben.
490
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Sonntag, 21.10.2007 – Gewicht 49,4kg
Es geht mir wunderbar. Ich bin nach vor in der Liebe. Dies schenkt
mir inneren Frieden, Zuversicht, Freude und Glück. Auch wenn sich
manchmal noch Traurigkeit oder Einsamkeit wie ein Tuch über mich
legen, so habe ich es bisher immer wieder geschafft, mich davon zu
befreien. Ich finde immer wieder einen Weg zurück in die Freude, ins
Lächeln, ins Lachen, sehr häufig mithilfe von Musik. Ich tanze mich
dann quasi frei und finde wieder zu mir.
Vorige Woche Donnerstag und Freitag hatte ich zwei schöne Tage
mit Alfred und seiner Frau. Wir waren in Waldkirchen, Eisessen
in Passau und Abendessen in dem Irish Pub, wo Alfred und ich
während unseres gemeinsamen Klinikaufenhaltes oft waren. Im Hotel
griff ich nach einem Flyer, auf dem stand: »Die längste Suche ist jene
zu sich selbst.« Erst vor wenigen Tagen schaute ich in den Flyer. Es
gibt hier in der Nähe Pilgerwege, die man gehen kann. Das inspiriert
mich total und gern würde ich einmal die Zeit haben, Erfahrungen
auf solch einem Weg zu sammeln.
Am Freitag traf ich Finn. Mein Herz sagte mir, es sei an der Zeit, ihn
wieder zu sehen. Und natürlich war es genau der richtige Moment.
Er war erst vor Kurzem zu Besuch bei seiner Schwester, die sehr
spirituell ist. Wir redeten stundenlang. So gute Gespräche hatten wir
noch nie. Er gab mir eine Zeitschrift mit, in der es um freie Kindererziehung geht. Die Texte darin scheinen mir komplett zu erklären,
warum ich mich von klein auf in dieser Welt so gefangen fühlte und
warum ich im Alter von 16 Jahren begann, mich selbst zu verletzen:
Ich versuchte auszubrechen. Und sie erklären mir auch meine berufliche Orientierungslosigkeit: Es ist nicht das, was ich leben möchte. Es
ist so unfrei. […] Ich komme also voran, obwohl ich nicht suche. Ich
bin so dankbar, endlich meinem Herzen zu folgen, ihm zu vertrauen.
Daraus erschließen sich so viele Überraschungen und Geschenke.
Beim Lesen der Zeitschrift überkam mich das Gefühl, dass mir die
bevorstehende Berufsfindungsmaßnahme nicht helfen kann. Ich weiß
zwar, ich werde dort weiterhin auf meinem Selbstfindungsweg sein,
491
26 – 31 Jahre / Heilzeit
doch beruflich muss ich mich selbst umschauen. Ich glaube immer
mehr, die Schriftstellerei ist es, der ich mich komplett widmen sollte,
da sie mich erfüllt. Wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, dass ich
»wahrlich« lebe. Es ist Zeit für mich, für meine Kreativität, meine
Entfaltung, ganz frei, ungebunden, ohne Arbeitgeber, unabhängig.
[…] Wenn ich mich wieder in die Gefangenschaft eines Ausbildungsoder Arbeitsverhältnisses begebe, wird es mich brechen, mich aufhalten, mich mitunter sogar wieder sehr verzweifelt machen.
»Kommt Zeit, kommt Rat.« Dies ist wirklich eine Weisheit, der ich
zu folgen versuche. Ich bin erst am Erkennen, Entscheidungen bricht
man nichts übers Knie. Ich vertraue darauf, dass das kommende halbe
Jahr in der Berufsfindungsmaßnahme keine Zeitverschwendung sein
wird. Mein Weg wird sich langsam auftun, der Schatten geht langsam und ich folge dem Weg, den die Sonne mir beleuchtet.
492
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Bilder von mir – November 2007
Freitag, 16.11.2007 – Gewicht 50,1kg
Bald ist es soweit. Am 26.11. gehe ich nach Straubing für sechs
Monate. Ich habe keine Angst. Ich freue mich auf die Veränderung,
wieder unter Menschen zu sein, mich auf eine neue Situation einzulassen. Es ist eine Herausforderung und ich werde sie meistern. Ich
bin gespannt und manchmal kurzzeitig auch etwas aufgeregt. Mein
Leben wird sich wieder ändern. Ich werde Neues erfahren und darauf
freue ich mich. Ich bin selbstsicher genug, um zu sagen, dass ich
dort viel für meine persönliche Entwicklung lernen werde, wenn ich
Augen, Ohren und vor allem mein Herz offen halte. Ich bin wirklich
neugierig darauf, wie ich auf die anderen »Menschenkinder« dort
wirke (ich habe »Siddhartha« von Hermann Hesse gelesen, und das
Wort »Menschenkind« gefällt mir sehr). Ich werde wieder ein Leben
mit Tagesstruktur, Aufgaben, Verärgerungen, Frust, Enttäuschung,
Angst und allen Gefühlen, die zu dieser Welt gehören, führen. Ich
werde wieder zwei Leben führen und hoffentlich lernen, sie zu vereinen, im Einklang mit ihnen zu leben. Es gibt dann nicht mehr nur
mich in meinen vier Wänden, sondern uns. Ich werde lernen, mich
eins zu fühlen mit allem und jedem, denn alles und alle sind göttlich,
sind gleich und doch einzigartig. Ich möchte diese »Menschenkinder«
studieren, um mich besser verstehen zu können, um das Große Ganze
besser verstehen zu können. Ich werde lernen, meinen Weg nicht aus
den Augen zu verlieren, weiterhin im TAO zu leben, loszulassen und
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26 – 31 Jahre / Heilzeit
mich tragen zu lassen. Ja, ich freue mich, auch wenn ich auf einiges
verzichten muss.
Das Buch »Die Heilkraft der Engel« hat in mir viel bewirkt. Ich darf
Wünsche äußern, Bitten an meine Schutzengel herantragen und
dann die Dinge geschehen lassen. Ich spreche mit ihnen fast täglich,
sage ihnen meine Wünsche und werde dadurch nicht mehr von der
Hoffnung zerfressen. Ich vertraue dann einfach, dass meine Wünsche
zur rechten Zeit erfüllt werden – und es funktioniert:
Vor Wochen spürte ich eine starke Sehnsucht, meine Mutter noch ein
letztes Mal sehen zu dürfen und ich wünschte mir zu erfahren, wie es
meiner Mutter geht. Ich selbst hatte keine Ahnung, wie das möglich
werde könnte, aber ich vertraute meinen Engeln. Und wenige Tage
später, als ich Rezepte bei meiner Hausärztin holte, saß Mutter im
Wartebereich der Arztpraxis. Ich war im ersten Moment total geschockt und überfordert, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
Als ich an ihr vorbei ging, schaute ich sie neutral an und war etwas
verletzt, weil ihre Blicke auf mich tödlich wirkten. Erst Stunden
später auf der Heimfahrt im Bus erkannte ich, dass dies die Erfüllung
meines Wunsches war: Mutter schien ihr Leben im Griff zu haben,
sie sah nicht kränker aus. Ich dankte meinen Engeln, lobte sie wegen
ihres Einfallsreichtums und seitdem mache ich mir so gut wie gar keine Gedanken mehr über Mutter. Sie noch einmal gesehen zu haben,
hat mich im Nachhinein unendlich glücklich gemacht und mich in
der Gewissheit gestärkt, dass es mehr Mächte auf dieser Welt gibt, als
ich es mir jemals vorstellen könnte.
An einem Abend Anfang des Monats weinte ich im Bett, weil mich
die Sorge zerfraß, dass ich im Dezember zu wenig Geld zur Verfügung haben würde, um meine Freundin besuchen zu können. Ich war
verzweifelt, totunglücklich und dachte nur »Bitte Engel, helft mir!«.
Nunja, gestern erfuhr ich, dass ich vom Arbeitsamt eine Nachzahlung bekomme, weil sie sich verrechnet hatten und ich nun im Dezember sogar mehr Geld habe als die Monate davor. Ich habe gestern
vor Dankbarkeit geweint.
494
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Überdies habe ich ein Gebet gesprochen, dass ich mich von allen
jemals in all meinen vorherigen Leben abgelegten Armutsgelübden
befreie (ob es sowas nun gibt oder nicht, ein Versuch ist es wert), dass
ich ein Anrecht auf finanzielle Sicherheit habe und mir doch gefälligst
alle Hilfe zusteht, damit ich meine Kreativität in einem finanziell
sicheren Rahmen leben kann. Ich gebe meinen Traum nicht auf,
irgendwann offiziell eine Schriftstellerin zu sein. Es könnte meine
Bestimmung sein!
Den Stimmungsstabilisierer »Lamictal« habe ich vor über zwei
Wochen abgesetzt. Meine innere Stimme sagte mir, ich brauche diese
Tabletten nicht mehr und es geht mir auch nicht schlechter oder anders. Ich spüre immer etwas Freude in mir und ich denke, die YogaÜbungen, die ich seit ein paar Wochen mache, tragen einiges zu
meinem positiven Befinden bei. […] Nach jahrelanger Misshandlung
meines Körpers kann ich ihm endlich etwas Gutes tun. Ich versuche,
mich vegan zu ernähren, soweit es meine finanziellen Mittel erlauben. Es fällt mir mittlerweile sehr leicht, auf Fleisch, Alkohol und
Schokolade zu verzichten. Von Koffein und Nikotin kann ich mich
bisher noch nicht trennen. Seit meiner Rückkehr von meiner Freundin im September habe ich keinen Tropfen Alkohol angerührt außer
an einem Abend, als ich mit Finn Wein getrunken hatte. Ganz auf
Milchprodukte zu verzichten, fällt mir schwer, da ich mir die teuren
Reformhausprodukte nicht leisten kann. […] Die Begrenzung auf
vegane Produkte hilft mir, meine Essstörung langsam zu besiegen.
Warme Mahlzeiten meide ich, da ich diese i.d.R. immer erbreche, was
irgendwie ein seltsames Phänomen ist [Anm.: Erst später erfuhr ich
von der positiven Wirkung der Rohkost-Ernährung]. Ich bin sicher,
mich mit der Zeit komplett von der Bulimie entfernen zu können.
Bei meinem Therapeuten war ich das letzte Mal Anfang Oktober. Ich
brauche keine Therapie mehr, das spüre ich. […] Es ist zu meinem
Glück keine Pflicht, während der beruflichen Reha regelmäßig zur
Therapie zu gehen. Aber ich werde sehen, wie sich letztlich alles
entwickelt.
495
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Montag, 19.11.2007 – Gewicht 50,6kg
Ich bin verwirrt. Je mehr ich versuche, die Wahrheit zu finden und
zu verstehen, je mehr ich versuche, sie in Worte zu fassen, umso verwirrter fühle ich mich. Daher versuche ich, nicht zu denken, nichts in
Worte zu fassen, sondern einfach nur zu spüren und meine Gefühle
die Worte finden zu lassen.
Ich weinte heute, wurde mir nämlich meiner 26 Lebensjahre bewusst,
die sich nach so viel mehr anfühlen. Durch SMS-Austausch mit
meiner einzig verbliebenen Freundin in Wiesbaden schweiften meine
Gedanken und meine inneren Bilder zum 03.05. des vorigen Jahres.
Wenn ich gestorben wäre, wo wäre ich jetzt? Wie viel Schmerz muss
sich in meiner Freundin eingebrannt haben, als sie mich an diesem
Tag in der Notaufnahme besucht hatte; ein Besuch, an den ich mich
gar nicht erinnern kann? Es gäbe mich nicht mehr in der Form, in
der ich jetzt existiere. Ich wusste selbst nicht, warum ich plötzlich
weinte. Es war nicht nur Dankbarkeit in meinen Tränen, sondern
auch das damalige Leid, Mitleid für mein damaliges Ich und das verzweifelte Ringen nach Verstehen-Wollen. Gibt es immer einen Grund
für die Dinge, die geschehen oder nicht geschehen? Ein Warum? War
mein Überleben Glück oder Bestimmung? Falls Bestimmung, ist mir
dann eine Aufgabe in diesem Leben zugedacht, die ich noch nicht
erledigt habe? Werde ich auf dem Weg bleiben, der mir angedacht ist?
Werde ich mich als würdig erweisen? … Es ist kaum in Worte zu
fassen, welche ungedachten Gedanken hinter meinen Tränen verborgen lagen. Ich ließ sie rollen, denn es schien nötig. Und doch fragte
ich mich, warum ich denn nun wirklich weinte. … Mein Körper wäre
Staub. Mein Körper ist Staub, ist Erde, ist Baby, ist Greisin. Die Zeit
mal weggedacht: Welche Form hätte meine Hülle jetzt?
Und noch etwas Seltsames schwirrte schwer formulierbar in meinem Kopf, als ich wieder über das Wunder staunte, dass ich – ich,
der Mensch – mich bewegen kann. Ich bewegte meine Finger und es
schien deutlich und klar, dass eine höhere Macht dies verursachte, ein
Geistwesen, mein Geist, der z.B. im Tisch nicht ist. Deshalb kann ein
Tisch sich nicht bewegen, dachte ich. Doch dann schien sich in
496
26 – 31 Jahre / Heilzeit
meinem Inneren die Zeit plötzlich zurück zu drehen und aus dem
Tisch wurde ein Baum, ein Lebewesen, ein Geistwesen, Natur. Ich
streichelte den Tisch, den Baum, und mein Körper durchfuhr ein
Kribbeln. Dieses Erkennen schien zu überwältigend für meinen Verstand, denn auch das Buch, der Schreibblock, die Notizzettel, die Tür,
das Toilettenpapier – alles war plötzlich Baum (Natur) und mit allem
fühlte ich mich verbunden.
Nie werde ich als Mensch vollkommen verstehen.
497
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Ende November 2007 begab ich mich also für sechs Monate nach
Straubing (150km von meinem damaligen Wohnort entfernt), um
dort an einer Berufsfindungsmaßnahme teilzunehmen. Nach meiner Gesundung sollte ich auf diesem Wege wieder ins Berufsleben
integriert werden.
Diese Zeit war eine einzige Gaudi. Es pegelte sich nach Monaten
irgendwie so ein, dass kaum eine Woche verging, in der wir nicht
zusammen in meinem Wohnheimzimmer saßen, redeten, weinten
und lachten bei Meditationsmusik, Kerzen, Tee und Räucherstäbchen (wenn wir uns nicht ins Straubinger Nachtleben stürzten). Ich
strahlte und lachte – es ging mir großartig.
498
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Sonntag, 09.12.2007 – Gewicht 51,5kg
Ich habe viele neue Kontakte geknüpft, bin die letzten Tage jeden
Abend aus gewesen. Das tat mir so gut, wieder unter Menschen zu
sein, auch weil ich jetzt so sehr um unsere gemeinsame Göttlichkeit
weiß. Das schenkt mir unglaublichen Frieden sowie ein Gefühl von
Zuhause, auch wenn es sich, wie gestern in der Diskothek, um fremde
Menschen handelt. Ich beobachte sie alle und bin fasziniert von der
»Schönheit« eines jeden, erfreue mich an ihrem Glück, ihrer Freude
und fühle mit, wenn sie leiden. Mein Hauptaufgabe diese Woche war
es wohl, andere Menschen zum Lächeln und bestmöglich zum Lachen
zu bringen. Das ist mir selbst ein unglaubliches Geschenk.
Vielleicht liegt es an den Engelkarten, die ich mir gekauft habe. Es
sind jene, die mir damals in meiner ersten Klinik zum ersten Mal
begegnet sind und als ich eine Karte gezogen hatte. Damals war es
die »Barmherzigkeit«, diese Woche war es die »Großzügigkeit«. Und
so öffnete ich mein Herz für alle Menschen ohne Vorurteile oder Bewertungen und mit Respekt, Anteilnahme, Mitgefühl und ehrlicher
Sympathie. Dadurch sammelte ich viele kleine positive Momente und
hoffe, den Menschen damit ebenso gut getan zu haben. Ich versuche,
sie alle zu lieben und das genau wegen ihrer Eigenarten, durch die sie
alle so einzigartig und wertvoll sind.
Am Dienstag ging es mir nicht gut. Ich war sehr verwirrt, fühlte
mich zu menschlich, glaubte, im Stillstand gefangen zu sein, von
meinem Weg abgekommen zu sein, und verbrannte mich auf dem
linken Handrücken. Es war kein Selbstzerstörungsakt. Es war vollkommen anders. Es schmerzte kaum und ich konnte wieder fühlen,
dass ich nicht dieser Körper bin, dass ich mehr bin (siehe auch mein
Text »Ich bin nicht mein Körper« im Anhang 1). Ich hoffe nur, beim
nächsten Tief einen anderen Weg zu finden.
499
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Bilder von mir – Dezember 2007
Bilder von mir – Januar bis März 2008
500
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Im Rahmen der Berufsfindungsmaßnahme musste
ich Praktikas absolvieren, die ich mir selbst aussuchen konnte.
Da ich für das Haus bereits einige Sachen gestaltet
hatte (Speisekarte und Flyer), interessierte ich mich
dafür, wie diese gedruckt wurden. So machte ich
im März 2008 in der hauseigenen Druckerei ein
3wöchiges Praktikum.
Auf dem obigen Photo: eine Digitaldruckmaschine.
501
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Eine Achtfarben-Offset-Druckmaschine.
Wow, ich war total begeistert! Ich wollte Druckerin
werden, unbedingt! Da Offset für mich körperlich zu schwer sein würde, entschied ich mich für
den Digitaldruck. Mein Rehasachbearbeiter war
einverstanden: Er meldete mich für eine anschließende 2jährige Umschulung zur Digitaldruckerin
in Waldkraiburg / Oberbayern an.
502
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Ich war unermesslich glücklich!
Endlich hatte ich einen Beruf gefunden, den ich
lieben könnte; ein Beruf, der mein Hobby sein und
mich somit begeistern und erfüllen würde. Ich
träumte schon davon, meine eigenen Texte selbst
professionell setzen und drucken zu können, einen
eigenen Verlag ins Leben zu rufen, alte und kostbare Bücher in Neuauflagen herauszugeben, uvm.
503
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Bilder von mir – April 2008
Bilder von mir – Mai 2008
504
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Am 10.05.2008 – Das große Ritual: Haare komplett kurz.
Ich verabschiedete mich damit nicht von meiner Weiblichkeit, sondern von meiner Eitelkeit. Ich war von mir selbst genervt, weil ich
jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde von meiner Lebenszeit
meiner Frisur widmen musste, an keinem Spiegel unbeachtet vorbeilaufen konnte (ich liebte meine Frisur so sehr!), mich tagsüber auf
keinen Fall hinlegen konnte (das hätte die Frisur ruiniert), ich ständig mich knipsend rumgelaufen bin, keine Mützen tragen konnte
– und zu guter letzt: mir niemand über den Kopf streicheln konnte.
Damit – mit dieser Ablenkungs- und Abwehr-Maskerade – musste
Schluss sein!
Außerdem hatte ich mich Anfang des Jahres endgültig entschieden,
bio-vegan zu leben – und meine Haarprodukte waren weder bio
noch vegan. Es war somit zusätzlich noch eine Kostenfrage, denn
ökologische, vegane Haarprodukte konnte ich mir eigentlich nicht
leisten und ich sah es auch nicht ein, warum ich diese nur meiner Eitelkeit wegen kaufen sollte. Meine Haare und meine Kopfhaut waren
in den letzten Jahren so sehr strapaziert worden, dass eine Erholung
sowieso angesagt war.
505
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Dieser Schritt – nach wenigen Wochen schminkte ich mich auch
nicht mehr – konfrontierte mich damals mit meinen Minderwertigkeitsgefühlen und meiner Verletzlichkeit, die bisher hinter meiner
Maske aus Schminke und Frisur verborgen geblieben waren.
Bis heute habe ich diese Entscheidung keine Sekunde bereut.
Adrian, der mich zu dieser Zeit besucht hatte, war
prädestiniert dafür, dieses Ritual durchzuführen.
Er verstand, warum ich das so wollte und dass es
gut sein würde.
506
26 – 31 Jahre / Heilzeit
der erste blickkontakt
wohl zum ersten mal in meinem leben
schaute ich mich im spiegel an
zum ersten mal erhaschte ich einen klaren blick
auf das geschöpf, welches ich bin
ich stand vor diesem körperwesen
und schaute in seine riesengroßen augen
ich musste nicht suchen
wonach ich suchte
denn es fand mich
es überschwemmte mich
vor mir enstand das abbild des kindes
welches sich immer nur wünschte
doch endlich glücklich zu sein
angekommen zu sein
in sich zuhause zu sein
ich weinte und sah zu
wie diesen strahlenden augen die tränen entrannen
ich lachte und staunte
über all die vielen mitlachenden fältchen des alters
die traurigkeit und der schmerz
jahrelange begleiter dieser zarten seele
verschmolzen mit der freude
des jetzigen lebensaugenblicks
sie wurden eins
ich wurde eins
mit mir
endlich
ich war zuhause
und umarmte gott
Mai 2008
507
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Die Berufsfindung endete im Mai 2008 – die Umschulung sollte im Juli beginnen. Dazwischen hatte
ich also einen Monat frei, den ich in vollen Zügen
genoss. Das war leicht, denn es war Sommer und
ich lebte zu dieser Zeit immer noch im wunderschönen Naturschutz- und Urlaubsgebiet »Bayerischer Wald«.
508
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Wieder ein Umzug. Der wievielte in meinem Leben? Ich hatte aufgehört zu zählen.
Ich verließ also Niederbayern und zog mit Unterstützung durch meinen Bruder und Adrian für
die Umschulung ums Eck nach Waldkraiburg in
Oberbayern in ein Wohnheimzimmer des Umschulungszentrums (mein Hab und Gut wurde dort
eingelagert).
509
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Danke für diese Chance
(Geschrieben zu schwerer Stunde im September 2008.)
Es scheint noch gar nicht lange her, da erblickte ein zerbrechliches Mädchen
das Licht dieser Welt. Dieses Mädchen bin heute ich und momentan ist es
für mich nur schwer zu glauben, dass sie sich tatsächlich ein Leben in dieser
Welt, in dieser Familie selbst ausgesucht hat.
Sie wählte ein Paar zu ihren Eltern, welches verschiedener nicht sein konnte. Ein humorvoller, bodenständiger aber oft abwesender Vater sowie eine
kindgebliebene, fleißige aber zu Aggressionen neigende Mutter. Die Ehe
eines solchen Paares war zum Scheitern verurteilt und so wurde dem Mädchen im Alter von sechs Jahren ihre erste große Liebe gestohlen – ihr Vater.
Geblieben waren ihr die Wut und die Verzweiflung der alleinstehenden und
überforderten Mutter.
Orientierungslos und im Herzen stets allein kämpfte das Kind ums Überleben, kämpfte gegen die Mutter, gegen die Männer, gegen die Welt und
letztlich gegen sich selbst.
Heute stehe ich an dem Punkt, an dem ich mich frage: Wollte ich genau dort
stehen, wo ich heute stehe? Wollte ich der Mensch werden, der ich heute
bin? Oder bin ich bereits in mir auf Abwege geraten und habe verloren, was
dieses kleine Mädchen mit in die Welt gebracht hat, in die Welt zu bringen
gedachte?
Was ist das nur für eine Welt! Wusste sie wirklich, in was sie da hineingeboren wurde? Glaubte sie tatsächlich, im Alter von 27 Jahren endlich
stark genug zu sein, um ihre mitgebrachte Aufgabe auf Erden erfüllen zu
können?
Wie gern wäre ich nur für eine Sekunde dieses ungeborene Kind, welches
sich nichts sehnlicher gewünscht haben musste, als das Sonnenlicht dieses
Planeten zu erblicken. Wie gern würde ich nur einmal dieses Gefühl spüren, wirklich hier sein zu wollen und zu wissen, warum ich hier bin! Denn
momentan spüre ich dieses Gefühl nicht! Die Sehnsucht nach einer Heimat – meiner Herkunftswelt – lässt mich nur halb leben, so scheint es mir;
als sei ich nicht angekommen – oder als sei ein Teil von mir bereits wieder
abgereist.
510
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Oh Mutter, oh Vater, Gott, hier spricht euer Kind. Ich glaube, innerlich
so vieles bereits zu wissen, doch bin ich zu verletzlich, noch immer zu
zerbrechlich, um tatsächlich auf der Erde das Paradies sehen zu können,
welches vorhanden ist, doch mit meinen Augen, die so viel gesehen, so viel
geweint, so viel weggeschaut haben, nicht mehr erkennbar ist. Wo ist meine
Heimat? Wo ist meine Familie?
27 Jahre Erinnerungen, an denen ich zu zerbrechen drohe. Warum nur
erwählte ich solch eine Bürde für mein Leben? Woher soll ich die Kraft nehmen, dies alles zu bewältigen? Woher – wenn um mich selbst nur Gitterstäbe aufgestellt sind? Wer könnte mich aus diesem Gefängnis befreien, wenn
ich selbst den Schlüssel in der Hand halte – ich mich aber gar nicht entscheiden kann, wo ich nun sicherer bin: hinter oder vor den Gitterstäben?
Angst und Schmerzen lehrte mich das Leben. Kein Teil meiner Haut wurde
davon verschont. Schläge auf den Hinterkopf, das Gesicht, die Ohren, den
Rücken, die Brust, den Bauch, die Arme, die Beine – von klein auf waren
dies die Lehren, die mich – und mein Bild von dieser Welt – prägten. Von
klein auf war ich gezwungen, mich in eine andere Welt zu flüchten, um auf
dieser hier überleben zu können. Kein Ort war sicher. Keiner! Und niemand
war da, der das Kind in den Arm nahm, wenn es weinte, wenn es schrie,
wenn es betete, wenn es sterben wollte.
Blass nur zeichnen sich die Erinnerungen ab. Doch die Zeichnungen sind
da und mit ihnen auch der Zeichner und das Gezeichnete, egal ob nun
blass oder gut erkennbar. Ich betrachte heute diese Zeichnungen ab und an,
obwohl ich sie am liebsten einfach verbrennen und vergessen möchte. Doch
mir scheint, so leicht wird es mir nicht gemacht; so leicht will ich es mir
selbst nicht machen. Kunstwerk und Künstler sind sich oftmals so ähnlich,
dass man das Eine vom Anderen nur noch schwer unterscheiden kann. Ich
selbst weiß nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch der Künstler und
nicht eher nur noch das Stück Papier oder die Farbe bin, welche nur dem
Künstler zu Diensten sind. Denn ich spüre das Papier auf meiner Haut. Es
brennt und schneidet mir ins Fleisch. Ich spüre, wie die Farben meinen ganzen Körper durchschwemmen und am Ende rot aus meinen Augen fließen.
Bin ich verrückt? Nun, wer ist es nicht? Ich bin auf einer Suche. Und wer
sich verirrt glaubt, wer nähert sich da nicht der panischen Verzweiflung,
weil er fürchtet, den Ausweg nicht mehr zu finden?
511
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Mein Weg führt mich scheinbar momentan zurück. Soll es so sein? Ich
weiß es nicht. Möchte ich dorthin zurück? Im Grunde nicht. Wer aber hat
das zu entscheiden? Ich? Das denke ich nicht. Denn wer ist schon Ich? So
oft verwende ich dieses kleine Wörtchen »ich« und weiß doch im Grunde
überhaupt nicht, wen ich damit meine, von wem ich eigentlich rede, wen ich
damit zu erklären versuche, wer die Worte formuliert, wer die Erinnerungen zu tragen hat, wer die Schmerzen fühlt und sich in Einsamkeit verbarrikadiert. So fern wirken mir oft die Worte aus meinem Munde, so fremd die
eigene Stimme in den Ohren meines Körpers, so unecht die Formulierungen
für das, was ich bin. Es scheint, als stünde und säße und laufe und liege
ich neben diesem Ich und niemand nimmt mich wahr, weil ich selbst keine
Stimme habe; weil dieser Körper, dieser Verstand unfähig ist, dieser Welt
meine wahre Erscheinung zu offenbaren. Es sind lediglich klägliche Versuche, hinter denen ich weine und schreie, weil ich so sehr verkannt werde
und noch nicht einmal meine eigene Hülle dazu fähig ist, mich zu enthüllen. Ich bleibe wortlos, versteckt und verscharrt zwischen den Erlebnissen,
Geschehnissen und Geschichten der letzten 27 Jahre.
Wie aber auch kann ich den Anspruch erheben, in Worten erklärbar zu sein
für andere Menschen? Welches Geschöpf unserer Welt kann nur mithilfe
von Buchstaben und daraus gebildeten Worten und Sätzen in all seiner
Grandiosität zum Ausdruck gebracht werden? Dieses vollkommene Kennen
bleibt nur ihm selbst vorbehalten.
Ich liebe. Ich schreie tatsächlich – verborgen in diesem von unzähligen
Narben übersäten Körper – nach Liebe. Sie ist das einzige Wohl, was mich
verbindet mit dem, wonach ich mich sehne: meiner Heimat außerhalb dieser
Welt. In ihr suche und finde ich zugleich.
Diese Hülle jedoch, der ich letztlich meine Sichtbarkeit und Hörbarkeit verdanke, ist vergraben in solch tiefem Morast an Angst und Enttäuschung,
Schmerz und Verlust, dass sie mich ignoriert des Selbstschutzes wegen
– jedoch unwissend darüber, dass ich daran auf Dauer zugrunde gehe. Ihr
mag das nach Außen hin gleichgültig sein, doch spüre ich, wie sehr auch sie
selbst leidet inmitten dieser Schwärze, wie sehr sie darum betet, ausgegraben, in den Arm genommen und geliebt zu werden. Ich jedoch dringe nicht
mehr zu ihr durch. Sie hat scheinbar die Nabelschnur zu mir durchtrennt.
Und nun weinen wir beide.
512
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Wir weinen und weinen und beten und beten – letztlich spürend, es gibt
nur den einen Weg: Vertrauen in das, was uns da geschenkt wurde in der
Gestalt eines Menschen, der uns tatsächlich liebt.
Das Vertrauen dieses Mädchens wurde jedoch schon vor vielen Jahren
zerfetzt. Mühsam versuchte sie, dieses Tag um Tag wieder zusammenzuflicken, muss heute jedoch erkennen, dass der größte Teil dieser Fetzen noch
immer – wild verstreut innerhalb vieler Erinnerungen – wimmernd und
zehrend in ihr wirken: in den Schränken, in denen sie sich vor den Schlägen
der Mutter zu verstecken versuchte; inmitten der schwarzen Nächte, in
denen Schande an ihrem Körper begangen wurde; in den Linien auf ihren
Armen, mit denen sie sich der Welt zu entziehen versuchte; auf den leeren
Tellern, dessen karge Gaben ihrem abmagernden Körper ein heimliches Davonschleichen ermöglichen sollten – in der Verzweiflung, deren Ende bisher
nur durch ein Beenden des Lebens zu realisieren schien.
So stehe ich nun also hier. Mir scheint, ich sei gerade erst geboren und
beginne, auf eigenen Beinen zu gehen, mit eigenen Augen zu sehen, mit
eigenen Ohren zu hören – ungläubig darüber, wer da geht, wer da sieht,
wer da hört und erschrocken und verängstigt des Erkennens wegen, dass
noch so viel vor mir liegt.
Eines jedoch ist anders. Ich stehe hier nicht mehr allein. Die Liebe hat sich
zum ersten Mal bei mir vorgestellt und mir scheint, sie pflanzte einen
zarten Keimling in meine Seele, welcher nur darauf wartet, gegossen zu
werden.
Ich will mich ihm ganz widmen, wünsche mir nichts sehnlicher, als der
Liebe gerecht zu werden mit meinem Tun und mit meinem Sein – denn ich
bin sie – schon immer gewesen.
Am schwersten und herausforderndsten ist die Suche nach sich selbst, zu
dem, was ich war, als ich kam. Doch sie ist die erstrebenswerteste – nicht
nur allein für mich, sondern auch für all die Menschen, die sich einfach nur
wünschen, mich in all meinem Sein lieben zu dürfen.
Danke für diese Chance.
513
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Adrian zog im Oktober 2008 ebenfalls nach
Waldkraiburg und ich lebte mit ihm zusammen in
seiner Wohnung, da das Wohnheim für mich unerträglich war. Er wurde zum wichtigsten Teil meines Lebens – gefährlicher Weise sogar fast wichtiger als mein eigenes Leben. Doch ich brauchte ihn
für meine weitere Entwicklung, das spürte ich.
In den darauf folgenden vier Jahren lernte ich sehr
viel von ihm, denn er war eine wandelnde wissenschaftliche, philosophische und spirituelle Bibliothek. Vor allem aber erfuhr ich durch die Beziehung mit ihm sehr viel über mich selbst. Ich lernte
über die Jahre, mich wirklich zu lieben und zu
ehren, womit einherging, dass mir die Kostbarkeit
meines Seins und meines Lebens immer bewusster
wurde und die »Schülerin« immer stärker auch
die »Meisterin« in sich selbst erkannte und leben
lernte, was im August 2012 dazu führen würde,
dass ich mich von Adrian dankbar verabschiedete,
um meinen eigenen Weg zu gehen.
514
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Das Erste, was ich während der Umschulung
tat: Ich lieh mir ein Rad vom Umschulungshaus.
Mountainbike-Fahren war während meiner Jugend
fester, freudiger Bestandteil meines Lebens und
sollte es nun auch wieder werden.
Anstatt meine Kindheit und meine Jugend der
Vergessenheit zu übergeben, erinnerte und entdeckte ich vieles ganz neu, was mir damals wirkliche Freude geschenkt hatte. Denn nicht alles war
immer nur leidvoll.
515
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Mein erstes, selbst kreiertes Printprodukt, welches nicht nur aus
einem Blatt Papier bestand: Ein kleines Heftchen mit Zitaten. Wow,
war ich stolz. Ich freute mich sehr auf all das, was ich noch lernen
würde. Das war und ist absolut mein Metier. Ich interessierte mich
von Anfang an besonders für den Broschuren- und den Buchdruck.
516
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Ich muss erwähnen: Die Umschulung an sich war nicht leicht für
mich. Als ein Mensch, der sehr schnell lernt, bei starkem Eigeninteresse vor allem auch autodidaktisch, ging mir das alles viel zu langsam. Da ich meine Wissensneugier durch Selbststudium zu Hause
stillte und über eine rasche Auffassungsgabe verfüge, war ich dem
Unterrichtsstand oft weit voraus, weswegen ich mich während der
Umsetzung der Unterrichtsprojekte oft langweilte.
Ich war heillos unterfordert, was sich in Unzufriedenheit, Gereiztheit, Rückenschmerzen, schweren Depressionen und rebellähnlichem Verhalten zeigte. Sehr oft wollte ich aufgeben und ließ mich
von meiner Psychiaterin oft für mehrere Wochen krank schreiben.
Von meinen Ausbildern verlangte ich viel, denn ich forderte sie
ordentlich mit Fachfragen und konfrontierte sie durch Worte nicht
selten mit meiner Aggression und meinem Frust. Am Ende der
Umschulung im Dezember 2010 – meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt mittlerweile gestorben, wodurch Ruhe und Besinnung in mich
einkehrten – war ich ihnen allen sehr dankbar und wir gingen mit
den besten Wünschen füreinander auseinander.
517
26 – 31 Jahre / Heilzeit
22.05.2009
An diesem Tag veröffentlichte ich meinen ersten Artikel »entscheidungen leben« auf meinem Blog http://seelenwissen.wordpress.com. Es
waren Gedanken, die mir auf der Seele lagen und die ich einfach frei
herunterschrieb.
Ich brachte diesen Blog in die Welt, weil ich zuvor einen InfokriegerBlog geführt und mit der Zeit aber gemerkt hatte: Ich wollte eigene,
neue Texte schreiben, anstatt nur Informationen von Anderen über
das Außen weiterzugeben. Ich spürte, ich habe etwas zu sagen – etwas aus meinem Inneren – und es musste hinaus in die Welt.
Es ging mir von Anfang an um die Wahrheit und um die Wirklichkeit hinter all dem, was da an Informationen auf uns einprasselte;
einer Wahrheit und Wirklichkeit in dem Maße, wie ich persönlich
glaubte, mich ihr angenähert zu haben. Mit meinem neuen Blog
wollte ich interessierte Leser an meiner persönlichen Wahrheits- und
Wirklichkeitssuche teilhaben lassen, geschrieben mit tiefer Ehrlichkeit mir selbst gegenüber.
Ich ahnte noch nicht im geringsten, dass dieser Blog zu einem
wichtigen Sprachrohr für mich werden würde – und für die Weiterentwicklung meines Schreibstils sowie auch meiner Persönlichkeit
große Bedeutung gewinnen würde.
518
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Im Jahr 2009 kam ich durch Adrian auch in Berührung mit dem Anbau eigener Kräuter- und Gemüsepflanzen.
Ich war sofort begeistert und überaus fasziniert.
Aus einem winzigen kleinen Samen wurde z.B.
eine starke Tomatenpflanze mit vielen essbaren
Früchten – nur durch Erde, Wasser und Sonne.
Das ist ein Wunder. Das ist Leben.
Wenn ich vorher ab und an noch am Wunder
des Lebens zweifelte, ab und an noch absichtlich
erbrach nach dem Essen, so war dies nun beendet.
Ich liebte unsere Pflanzen, so wie ich diesen Planeten Erde liebe. Sie waren meine Kinder, sie waren
Gott, der mich nährte. Demut und Dankbarkeit
lehrte mich dies aufs Neue.
519
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Wer bist du?
bebend vor angst
immer und immer wieder
robotergleich
fragst du mich:
»WER bist du?«
starre ergreift meine glieder
»WER bist du?«
leere durchdringt meinen verstand
»WER bist du?«
schweigen bleibt meine antwort
dein blick fällt zu boden
der meine mit ihm
tränenströme zerschreien
deine frage:
»WER bist du?« – »WER bist du?« – »WER bist du?«
ein lächeln
will mir nicht gelingen
aus deiner kehle
stolpern letzte schluchzer
verzweifelt und fordernd
schlägst du mir ins gesicht
ich zersplittere
der spiegel zerbricht
Januar 2010
520
26 – 31 Jahre / Heilzeit
vorgefertigt
die einheitsbreiketten
rasseln schleifen schlagen
mit ihnen ringt
vorgefertigt
ein jeder um das leben
geboren in systemen
wachsen lernen arbeiten
in ihnen treibt
vorgefertigt
ein jeder in den tod
von geburt an versklavt
denken fühlen sein
sind nur noch
vorgefertigte marotten
einst lobgepriesener zivilisationen
Januar 2010
521
26 – 31 Jahre / Heilzeit
frohes fest
das großvieh brüllt, das
kleinvieh plärrt gleich einem
menschenkind, tote küken
liegen plüsch an plüsch in
hinterhofcontainern, das
blut des gaumenschmauses
strömt ungeachtet durch die
kanalisation
die schlächterei hat wieder
hochkonjunktur, um der
hochkultur den gaumen zu
streicheln, den enkeln
traditionen zu lehren, die
sich jeder barmherzigkeit
entsagen
frohe ostern!
März 2010
522
26 – 31 Jahre / Heilzeit
11.04.2010
Drei Wochen vor meiner schriftlichen IHK-Abschlussprüfung starb
plötzlich meine Mutter, die ich mittlerweile über zweieinhalb Jahre
weder gesehen noch gehört hatte. Dieser eine kurze Augenblick ließ
in mir Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in nur einer Sekunde
einstürzen. In mir war bis zu diesem Zeitpunkt stets die Hoffnung
vorhanden gewesen, meiner Mutter eines Tages wieder zu begegnen
und sie im Frieden in den Arm zu schließen.
Ich weiß nicht, wann es war. Aber meine Mutter hatte mir einmal
von einem ihrer Träume erzählt: Darin war sie 97 Jahre alt und ich
besuchte sie mit meinem Ehemann und meinen drei Söhnen. Sie
betonte, wie real ihr dieser Traum erschien – wie er voller Liebe war.
523
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Da sie mir den Zeitpunkt des Erscheinens von Engeln in meinem
Leben vorhergesagt hatte, klammerten sich all meine Hoffnungen an
diesen Traum von ihr: dass sie alt werden und ich ihr eines Tages in
Frieden und Liebe begegnen würde. Ich war bereit, solange zu warten. Somit war ihr plötzlicher Tod ein sehr heftiger Schock für mich.
Ich spürte, dass es sehr wichtig sein würde, Zeit für mich zu haben,
um dieses Ereignis (und auch meine ganze schmerzliche Vergangenheitsgeschichte mit meiner Mutter) zu verarbeiten. Als meine Oma
gestorben war, hatte ich mir keine Zeit zum Trauern genommen und
ihr Tod quälte mich deswegen viele Jahre.
Ich nahm also nicht an der schriftlichen Abschlussprüfung teil,
ließ mich von meiner Psychiaterin krank schreiben und verbrachte
zwei Wochen bei meinem Bruder. Wie ich diese Zeit – vor allem die
Beerdigung – erlebt habe, beschrieb ich nur wenige Monate später
in meiner magischen, aber wahren Geschichte »Nach Hause gehen«
(siehe Anhang 1).
Bei dem Autounfall kam hinzu, dass nicht eindeutig festzustellen
war, warum unsere Mutter auf schnurgerader Strecke ohne Bremsspuren, Fremdbeteiligung oder schlechtem Wetter von der Straße
abgekommen ist. Suizid ist nicht ausgeschlossen. Denn als wir später
in ihrer Wohnung waren, wurde uns erst richtig bewusst, in welch
großer Armut und Einsamkeit sie lebte. Sie litt seit Jahren unter
vielen körperlichen und psychischen Krankheiten, hatte sich total
zurückgezogen von Familie und Freunden. Das Jobcenter hatte ihr
einen Monat vor ihrem Tod die ALG2-Leistungen gestrichen. Ihr
Kühlschrank war leer. Sie konnte die Miete nicht zahlen, Monate
alte Rechnungen und Mahnungen stapelten sich in ihrer Wohnung –
viele davon ungeöffnet. Auf einigen Zetteln hatte unsere Mutter das
Wort »Stehlen« notiert. Ihre Lage war tragisch und sie musste sehr
verzweifelt gewesen sein. Zwei Tage nach ihrem Tod hätte sie eine
eidesstattliche Erklärung abgeben müssen. Da sie zum Termin nicht
erschien (aber auch, wenn sie gelebt hätte, wäre sie nicht zu diesem
Termin gegangen), ging ein Haftbefehl gegen sie raus. – Ich hatte
dies alles nur geahnt, weswegen ich etwa vier Monate vor ihrem Tod
einen gesetzlichen Betreuer für sie beantragt hatte. Sie jedoch hatte
ihr Leid und ihre Not nicht preisgegeben und eine Betreuung wurde
für unnötig befunden.
524
26 – 31 Jahre / Heilzeit
mutters liebe
weit verstreut liegt deine
asche auf den wunden unserer
trauer, trübt unsere blicke
und der himmel fällt hinein
in deine abwesenheit
deine stimme wandert durch
unsere erinnerungen, wir sehen
im grün des grases die spuren
zu dir, schöpfen den tau und
schmecken unsere tränen
ein kuss, ein hauch von dir
liegt in der luft, begleitet
vom klang der vögel trägt
das leben uns weiter, lehrt
uns liebe
April 2010
525
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Gemeinsam mit meinem Bruder entwarf ich das
Motiv für die Platte auf dem Grabstein unserer
Mutter.
Die zwei Widder stehen sinnbildlich zum einen
für unsere verstorbene Mutter und zum anderen
auch für unsere 2001 gestorbene Großmutter –
beide waren vom Sternzeichen Widder. Als unsere
Großmutter starb, war sie nicht im Frieden mit
ihrer Tochter. Nun waren sie wieder vereint und
beschützen bis heute und für immer mächtig und
stark den »Baum des Lebens« – meinen Bruder
und mich.
Unser Vater war ebenfalls bei der Beerdigung
anwesend, auch hatte er die Unfallstelle und die
verwahrloste Wohnung unserer Mutter gesehen.
Seine Gefühle offenbarte er nicht. Aber als ich ihn
in einem wohl günstigen Moment nur unter vier
Augen fragte, wie er sich fühlte und worüber er
nachdächte, sagte er mit einem versunkenden
Blick auf das Grab seiner Exfrau: »Vielleicht hatte
ich zu früh aufgegeben!«.
526
26 – 31 Jahre / Heilzeit
morgen-symphonie
geküsst und aufgewacht
vom morgentau noch ganz
benommen, streicht das licht
melodien durch die gräser
der wind trägt ein flüstern
über das wolkentreiben
fasziniert, erblüht im rot
ein strom der lebendigkeit
geliebt und aufgehoben
im warmen schoß der sonne
versunken, pflanzt der tag
symphonien ins wilde herz
April 2010
527
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Im Mai 2010 gab ich dem Baum, an dem das Auto
meiner Mutter zerschellte, durch das Gedicht »verwundeter baum« eine Stimme.
Der Baum wurde leider später gefällt, was sehr
schade war, denn wir hätten gern gesehen, wie
seine Wunden – ein Sinnbild für unsere eigenen
Wunden – heilten.
528
26 – 31 Jahre / Heilzeit
verwundeter baum
meine wunden zeugen
von einer gewaltigen sekunde
in der ein lebensfluss
an meiner brust versiegte
das blau des lacks
liegt mir zu füßen
jeder splitter getränkt
in fassungslosigkeit
schweigsam streift der wind
über mein offenes fleisch
wendet die blätter am boden
wie die seiten eines buches
Mai 2010
529
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Wir fanden noch ein paar Photos in der Wohnung unserer Mutter.
Auf dem obigen Bild ist sie Mitte Zwanzig.
Ich bin glücklich und dankbar, sie als Mutter gehabt zu haben. Sie
war mein größter Meister – für mich ein sehr kostbarer und einzigartiger Mensch.
530
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Ich behalte meine Mutter als das wunderschöne Lichtwesen in Erinnerung, das sie war, ist und auf ewig bleibt.
Danke für all die (teils sehr harten) Lektionen mit dir, die mich zu
dem Mensch gemacht haben, der ich heute bin. Ich will nicht anders
sein. Ich liebe den Mensch, der ich bin.
Mutti, du weißt, ich freue mich sehr auf unser Wiedersehen. Bis dahin, das spüre ich, bist du bei mir – auch bei deinem Sohn.
531
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Meinen Bruder und mich schweißte dieses Ereignis noch enger zusammen. Mehr »Köbkes« gab es
zu diesem Zeitpunkt nun nicht mehr für uns – nur
noch er und ich – eine kleine Familie, die zusammenhielt und vieles überstanden hat.
Der Kontakt zum Vater war zu diesem Zeitpunkt
wieder spärlich und oberflächlich, außerdem lebte
er Hunderte Kilometer weit weg. Durch den wenigen Kontakt in den Jahren davor fühlten wir uns
mit ihm familiär kaum verbunden. Er war für uns
im Grunde ein fremder Mensch.
532
26 – 31 Jahre / Heilzeit
spiegelung
namenlos geisternd
fern zeitlicher zwänge
pulsierend im quell
gebärenden lichts
irdlos tanzend
fern räumlicher enge
levitierend im fluss
geborenen seins
so spiegelt sich
jedes seelengeschehen
im schattigen umriss
seiner menschlichkeit
Mai 2010
533
26 – 31 Jahre / Heilzeit
In diesem Frühjahr und Sommer 2010 widmete
ich mich noch intensiver dem (neuen) Leben – z.b.
unserem kleinen Gemüsegarten.
Es war mir die reinste Freude, diese Pflanzen von
ihrer Geburt bis zu ihrem Sterben zu begleiten –
ein Wunder ohnegleichen, das am Ende so viele
Gaben für uns hinterließ (Tomaten, Gurken, Paprika, Zucchini, Kräuter).
534
26 – 31 Jahre / Heilzeit
leben
wie regentropfen
perle ich ab
von mir selbst
hinterlasse spuren
auf meinen wegen
um ihnen später
zu folgen
vorher
will ich in
diesem regen
noch tanzen
Juli 2010
535
26 – 31 Jahre / Heilzeit
trauertraum
aus trauerfäden
geflochtene tage
umkreisen das rad
der träumespinnerin
stillstandsträume
wälzen die sterne
durch erinnerungs
schwere nächte
bis am horizont
der letzte tropfen
schmerz ein lächeln
unter die sonne legt
Juli 2010
536
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Vier Monate nach dem Tod unserer Mutter fand
die Hochzeit meines Bruders statt. Welch eine
Freude!
Auf diesem Bild: Er mit seiner wunderschönen
Frau und ihrer Tochter, die meinen Bruder schon
bald als Vater anerkannte und liebte.
537
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Der einzige tragische Beigeschmack an diesem besonderen Tag war
(mehrmals musste ich mir deswegen die Tränen verkneifen):
Auf diesem Bild (mit unserem Vater) hätten wir zu Viert drauf sein
können. Wir stellten uns während der Hochzeit oft vor, wie es wohl
wäre, wenn unsere Mutter neben uns und unserem Vater sitzen würde. Nach so vielen Jahren wären wir endlich wieder vereint gewesen.
Speziell ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie ich meiner Mutter
nach so langer Zeit wieder begegnet wäre. Sie hatte mich sehr geliebt
und sehr unter Schuldgefühlen gelitten (mein Bruder erzählte mir
dies, der erst im Januar 2010, also etwa drei Monate vor ihrem Tod,
den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte). »Meine Melly«, hätte sie
wahrscheinlich schluchzend und überglücklich hervorgebracht und
mich dann fest mit ihren Armen umschlungen. Solch eine Begegnung war aber offensichtlich nicht vorgesehen und hätte auch meine
Entwicklung in eine ganz andere Richtung gelenkt.
Das wohl schmerzlichste war, dass meine Mutter an meinem Geburstag – also nur einen Monat vor ihrem Tod – Kontakt zu mir
aufnehmen wollte und meinen Bruder um Herausgabe meiner Handynummer bat. Er gab sie ihr nicht, weil ich ihn vor Jahren darum
gebeten hatte und ich bin ihm sehr dankbar für diese Loyalität. Was
aber wollte mir meine Mutter mitteilen? Ich werde es nie erfahren.
538
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Das wohl schönste Geschenk, welches mir durch
meinen Bruder gemacht wurde, ist, dass ich eine
neue, sehr liebe Freundin gewonnen habe und eine
Nichte, die einfach nur ein leuchtendes Indigokind
ist.
Sie ist auch der Engel, der – als ich am Grab meiner
Mutter stand – meine Mutter neben mir stehen
gesehen haben will. So zumindest erzählte es mir
meine Schwägerin.
539
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Diesen Teil meines Lebens möchte ich nicht unerwähnt lassen, denn ich schäme mich nicht für ihn:
Hier wartete ich darauf, dass unsere gezogene
Nummer aufgerufen wurde. Es war der wöchentliche Besuch bei der regionalen Tafel.
Es ist unglaublich, was an noch guten Lebensmitteln in unserem Land weggeworfen wird. Adrian
und ich wurden versorgt mit so viel Obst und
Gemüse, welches wir uns gar nicht hätten leisten
können und das noch für zwei weitere Personen
gereicht hätte.
540
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Rohkostgerichte und Kochen bzw. gesunde, vegetarische Mahlzeiten zuzubereiten, war zu einer
meiner Leidenschaften herangereift (auf obigem
Bild: Salat, Kichererbsen und panierte Auberginenscheiben).
541
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Im September 2010 ein spontaner Kurzurlaub in
die österreichischen und italienischen Alpen, die
ich vorher noch nie gesehen hatte.
Ich war überwältigt und sprachlos von der gewaltigen Schönheit unserer Welt.
542
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Gegen Ende 2010 musste ich noch einmal für sechs
Wochen die Schulbank drücken und die schriftliche IHK-Prüfung ablegen (die praktische hatte ich
bereits im Sommer bestanden).
Kurz vorher hatte ich auf Anraten meiner Ärzte
einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung gestellt. Fast zwei Jahre später (im Juni
2012) würde dieser Antrag – nach Eingang einer
Ablehnung und vielen darauf folgenden Schriftwechseln – bewilligt werden.
543
26 – 31 Jahre / Heilzeit
lebensträume
vergraben im grau
ungelebter träume
kauern starr und leer
die seelen jener
vor deren augen
das leben
mit jedem blick
klanglos vorbeizieht
versunken im bunt
gelebter träume
wirbeln wild und frei
die seelen jener
in deren augen
das leben
mit jedem blick
verlockend aufblitzt
November 2010
544
26 – 31 Jahre / Heilzeit
09.03.2011 – mein 30. Geburtstag.
Ich weinte viel an diesem Tag, denn dieses Alter schien mir so viele
Jahre unerreichbar. Etwa seit meinem 12. Lebensjahr hatte ich einen
frühen Tod oder ein Leben im Rollstuhl gefürchtet.
Von meinem Vater, der mir mittlerweile über ein Jahrzehnt nichts
mehr zum Geburtstag geschenkt hatte, erhielt ich ein ganz besonderes Geschenk, weil es einzigartig und für mich sehr kostbar ist: Eine
CD mit Liedern, die er selbst singt und mit der Gitarre begleitet –
auch ein Lied, das er in den 70er Jahren für meine Mutter, für seine
damalige Jugendliebe, komponiert hatte. Ich war zutiefst bewegt
und weinte vor Rührung. Ich sah und sehe diese CD als Liebesbeweis von meinem Vater für seine »erste Familie«, die immer noch in
seinem Herzen ist.
545
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Diesen 30. Geburtstag feierte ich mit meinem Bruder und Adrian am
Samstag, den 12.03.2011.
Ab dem Tag davor war für mich alles anders: Ich sah die Bilder der
Flutwelle in Japan … stundenlang, immer und immer wieder. Ich
war schockiert, fühlte mich in meine Jugend zurück versetzt, in der
mich ähnliche Katastrophen jedes Mal innerlich zerrissen. Mir wurde
wieder bewusst: Nahezu täglich verlieren wir seit Jahrzehnten viele
Menschen in immer kürzerer Zeit. Auch wenn ich sie nicht kannte,
fühlte ich einen schrecklichen Verlust. Und ich konnte nur ahnen,
das die Kernschmelzen für Japans Bevölkerung und für den ganzen
Planeten gravierende Veränderungen bedeuteten. Ich schaute mir
sprachlos und weinend alle Videos an, die ich auf Youtube fand
und betete für die Menschen, die Tiere und den Boden – und dankte
deren Seelen für dieses große Opfer, welches die Menschheit wieder
einmal zu mehr Demut und Besinnung aufforderte.
Dieses Ereignis warf mein Leben erneut für Monate um, was nötig
gewesen war, denn Stagnation hatte sich in meinem Leben eingestellt und ich wollte mich wieder auf die wichtigen Dinge in meinem
Leben konzentrieren: auf mein Innerstes, meine Gedanken, meine
Gefühle – auf die Stimme in mir, denn ich stand wieder einmal an
dem Punkt, an dem ich mir überlegen musste, wie es für mich persönlich und beruflich weitergehen sollte.
Schleichend begann ich, mich in den darauf folgenden Monaten
immer mehr in mir zurückzuziehen – auch weil sich der Todestag
meiner Mutter im April gejährt hatte und ich mich noch mitten
im Trauerprozess und in der Verarbeitung unserer gemeinsamen
Vergangenheit befand; weil sich meine Rückenschmerzen stark verschlimmert hatten; weil in der Beziehung mit Adrian immer wieder
heftige Konflikte auftraten, die sehr an meinem Selbstwert nagten;
weil ich Bayern demnächst wieder verlassen wollte (somit auch die
Nähe zu meinem Bruder); und vor allem, weil ich von einer Person
aus Facebook Anfang 2011 sehr schwer betrogen worden war und
monatelang für die Anerkennung meiner Unschuld kämpfen musste.
Erst am 19. April 2012 (dem Geburtstag meiner Mutter) würde diese
Sache vor Gericht zu einem erlösenden Ende finden.
546
26 – 31 Jahre / Heilzeit
August 2011 – Ein weiterer Umzug. Als Mietnomade war ich das
ja bereits gewohnt. Es war nichts Besonderes mehr – mein Vehikel,
mein Körper, änderte nur seinen Platz.
Ich verließ Bayern wieder und zog mit Adrian zu seiner Mutter nach
Baden-Württemberg in den Landkreis Karlsruhe.
Durch diesen Umzug begegnete ich meiner Vergangenheit noch einmal sehr intensiv, denn ich lebte nun nur noch wenige Kilometer von
meinem Vater entfernt, mit dem ich noch einiges aufarbeiten wollte.
Ich hatte mir erhofft – da mir meine Mutter und meine Großmutter
als »Gedächtnis« nicht mehr zur Verfügung standen – dass er mir
547
26 – 31 Jahre / Heilzeit
hilft, die fehlenden Erinnerungslücken in meiner Vergangenheit
zu füllen – und dass wir uns endlich einmal richtig kennenlernen
könnten, denn vom Leben und Wesen des Anderen wussten wir bis
zu diesem Zeitpunkt doch recht wenig.
Ich studierte meine Tagebücher und schrieb sie teilweise ab – vorrangig für meinen Vater, der so wenig an meinem Leben teilgenommen hatte. Leider scheiterte der Versuch einer von mir gewünschten
wirklichen Annäherung, Aussprache und Versöhnung und wir beendeten vorerst unseren Kontakt im Oktober 2011.
Auch wenn ich meinen Vater nun nicht mehr sehe und höre, so liebe
und ehre ich auch ihn und weiß, dass auch er sein Bestmögliches gegeben hat. Durch ihn und durch meine Mutter kam ich in diese Welt.
Ich danke beiden für mein Leben.
548
26 – 31 Jahre / Heilzeit
2011 war ein Jahr, in dem ich oft glaubte, an den »Herausforderungen des Lebens« und vor allem am »Mensch sein« letztlich doch zu
zerbrechen. Ich hatte mich seit 2007 der Welt geöffnet und lieben
und vertrauen gelernt – und wurde in diesem Jahr schonungslos darin belehrt, dass es Menschen gibt, die Liebe und Vertrauen missbrauchen und anderen Menschen damit bewusst erheblichen Schaden
zufügen wollen. Das war ein heftiger Schock für mich, weswegen ich
mich von vielen Kontakten zurückzog.
Es war meine bisher größte Feuerprobe, der wohl im Laufe meines
Lebens immer wieder neue folgen werden, da das einfach mein Weg
ist, den ich gehen will: Immer wieder an meine (menschlichen) Grenzen zu stoßen, die Grenzen und Extreme des Menschseins erkunden,
diese zu überwinden und dadurch den »Geist im Mensch« stets neu
zu erfahren.
549
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Der Trauerprozess, den ich durch den Tod meiner Mutter durchlief,
bedeutete auch, mir die Trauer anzuschauen, die ich spürte, wenn
ich auf mein Leben zurückblickte: sehr viele Jahre Leid – sehr viele
scheinbare Um- und Irrwege, sehr viele verzweifelte Stunden, sehr
viele verlorene Freunde, sehr viele Menschen, die ich verletzt habe,
sehr viele Narben auf meiner Seele und auf meiner Haut, die bleiben werden – und zwischendurch doch auch immer wieder so viel
Hoffnung.
Durch das intensive Studium meiner Tagebücher – einer Rückreise
zu mir selbst, zu all den Emotionen, die zwischen den Zeilen meiner damals geschriebenen Worte verborgen liegen – entwickelte ich
großes Mitgefühl und Hochachtung für das Menschenkind, das ich
war und heute bin. Ich erkannte: Ich habe nichts falsch gemacht.
Niemand hat etwas falsch gemacht. Alle haben ihr Bestes gegeben in
meinem und unserem gemeinsamen »Lebens-Roman«.
So schrieb ich Anfang 2012 als zwischenzeitlichen Abschluss dieses
fast 31 Jahre währenden Kapitels meines Lebens den Text »Gern
möchte ich dir etwas über »Vergebung« erzählen« (siehe Anhang 1).
Ich veröffentlichte ihn am 19. April 2012. Es wäre der 52. Geburtstag
meiner Mutter gewesen. An diesem Tag wurde ich nicht nur vor
Gericht freigesprochen. – Ich selbst hatte mich von jeglicher Schuld
in meinem Leben losgesagt und den Frieden in mir angenommen.
Die Leere, die mich so viele Jahre gequält hatte, war keine Leere.
Auch die Angst war keine Angst. – Es waren Frieden und Liebe, stets
zum Greifen nah. Ich wollte und konnte diese nur lange Zeit nicht
akzeptieren, weil ich süchtig war nach der Dramatik und Tragik in
meinem Leben, denn ich glaubte, mich nur durch diese lebendig
fühlen zu können; weil ich so sehr an meinem Leid festhielt, mein
Leid für lange Zeit die wichtigste Ausrede für alle vermeintlichen
Versagensmomente in meinem Leben war; weil ich einen Verantwortlichen brauchte (meine Vergangenheit, meine Mutter), da ich
die Verantwortung für mein Leben nicht übernehmen wollte.
Jede menschliche Entwicklung braucht nun einmal seine ganze eigene Zeit ... und deswegen auch seine ganz eigenen Lebenswege und
Lebensgeschichten, von denen jede Einzelne einzigartig ist.
550
26 – 31 Jahre / Heilzeit
angeboren
ich weiß nicht
was es ist
oder woher es kommt
ich weiß nur
es war schon immer da
dieses wissen, diese verpflichtung
nicht schweigend zusehen zu dürfen
diese verbundenheit
die mir verbietet
die augen zu verschließen
vor dem, was geschieht
April 2012
ver(w)irrt
es wirkt
als weinen sie ihr leben
und schwimmen in alten träumen
ihren tränen davon
es wirkt
als tragen sie ihre körper
und fallen wie welke blätter
aus ihren erinnerungen heraus
es wirkt
als kauern sie in fremden lächeln
und kratzen mit trockener tinte
ihre seelen hinein
April 2012
551
26 – 31 Jahre / Heilzeit
träumende und erträumtes
in der sekunde meiner geburt
trete ich aus mir selbst heraus
und erschaffe die welt
im moment meiner geburt
begebe ich mich ins vergessen
und begegne mir im leben
im augenblick meiner geburt
spaltet sich das eine in das viele
und die trennung bestimmt meine reise

in der sekunde meines abschieds
begrüße ich die ewigkeit
und umarme mich
im moment meines abschieds
erinnere ich den sinn meiner reise
und bestaune die wege meines lebens
im augenblick meines abschieds
wird aus vielheit wieder einheit
und der ganze traum bin ich
Juni 2012
552
26 – 31 Jahre / Heilzeit
Anhang 1
553
26 – 31 Jahre / Heilzeit
554
Anhang 1
Gefallene Engel
Ich trage immer einen Schutzengel bei mir. Er ist fast so groß wie
mein kleiner Finger, besteht aus Bronze und ist somit für seine Größe
ziemlich schwer. Meine Mutter schenkte ihn mir vor einigen Jahren,
als sie von ihrer Krebsdiagnose erfuhr. Ich verstand damals nicht,
warum sie ihn MIR gab, obwohl sie ihn doch offensichtlich viel
nötiger brauchte als ich. Es war mir noch umso unverständlicher,
da wir über Jahre in keinerlei Kontakt zueinander standen, und dies
unser erstes Treffen seit Langem war. Heute jedoch habe ich den
Sinn ihrer Geste erkannt; heute, nachdem sie den operativen Eingriff, die maximal mögliche Anzahl an Chemotherapien und auch
die maximal mögliche Anzahl an Bestrahlungen über ihren noch
immer leidgeplagten Körper hat ergehen lassen müssen und der
Krebs medizinisch betrachtet geheilt ist: Mit diesem kleinen, metallischen Etwas standen wir die langen und harten Monate, in denen
sie verzweifelt gegen den Krebs kämpfte, seelisch miteinander in
Verbindung und überbrückten damit Hunderte von Kilometern, die
uns trennten. Denn immer, wenn ich in meiner Handtasche nach
meinem Handy, meinem Portemonnaie oder meinen Zigaretten
suchte, stolperte ich unwillkürlich über diesen kleinen Engel und
flog mit ihm in Gedanken zu meiner schwerkranken Mutter. Eine
Tochter wünscht sich ihr Leben lang nichts sehnlicher, als von ihrer
Mutter – sei die Beziehung zu ihr auch noch so sehr von Ambivalenz
geprägt oder von belastenden Konflikten überschattet – geliebt zu
werden, auch wenn sie es sich selbst niemals eingestehen würde.
Diese unbewusste Sehnsucht, die ich ihr beim Betrachten des Engels
über Wiesen, Wälder und Felder sandte, umhüllte den fast sterbenden Körper meiner Mutter, ließ meinen Wunsch nach Liebe in ihr
wachsen, floss in ihrem Blut zu ihrem Herzen, welches daraufhin
kräftiger und lebensmutiger zu schlagen begann, um ihre Mutterliebe an mich zurück zu senden über blühende Wiesen, tierreiche
Wälder und fruchtbare Felder. Die zaghafte Wiederbelebung unserer
Beziehung, über der ein schwarzes Netz aus traumatisierenden Geschehnissen der Vergangenheit lag, verlieh meiner Mutter die Stärke
und Magie eines Engels; jedoch nicht, um in den Himmel zu fliegen,
sondern um – von weiß strahlenden Engelsflügeln getragen – sanft
zurück auf unsere Erde zu gleiten; in unsere Welt, deren Brutalität
und Ungerechtigkeit von der zurückgewonnen Liebe ihrer Tochter
verwischt werden. Jeden Winter- wie Sommertag kehren die Erinne555
Anhang 1
rungen an den errungenen Sieg zurück, wenn die Sonnenstrahlen an
den Fenstern ihrer Wohnung lecken und ihr damit Grüße des Engels
ausrichten, den ich immer, auch heute noch, stets an meinem Körper
trage.
Ja, ich habe diesen Engel tatsächlich noch heute. Diese wunderbare,
kleine, bronzene Statue darf immer an meiner Seite mitwandern,
an meinem Leben teilhaben. Wenn ich meine Handtasche wechsle,
dann wechselt auch sie ihren Platz. Auch in jeder meiner Jackenoder Hosentaschen ist ein sicherer Ort für sie reserviert. Ich habe
dafür gesorgt, dass auch sie eine beschützende Hand, eine Schulter
zum anlehnen, ihresgleichen zum Reden und Zuhören hat: Da ist
der marmorweiße, handgroße, etwas melancholisch wirkende Engel,
der es sich auf meinem Fernseher bequem gemacht hat, der kleine,
gläserne Engel an meinem Autoschlüsselbund, der golden schimmernde Engel in der mit Wasser und Goldstaub gefüllten Glaskugel
auf meinem Fensterbrett sowie der lachende, die Arme ausbreitende
Engel im gelben Shirt und der Sturmfrisur, der auf meinem Nachttischschränkchen steht. Sie alle leisten meinem Schutzengel beistand,
sobald seine Kräfte drohen nachzulassen. Denn voriges Jahr verlor er
seine Kräfte. Er war gefallen, sehr tief gefallen.
Denn voriges Jahr hatte ich ihn aus den Augen verloren. Was noch
schlimmer war: Ich hatte ihn monatelang aus meinem Leben ausgeschlossen, hatte darauf hingearbeitet, ihn seiner Aufgabe hier auf
Erden – seiner Aufgabe mir gegenüber – zu berauben, ihm seine
Flügel zu brechen und mit in mein Grab zu nehmen.
Es war an einem kalten, grauen Januartag in der verdreckten und
dröhnenden Großstadt, die mir von draußen in meine spärlich eingerichtete und von Zigarettenrauch vernebelte Dachgeschosswohnung zuschrie, ich sei ein Schwächling, ein unbeholfenes Kind, eine
Versagerin, wenn ich weiterhin an Schutzengel glauben würde,
wenn ich meine Entscheidungen nicht endlich eigenständig treffen
könnte. Ich blickte in den wolkenverhangenen Himmel hinaus,
zündete mir eine Zigarette an, öffnete das Fenster, setzte mich auf
das Fensterbrett, die Beine nach außen auf dem Dach ausgestreckt,
starrte fünf Etagen weit nach unten auf die viel befahrene Straße
und versuchte, durch all die Beschimpfungen hindurch, die sanften Worte meines Engels zu hören. Ich war entkräftet und lebens556
Anhang 1
unfroh geworden, war gefangen in den Krallen der – durch viele
Misserfolge zur Übermacht heran gereiften – Verzweiflung, was
von meinem Engel bereits seit Monaten Unmengen an Kraft forderte. Doch er hatte mich nie verlassen. Er hatte für mich in jeder
Sekunde gekämpft, in der ich nicht mehr dazu fähig gewesen war.
Ich hätte ihm längst schon überfällige Dankbarkeit erweisen müssen, als ich seine Stimme endlich durch den Lärm vernahm. Mein
Glaube an ihn – und vor allem an mich selbst – war jedoch bereits
so stark zerstückelt, dass ich seine Ratschläge mit jedem Ausstoß
des Zigarettenrauches in das Maul des Löwen warf, der letztlich
uns beide fast auffressen sollte. Ich traf meine dringend anstehende
Entscheidung ohne ihn, gegen ihn, gegen mein Bauchgefühl. Das
war der alles entscheidende Schritt, ihn aus meinem Leben zu verbannen, ihm den Zugang zu mir zu verwehren. Diesen Entschluss
traf ich zwar in dieser Sekunde mit bewusster Entschlossenheit,
jedoch war ich unwissend darüber, dass mein Unterbewusstsein ab
diesem Zeitpunkt die Herrschaft über mich an sich riss und ohne
mein Zutun in den folgenden Monaten tagtäglich auf meinen Engel
einprügelte, bis er fiel. Ich erkannte es erst, als es bereits fast zu
spät war.
Schon nach wenigen Wochen bereute ich meine im Grunde aus
Hilflosigkeit gefällte Entscheidung. Ich war jedoch zu stolz, um
mir diese Niederlage einzugestehen, war bereits taub und blind für
die Worte und Zeichen meines Engels, der hilflos und vergessen in
meiner Handtasche lag und immer schwächer wurde unter meiner
Ignoranz. Ich suchte mir neue Freunde, die mir bei der Bewältigung
meines neuen Lebens helfen sollten. Zuerst schüchtern verlockend,
später jedoch besitzergreifend und fordernd, gesellte sich der Alkohol an meine Seite. Er sah es in seiner Verantwortung, mich nach
einem anstrengenden Arbeitstag mit einer festen Umarmung zu
empfangen, meinen Kopf aller belastenden und selbstzerstörerischen
Gedanken zu entleeren und mich zu Bett zu bringen, wenn ich mich
nicht mehr aufrecht halten konnte. Morgens war er es, der mir die
Wohnungstür öffnete und mir einen erfolgreichen Tag wünschte.
Doch schon nach wenigen Wochen hatte sich unsere Beziehung in
so hohem Maße routiniert, dass die Wirksamkeit seiner Gesten und
Gaben nachließ und der sich dadurch in mir aufbauende Frust –
verbunden mit der noch größer gewordenen Sehnsucht nach Halt in
meinem Leben – mich nach einem weiteren Freund suchen ließen.
557
Anhang 1
In engen, dunklen Gassen schloss ich kostspielige Geschäfte ab und
kaufte mir einen neuen Freund, in dessen Illegalität ich mich mächtig fühlte. Mit ihm zusätzlich an meiner Seite schwebte ich morgens
gelassen mit anderen Pendlern zur Arbeit, keines direkten Blickkontaktes zu ihnen fähig, und schwebte ebenso leicht abends wieder mit
ihnen nach Hause, mit der gewünschten Wirkung, jegliche Erinnerung an die Zeit dazwischen vergessen zu haben.
Woche um Woche verging. Es wurden Monate daraus, in denen
ich mein Leben von diesen zwei Freunden leben ließ und meinen
Schutzengel mit in meinen seelischen und körperlichen Niedergang
zog, ohne mir dessen bewusst zu sein. Dieses Leben schien mir nur
auf diesem Wege zu bewältigen. Des Nachts gesellten sich jedoch
immer öfter Einsamkeit, Angst und erneute Verzweiflung zu mir ins
Bett und führten mit mir Diskussionen darüber, wie ich weiterzuleben habe. Ich warf ihnen die leeren Flaschen in ihre hämischen Gesichter, doch sie kamen immer wieder zu mir zurück und zwangen
mich, der Zukunft ins Gesicht zu schauen, meinen Lebenswandel zu
überdenken und eine Entscheidung zu treffen, vor der ich bereits seit
über einem Jahrzehnt zu fliehen versuchte.
Eines Tages, ohne dem Beisein besagter Freunde, traf ich diese Entscheidung, deren Endgültigkeit mir sowohl Frieden als auch Angst
einflößte. Meine Tränen und meine Schreie begleiteten mich bei
meinem letzten, verzweifelten Versuch, Kontakt zu meinem Engel,
der mich vor mir selbst retten sollte, der mich von den Folgen dieser
Entscheidung abbringen sollte, aufzunehmen, indem ich mich ins
Getreide warf und mit den Armen und Beinen versuchte, sein Angesicht zu zeichnen. Mit diesen wilden Bewegungen jedoch knickte
ich lediglich die restlichen Grashalme um, an die ich mich noch hätte
klammern können. Es war zu spät. Er, mein Engel, hatte mich aufgegeben; und damit auch sich selbst. Wir waren beide zu gefallenen
Kriegern geworden in einem Krieg, dem ich nun versuchte, ein Ende
zu setzen, indem ich meinen Körper mit einer Unmenge anderer,
bereits vertrauter Freunde vergiftete.
Doch es war nicht das Ende. Schutzengel wären keine Schutzengel,
würden sie ihren – in diesem Fall sich selbst überlassenen – Schützlingen eines nicht mitgeben: auch kurz vor dem scheinbaren Ende
noch zu kämpfen; für sich selbst und für den gefallenen Engel.
558
Anhang 1
Dies war mein von ihm hinterlassenes Erbe. Es rettete zunächst erst
einmal mein Leben, als ich mit Hilfe von medizinischen Geräten
die materiellen Gifte aus meinem Körper warf. In den folgenden
Monaten – durch fremde Hand beschützt vor den noch immer in
meinen Gedanken verankerten Giften – kämpfte ich einen bitteren
Kampf. Ich kämpfte gegen mein inneres Bestreben, mich erneut auf
ein Abenteuer zu begeben, welches sich lediglich als ein weiteres
Mosaik in meinem in Grautönen gehaltenen Glasfenster einreihen
würde, auf dem seit Jahren das Bildnis meines Ruins entstand. Denn
ich war noch nicht soweit, noch nicht bereit; noch immer blind, noch
immer völlig allein und von Verzweiflung zerfressen. So verbrachte
ich Stunden um Stunden, Tage um Tage, Wochen um Wochen in
den Fluren der Station 7 einer geschlossenen Psychiatrie und teilte
meinen Wahnsinn mit anderen aus der Wirklichkeit Gefallenen.
Doch dann, während die letzten Sonnenstrahlen durch meine Gitterstäbe schienen, begann es zu regnen. Durch den Nebel meiner
aufgrund von Tabletten gedämpften Wahrnehmung hindurch hörte
ich die Regentropfen gegen das Fenster schlagen. Es klang, als würde jemand vor der Tür meiner kümmerlichen Existenz klopfen und
um ein herzliches »Komm doch herein« bitten. Das in mir bereits fast
gestorbene Gefühl der Hoffnung rüttelte mich aus meiner Lethargie,
drängte meine Angst vor Veränderung in die dunkelste Ecke meines
Ich, und bettelte darum, die Tür öffnen zu dürfen. Ich war geistig zu
geschwächt für jedwede Widerworte und löste missmutig die schweren Eisenketten, mit denen ich die Hoffnung an mich gefesselt hatte.
Sie öffnete die Tür.
Strahlend schön flogen nacheinander sieben Lichtstreifen in den
Farben Violett, Indigoblau, Marineblau, Grün, Gelb, Orange und Rot
in mein Zimmer, ließen sich sanft und geräuschlos auf meinem Bett
nieder und verschmolzen zu einem Ganzen, einem Regenbogen, einem Lebensengel. Dieses Bunt – diese einfache und reine Schönheit,
dieses aus den Ursprüngen aller Lebenskraft geschaffene Farbenspiel
– vor meinen Augen zu sehen, seine beschützende Geborgenheit
durch meine Adern fließen zu spüren, aber vor allem die Ehrung
und Würdigung meines minderwertigen Ich durch seine Anwesenheit, ließen mich in Tränen ausbrechen. Ich weinte den Schmerz
meines Lebens zum ersten Mal flüsseweise aus mir heraus, befreite
meinen Körper von dieser literschweren Last. Die Tränen stürzten
559
Anhang 1
scheinbar zeitlos meine blassen Wangen hinab und versanken zunächst in dem blutverschmierten Laken meines Krankenhausbettes.
Zärtlich strich mir der Lebensengel in einer anmutigen Bewegung
durch meine ungepflegten Haare, wanderte mit seiner leuchtenden
und warmen Hand von meiner kalten Stirn zu meinem gesenkten
Kinn, fing meine Tränen auf und verschloss sie in seiner Hand. Ich
gab ihm auf diesem Wege all meine gedanklichen Gifte. Er nahm sie
alle in sich auf. Dann hob er mein Kinn. Ich überwand meine Scham
und meinen Selbsthass – meiner monatelangen Missachtung und
Undankbarkeit dem Leben gegenüber – öffnete zögerlich meine von
verlaufener Schminke schwarz untermalten Augen und blickte direkt in die Lebendigkeit, in die Lebensfreude, in die Gier nach Leben.
Das war der Moment des Erwachens, des Erkennens, der Zurückgewinnung meines Glaubens – sowohl an mich als auch an meinen
Engel.
Der Blick dieses Lebensengels, der mich aus meinem inneren Gefängnis befreit, mich aus dem Labyrinth meiner wirren Gedanken
geführt hat, durchströmte meinen Körper und ich vernahm aus
meiner Kehle ein längst verschollen geglaubtes Lachen, welches
mich meine eigene Sehnsucht nach dem Leben wiederentdecken
ließ, wahrlich fast schmerzlich spüren ließ. In der gleichen Sekunde
begann sich langsam in den farbenreichen Augen des Lebensengels
eine Wandlung zu vollziehen. Ich konnte es zuerst nicht erkennen.
Doch dann sah ich es klar und deutlich: Ich blickte in meine eigenen
Augen, in mein eigenes Angesicht, neben dem sich blass die Umrisse
meines Schutzengels abzeichneten. Mit diesem letzten Geschenk an
mich verabschiedete sich der Lebensengel zufrieden lächelnd und
flog aus dem Fenster.
Nur wenige Wochen später verließ auch ich mit einem gepackten
Koffer voller Lebensneugier diesen erschreckenden Ort, an den mich
einst die Todessehnsucht geführt hatte.
Ich begab mich auf eine lange Entdeckungsreise zu mir selbst. Als
Raststätten wählte ich Selbstmotivation und Selbstvertrauen, auf
meinen Tellern lagen Kraft und Mut, meine Kelche waren gefüllt mit
Geduld und Versöhnung, meine Kleider nähte ich aus Lebensfreude
und Selbstwert. Damit gewappnet überwand ich jeden auf meinem
560
Anhang 1
Weg liegenden Felsen, jeden schneebedeckten Gipfel, jeden reißenden Fluss. Aber vor allem befreite ich mich von der Schuld, die ich
mir selbst schwer auf die Schultern gebürdet hatte des Verbrechens
an mir und meinem Engel wegen.
Eines Tages erreichte ich auf der Suche nach mir selbst einen Meilenstein, als ich ihn, meinen Schutzengel, inmitten eines Sonnenblumenfeldes sitzen sah und ihn bat, mich auf meiner nun neuen Reise
– die Freude an meinem Sein erfahren – zu begleiten. Er willigte ein.
Damit wurde ich zum ersten Mal innerlich spürbar vollkommen
und packte die in mir erwachte, innere Glückseligkeit mit in meinen
Koffer.
Seitdem trage ich meinen bronzenen, kleinen Schutzengel wieder in
meinen Taschen auf all meinen Wegen mit der immer wieder Zuversicht bringenden Gewissheit: gefallen zu sein, egal wie tief, bedeutet
nicht, bereits verloren zu sein.
Dies gilt für Engel genauso wie auch für Menschen.
(September 2007)
561
Anhang 1
Jesus und Cosma
Sein Name war Jesus. So zumindest stellte er sich all seinen Mitmenschen vor. Sein Wesen war erfüllt von Güte und Reinheit, Demut
und Dankbarkeit. Sein Gang glich einem Schweben. Seine Worte
glichen einem Gedicht, geschrieben in Zeilen lebendiger Weisheit.
Er war ein Unbekannter unter Unbekannten. Außer seinem Namen
fiel ihnen nichts Besonderes an ihm auf. Niemand wertschätzte sein
edles Wesen, sah seinen grazilen Gang oder vernahm die Poesie in
seinen Worten.
In seiner Akte war zu lesen: Richard Meininger, geboren 25.12.1971,
Bankkaufmann, verwitwet, Schizophrene Psychose.
Sie war eine der Unbekannten, mit denen er zusammenlebte. Auch
ihr stellte er sich als Jesus vor. Sie stellte sich ihm als Cosma vor und
wunderte sich, warum sie ihm nicht ihren richtigen Namen nannte.
In ihrer Akte war zu lesen: Christine Kramer, geboren 22.11.1977,
Krankenschwester, ledig, Suizidversuch.
Von dem Tag an waren beide Freunde, obwohl die Bezeichnung
Freunde nicht ganz zutreffend ist. Sie waren eher Verbündete, die
sich auf einem Schiff im Sturm einander die Rettungsseile zuwarfen.
Jesus erzählte ihr viel aus seinem ereignisreichen Leben. Cosma war
nicht religiös und hatte noch niemals einen Blick in die Bibel geworfen. Für sie war es sein Leben, über das sie sprachen. Und sie glaubte
ihm, da sie all seine Beschreibungen in ihrem Inneren sehen und
fühlen konnte.
Wenn sie sich in suizidalen Gedanken verlor, schien er diese jedes
Mal hören zu können. Einfühlsam versuchte er dann, ihr folgende
Worte ans Herz zu legen: »Gott, unser Vater, wusste, dass es für dich
zu früh gewesen war, in sein Reich einzukehren. Die Zeit dafür war
noch nicht reif. Du hast eine große Aufgabe hier auf Erden. Umarme
das Leben und beende das Streben nach deinem körperlichen Tod.
Gott liebt dich und seine Liebe offenbart sich oftmals in leidvollen
Lehren, aus denen du dann neu geboren auferstehen wirst.«
562
Anhang 1
Das waren die Worte, die sie zunächst am schwersten annehmen
konnte.
Die Wochen und Monate gingen dahin. Immer seltener wurden die
gemeinsamen Gespräche, denn Jesus veränderte sich. Sein Wesen
verlor etwas von der Güte und Reinheit, der Demut und Dankbarkeit. Sein Gang wurde fest. Seine Worte gewannen an Vernunft.
Auch Cosma veränderte sich. Sie begann, das Gefühl von Leben in
sich ganz neu zu entdecken, zu schätzen und zu genießen. Leben
und Tod wurden für sie vereinbar.
Eines mittags stand Jesus im Anzug und mit Krawatte in der offenen
Stationstür, seinen gepackten Koffer in der linken Hand, die Türklinke in der rechten Hand, und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich, Richard Meininger, danke dem Personal, dass ich wieder
gesund geworden bin und die Chance auf ein neues Leben erhalten
habe.« Sein Blick wanderte über die Unbekannten der geschlossenen
Station. »Ich wünsche euch allen von Herzen alles Gute.«
Während er die Tür langsam schloss, verweilte sein Blick bei Cosma,
die etwas abseits im Gang stand. Mit einem Augenzwinkern fügte
er liebevoll hinzu: »Namen sind nur Schall und Rauch. Wir allein
wissen, wer und wo wir sein wollen.«
Christine Kramer ist heute als erfolgreiche schamanische Heilerin
unter dem Namen Cosma bekannt. Richard Meininger wurde seit
seiner Entlassung nie wieder gesehen.
563
Anhang 1
Der Schmerz der Suizidalität
Alles Leben auf diesem Planeten strebt nach Entfaltung, solange es
von Lebendigkeit durchströmt wird. Jede Pflanze strebt im Frühjahr danach, in all seiner einzigartigen Pracht zu erblühen. Wie
eine Explosion erwacht das Leben in unseren Breitengraden, wenn
die Wärme und die Sonne mit ihrer Lebenskraft die Luft und den
Boden küssen. Keine Pflanze käme auf die freiwillige Idee, dass sie ab
diesem Moment keine Triebe, keine Blätter und keine Blüten hervorbringen will.
Sich nicht in diesem Strom der fließenden und stetig erneuernden
Lebenskraft zu befinden, ist mitnichten eine alleinige und schon
gar keine freiwillige, spontane Entscheidung nur desjenigen, der an
den Selbstmord denkt und ihn gar ausführt. Nicht mehr Teil dieser
fließenden Energie zu sein, sich von ihr abgetrennt zu fühlen aufgrund von Umständen, die im Umfeld der betreffenden Person zu
suchen sind, ist ein zerreißender Schmerz, der mit Worten kaum zu
beschreiben ist. Sich vom Leben nicht mehr geliebt zu fühlen, sich
vom Leben selbst ausgestoßen zu fühlen, sich vom Leben verraten
und hintergangen zu fühlen, kann die Seele und den Verstand eines
Menschen in solch hohem Maße zermartern und zerlöchern, dass
ihm jede Lösung Recht ist, um diesem Schmerz und dieser inneren
Einsamkeit und Isolation zu entkommen. Dieses radikale Abgetrenntsein vom Leben erfahren jene Menschen wie ein qualvolles
Sterben – wie ein Leben außerhalb des Lebens und innerhalb der
absoluten Nichtexistenz. Es gleicht einem langsamen Verhungern.
Dieses Verhungern wird um so quälender für all jene Menschen,
die einfach nicht verstehen und auch nicht akzeptieren wollen, dass
sie durch vorangegangene Entscheidungen in solch ein Gefängnis
hinein geraten sind und Hilfe brauchen. Es sind Menschen, die
eigentlich auch noch viele Ziele im Leben haben, die für das Leben
durchaus noch Liebe empfinden und innerlich verzweifelt nach
einer Erwiderung dieser Liebe schreien. In ihrem Lebensumfeld aber
finden sie aus vielerlei Gründen diese Liebe nicht, ihre Hoffnungen
sterben und sie trennen sich immer weiter selbst vom Leben ab. Sie
verwerfen ihre Ziele und ergeben sich dem Schmerz, nicht mehr
Teil des Lebens zu sein, keine Chance mehr auf die Erfüllung eines
glücklichen Lebens zu haben. Sie verbarrikadieren sich im Schmerz.
564
Anhang 1
Hinter dem Wort Suizid verbirgt sich aber nicht nur allein dieser
Schmerz, denn Mord bleibt letztlich Mord, auch wenn das Wort
Selbstmord lautet. Jene, die sich daher im Teufelskreis suizidaler Gedanken befinden, tragen auch bereits eine tiefe Schuld mit sich, weil
sie an sich selbst ein Verbrechen verüben wollen, weil sie Pläne für
ihre eigene Vernichtung ausarbeiten, weil sie ihre Mitmenschen belügen und ausgrenzen. Einen Großteil ihrer geistigen Kräfte müssen
diese Menschen für den Verdrängungsmechanismus aufbringen, der
sie davor schützen soll, sich vor sich selbst bereits vorab zu Mördern
zu erklären und sich selbst damit des Mutes zu berauben, den sie
brauchen werden, um die eigentliche suizidale Tat vollbringen zu
können. Denn zu Mördern werden sie unweigerlich, sobald sie ihr
Leid tatsächlich durch Suizid erfolgreich beenden. In den Erinnerungen der Hinterbliebenen sind sie dann für immer als Selbst-Mörder
verhaftet.
Manch Hinterbliebener wird wohl erst dann erkennen, dass der
Gestorbene viele Hilferufe ausgesendet hatte, die seiner Tat vorangegangen waren; Hilferufe, die nicht von Egoismus, sondern von
Schmerz, Verzweiflung und Isolation zeugten.
(ein überarbeiteter Auszug aus einem Artikel, den ich am 25.06.2009 (dem
23. Geburtstag meines Bruders) auf http://seelenwissen.wordpress.com
veröffentlichte)
565
Anhang 1
Leben auf dem NEUEN WEG
(geschrieben während der stationären Therapie im Jahr 2007)
Spüre auf deiner Haut die wohltuende Wärme der Sonnenstrahlen
und erkenne in diesem Moment, dass du leben willst. Nimm diesen
Moment mit in jeden deiner Tage, auch wenn es einmal schneit.
Betrachte tief in dir, wie sehr du gequält wirst von dem Leid, in dem
du solange schon verharrst und erkenne, dass die Möglichkeiten des
NEUEN WEGES dich daraus befreien können, wenn du dich traust,
sie zu nutzen.
Betrachte deine »Problemverhalten« und sieh, dass sie dir nur im
Weg stehen, dich nicht voran kommen lassen. Wenn du ihre Zerstörungskraft erkennst, wirst du nach Frieden streben und ihn finden.
Sei dir immer deiner Kostbarkeit und Einzigartigkeit in dieser oftmals beängstigenden Welt bewusst, dann kannst du in ihr fliegen
lernen.
Sei dir immer der Kostbarkeit und Einzigartigkeit des Lebens bewusst, der Reichhaltigkeit seines Angebotes, dann wirst du erkennen, wie viel weniger der Tod dir zu bieten hat.
Erinnere dich an Situationen, in denen du vor Verzweiflung zu zerbrechen drohtest und ein paar Tage oder Wochen oder Jahre später
konntest du darüber lachen und erkennen, wie viel Kraft du durch
die Bewältigung dieser Situationen hattest sammeln können.
Nimm in deiner Seele auf, welch großartiges Wunder es ist, hier zu
sein, sagen zu können, ich habe so vieles bereits überstanden und
stehe noch immer vor euch, kann euch lehren, wie das Leben funktioniert.
Wenn es einmal nicht weiter zu gehen scheint, dann wage es und
sieh dich einmal um. Du wirst immer jemanden finden, der dir eine
helfende Hand, eine starke Schulter oder eine beschützende Umarmung gibt.
566
Anhang 1
Nimm dich intensiv wahr, erkenne das Potential in dir, das durch
viele überstandene schwere Zeiten zu einem starken inneren Kern
in dir gereift ist und dir anbietet, in all deinen weiteren Vorhaben
immer an deiner Seite zu stehen.
Wie oft hast du vielleicht den »kürzeren« Weg der Entscheidung für
den eigenen Tod gewählt. Denk einmal darüber nach, dass du dich
mit der Entscheidung gegen den NEUEN WEG aufgeben und alles
bereits hart Erarbeitete mit einem Schlag wegwerfen würdest. Ist es
das wert? Hast du dafür gelebt?
Verwirf den Gedanken, dass es dir nicht gutgehen darf. Vor allem
du hast es verdient, glücklich zu sein.
Sei dir der Energie in dir bewusst, aus der du die Entscheidung für
den NEUEN WEG getroffen hast und frage dich: Warum sollte ich es
nicht schaffen, wenn es doch auch anderen gelingt?
Erinnere dich an den mit Schmerz, Verzweiflung und Selbstaufgabe
gepflasterten alten Weg. Du bist es wert, du hast die Kraft, weiter zu
marschieren und zu deiner eigenen Schönheit und Stärke zu finden.
Trauere nicht um die Jahre im »alten Weg«. Ohne sie wärst du dir
nicht im geringsten über die überwältigenden und großartigen Ausmaße eines »besseren« Lebens bewusst, was für andere Menschen
selbstverständlich scheint.
Sieh ein, du bist nicht deine Narben, ob die innerlichen oder die
äußerlichen. Sie werden an Bedeutung verlieren, wenn du dir keine
weiteren mehr zufügst.
567
Anhang 1
Ode an meine Freunde, die mir Familie sind
(ein »Morgenpräsent« für meine Mitpatienten, geschrieben 2007)
wir sind reisende
mit schweren rucksäcken erklimmen wir berge
vor denen manch anderer nie stehen wird
das bergsteigerhandwerk hat man uns nie gelehrt
doch man gab uns seile, geflickt aus mut und geduld
mit denen wir mühsam die gipfel bestiegen
wo uns unser zurück eroberter selbstwert umarmte
wir sind sehende
weil unsere ansicht der welt ein bild verschafft
welches andere nie erblicken werden
diesem gemälde müssen wir einen passenden rahmen aussuchen
einen rahmen, der nicht unser kerker wird
denn der künstler wählte farbe und motiv brutalst real
so bringen wir für uns unsere kleine welt ins gleichgewicht
und finden selbstsicher einen platz in ihr
wir sind leidende
denen schmerz und angst scheinbar in die wiege gelegt wurde
wo anderen bereits ein gesegnetes leben bestimmt ist
immer wieder türmen sich die felsbrocken auf unserem weg
immer wieder müssen wir kämpfen für ein ziel
dass sich scheinbar oft entfernt, statt näher zu kommen
aber trotz allem, wir gehen, wir marschieren, wir sind lebenskünstler
mit tief in uns verborgenen, nicht vergleichbaren lebensenergien
wir sind vertraute
verbunden durch das, was wir sind
durch das, wonach andere ewig suchen müssten
wir geben uns die hände
sobald wir sie uns reichen
können wir schweren gedanken freiheit geben
unsere schwäche gewagt mit der stärke von tränen entwaffnen
und legen uns gewänder neugeborenen bewusstseins an
568
Anhang 1
wir sind engel
unserer flügel jedoch nicht mehr bewusst
flügel, nach denen sich andere vergeblich verzehren
streifen wir nächtens durch die wolken
durch den nebel unserer geister
überspringen wir klippen
und im spiegelbild des meeres
erblicken wir unsere weißen schwingen
und gleiten in unserer wiedergewonnenen kraft nach haus, zurück
zu uns
DENN
wir sind wissende
wissend um das,
wonach keiner fragt,
wissend um die,
die anders sind,
wissend um uns,
die wir alle, jeder einzelne für sich, einzigartig und wertvoll sind.
569
Anhang 1
Ich bin nicht mein Körper
(Dieser Artikel ist im März 2011 in der Ausgabe 21 »Borderline und Identität« der Zeitschrift »Grenzposten« veröffentlicht worden.)
Seit nunmehr drei Jahren fühle ich mich gut mit mir selbst, gut in
meinem Körper. Es war ein langer Weg hierher! Diesen langen Weg
musste ich jedoch nur gehen, weil ich mich von meinen Mitmenschen hatte verwirren lassen. Ich fühlte und fühle etwas, was sie
nicht fühlen können oder nicht fühlen wollen!
Von klein auf wurde mein Körper misshandelt und vernachlässigt
– ich wurde geschlagen und spürte doch, dass »nur« mein Körper
geschlagen wurde. Von klein auf wurde meine Psyche geknechtet
– ich wurde »erzogen« nach den Maßregeln, die Erwachsene sich
selbst und ihren Kindern auferlegen ohne Rücksicht auf das Wissen,
was ihre Kinder bereits in die Welt mitbringen. Tief in mir spürte
ich aber immer, dass mein Selbst – das, was ich wirklich bin - davon
unverletzt und somit rein geblieben ist.
Was blieb mir damals als Kind anderes übrig, als meiner Mutter
zu glauben; zu glauben, dass sie dies alles aus Liebe und somit aus
den richtigen Gründen tat? Was blieb mir damals anderes übrig, als
den vielen Büchern zu glauben, nach denen Scheidungskinder und
Kinder mit körperlichen und emotionalen Gewalterfahrungen »psychisch krank« werden würden? Was blieb mir damals anderes übrig,
als unter meinen schweren Lebenserfahrungen – und meinem utopischen Wunsch, den Sinn meines Lebens zu finden – »verrückt« zu
werden; in eine Schublade einer psychischen Erkrankung gesteckt zu
werden, weil ich MEHR fühlte und MEHR wissen wollte als meine
Mitmenschen? Ich war jung, ich war unerfahren, ich kannte die Welt
noch nicht! Und das war richtig so! Ich musste ins Chaos stürzen, um
zur Klarheit gelangen zu können!
Während meines 3monatigen Klinikaufenthaltes im Zentralinstitut
Mannheim auf einer Borderline-Station, die von Professor Martin Bohus geleitet wird, wurde mir etwas sehr wichtiges gelehrt: Vertraue
deinen Gefühlen! Als ich die Therapie 2007 begonnen hatte, erging
es mir wohl wie den meisten Borderline-Patienten: Alles, was ich mit
Sicherheit über meine Gefühle sagen konnte, war, dass ich ihnen auf
570
Anhang 1
keinen Fall vertrauen durfte, denn sie waren ein riesiges, chaotisches
Knäuel umschnürt von Angst und Verzweiflung. In der Therapie
wurde das Knäuel ausgepackt und jedes einzelne Gefühl entsprechend seiner Angemessenheit in bestimmten Situationen unter die
Lupe genommen. Ja, ich musste wie ein kleines Kind lernen, was
welches Gefühl ist – und wann es angemessen ist und wann nicht so unglaublich das auch klingt. Ich lernte die Unterschiede zwischen
Traurigkeit und Freude, Neid und Eifersucht, Scham und Angst,
Wut und Ärger, uvm. Mit der Zeit wurde ich sicherer, das GefühlsChaos in mir löste sich auf (zugleich auch die qualvolle GefühlsLeere) und ich brauchte die Angst und die Verzweiflung nicht mehr,
um meine Gefühle zusammenzuhalten. Professor Bohus legte jedem
Einzelnen von uns immer wieder nahe, dass wir nicht »krank« seien,
sondern über Fähigkeiten verfügten, deren Verwendung wir erst zu
nutzen lernen müssten (hohe Empathie, starke Sensibilität, Hellfühlen würde ich es heute nennen). Er betonte, dass er von uns mehr
lernte, als er uns lehren konnte. Das gab mir die Sicherheit und die
Kraft, mich aus dem Status des »Verrückt-Seins» in den Status des
»Etwas-wert-Seins« zu erheben und mir und meinen Gefühlen mehr
und mehr zu vertrauen. Sie wurden meine Wegweiser!
Heute weiß ich, dies war ein bedeutender Schritt zurück zu meiner
Intuition (meinem Bauchgefühl), die allen Menschen zueigen ist,
aber nur von wenigen wahr- und ernstgenommen wird. Heute sage
ich mit absoluter Sicherheit – und ich sagte es auch meinem letzten
ambulanten Therapeuten, der staunend und neugierig von mir lernte
– dass ICH nicht mein Körper bin. ICH BIN eine Seele, die in diesem
Körper inkarniert (wiedergeboren) ist und über den körperlichen
Tod hinaus ewig lebt!
Es mussten alle Therapieversuche mit dem Ziel, mich mit meinem
Körper EINS zu fühlen, scheitern, da sie von der Annahme ausgehen, ich sei mein Körper – OHNE eine Seele, ohne das, was ICH BIN.
Diese Annahme widersprach meiner Intuition (meinem KörperSeelen-Gefühl) und ich wehrte mich dagegen – meine von allen
Menschen verleugnete Seele wehrte sich, indem ich durch Bulimie,
Magersucht und Selbstverletzung den Beweis erbrachte, dass der
Körper zwar zerstört werden kann, die Seele jedoch weiterhin wirkt:
Ich erbrachte Bestleistungen, verfügte über eine überdurchschnittlich
hohe Intelligenz und unschlagbare Argumentationsketten; jedoch
571
Anhang 1
auch über eine sehr geringe Schmerzgrenze, weil die Seele selbst nun
einmal keinen körperlichen Schmerz kennt, sich davon abtrennen
kann. Wäre ich in Indien oder Tibet geboren worden, hätten meine
Eltern mich von klein auf in dem Wissen unterstützt, dass ich nicht
mein Körper bin, und diese Therapietortur wäre mir erspart geblieben! In Indien oder Tibet wäre ich nicht als »verrückt« abgestempelt worden – vielmehr wäre das weise und wissende Kind (meine
allwissende Seele) gefördert worden!
Aus den Erfahrungen meiner 3 Klinikaufenthalte, meiner ambulanten Therapiegruppe und meiner eigenen Borderline-Selbsthilfegruppe weiß ich, dass es wohl fast ALLEN Borderlinern (und anderen
»psychisch Erkrankten«) ergeht wie mir: Sie spüren, dass sie nicht
ihr Körper sind, geraten damit jedoch in Konflikt mit den Vorstellungen unserer Philosophen, Psychologen, Psychiater, Mediziner
und Theologen, die stark unser materialistisches Mensch-Bild
bestimmen. Und da wir in unserer westlichen Zivilisation nicht über
diese Möglichkeit der Wahrheit informiert werden, versinken wir
in Einsamkeit und Verzweiflung, versinken in der Enge, die uns
logischerweise unser Körper spüren lässt (unsere Seele ist viel größer
und weiter als der Körper selbst, Stichwort »Aura«) und gehen in
den Widerstand – ein Widerstand gegen uns selbst, obwohl wir ihn
eigentlich gegen unsere Umwelt richten, die uns etwas vorlebt, was
wir nicht fühlen!
Dissoziation, Depersonalisierung, Halluzination, Gefühlsleere und
Autoaggression sind nur andere Begriffe für Bewusstseinserweiterung, außerkörperliche Erfahrungen, Erinnerungen an frühere
Leben, meditative Zustände und Sehnsucht nach Katharsis. Ich bin
sehr dankbar darum, dass ich mir diese Erfahrungen nie als »krank«
oder »verrückt« habe einreden lassen und dass ich vor drei Jahren
begonnen habe, selbst zu recherchieren. Mir begegneten Menschen,
die mich darin bestärkten, nicht »verrückt« zu sein, sondern vielmehr meine Fähigkeiten als Geschenke anzuerkennen und auszuweiten. Heute weiß ich um die Wirkkraft von Heilsteinen, von
Kristallen, von Energien; weiß um die Bedeutung von z.B. Reiki,
Tantra, die Urkraft Chi, Orgon, Daoismus und Bewusstsein. Ich habe
Bücher gelesen von Hermann Hesse, Arno Grün, Karl Renz, Rüdiger
Dahlke, Eckhart Tolle, Osho, Krishnamurti, Rudolf Steiner, Wilhelm
Reich, Ramana Maharshi, Mantak Chia, uvm. – und in all diesen
572
Anhang 1
Büchern dieser großartigen Schriftsteller, Psychologen, Therapeuten,
Forscher und Wissenschaftler wird bestätigt, was ich von klein auf
spüre: ICH BIN Teil dieser fließenden Energie (der Chi-, Ki-, Prana-,
Christusenergie, es gibt verschiedene Worte dafür) und nicht »nur«
mein Körper!
Die Selbstverletzung überwand ich letztlich vollkommen, als mir
bewusst wurde: Dieser Körper ist nicht mein Feind – dieser Körper
ist vielmehr der Palast, der es meiner Seele ermöglicht, hier auf diesem Planeten das Wunder des Lebens zu erfahren. Ich bin zwar nicht
mein Körper, aber ich brauche ihn, um zu leben – um reden, hören,
schmecken, riechen, fühlen zu können. Deswegen behandle ich ihn
sorgsam!
Alle therapeutischen Versuche, meine Essstörung zu überwinden,
scheiterten. In meiner Vergangenheit wurde nach Gründen gesucht,
warum ich nicht essen wollte, warum ich unsere Nahrung wie ein
Gift durch meine Adern fließen spürte und alles erbrach, was ich in
mich führte. Als ich mich jedoch näher mit der tierischen Nahrung
befasste und u.a. erfuhr, dass ALLE Wesen, die unter widernatürlichen Bedingungen gehalten und unter Angst und Qualen geschlachtet werden, ein Gift in ihrem Körper produzieren, das wir mit der
tierischen Nahrung zu uns nehmen, wusste ich, dass mein Gefühl
des »Vergiftet-werdens« stimmte (hinzukommend all die chemischen, gesundheitsschädlichen Zusatzstoffe in unseren denaturierten
Fertigprodukten)! Seitdem ich mich nun schon 3 Jahre nahezu vegan
und biologisch ernähre, spüre ich wieder Freude am Essen, Zufriedenheit am Sattsein und Reinheit in meinem Körper. Im Sommer
esse ich selbst angebautes Gemüse, das ich mit Liebe und Sorgfalt
großziehe! Die Entstehung des Lebens mitzubegleiten – wenn sich
z.B. aus einem winzigen Samenkorn eine starke Tomatenpflanze entwickelt – hat mich dem Wunder des Lebens – auch meinem Leben
– wieder nähergebracht! Es war ein Meilenstein auf meinem Weg der
Heilung!
Im Zentralinstitut in Mannheim gab es Übungen, die besondere
Samen in mich gelegt haben: zum Einen die Achtsamkeitsübungen
(achtsam Zähneputzen, achtsam barfuß laufen, achtsam essen, achtsam liegen, achtsam hören), zum Anderen die geführten Meditationen. Damals wusste ich noch nicht, dass Meditation zu innerem Frie573
Anhang 1
den und Einklang mit sich selbst führen kann (ich als »Borderliner«
es sogar ganz intuitiv kann, es ist das DSM-Kriterium »chronisches
Gefühl der Leere«) und damit meine ureigenen Selbstheilungskräfte
aktivierte. Ich möchte dir gern eine Meditationsübung (man kann es
auch »innere Visualisierung« nennen) mitgeben, die mir eine Patientin bereits in meiner ersten Klinik im Jahr 2005 erzählt hatte (als ich
noch nicht bereit dafür war) und die ich in meinem Roman wie folgt
nacherzähle:
Susi schenkt mir als Anerkennung meiner Offenheit eine emotional bewegende Meditationsübung, die sie selbst durchführt, wenn sie Kraft braucht.
Ihre Beschreibung lässt in mir ein farbenfrohes Fest an inneren Bildern
entstehen:
Sie befindet sich auf einer wunderschönen, sattgrünen Wiese, auf der
sieben große Bettlaken - hintereinander in den Farben des Regenbogens - an
Wäscheleinen aufgehängt sind. Das achte Laken strahlt in der Farbe Weiß.
Susi steht vor dem ersten Laken und versucht, die Farbe möglichst intensiv
emotional in sich aufzunehmen, sich darin einzuhüllen und zu spüren,
wonach sie sich sehnt; währenddessen offen zu sein für alle Gefühle, die in
ihr erwachen. Dann, wenn sie alles in sich aufgesogen und wahrgenommen
hat, nimmt sie das Laken mit etwas neu gewonnener innerer Ruhe ab, faltet
es sorgfältig zusammen und legt es beiseite. Nun befindet sie sich vor dem
nächsten Laken, dessen Farbe sie wieder voll und ganz in sich aufsaugt.
So verfährt sie mit allen Laken, bis sie das letzte, weiße Laken erreicht;
innerlich bereits angereichert mit Ruhe, Gelassenheit, Frieden und dem
Glauben an ihre ureigene Kraft, ihre ureigenen Bedürfnisse, dem Vertrauen
in sich selbst. Sobald sie sich all dem bewusst geworden ist, nimmt sie auch
das letzte Laken von der Leine und legt es zu den anderen. Ihr gegenüber
befindet sich nun eine Tür, deren Beschaffenheit gedanklich selbst bestimmt
werden kann (für sie ist es eine alte, reich verzierte Holztür). Sie öffnet
diese langsam mit all ihrem zurück erhaltenen Lebenswillen und betritt eine
Welt, die sich wiederum jeder in seiner physischen Erscheinung selbst kreieren kann. In dieser Welt ist Susi nur noch erfüllt von Glück, Zufriedenheit,
Freude und absoluter, innerer Ruhe; eine Welt, in der ihr unruhiges, stetes
Suchen ein Ende gefunden hat.
Während aus ihrer Erzählung diese überwältigenden Bilder vor meinem
geistigen Auge entstehen, weine ich still und leise in mir, denn ich sehne
mich sehr danach, wenigstens einmal in meinem Leben diese Gefühle erfah574
Anhang 1
ren zu dürfen. Innere Ruhe oder innerer Frieden sind für mich Fremdworte
– die entstandenen Bilder waren zwar intensiv, aber doch auf eine frustrierende Art und Weise getränkt in Gefühlsleere.
Susi (Name geändert) war es auch, die mich darin bestärkte, meinen
Glauben an Schutzengel und höhere, feinstoffliche Energie-Wesen
nicht aufzugeben. Jahre später kaufte ich mir die Engelkarten, die sie
schon damals in der Klinik mit sich geführt hatte, denn ich erinnerte
mich daran, dass ich als Kind oft in Dialog mit meinen »Geistführern« gestanden hatte. Und so wie sie mir damals eine Karte gezogen
hatte, die mich in meiner Entwicklung positiv beeinflusste, habe ich
heute eine Karte für dich (alle Leser) gezogen, die ich dir mit auf
deinen Weg geben möchte:
Urteilsvermögen
Urteilsvermögen ist ein Gespür dafür, was richtig und was falsch ist. Du
vertraust auf Dein Urteil und handelst danach. Die Botschaft Deiner Engel
lautet: Nimm die Menschen und Situationen in Deinem Leben genau in
Augenschein und höre auf Deine innere Stimme!
Lerne, Deine Intuition zu entwickeln und bitte die Engel, dass sie Dir helfen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie werden Dich führen und
Dir zu den richtigen Eingebungen verhelfen.
Dann wirst Du Dich sicherer, glücklicher und stärker fühlen und alles viel
klarer sehen.
Die Engelweisheit verrät Dir: Wenn Du Dich auf Dein eigenes Urteilsvermögen verlassen kannst, dann bist Du in der Lage, dem Universum
wertvolle Dienste zu leisten.
AFFIRMATION: Ich vertraue auf meine Intuition.
Sei kreativ und entwickle Strategien, wie du dich selbst in Deinem
Körper mit dir und deinem wertvollen Leben wohlfühlen kannst.
Die wichtigsten für mich heilsamen Strategien habe ich letztlich
selbst entwickelt. Hier möchte ich dir ein paar mitgeben:
• Schau dir im Spiegel tief und lange in die Augen, bis du keine
Angst, keinen Groll und keinen Ekel mehr hast vor deinem eigenen Spiegelbild. Erkenne DICH selbst! Beginne dann langsam zu
lächeln – erst innerlich, dann äußerlich. Beginne dir in Gedanken
zu sagen: »Ich bin ok, so wie ich bin.« Verzeihe dir selbst für das,
was du dir angetan hast! Erlaube dir, dich selbst zu lieben!
575
Anhang 1
• Schau in jeden Spiegel, an dem du vorbeikommst und sag dir:
»Ich bin toll, so wie ich bin! Ich bin stolz auf das, was ich bereits
geschafft habe und noch schaffen werde! ICH BIN DA!«
• Sag dir jeden Morgen: »Dies ist ein neuer Tag meines einzigartigen Lebens. Dieser Tag – alles, was ich heute erLEBEN werde –
ist einmalig und wird mir so in dieser Art und Weise nie wieder
begegnen. Ich gehe mutig, neugierig und gespannt in diesen
Tag, denn ich vertraue darauf, dass alles Kommende aus einem
höheren Grund geschieht, auch wenn ich diesen heute noch
nicht erkennen kann.«
• Setz dich in den Bus oder Zug und fahre einfach in der Gegend
herum. Genieße das Nichtstun(-Müssen), beobachte wertfrei
deine Mitmenschen (wie eine unsichtbare Person), habe deine
Augen und Ohren ÜBERALL! Du wirst überrascht sein, wie viel
LEBEN du wahrnimmst und bisher immer verpasst hast. Diese
Zeit ist zudem eine Schutzzeit: Du kannst dir nicht selbst schaden, weil du in der Öffentlichkeit bist.
• Geh täglich auf die Waage, wenn du es für dein Wohlbefinden brauchst – ABER ohne dich dabei schlecht zu fühlen (weil
»sowas macht man doch nicht«). Es ist ok, dein Gewicht wissen
zu wollen, wenn du es nicht aus Zwang, sondern aus Neugier
tust! Freunde dich damit an, dass sich dein Gewicht zu jeder
Zeit nach oben oder unten verändern kann! Lerne, die sich
verändernde Zahl auf der Waage zu lieben. Wenn du »untergewichtig« bist, dann spüre in dich hinein, ob ein paar Kilogramm
mehr dir nicht auch ein paar Kilogramm mehr körperliche und
seelische Kraft geben könnten, die du brauchst für DEIN Leben.
• Führe ein Essprotokoll, wenn es dir Sicherheit gibt. Reduziere
die Aufnahme von tierischen Fetten, wenn du dich zu dick fühlst
und abnehmen möchtest. Habe immer Wasser und Obst/Gemüse in deiner Nähe, wenn du unter Fressattacken leidest. Hasse
dich nicht, wenn du nicht essen kannst, zu viel gegessen hast
oder wieder bulimisch geworden bist. Verzeihe dir und gib dir
eine neue Chance!
• Verteile Smileys überall in deiner Wohung: am Kühlschrank, am
Spiegel, am Kleiderschrank, an den Türen … wo immer du willst
und erinnere dich dadurch, dass du tief in dir drin gern lächelst
und gern lachst – vor allem, dass du deine Mitmenschen mit
deinem Lachen mitreißen kannst.
576
Anhang 1
• Schreibe ehrliche Briefe an dich selbst in Zeiten, wenn es dir sehr
gut geht (du eine besonders schöne Erfahrung gemacht hast).
Schreibe dir, wie du einer besten Freundin schreiben würdest,
der du nicht oft genug sagen kannst, wie sehr du dich um
sie sorgst, wie sehr du sie schätzt und liebst. Lies diese Briefe
in schweren Zeiten und erinnere dich, dass du tief in dir ein
starkes, lebensfrohes, liebevolles Wesen bist, das von dir selbst
geliebt wird!
• Bekümmere dich! Tue dir so oft es geht, etwas Gutes, auch
wenn es dir schwerfällt. Sei dir die Mutter und der Vater, die du
dir wünschst. Anfangs kannst du es Belohnungen nennen (für
JEDEN Fortschritt oder Erfolg belohnst du dich mit einer Kleinigkeit, die dir Freude bereitet). Später werden es dann Selbstverständlichkeiten.
• Versuch es einmal mit Yoga, QiGong oder Thai Chi. Diese asiatischen Übungen schenken dir ein völlig neues Körpergefühl.
• Widme dich deinem Körper! Herrlich duftende Duschbäder,
Shampoos, Cremes, Lotions und Öle können dir Freude darin
schenken, deinem Körper etwas Gutes zu tun und ihm deine
Wertschätzung entgegen zu bringen. Er wird es dir danken.
• Geh in die Sonne so oft du kannst. Genieße ihr Licht auf deinem
Körper und in deinen Augen. Spüre ihre Wärme und ihre Kraft.
Spüre, wie sie dich mit neuer Energie auftankt.
• Nutze Visualisierungen und geführte Meditationen (es gibt sie
auch zu kaufen auf CD), um dich selbst zu stärken und eine
»Auszeit« von dir selbst – deinem »nur Menschsein« - zu nehmen. Zwei möchte ich dir an dieser Stelle noch mitgeben:
• Setze oder leg dich bequem hin. Stell dir vor, um dich herum
ist eine strahlende Lichtkugel. Du bist dieses Licht, das
deinen Körper wärmend umhüllt. Atme tief ein und tief aus.
Stell dir vor, wie diese Kugel wächst. Bald schon berührt
sie die Wände deines Zimmers. Genieße diese Größe, diese
Ausdehnung und diese Freiheit. Genieße das Licht im
Raum, das DU BIST. Wachse weiter, bis du (diese Kugel)
dein Haus oder sogar deine Stadt / dein Dorf einhüllst.
Atme tief ein und tief aus. Fühle dich verbunden mit allem,
was von diesem Licht eingehüllt wird. Genieße diese (körperliche) Freiheit, erspüre den Wind und die Sonne, oder
den Regen. Wenn du magst, führe dies fort, bis du die ganze
Erde in weißes Licht einhüllst.
577
Anhang 1
• Setze oder leg dich bequem hin. Erspüre die Unterlage, auf
der du sitzt oder liegst. Stell dir gedanklich vor, wie du in
Gestalt eines kleinen Geistes langsam in deine Unterlage
fließt: Wie fühlt es sich darin an? Kalt? Warm? Weich? Hart?
Sieh dich wie ein unsichtbarer Energiestrom, der von deiner
Unterlage weiterfließt in den Fußboden, von da weiter in die
Wände, von da weiter zu den Fenstern. Stelle dir vor, wie
sich diese Materialien anfühlen könnten, während du sie
durchströmst. Fließe weiter durch die Fenster an der Hauswand entlang, vielleicht hinab zum Fußweg oder zur Wiese,
mach einen Abstecher in eine Straßenlaterne oder in einen
Baum und erspüre sie. Fließe und wandere gedanklich von
einem Objekt zum nächsten, wohin du willst.
Ich wünsche dir von Herzen, dass du dich in deinem Körper wohlfühlen lernst, denn du brauchst ihn, um endlich deine in dir schlummernden Potenziale zu leben und somit deine mitgebrachte Lebensaufgabe zu erinnern und zu erfüllen!
578
Anhang 1
Nach Hause gehen
Diese Geschichte erzählt von wahren Begebenheiten. Einzig fiktiv ist die
Perspektive von Christiane, der Mutter. (Alle Namen geändert – kursive
Textstellen sind im Original wiedergegeben.)
Dieser elfte Tag im April zeigte sich in voller Pracht und versprach
Großartiges. Schon früh am Morgen begrüßten die Vögel mit ihrem
klaren Gesang die Sonne und alles Leben, über das sich die warmen
Sonnenstrahlen auch heute hingebungsvoll ergossen. So gehört
es sich auch für einen Sonntag, könnte der eine oder andere nun
meinen. Christiane war bereits vor Anbruch des Tages aufgestanden,
denn für sie würde es ein ganz besonderer Tag werden. Dieser Tag
war ihr Tag! Während des Spazierganges mit ihrer Hündin Kira, mit
der sie vertraute Wege durch den Wald beging, sog sie diesen besonderen, letzten Augenblick – der ihr stets der Liebste war – dankbar
und liebend in ihr Herz hinein: das Knirschen der Steine unter ihren
Schuhen, das Rauschen des Windes in den Gräsern und Blättern, das
Ächzen der starken Bäume, der nach Frühling duftende Wind an ihrem Gesicht, die flach einfallenden Sonnenstrahlen in die dunkelsten
Ecken des Waldes, der starke Zug an der Hundeleine, das freudige
Schnuppern und Herumtollen von Kira. Das Frühstück mit Kaffee
und Marmeladenbrot sowie das Mittagessen mit Schnitzel, Rotkohl
und Kartoffeln hatten ihr noch nie so gut geschmeckt wie an diesem
Tag. Sie spürte, heute ist der Tag – heute ist der Tag, vor dem sie sich
so sehr fürchtete und nach dem sie sich gleichzeitig so lange Zeit
schon sehnte. Vorfreude ließ ihren Körper beben; es war die Freude
darauf, endlich wieder nach Hause gehen zu dürfen. Sie dachte an
ihre erwachsenen Kinder Kai und Franziska – Traurigkeit berührte
ihr tanzendes Herz, denn sie wusste, schwere Zeiten würden nun
auf ihre Kinder zukommen. Aber sie wusste auch, dass sie – und
viele andere Menschen und Situationen – ihnen die nötigen Samen
mitgeben hatte, die keimen und reifen und somit ihre Kinder sicher
führen würden auf ihren eigenen Wegen. Alles war richtig – alles
war gut, so, wie es war und werden würde.
Am Nachmittag gegen 14 Uhr füllte Christiane Futter und Wasser
für ihre seit Jahren einzige Freundin Kira auf, verabschiedete sich
von ihr mit einer großen Portion Streichel- und Bürsteinheiten und
gab der Hündin, die mit großen, braunen Augen und wedelndem
579
Anhang 1
Schwanz vor ihr stand, stillen Herzens zu verstehen, dass sie keine
Angst haben müsste. Christiane schloss die Tür hinter sich nicht ab,
begab sich zu ihrem blauen Corsa, setzte sich hinein, startete den
Motor und fuhr los. Später würden von allerlei Menschen – vor
allem von ihren Kindern und dem Vater der Kinder – Überlegungen
angestellt werden, wohin sie an diesem Tag wohl gewollt haben
könnte. Viele Gedanken würden überlegt, viele Köpfe würden zerbrochen und – nach tagelanger Quälerei aufgrund des Durchwatens
aller grausamsten Möglichkeiten – bei folgender Vermutung enden:
Sehr wahrscheinlich wollte Christiane Zigaretten kaufen in der nur
wenige Kilometer entfernten Grenzstation, hatte dann jedoch während der Fahrt einen Herzinfarkt, weswegen das Auto nach rechts
von der Straße abkam und mit der Fahrerseite gegen einen Baum
prallte.
Christiane selbst hatte kein besonderes, örtliches Ziel oder gar eine
weltliche Erledigung, der sie nachkommen wollte. Sie wusste einfach
nur, dass sie sich ins Auto setzen und losfahren sollte. Als ihr Fahrzeug an dem Baum zerschellte – das Auto umwickelte ihn förmlich
und zerquetschte ihre menschliche Hülle von allen Seiten – schwebte
sie bereits in den hohen Wipfeln des Waldes – ihre weißen Schwingen ausgebreitet, ihr strahlendes weißes Licht alles erleuchtend, als
wäre eine neue Sonne geboren. Sie beobachtete, wie später Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr an die Unfallstelle kamen, um ihren
Körper und das Auto zu bergen. Gern hätte sie diesen Menschen das
weltliche Leid, mit dem diese sich konfrontiert sahen, als Illusion
vorgeführt, doch sie wusste, dass alles, was von nun an geschah und
geschehen würde, ohne ihr direktes Einwirken geschehen musste.
Eine Frau und ein Mann entfernten sich vom Unfallort, stiegen in ein
Auto und fuhren los. Christiane spürte, wo diese hinfahren wollten,
und folgte ihnen.
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen«, sagte der Mann mitfühlend,
»dass ihre Mutter heute bei einem Autounfall ums Leben gekommen
ist.«
Wie gern hätte Christiane ihren 23 Jahre jungen Sohn in diesem
Moment – in ihrer neuen prachtvollen Erscheinung – in den Arm
genommen, um ihm diesen Schmerz zu ersparen. Aber ein Eingreifen in dieses weltliche Geschehen war, wie bereits erzählt, nicht
angebracht. Stattdessen übergoss sie ihren Sohn mit ihrem wärmen580
Anhang 1
den, liebenden Licht, damit die kommenden Stunden, Tage, Wochen
und Monate für ihn verkraftbar werden würden. Sie wich ihm von
nun an nicht mehr von der Seite: Sie besuchte mit ihm das Leichenschauhaus, wo man von ihm erwartete, ihr Gesicht zu identifizieren;
sie war mit ihm an der Unfallstelle, wo er sich selbst ein Bild des
Unfallherganges machen konnte, sie betrachtete mit ihm das völlig
zu einem Knäuel zerquetschte Autowrack, was ihn unter Tränen zusammenbrechen ließ angesichts der plötzlichen Erkenntnis, dass der
Körper seiner Mutter brutal und mehrfach zerstückelt gewesen sein
musste, als man sie aus dem Auto barg; sie begleitete ihn, als er die
Hündin Kira dem Tierheim übergeben musste; sie war bei ihm und
hielt seine Hand, als er seiner fünf Jahre älteren Schwester am Telefon mitteilte, dass ihre Mutter gestorben war. Ab diesem Moment
wich sie beiden ihrer Kinder – überall liebevoll unterstützt von ihren
Partnern und ihrem Vater – nicht mehr von der Seite auf all deren
Wegen und unsäglichen Pflichten, die ein solch tragisches, irdisches
Ereignis herzlos erzwingt.
Ihrem Sohn übergab sie einen Nachttraum, der ihm in späteren
Monaten und Jahren Kraft und Erkenntnis geben würde. Auch ihrer
Tochter schenkte sie nachts einen Traum, aus der diese das Gefühl
der immerwährenden Verbundenheit ihrer – von nun an verkleinerten irdischen – Familie mitnehmen und in ihrem eigenen Leben
verstärken würde.
Mit ihrer Tochter, die bereits davon überzeugt war, dass Seelen nicht
sterben können, pflegte sie bereits zwei Tage nach dem Unfall eine
neue, umfassende Art der Verständigung, als diese folgenden Brief
an ihre Schutzengel schrieb und über Nacht unter ihr Kopfkissen
legte:
Meine lieben Schutzengel,
ich bitte euch von Herzen: Lasst mich wissen, wie es meiner Mutter
JETZT geht; schickt mir Zeichen, die ich wirklich deuten und verstehen
kann – so, wie es bereits vor über zwei Jahren einmal geschehen war,
worüber ich heute noch sehr dankbar bin. Ich werde die nächsten Tage
geduldig und achtsam sein, um eure Zeichen nicht zu übersehen.
Auch wenn das nicht auf diesen Wunschzettel gehört:
Mama? Ich weiß, dass du meine Gedanken hörst, dass du bei uns bist!
Nun endlich kann ich dich nach jahrelangem Kontaktabbruch an mei581
Anhang 1
nem Leben wieder teilhaben lassen und jederzeit mit dir reden … Du
fehlst mir und gleichzeitig fühle ich mich dir näher als je zuvor. Ich liebe
dich! Und ich spüre, wie sehr auch du mich liebst, es aber in deinem Leben nicht zeigen durftest! Ich danke dir so sehr, dass DU mir das Leben
geschenkt hast!
Christiane umarmte ihre Tochter, als diese sie gedanklich darum bat,
und beide spürten die Liebe und Nähe des Anderen. Bis zum nächsten Morgen überströmte sie ihre schlafende Tochter mit weißem,
stärkenden Licht, damit diese weiterhin mutig und zuversichtlich
ihren eigenen Weg gehen konnte. Gleichzeitig erarbeitete Christiane
mit den Schutzengeln ihrer Tochter eine Strategie, wie sie ihr diesen
Wunsch erfüllen konnten. Alle freuten sich, denn der ausgearbeitete
Plan war spektakulär, einmalig – und alle waren sich darin gewiss:
Ihre Tochter würde die Zeichen nicht übersehen – mehr noch: Sie
würde später sogar darüber berichten!
Es ergab sich, dass die Beerdigung an einem Freitag darauf stattfinden musste. Als Kai und Franziska mit ihren Partnern und ihrem
Vater am Morgen dieses Tages gemeinsam zum Friedhof fuhren,
wurde im Radio ein Ereignis gemeldet, das bereits ganz Europa zum
Stillstand gebracht hatte: Der Vulkan Eyjafjallajökull auf Island war
ausgebrochen, eine riesige Aschewolke bewegte sich auf Europa
zu und sämtlicher Flugverkehr war eingestellt worden. Franziska
erinnerte sich plötzlich – natürlich mit ein wenig Unterstützung ihrer
Schutzengel – dass einer ihrer Bekannten ihr vor ein paar Jahren mitgeteilt hatte, der wahre Name ihrer Mutter sei Sukaria; und Sukaria
ist zugleich – Franziska hatte natürlich diesbzgl. recherchiert – der
Name eines großen Vulkans auf der indonesischen Insel Flores, die
auch Die Blumeninsel genannt wird. Für Franziska war dies eindeutig ein Zeichen von ihrer Mutter! Und das war es auch: Christiane
hatte für diesen besonderen Tag, an dem ihren geliebten Kindern die
schwere Aufgabe aufgebürdet worden war, den Körper der Mutter
an die Erde zurückzugeben, den Lärm und die Hektik herunter geregelt. Trauer in Form von Asche bedeckte großflächig den Himmel
über den dunklen Wolken; die Welt drehte sich an diesem Tag ein
wenig langsamer, um den Erdenkindern Kai und Franziska Anerkennung und Hochachtung für diese Stärke entgegenzubringen, die
sie heute entwickelten.
582
Anhang 1
Der Körper der Mutter war verbrannt und in einer Urne verschlossen worden. Alle Trauernden standen in einem Halbkreis im Pavillon des Friedhofes, in dessen Mitte die Urne aufgebahrt war. Eine
Rede des Pfarrers wurde von allen abgelehnt – jeder wusste selbst,
was er der Mutter, der Ehefrau und der Freundin in diesem Moment
noch sagen wollte. Somit zog sich der Pfarrer respektvoll zurück.
Franziska begab sich nach ein paar Minuten des Schweigens – dabei
im steten Dialog mit ihrer Mutter – zur Urne, umfasste sie mit beiden
Händen, legte ihre Stirn darauf und gab ihrer Mutter – deren Anwesenheit für Franziska spürbar war – viele Gedanken und Gefühle, die
sie belasteten. Sie entledigte sich der Wut- und Schuldgefühle, die sie
bis zum heutigen Tage in sich mitgetragen hatte und befreite auch
ihre Mutter von jeglichen belastenden Gefühlen der gemeinsamen
irdischen Vergangenheit. Als Franziska der Urne einen Kuss gab,
war da nur noch Liebe und Frieden zwischen ihr und ihrer Mutter –
etwas, was sie beide im Leben niemals gemeinsam erfahren durften.
Christiane umhüllte ihre Tochter mit den strahlenden Schwingen ihres Lichtwesens, während diese sich zurück in den Halbkreis begab.
Auch der Sohn ging nach einer Weile – auf Anraten seiner großen
Schwester – zur Urne und tat es ihr gleich. Christiane übergoss auch
ihn mit all der Liebe, die sie ihm im Leben nicht hatte geben dürfen.
Als Kai wieder im Halbkreis stand, noch einige Minuten des Schweigens vergangen waren, näherte sich der Pfarrer und alle beschlossen,
dass es nun an der Zeit war, die Urne zum Grabplatz zu geleiten.
Der Pfarrer ging langsamen, ehrfürchtigen Schrittes voran, die Urne
hielt er mit beiden Händen vor seinem Körper, die Trauernden folgten ihm. Vor ihnen erstreckten sich grüne Wiesen und dichte Wälder, die den Hügel dieses Naturfriedhofes umringten. Feiner, kühler
Sprühregen wurde von Franziska mit tiefer Freude und Faszination
wahrgenommen, ebenso die sich langsam erhebenden Nebeldünen, der glockenspielgleiche Gesang der Vögel und das gedämpfte
goldene Licht unter den Wolken dieses frühen Morgens. Franziska
wollte kein Zeichen ihrer noch anwesenden Mutter verpassen – alles
betrachtete sie durch den enthüllenden Schleier der Magie. Und
magisch war es auch: Christiane und weitere Lichtwesen hatten sich
etwas ganz Besonderes ausgedacht, was Franziska später in ihrem
Tagebuch folgendermaßen festhalten würde:
Meinen Wunsch hatte ich in diesen Minuten fast vergessen. Aber er
sollte erfüllt werden, als wir gemeinsam vom Altar zu ihrem Grab liefen.
583
Anhang 1
Ich spürte die weiche Erde unter meinen Schuhen, hörte die Vögel singen, spürte den kühlen Wind und die Frische des Nieselregens, betrachtete den Nebel, der sich langsam aus den umgebenden Wäldern und
Wiesen golden erhob. Ich war sowohl von Frieden als auch von Trauer
erfüllt – eine seltsame Kombination, die ich kaum beschreiben kann. Aus
irgendeinem Grund schaute ich plötzlich nach links – anstatt nach vorn
– auf eine benachbarte Wiese, wo mich etwas sofort in den Bann zog,
weswegen ich beinahe am Grabplatz vorbeigelaufen wäre:
Auf dieser Wiese erblickte ich vier wundervolle, stattliche Rehe. Eines
der Rehe war weiß. Es hob seinen Kopf und wandte seinen Blick in
dem Moment zu mir, als ich zu ihm schaute. Man kann sich vorstellen, ich zweifelte an dem, was ich dort sah. Noch nie zuvor in meinem
Leben hatte ich ein weißes Reh gesehen oder auch nur an die Existenz
eines solchen gedacht. Ich suchte die Wiese nach einem Zaun ab, ob es
vielleicht Tiere waren, die dort gefangen gehalten wurden. Aber ich fand
keinen Zaun. Das weiße Reh schaute immer noch in unsere Richtung.
Ich war tief bewegt und spürte plötzlich: Das ist das Zeichen, auf das
ich gehofft hatte, auch wenn ich es noch nicht zu verstehen wusste. Ich
spürte noch intensiver: Unsere Mutter ist jetzt tatsächlich – nicht nur
in meiner Einbildung – genau in diesem Moment ganz nah bei uns. Mit
dem Blick dieses weißen Rehs schienen Kraft, Güte, Zärtlichkeit, Innigkeit, Seligkeit, Ewigkeit und Liebe zu mir zu strömen – wenn auch nur
für wenige Sekunden. Es reichte aus, um in meinem Inneren Wurzeln
zu schlagen.
Christiane, die Schutzengel, viele weitere Lichtwesen, die Natur- und Elementargeister sowie die Tiere der Wälder und Wiesen
jubelten in diesem magischen Augenblick. Der Wunsch war erfüllt!
Ihr gemeinsamer Plan hatte geklappt! Christiane konnte nun diesen
Planeten, ihr irdisches Leben und ihre Kinder verlassen, wenngleich
sie aufgrund ihrer geistigen Gestalt an mehreren Orten zugleich
verweilen konnte und es auch bis heute tut.
Als die Trauernden wieder heimkehrten, schickte Christiane die letzten Zeichen dieses besonderen Tages – der Tag ihrer Rückkehr zur
Mutter Erde und gleichzeitig zurück nach Hause, in die Weiten des
All-Seins – an ihre geliebten Menschen, indem sich die Wolkendecke
öffnete und das Land für die nächsten Tage mit goldenem Sonnenlicht unter einem glasklaren, blauen Himmel überflutet wurde; und
584
Anhang 1
indem sie diesen starken, liebenden Menschen das Lied Wind of
change von der Gruppe Scorpions über das Radio für deren persönliche Lebensreisen mitgab.
Wenige Tage später erhielten Kai und Franziska von einer Nachbarin ihrer Mutter eine Karte der Anteilnahme, die vor allem Franziska
darin bestärkte, das Erlebte für immer als Wahrheit in ihrem Herzen
zu tragen:
Lieber Kai, liebe Franziska,
trotz der kurzen Zeit, die ich eure Mutter kannte, habe ich sie als hilfsbereiten und warmherzigen Menschen kennen- und schätzengelernt.
Umso erschütterter war ich, als ich am Montag von ihrem plötzlichen
Tod erfuhr. Am Freitag erst hatten wir uns noch über die Auferstehungshoffnung unterhalten, von der eure Mutter fest überzeugt war. In
der Hoffnung darauf finden wir den Trost, unsere Lieben einst wieder
zu sehen.
Ich wünsche euch viel Kraft.
Herzlichst.
Rosa
585
Anhang 1
Gern möchte ich dir etwas über »Vergebung« erzählen
Vergebung – viel wird darüber geschrieben, erzählt und gelehrt. »Du
musst vergeben, wenn du Frieden finden willst.« Auch in Psychotherapien soll es ein wesentliches Thema sein (Ich persönlich habe diese
Erfahrung nicht gemacht).
Viele Menschen scheinen sich also damit zu befassen, doch nur Wenige erzählen von ihrem eigenen persönlichen »Prozess der Vergebung«.
Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Menschen – vor allem
jene, die am Häufigsten davon reden, dass sie ihren Eltern, Freunden
oder anderen Menschen vergeben haben – nicht erfasst bzw. erfahren haben, was Vergebung wirklich ist – wie sie geschieht, wie sie
sich anfühlt, was sie bewirkt und wohin sie letztlich führt. Das ist
aber nur meine persönliche Beobachtung.
Ich bin mir für mich sicher: Vergebung hätte mich niemand lehren
können! Da gibt es keine Theorie, die du auswendig lernen und
Schritt für Schritt befolgen kannst. Du kannst dir aber die Geschichten der Menschen anhören (oder lesen), die von sich behaupten, dass
sie schon einmal in ihrem Leben wirklich vergeben haben – und wie
das ihr Leben verändert hat. Und dann schau auf dein eigenes Leben
– und vor allem in dich selbst.
Leider, wie bereits erwähnt, finden sich diese persönlichen Geschichten nicht so leicht. Und so zähle ich mich zu den Menschen, die gern
ihre eigene, kleine, persönliche Geschichte erzählen wollen. Denn ich
habe den – ich nenne es hier einfach mal »Prozess der Vergebung«
– erfahren, so glaube ich zumindest, und möchte in dieser Botschaft
davon erzählen.
Im Übrigen resultieren alle meine Texte aus persönlichen Erfahrungen und teils langjährigen inneren Prozessen, die letztlich zu
Erkenntnissen führten, welche ich in Form von Texten versuche,
für meine Mitmenschen in Worte zu fassen. Ich bin mir sehr wohl
darüber bewusst, dass ich nicht von meinen Erfahrungen auf alle
Menschen schließen kann – und dass ich rückblickend vielleicht
auch eines Tages über meine heutigen Erkenntnisse (somit auch
586
Anhang 1
meine Texte) sagen könnte: »Ach Maya, was hast du denn da geschrieben. Also, das kannst du so nicht mehr stehen lassen. Lösche es und schreib
es neu, denn deine Erkenntnisse haben sich erweitert und du musst einiges
revidieren oder zumindest relativieren, damit du deine Leser nicht verwirrst
und in die Irre führst.« Ich achte von daher stets darauf, dass jede meiner Formulierungen wohl gewählt sind, damit sie bei wiederholtem
Lesen wie Federn auf einen klaren See in mir fallen. – Ich achte auf
Ehrlichkeit mir selbst gegenüber bei allem, was ich schreibe.
Nun also zurück zum Thema:
Zuallererst widme ich mich dem Wort »Vergebung«.
»VERGEBUNG« … »VERGEBUNG« … »VERGEBUNG« … Wenn ich
dieses Wort in mich hineinfallen lasse, dann spüre ich: Für das, was
mein persönlicher »Prozess der Vergebung« heute in mir hinterlassen hat, ist es das falsche Wort (dazu später mehr). Aber für die Zeit,
während ich mitten im »Vergebungs-Prozess« war, ist es genau das
richtige Wort. Damit meine ich: Das Wort »Vergebung« ist eng mit
der Vergangenheit verknüpft, wie eine lange, schwere Schleppe, auf
die man gequält zurückschaut und die man einfach nicht abwerfen
kann.
Man zieht sie hinter sich her – für lange Zeit – vergisst sie ab und an
sogar, bis man wieder einmal nach hinten schaut und im Herz ein
altbekannter (Messer)Stich zu spüren ist. Aber eines Tages dann – so
war es zumindest bei mir – bemerkt man plötzlich, dass man nichts
Schweres mehr hinter sich herzieht. Man fragt sich: Wann und wo
habe ich denn die Schleppe verloren? Ein Blick nach hinten erübrigt
sich. – Du spürst: Der »Prozess der Vergebung« hat dich in einen
neuen Seinszustand geführt. Du gehst ohne Schleppe weiter, was
deinen Gang natürlich wesentlich erleichtert, da kein Gewicht mehr
hinter dir herzuziehen ist.
Die erste wirkliche »Vergebung« in deinem Leben geschieht somit
nach meiner Erfahrung nicht innerhalb von Sekunden oder Minuten
(gut – spirituelle Meister / Avatare / Bodhisattvas sind hier ausgenommen), indem du dir und / oder dem Anderen einfach sagst: »Ich
vergebe mir / dir.« Das ist eine Illusion! Dies bedeutet lediglich, die
schwere Schleppe zu verdrängen; den Drang, nach hinten zu schauen, zu unterdrücken. Vergebung ist – wie ich bereits andeutete – ein
587
Anhang 1
Prozess; ein intensiver Prozess, der Monate oder eher Jahre, wenn
nicht sogar ein Leben lang andauert.
Nun ein paar Worte zu meinem persönlichen »Vergebungs-Prozess«,
den ich – das will ich an dieser Stelle betont wissen – für mich als ein
höchstes Geschenk betrachte. Vorweg muss ich noch anführen, dass
wir alle nicht nur eine Schleppe hinter uns herziehen. Denn es gilt:
Eine Schleppe pro Person (Mutter, Vater, Bruder, Onkel, Partner,
usw.). Das Gewicht der Schleppen variiert und ist, so glaube ich,
vor allem in Bezug auf unsere nahestehendsten Personen besonders
gewichtig. Ich habe also nicht allen Menschen in meinem Leben
»vergeben« – sondern einigen Wichtigen. Und die wichtigste dieser
Personen ist meine Mutter, 49 J. (gest. April 2010). Von ihr und mir
möchte ich also erzählen.
Als ich vor etwa 13 Jahren mein Elternhaus – meine Mutter und meinen Bruder – verließ, war es eine bewusst geplante Flucht. Ich wollte
meine angst- und schmerzerfüllten ersten 18 Lebensjahre vergessen
und – so jung und naiv wie ich war – glaubte ich, dass eine Distanz
zu meiner Vergangenheit durch eine kilometerweite räumliche
Distanz erzeugbar wäre. Diesen Irrtum jedoch erkannte ich bereits
nach wenigen Monaten, die ich allein in der Fremde lebte. Denn die
Auseinandersetzungen mit meiner Mutter wurden schlimmer denn
je und es folgte ein erster monatelanger Kontaktabbruch. Dieser
Kontaktabbruch (und etliche weitere) war ein wichtiger Teil meiner
(grandiosen) Lebensschule. Er gab mir nämlich zu verstehen, dass
durch ihn (und die räumliche Distanz) rein gar nichts leichter wurde.
Im Gegenteil. Diese eine – ich nenne sie mal »Mutter-Schleppe« –
wurde nämlich Jahr für Jahr um viele Tonnen schwerer. Warum? …
Nun, sagen wir einmal, weil ich noch weitere Erfahrungen machen
musste, um diese »Mutter-Schleppe« (natürlich auch noch zusätzlich
einige andere) so schwer werden zu lassen, dass ich sieben Jahre
später als letzte Rettung nur noch den Freitod gesehen habe – und
auch wählte.
Ich überlebte – welch ein Geschenk – und widmete mich ein Jahr
später mit professioneller Hilfe meiner wichtigsten Schleppe: Ich
– »Vergebung mir selbst gegenüber« (ja, diese »Ich-Schleppe« ist
wohl der schwerste aber wichtigste Brocken von allen und wird
doch am wenigsten beachtet, obwohl am meisten propagiert). Als
588
Anhang 1
nach ein paar Monaten ein guter und sicherer Anfang gemacht war,
betrachtete ich meine »Mutter-Schleppe« mit ganz neuen Augen.
Ich betrachtete meine schwächer und kränker werdende Mutter, die
sich nicht verändert hatte, und ich erkannte: Wenn ich es wirklich
schaffen wollte, meine »Mutter-Schleppe« eines Tages ganz abzuwerfen, dann war eine dringende Entscheidung von mir erforderlich:
Ich musste den Kontakt zu meiner Mutter für unbestimmte Zeit
abbrechen, solange sie nicht bereit war, nach hinten auf ihre eigenen
»Schleppen« zu schauen! Ich war damals 26 Jahre alt, sie war 47 Jahre alt. Ich war mittlerweile für diesen Schritt bereit – sie nicht.
Erst ab diesem Zeitpunkt begann ich wirklich zu lachen, zu weinen,
zu tanzen, zu genießen – zu leben – und meine »Ich-Schleppe« wurde um Einiges leichter. Meine Mutter hingegen – dieser Vorahnung
konnte ich mich nicht erwehren – war auf dem Sterbeweg, denn sie
konnte von ihrer Vergangenheit einfach nicht loslassen. Sie versank
in einem Canyon gefüllt mit Schuldgefühlen, Enttäuschung und Verbitterung – und in immer mehr körperlichen Krankheiten. Wie viele
Tonnen »Schleppen-Leid« mag sie wohl im April 2010 hinter sich her
geschleppt haben, als sie mit ihrem Auto an einem Baum zerschellte?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Ich war erleichtert, dass sie nun
von dieser Last befreit war. Natürlich hatte ich all die vielen Jahre
gehofft und gebetet, dass sie doch die Kraft aufbringen würde, sich
aus sich selbst heraus zu erheben, aber – und darüber vergoss ich
viele Tränen – dieses Geschenk wurde ihr leider nicht gegeben. Es
war nicht ihr Weg. Sie ging früh nach Hause und widmet sich nun
dem, was sich dem irdischen Leben anschließt.
Der Tod meiner Mutter hatte zur Folge, dass ich monatelang gezwungen war, nach hinten auf meine »Mutter-Schleppe« (die in
den Jahren davor bereits etwas leichter geworden war) zu schauen.
Ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren. Sobald ich zu lange
nach vorn schaute, wurde ich blind, da sich meine Augen mit Tränen
füllten. Tonnenweise Schuld, Sehnsucht, Schmerz und Fragen, die
für den Rest meines Lebens unbeantwortet bleiben würden, trug
ich häufchenweise ab … und wurden von meinen Tränen davon
gespült. Die Selbstvorwürfe waren am schwersten: »Was wäre
gewesen, wenn …«. Viele viele meiner Entscheidungen der vielen
vergangenen Jahre meines Lebens betrachtete ich mit diesen vier
Worten »Was wäre gewesen, wenn …«. Als Antwort erhielt ich stets
589
Anhang 1
das niederschmetterndste aller Gefühle (welches ich nur in Form
eines Gedanken auszudrücken vermag, aber man könnte es »Zwang
zur radikalen Akzeptanz« nennen): »Maya, du kannst die Vergangenheit nicht ändern, auch wenn du heute durch deinen größeren Erfahrungsschatz anders als damals entschieden und gehandelt hättest«. Oh, wie
sehr quälte ich mich damit durch so viele meiner Erinnerungen, die
auch nach tausendfachem Wiedererinnern einfach unveränderbar
blieben. Der Tod meiner Mutter ließ mich also zusätzlich auf meine
»Ich-Schleppe« schauen – und die war doch noch schwerer, als ich
gedachte hatte (dieser Irrtum ist wohl typisch menschlich, glaube
ich). Ich übte mich also ein weiteres Mal (das hört wohl auch nie auf)
in »Vergebung mir selbst gegenüber«.
Tja, und dann eines Tages – dieser Tag ist noch gar nicht so lange
her – da bemerkte ich auf einmal, wie mich jedes Mal – wenn ich an
meine Mutter dachte, ich von ihr erzählte oder ich über sie schrieb –
ein wohliger Schauer ergebenen Friedens durchströmte. Nicht mehr
Schuld, Sehnsucht, Schmerz, unbeantwortbare Fragen oder Selbstvorwürfe – sondern einfach nur zeitloser, innerer Frieden.
Das ist der Grund, warum ich persönlich nicht sagen kann: »Ich
habe meiner Mutter vergeben.« Das klingt ja gerade so, als hätte ich es
freiwillig und aktiv getan; als ob ich schon vorher gewusst hätte, was
ich meiner Mutter oder mir dafür (ver)geben müsste. Wirklich, ganz
ehrlich: Wenn ich anders gekonnt hätte – wenn sie nicht gestorben
wäre – hätte ich bis heute bestimmt nicht so einen schonungslos
intensiven Blick auf unsere gemeinsame Vergangenheit geworfen.
Ich kann, hier nun am Ende meiner Erzählung angelangt, über die
Auswirkung meines persönlichen »Prozesses der Vergebung« nur
das sagen, was sich meine Mutter immer für mich als »dauerhaften
Seelenzustand« gewünscht hat: »In dem Augenblick, wenn ich an meine
Mutter denke, bin ich IM FRIEDEN.« Ein anderes, nicht so »abgenutzt«
oder »hochtrabend« wirkendes Wort finde ich einfach nicht dafür.
Jederzeit kann ich diesen inneren Frieden durch mich hindurch
strömen lassen und erfahre dann durch ihn MOMENTE DER KLARHEIT, in denen ich rückblickend sehen und fühlen kann:
• Alles, was in meinem Leben geschah, geschah, weil es bedeutsam für mich (und andere) war.
590
Anhang 1
• Ich war stets in der Fülle – meine Seele erlitt keinen Mangel.
• In jedem Moment meines Lebens standen mir die Fähigkeiten
und Möglichkeiten zur Verfügung, die ich zur Bewältigung meiner »Probleme« und »Krisen« benötigte.
• Es gab in meinem Leben gar keine »Probleme« und »Krisen«.
Jeder Moment war einfach »nur« (sich entwickelndes) LEBEN.
• Ich wurde stets geführt, unterstützt und beschützt.
• Ich befand mich stets in der Erfüllung meiner innersten Wünsche, für die es keine Worte gab.
• Der innere Frieden war stets zum Greifen nah.
• »Vergeben« bedeutet für mich, sich sich selbst vertrauensvoll zu
ergeben / hinzugeben.
Mit dieser Gewissheit gehe ich heute in jeden Tag.
* Wirkliche Vergebung heißt, zu sagen:
• Ich habe mich geirrt.
• Ich dachte, du seist der Täter und ich das Opfer.
• Heute sehe ich das anders.
* Mutter, ich öffne mich den Gedanken, dass
• du es so gut gemacht hast, wie du konntest.
• du das Beste für mich gewollt hast.
• du mich so geliebt hast, wie es dir möglich war.
• alles, was zwischen mir und dir geschah, mit dem Willen unserer beider Seelen geschah.
• du, wie ich selbst, wie wir alle, ein Kind des Lichtes und der
Liebe bist, auch wenn du dich selbst vielleicht in deinem Leben
nicht als solches erkannt hast.
• dies nicht die erste gemeinsame Erfahrung von uns beiden ist,
sondern dass wir vermutlich schon in vielen Rollen gemeinsame
Erfahrungen gemacht haben in anderen Leben. – Ja vielleicht
war ich schon einmal deine Mutter.
* Text von Robert Betz
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 19.04.2012.
Es wäre der 52. Geburtstag meiner Mutter gewesen.)
591
Anhang 1
592
Anhang 2
Anhang 2
weitere, bereits im Internet veröffentlichte Texte
593
Anhang 2
594
Anhang 2
Fügungen des Lebens
Vielen ist bekannt,
dass das Leben aus Fügungen besteht,
doch nur wenige wissen,
was das wirklich bedeutet.
•
Ich bitte dich daher nun um eine Rückschau.
Blicke zurück auf dein Leben
und erkunde,
wie du an den heutigen Punkt deines Lebens gelangt bist.
•
– BEGINNE IN DEINER KINDHEIT –
•
Erinnere dich,
wofür du dich als Kind interessiert hast.
Erinnere dich,
wie du dir dein Leben heute vorgestellt hast.
Erinnere dich,
welchen(r) Beruf(ung) du als Kind gern erlernen (nachgehen) wolltest.
Erinnere dich,
wen oder was du am meisten geliebt hast.
•
– NUN VERGLEICHE ES MIT HEUTE –
•
Bist du deinen Interessen gefolgt?
Falls ja, welche Umstände ermöglichten dies?
Falls nein, welche Umstände hielten dich davon ab?
•
Lebst du jetzt ein Leben nach deinen kindlichen Vorstellungen?
Falls ja, welche Umstände führten dazu?
Falls nein, welche Umstände behinderten dich daran?
•
Hast du den als Kind erwünschten Beruf erlernt?
Falls ja, welche Umstände bestärkten dich darin?
Falls nein, welche Umstände haben es verhindert?
•
Liebst du immer noch, wen oder was du als Kind liebtest?
Falls ja, welche Umstände erhielten diese Liebe?
Falls nein, welche Umstände führten zum Verlust dieser Liebe?
595
Anhang 2
In meinem Leben bezeichnete ich diese »Umstände«
lange Zeit als »Glück« oder »Unglück«.
Heute sehe ich sie als gewollte »Fügungen«.
••
•
••
Wir alle sind mit einer Absicht in dieses Leben gekommen.
Wir werden geführt und geleitet,
um diese – uns i.d.r. unbekannte – Absicht zu erfüllen.
•
Alle deine zurückliegenden Entscheidungen
hast du auf der Basis von Fügungen (Umständen) getroffen,
die dir als Argumente des Für oder Widers dienten.
Jede deiner Entscheidungen ist somit Folge von Umständen (Fügungen),
auf die du in der Regel keinen Einfluss nehmen konntest.
Die Entscheidungen deines Lebens wurden somit
nicht wirklich von dir getroffen.
Du hast lediglich nach den dich umgebenden Umständen reagiert.
Du hast dich ihnen gefügt.
•••
••
•
Zum besseren Verständnis ein Auszug aus meinem Leben:
Ein Kind (eine Seele) wird in Umstände hineingeboren, die über Jahre
sehr belastend und traumatisierend sind und das Kind in seinem Denken, Fühlen und Handeln sehr prägen.
Aus seiner eigenen Hilflosigkeit heraus keimt in ihm der Wunsch, anderen leidenden Menschen helfen zu wollen.
Deswegen wünscht es sich, als erwachsene Frau einen heilenden Beruf
zu erlernen, um Menschen zu helfen, die ebenfalls belastende, traumatisierende oder andere leidvolle Lebensumstände erfuhren oder noch
immer darin leben.
Von der Mutter wird es darin noch bestärkt, da diese zeitweise bei der
Caritas tätig ist und das Kind die Mutter oft begleitet.
Nach dem Schulabschluss beginnt dieses erwachsene Kind eine Ausbildung zur Krankenschwester. Es macht sich bereits Pläne, wie es danach
in Afrika, Asien oder Südamerika bei der Entwicklungshilfe mitarbeitet,
ignoriert jedoch, dass es keine Freude an dieser Ausbildung hat und sich
quält. Eines Tages dann:
596
Anhang 2
Ein Umstand zerstört seine Pläne und beendet, was beendet werden
muss: Bereits mit 19 Jahren erleidet es einen Bandscheibenvorfall und
wird für den Rest seines Lebens eingeschränkt sein in seinen Handlungsmöglichkeiten.
Geschockt und sich vom Leben betrogen fühlend, versteht es diesen
Umstand (diese Fügung) nicht, obwohl es auch ein wenig Erleichterung
spürt, diese ungeliebte Ausbildungsstätte nun verlassen zu können, was
es aus freien Stücken nicht getan hätte.
Es wendet sich durch dieses »Unglück« erst einmal von seinem Wunsch
ab, anderen Menschen beruflich helfen zu wollen, und es folgen Jahre in
Berufen, die es nicht interessieren und ebenfalls quälen.
Jahre später erinnert sich dieses Kind wieder an seinen alten Wunsch
und findet andere Mittel und Wege, um seinen Mitmenschen zu helfen
und sich innerlich zufrieden und erfüllt zu fühlen – vor allem indem es
seine starren Vorstellungen darüber ablegt, wie Leben und Zukunft in
unserer Gesellschaft auszusehen haben und welche Einschränkungen
sein Leben wirklich einengen.
•
••
•••
Zur Erinnerung:
Wir alle sind mit einer Absicht in dieses Leben gekommen.
Wir werden geführt und geleitet
um diese – uns i.d.r. unbekannte – Absicht zu erfüllen.
•
Warum ich nun letztlich anderen Menschen helfen will
– warum ich z.B. schreibe –
spielt in erster Linie keine Rolle
– als Erklärungen dienten sowieso nur Umstände meines Lebens –
Von Bedeutung ist vielmehr,
dass ich tue,
wonach ich mich innerlich sehne,
denn das ist der Grund meines Daseins auf Erden:
Teil des Lebens und somit Teil der Fügungen zu sein
– im Lebensfluss zu fließen.
•
Wie andere Menschen und ihre Handlungen auf mein Leben wirken
– zur rechten Zeit am rechten Ort –
so wirke auch ich auf das Leben anderer Menschen
– auch für sie zur rechten Zeit am rechten Ort –
597
Anhang 2
Sie sind meine Umstände (Fügungen) und ich bin Ihre.
Alles, was geschieht, ist eine Folge von Fügungen.
Alles, was geschieht, ist selbst eine großartige Fügung.
Denn alles fügt sich letztlich den kosmischen / göttlichen Gesetzen,
die wir mit unserem menschlichen Verstand nicht begreifen können.
Das ist auch gar nicht nötig.
••
•
Gravierende, lebensverändernde Umstände bzw. Fügungen
– sprich nicht beeinflussbare Ereignisse in deiner Außen- oder Innenwelt
(körperl. Krankheiten, Unfälle, Todesfälle, Burn-out, finanz. Ruin, uä.) –
geschehen in deinem Leben,
wenn du entgegen deiner inneren Stimme handelst,
wenn du dich dauerhaft dem Lebensfluss verweigerst,
wenn du nicht Teil des Lebens bzw. Teil der Fügungen bist,
wenn du in deiner Entwicklung stagnierst,
wenn du »abkommst« vom ursprunglichen Grund deines Erden-Daseins,
wenn du gegen statt für dich lebst.
•
Diese – von dir oftmals negativ interpretierten – Ereignisse,
die dich dann beuteln, schütteln und dein Leben durcheinander bringen,
bringen dich wieder auf deinen Weg.
Sie sollen dich wieder in den Fluss des Lebens einfügen, und zwar
solange – immer und immer wieder – bis du dich erkennst.
•
Woran aber erkennst du,
dass du im Lebensfluss bist,
dass du in den kosmischen Fügungen lebst,
dass für und nicht gegen dich lebst?
Ganz einfach:
Alles, was du tust, gelingt dir mühelos
und bereitet dir zudem noch eine innere Freude.
••
DAS BEDEUTET:
•
Du gehst deinen innersten Interessen nach
und verschiebst sie nicht immer wieder.
Wenn du es von Herzen wirklich willst,
ergeben sich dafür Mittel und Wege (Fügungen)
(z.B. Reiten lernen, Flugschein machen, Yoga-Studio gründen, …).
598
Anhang 2
Du gestaltest dein Leben nach deinen Kinderwünschen,
wenn diese nach wie vor in dir nach Erfüllung rufen.
Wenn du es von Herzen wirklich willst,
ergeben sich dafür Mittel und Wege (Fügungen)
(z.B. einen Bauernhof kaufen, ein Haustier, …).
•
Du übst den Beruf aus, der dir Freude bereitet,
bei dem alles mühelos funktioniert,
der dein Hobby ist, der dich erfüllt.
Falls du das momentan nicht tust,
dich aber danach sehnst,
werden sich Mittel und Wege (Fügungen) ergeben,
um in deiner Berufung tätig werden zu können.
•
Du tust, was du am meisten liebst
(z.B. Gedichte schreiben, Gemüse anbauen, Musizieren, …)
und teilst dein Leben mit den Menschen, die du liebst
(deine Kinder, Eltern, Freunde, …).
Falls das momentan nicht der Fall ist,
dann nimm dir bitte Zeit dafür!
Nimm dir Zeit, dich zu lieben!
Nimm dir Zeit für die Menschen, die du liebst!
Löse etwaige Konflikte, die vielleicht zwischen euch stehen,
und die ihr wie schwere Sandsäcke unbemerkt mit euch herumtragt.
•••
••
•
Kläre und füge dich den großen und kleinen Dingen,
die in deinem Leben getan werden wollen.
Nur du kannst es tun.
Aufschieben, ertragen, abwarten können nicht verhindern,
dass es letztlich doch getan wird (geschieht).
Denn du bist nicht ohne Grund hier
und es ist das Bestreben deiner Seele,
den Grund ihres Daseins in jeder Minute zu erfüllen.
•
Schau auf dein Leben zurück.
Erkenne und erinnere meine Worte, die auch deine sind.
Beobachte dich in deinen heutigen Entscheidungen
und werde dir bewusst,
599
Anhang 2
in welchem großen Zusammenhang du sie triffst;
nämlich deinen Lebens-Umständen, denen du dich fügst,
in die du vertrauensvoll eingebettet bist.
Es wird nie eine Entscheidung von dir verlangt,
die du nicht bewältigen kannst.
Die Umstände (Fügungen) sind stets perfekt
und für (nicht gegen) dich,
mögen sie auf den ersten Blick auch nicht so wirken.
••
•
Du warst vom Anbeginn deiner Existenz
immerwährend in das Vertrauen zu Gott eingebettet
– stets geführt durch seine beschützende Hand
und deine wissende Seele.
Du hast es bisher nur noch nicht bemerkt.
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 16.04.2011)
600
Anhang 2
Der rote Faden
Es gibt
in deinem Leben
einen roten Faden.
•
Alles,
was geschehen ist,
reiht sich an diesen roten Faden.
•
Alles,
was geschehen wird,
reiht sich an diesen roten Faden.
•
Dein Leben ist »logisch«,
auch wenn du dir dem nicht bewusst bist.
•
Schau zurück
und finde die Gemeinsamkeiten
in allen Geschehnissen deines Lebens!
•
Erkenne die Wegweiser und die Hinweise,
die Mahnungen und die Einbahnstraßen,
die Kreuzungen und die Wiederholungen!
•
Entdecke die Essenz,
die dir durch alles Vergangene offenbart wird!
•
Du bist der einzige Zeuge deines Lebens,
bist alleiniger Beobachter darüber,
wie du (re)agiert (gefühlt) hast
und noch immer (re)agierst (fühlst).
•
Niemand erlebt die Welt so wie du.
Du erfährst sie aus deiner ganz eigenen Perspektive.
Das macht dich einzigartig und bedeutend.
•
Jeder Wandel in deinem Leben
war und ist eine Preisgabe dessen,
wer du bist und wo du hingehst.
601
Anhang 2
Jeder Wandel ist aber nur ein »äußerer« Wandel.
In dir bewirkt er
die Entwicklung / die Offenbarung deines Selbstes.
•
Denn dein Selbst »bleibt sich immer treu«.
Es kennt den roten Faden deines Lebens
und führt dich.
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 27.04.2011)
602
Anhang 2
Warum du durch deinen eigenen Schmerz musst
Wenn du den Mut dazu hast,
tief in dich hinein zu schauen,
wirst du bemerken,
dass dich immerzu
ein Gefühl – eine Ahnung
begleitet
bei allem, was du tust und denkst.
•
Dies ist dein innerer Zeuge,
der in jedem Moment deines Lebens wahrnimmt
– »aufzeichnet« – »protokolliert« –
was tatsächlich geschieht.
•
Dein innerer Zeuge nimmt wahr,
was die Wirklichkeit dieses Momentes ist,
von dem du ein Teil bist.
•
Was wirklich vor sich geht, fühlst und ahnst du somit,
wenn auch nur ganz schwach tief in dir drin.
•
Du hast ein Gefühl, eine Ahnung darüber,
ob das, was du tust und denkst
»richtig« oder »falsch« ist,
»gut« oder »schlecht« für dich ist,
ehrlich oder unehrlich dir selbst gegenüber ist.
•
Doch du kannst an dem Moment nichts verändern
– bist dem Geschehen scheinbar hilflos ausgeliefert –
Du kannst an deinem Tun und Denken nichts verändern.
– »Du kannst einfach nicht anders.« –
•
Versuchst du trotzdem,
das gegenwärtige Geschehen
zu verändern / zu verhindern / zu vermeiden
– wenn du also gegen deine Taten und Gedanken ankämpfst –
(die z.b. Streitigkeiten und Konflikte auslösen / verstärken)
wird es dich sehr viel Kraft kosten,
ein »anderes« Tun und Denken umsetzen zu wollen,
603
Anhang 2
mit dem du letztlich ja doch nur
deinem inneren Schmerz auszuweichen versuchst.
•
Denn in diesem Moment muss es so geschehen.
•
Du musst deinem Schmerz begegnen
– deinem alten, aus der Vergangenheit mitgenommenem Schmerz –
den das gegenwärtige Geschehen um dich herum in dir hervorholt.
•
Währenddessen jedoch,
nahezu unbemerkt von dir,
verändern sich bereits
dein Tun und dein Denken »von allein«
in jedem Moment deiner schmerzvollen Erfahrungen.
•
Auch dein grundlegenstes Gefühl
dir und der Welt gegenüber
– wie du dir und ihr begegnest –
erfährt eine Verwandlung,
ebenfalls nahezu unbemerkt von dir.
•
Dann plötzlich eines Tages
– nach Wochen, Monaten oder gar Jahren –
schaust du zurück und erkennst,
was dein innerer Zeuge dich bereits hatte fühlen / ahnen lassen:
•
Nämlich wie sehr deine damalige Wahrnehmung der Wirklichkeit
– dein unaufgelöster Schmerz –
dein Tun und Denken beeinflusst hat
und dass du damals somit tatsächlich »nur«
in einer aus deinem Schmerz erzeugten eigenen Realität gelebt hast.
•
Und mit der Zeit,
während du dich dem Jetzt Stück für Stück weiterhin näherst
– all der erfahrene Schmerz in deinem Leben sich langsam auflöst –
– dein Tun und Denken an Reife zunimmt –
wirst du immer mehr erkennen,
wer du in Wirklichkeit bist
– ohne all den vielen inneren Schmerz –
•
604
Anhang 2
Dadurch wirst du dich selbst von dem Leid befreien,
»einfach nicht anders zu können«
– nicht zu wissen, was du tust (und denkst) –
•
Vater, vergib ihnen; sie wissen nicht, was sie tun!
[Lukas-Evangelium - Kapitel 23 - Das erste der ‚Sieben Letzten Worte‘
von Jesus Christus]
•
Du erkennst mit der Zeit
immer mehr das
WARUM
deines Tuns und Denkens
und näherst dich damit der Gegenwart,
deinem wahren Sein im Hier und Jetzt
– fern jeglichen inneren Schmerzes –
•
Du,
der du in Wirklichkeit und Wahrheit bist
– und bereits warst, als du zur Welt kamst –
erscheint.
••
•
Wenn du dann endlich du bist,
unbeeinflusst von innerem Schmerz
und damit auch befreit von selbsterniedrigender
Angst, Wut, Scham, Schuld, Reue, ….
– die deine Wahrnehmung verändert haben –
dann hast du
einen klaren Blick auf die Wirklichkeit,
einen klaren Blick auf die Wahrheit,
einen klaren Blick
sehr tief in dich hinein.
•
Dort dann
– tief in dir selbst –
ist keine Vergebung mehr nötig,
denn dort ist die Gegenwart,
dort ist
God.
•
605
Anhang 2
Um Gott zu finden und zu versuchen
mit ihm in Verbindung zu treten
braucht der Mensch nicht weiterzugehen,
als in sich selber zu erfahren,
wie seine Seele dieser Gegenwart geistiger Realität inne wird.
[Das Urantia Buch, Schrift 5, Absatz 1]
•
••
Ich wünsche dir von Herzen,
während deiner Lebensreise
diesen klaren Blick zu erlangen.
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 30.10.2011)
606
Anhang 2
Warum Liebe wehtut
Wir alle
erfuhren als Kind
Liebe nur in verfälschter Form.
•
Nicht-Liebe
– der (oft unwissende) Missbrauch der Eltern-Rolle –
hat so viele Gesichter,
dass ein Großteil der Menschen sie nicht erkennt
und nur in dem Glauben lebt,
geliebt worden zu sein oder
noch immer geliebt zu werden.
•
Eltern und (v.a. erwachsene) Kinder
bürden sich gegenseitig
»Pflichten« und »Verantwortungen« auf die Schultern,
die im Allgemeinen als Liebe bezeichnet werden,
damit jedoch nicht das geringste zu tun haben.
•
– Es gibt leider nur wenige Ausnahme-Familien. –
•
In uns allen
– egal wie alt wir heute sind –
ist noch immer das Kind,
das nach Liebe schreit,
das sich (an)klagend danach verzehrt,
das wütend und verzweifelt fordert.
•
Wir alle sind
hungrig nach Liebe.
Wir alle sind
als Kind nicht satt geworden.
Wir alle sind
betrogen worden.
Wir alle sind
zum Selbstverrat gezwungen worden.
•
Die Liebe wurde uns vorgelebt als etwas,
das an Bedingungen geknüpft ist.
607
Anhang 2
Dies aber ist nicht Liebe!
•
Wenn wir »lieben«,
ist es oft nur ein »Nehmen«
– oder auch ein »Energie-Raub« –
Wir sind kaum fähig,
Liebe zu »geben«.
Wir (ver)brauchen so viel Energie für uns selbst,
zur Pflege unserer eigenen »alten Wunden«.
•
••
(abgesehen davon ist Liebe nicht
»Nehmen & Geben«
sondern ein einziges immerwährendes
(sich hingeben-)»WOLLEN«)
••
•
Hinter unseren »Liebes-Gaben«
verbergen sich »Strategien« und «Taktiken«
– in den meisten Fällen unbewusst und kindlich naiv –
um die Liebe unserer Mitmenschen nicht zu verlieren,
damit sie uns weiterhin lieben und mögen,
damit sie uns nicht verlassen,
damit wir überleben!
•
So haben wir es von klein auf gelernt:
Liebe mussten wir uns verdienen
– schon nach der Muttermilch mussten wir schreien –
(sofern sie uns überhaupt gegeben wurde)
Wir mussten »dienen« und »betteln«
– uns anpassen, schauspielern, etwas leisten –
um geliebt zu werden
– sonst wären wir gestorben! –
•
Dienen aber ist nicht lieben!
Überleben ist nicht leben!
•
Heute »leben« wir diese »erlernte Liebe«.
blind schwankend und gestützt auf
seiltänzerischen, unsicheren, gefährlichen Täuschungen!
608
Anhang 2
In uns ein ungestilltes Kinderherz,
ein Fass ohne Boden.
•
Wir spüren ab und zu,
dass irgend etwas nicht stimmt.
Immer wieder einmal fühlen wir uns
schlecht, unwert, ungenügend, nicht liebenswert.
Dann tun wir alles, um dies nicht fühlen zu müssen.
Wir brauchen dann jemand, der uns wahrnimmt,
der uns zuhört, der zu uns sagt:
»Ich liebe / mag dich, so wie du bist.«
Dieses Pflaster aber verdeckt die Wunde nur,
es heilt sie nicht.
•
Denn andere Menschen kennen uns kaum.
Sie kennen nur den »Dienenden«,
den, der sich anpasst,
den, der schauspielert,
den, der etwas leistet.
•
Wir aber sehnen uns danach,
geliebt und gemocht zu werden,
ohne dienen zu müssen.
•
Doch wissen wir kaum,
wie wir diesem Teufelskreis entkommen können,
denn nur als
grenzen-lose und selbst-lose
»Diener & Helfer«
(auch (Ver)Diener des Geldes)
glauben wir, liebenswert zu sein,
überhaupt etwas wert zu sein.
•
Dienen wurde zu unserem Überlebenselixier,
zur Rechtfertigung für unser Da-Sein,
auch wenn es uns innerlich zerbricht.
•
So begegnen sich seit Generationen
gebrochene und hungrige Kinderherzen,
die wieder Kinder zur Welt bringen,
609
Anhang 2
deren Herzen gebrochen werden und
ungestillt bleiben.
•
Die Erfahrung,
nicht geliebt zu werden,
so wie wir als Kind waren
– als wir direkt von Gott kamen,
als er durch unsere Augen in die Welt strahlte
und wir bedingungslos / erwartungslos liebten –
hat uns so tief erschüttert,
dass wir uns sehr früh schworen:
»Mein wahres Ich kriegt keiner zu Gesicht.
Auch meine (bedingungslose) Liebe nicht.
Nicht einmal mehr ich!«
••
•
Es ist ein Akt des Selbstverrats,
wenn das Kind das Bewusstsein für sein eigenes Selbst
zu verlieren beginnt.
Dieser Prozess setzt damit ein,
dass das Kind die Gefühle von Vater und Mutter
nicht mehr unmittelbar wahrnimmt,
sondern sich danach richtet,
wie diese sich selbst sehen.
Solche eine »Anpassung«
an die elterlichen Machtbedürfnisse
führt zu einer Spaltung in der
psychischen Struktur des Kindes.
Es trennt seine Innenwelt von
seinen Interaktionen mit der Umwelt.
[Quelle: Arno Grün, Der Wahnsinn der Normalität]
••
•
Die Folge ist,
dass Gehorsam und Anpassung
die Verantwortung für das eigene Handeln
und das Gefühl für das eigene Selbst ersetzen
(auch Abwehrverhalten gegen Gehorsam und Anpassung).
Der Bezug zum Inneren ist verloren gegangen
und wir leben ein verfälschtes Selbst.
610
Anhang 2
Wir alle aber wollen doch um unser Selbst Willen geliebt werden.
Unser Selbst kennen wir jedoch schon lange nicht mehr,
da dieses Selbst nie wirklich geliebt worden ist
– nie wirklich wahr- und angenommen worden ist –
und wir deshalb gelernt haben,
es zu verleugnen und zu verstecken;
schlimmer noch:
Wir haben es bis zur Unkenntlichkeit verbogen und
in Form einer »Erwachsenen-Maske« über uns gestülpt
– sonst wären wir in dieser Gesellschaft gestorben! –
•
Wir alle mussten (vermeintlich) erwachsen werden,
uns ein (vermeintlich) erwachsenes Selbst aneignen!
•
Und so haben wir uns
mit den Jahren
vergessen,
glauben heute aber,
diese »erwachsene Maske«, die nicht strahlt,
zu sein
•
Es ist Zeit,
dass wir uns
erinnern.
•
Es ist Zeit,
dass wir die »Maske« ablegen,
die uns so lange schon
verleugnet – versteckt – verstümmelt,
die uns
verdunkelt.
•
Es ist Zeit, die
seiltänzerischen, unsicheren, gefährlichen Täuschungen,
auf die wir uns stützen
und die uns mit uns selbst und Anderen verstricken,
aufzulösen.
•
Liebe kennt keine
Pflichten oder Gesetze!
611
Anhang 2
– LIEBE –
das sind alle deine Emotionen,
die gelebt werden wollen.
•
Liebe bist du;
du, der vor Jahren direkt von Gott kam.
Erinnere dich!
•
Es ist Zeit
für dich, für mich, für uns alle,
uns der Wahrheit zu stellen
und bewusst in ihr zu
L (I) E B E N.
•
Das kann wehtun,
denn es ist eine (Neu)Geburt.
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 17.12.2011)
612
Anhang 2
Die Wahrheiten des Lebens
Die Person, die dir begegnet, ist die Richtige.
Das heißt, niemand tritt rein zufällig in dein Leben. Alle Menschen,
die dich umgeben, die sich mit dir austauschen, sind Symbole für
etwas, das mit dir in Resonanz geht: entweder um dich etwas zu
lehren oder um dich in deiner momentanen Lebenssituation voranzubringen. Die Menschen, die dir besonders hilfreich sind für deinen
Weg, sind dir zumeist die Wichtigsten in deinem Leben – Es sind
diejenigen, die du am stärksten liebst, am stärksten fürchtest, am
stärksten brauchst und am stärksten abwehrst. Sie sind deine Meister
– so wie auch du ihr Meister bist.
Das, was passiert, ist das Einzige, was passieren soll.
Nichts, absolut nichts von dem, was dir widerfährt, hätte anders
geschehen sollen. Nicht einmal das unbedeutendste – erst recht nicht
das schmerzlichste – Ereignis in deinem Leben geschah ohne einen
berechtigten und dringlichen Grund. Es gibt kein: »Wenn ich dies
oder das anders gemacht hätte, dann wäre dieses oder jenes anders geschehen!« Nein! Das, was passiert, ist das Einzige, was passieren konnte
und passieren musste, damit du deine Lektionen lernst – damit du
erkennst und erinnerst, wer du wirklich bist. Jede einzelne Situation,
die dir im Leben begegnet, ist absolut perfekt und angemessen, auch
wenn dein menschlicher Verstand – dein Ego – sich widersetzt und
es nicht akzeptieren will, dich sogar zu Scham, Reue, Schuld, Neid
oder gar Rache zu verführen versucht. Die Akzeptanz ist in deinem
Herz, lange bevor dein Verstand sie (be)greifen kann. Denn du selbst
hast all die Möglichkeiten und Gelegenheiten, die sich dir in deinem
Leben bieten, vor deiner Geburt selbst erdacht, damit du dich weiter
entwickelst. Du allein bist verantwortlich für alles, was in dein Leben
tritt.
Jeder Moment, in dem etwas beginnt, ist der richtige Moment.
Alles beginnt genau im richtigen Moment, nicht früher und nicht
später – somit auch niemals zu früh und niemals zu spät. Wenn du innerlich bereit bist, etwas Neues in deinem Leben zu empfangen, macht
es sich bereits auf den Weg zu dir, lange bevor du es antriffst. Alles
beginnt bereits mit einer deiner innersten Entscheidungen – ob du dir
dieser nun bewusst bist oder nicht. Alles geschieht für dich, für die Erfüllung der Wünsche deiner Seele. Alles beginnt und endet durch dich.
613
Anhang 2
Was zu Ende ist, ist zu Ende.
So einfach ist das. Wenn etwas in deinem Leben endet, dient es
deiner Entwicklung und geschieht durch einen deiner innersten
Wünsche. Deshalb ist es gut, loszulassen und vorwärts zu gehen,
beschenkt und erfüllt mit neuen Erfahrungen, die du brauchst für
deinen weiteren Weg.
Ich liebe dich.
Ich weiß, dass es kein Zufall ist, dass du das hier jetzt liest. Wenn
dieser Text dir heute begegnet, dann deshalb, weil du in der Liebe bist und emotional verstehst, dass kein einziger Regentropfen
irgendwo auf dieser Welt aus Versehen auf einen Ort fällt, sondern
dass die ganze Welt vielmehr ein Ozean ist und du bist ein Tropfen
darin, der sich der anderen Tropfen und ihrer gemeinsamen Quelle
und Größe bewusst wird. Du als einzelner Tropfen trägst die Kraft
und die Stärke des ganzen Ozeans in dir.
So lass es dir also gutgehen. Geh deinen Weg! Lebe und liebe mit
deinem ganzen Sein und öffne dich dem Glück, das du in Wahrheit
bist. Damit erfüllst du den Grund deiner Reise ins Leben und verbindest dich – mit all der Weisheit deines Lebens und all dem Wissen
deiner Göttlichkeit – hingebungsvoll mit der Erde und der Schöpfung, die dich dafür immerwährend behütet und unermesslich ehrt.
(Veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 11.02.2011.
Als Vorlage für diesen Text dienten mir »Die vier Gesetze der indischen
Spiritualität«.)
614
Anhang 2
Du bist dran
wenn du mich anschaust
wenn du meine texte liest
sind es deine augen
die mich sehen
die mich lesen
nicht meine
•
du kannst mich nicht sehen
kannst mich nicht verstehen
kannst nicht erkennen, wer ich bin
denn deine augen sehen in allem
was du hörst und liest von mir
einzig nur dich
– deine erinnerungen, prägungen, konditionierungen –
– deine wünsche, sehnsüchte, enttäuschungen –
– deine zweifel, ängste, sorgen –
•
Das ist ok
••
•
wenn du das erkennen kannst
dann schließe bitte deine augen
und hör mir zu
hör mir bitte genau zu
hör mir solange zu
bis du dich in meinen worten allein fühlst
allein nur mit dir selbst
•
dann, dann rede du
rede du … und höre dir gut zu
schreib du … und lies es oft
•
und erinnere dich immer wieder an mich
während du ganz bei dir bist
••
•
wenn du dann alles gesagt hast
wenn unser beider ausdruck sich im schweigen vereint
615
Anhang 2
wir nur noch über den gesang der nachtvögel staunen
– gemeinsam –
erst dann öffne deine augen
•
nun kannst du sehen, wer wir sind:
•
freunde
liebende
eins in G O D
(veröffentlicht auf http://seelenwissen.wordpress.com am 05.05.2012)
616
Anhang 2
Perfekt
617
Anhang 2
618
Perfekt
Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, erkenne ich, dass ich
dieses Leben sehr bewusst erfahren habe. Ich war (bin noch immer)
Protagonist und Zuschauer zugleich in meinem genialen Theaterstück, in welchem nun auch du mit deinem eigenen genialen Leben
eingebunden bist, denn du hältst dieses Buch in deinen Händen.
Mein Lebensfaden hat den deinen berührt – für immer.
Eines möchte ich dir gern noch mitgeben und du darfst es nie vergessen: Du bist jederzeit perfekt! Denn keine Sekunde deines Lebens
verlässt du dich oder deinen Weg! Du bist heute so, wie du bist, weil
es so gewollt ist. Du warst früher so, wie du bist, weil es so gewollt
ist. Du wirst werden zu dem, der du sein sollst, weil das Universum
keine Fehler macht. So wie du warst, bist, wirst, brauchen wir dich
im großen schöpferischen Gefüge. Also mach dir nicht allzu viele
Gedanken (so wie ich es tat). Du kannst gar nichts falsch machen,
denn du wirst geführt. Letztlich veränderst du dich auch gar nicht,
da deine Seele absolut vollkommen ist. Es ist nur die Bühnendekoration und deine Rolle im Theaterstück, die den Anschein einer Veränderung machen. Also stell dich neben dich, entspann dich, lehn
dich zurück, setz dich öfter mal ins Publikum, beobachte dich und
applaudiere, freue dich darüber, wie das Leben dich Mensch geformt
hat, dich Mensch noch weiterhin formt und wie großartig du jede
Rolle in jeder Theaterszene meisterst!
Wir leben in einem gigantischen, imposanten und vor allem über alle
Maßen von (angeblich) hoher Widersprüchlichkeit und kaum fassbaren
Gegensätzen geprägtem Mosaik, in dem jeder Einzelne von uns in jedem
Moment das perfekte Puzzlestück darstellt, damit dieses riesige Gemälde
dieser einen großen Schöpfung in jedem Augenblick (so sagt man) perfekt
ist. Perfekt, weil wir annehmen, dass der Schöpfer dieser Schöpfung, in die
wir eingebettet sind, perfekt ist und keine Fehler macht.
Alles interagiert auf eine Weise miteinander, die dadurch ausgezeichnet ist,
dass es (so sagt man) keine Zufälle gibt. Wir alle sind somit nicht zufällig
so, wie wir sind. Und so, wie wir sind, sind wir immer zur richtigen Zeit
am richtigen Ort
Wir wurden in unserer Kindheit auf eine jeweils ganz eigene, besondere Art
und Weise geprägt und konditioniert. Unser Handeln und Denken wird
unbewusst bestimmt von unseren Ängsten, unserer Wut, unserer Scham,
619
Perfekt
unseren Schuldgefühlen, unserem Pflichtgefühl, unserer Lust oder Unlust.
So ensteht, dass dem Einen im Erwachsenenalter etwas sehr leicht fällt (z.B.
geduldig sein), was einem Anderen wiederum sehr schwer fällt. Wir bewerten dies. Wir sagen dem Einen, du musst lernen, geduldiger zu sein und
sagen doch gleichzeitig dem Anderen, du musst lernen, dich besser durchzusetzen. Warum aber maßen wir uns an, dies zu sagen? Woher wissen
wir, wie wir oder andere zu sein haben?
Ist es vielleicht ein großer Humbug, wenn man uns sagt, wir müssten uns
von diesen alten Konditionierungen, Prägungen und Mustern aus unserer
Kindheit befreien? Wir müssten sie anschauen und auflösen? Wissen wir
denn, um AKTIV Änderung in uns herbeiführen zu können, nicht eigentlich viel zu wenig über unsere Rolle in diesem gigantischen Mosaik? Unsere Bedeutung im Großen Ganzen, durch das wir mit allem verbunden sind?
Niemand von uns MUSS sich verändern. Wir können es uns WÜNSCHEN und wir können es WOLLEN, wenn wir darunter leiden, wie wir
sind (wenn wir unter unseren Ängsten, unserer Wut, unserer Scham, unseren Schuldgefühlen, unserem Pflichtgefühl, unserer Lust oder Unlust leiden) – aber ob diese Veränderung in diesem gigantischen, perfekten Mosaik
notwendig ist, liegt doch eigentlich nicht in unserer Entscheidungsgewalt,
oder? Wissen wir denn, wie die göttliche Ordnung uns braucht?
Wenn wir an uns leiden, wenn wir glauben, wir MÜSSTEN uns ändern,
hieße das dann nicht, der Schöpfer hätte an uns einen Fehler begangen?
Dass unsere Kindheit falsch war? Dass unsere Eltern und viele unserer
Begegnungen und Erlebnisse falsch waren? Dass wir – jetzt in diesem
Moment – falsch sind? Dass wir nicht mehr ins Große Ganze passen? Dass
wir uns nicht in jedem Moment perfekt in diese gigantische Schöpfung
einfügen?
Sind es nicht einzig allein die Bewertungen, die uns leiden lassen? Abwertungen über uns selbst, die uns glauben machen, wir müssten besser sein,
weil wir uns mit anderen vergleichen? Abwertungen, die uns verbieten,
mit uns so zufrieden zu sein, wie wir sind; die uns glauben machen, so wie
wir uns von ganz allein (ohne Zwang) entwickeln und verändern durch die
Geschehnisse und Ereignisse in unserem Leben, sei es nicht genug? Abwertungen, durch die wir uns einreden, wir hätten uns nicht genug bemüht
und noch nicht genug gelitten?
620
Perfekt
Wir haben (wenn wir ehrlich sind) keinen Überblick über die Schöpfung
– kennen noch nicht einmal deren Sinn, deren Ursprung – und können
demzufolge nicht erkennen, dass alles und jeder zu jeder Zeit perfekt sein
MUSS – am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, mit den perfekten, individuellen »typisch menschlichen« Wesenszügen. Gingen wir vom Gegenteil aus,
hieße das entweder: es gibt keinen Schöpfer – oder: nur einen Schöpfer, der
Milliarden über Milliarden Fehler gemacht hat.
Glaubst du das wirklich? Bist du ein Fehler? Bist du nicht genug?
Nein, du bist wunderbar. Du bist ein Wunder! Lebe es!
Lebe dich bewusst – mit Genuss, Hingabe, Staunen, Demut, Mut und
Neugier. Folge dem, was dir Freude, Befriedigung und Erfüllung
schenkt. Nimm an deinem »Abenteuer Leben« aktiv teil, ohne die
vielen zu gehenden und bereits gegangenen Schritte als »positiv«
oder »negativ«, »richtig« oder »falsch« zu bewerten; ohne anderen
die Schuld am eigenen Leid zu geben (oder gar dir selbst); ohne die
»Unglücke« in deinem Leben den »schlechten« Umständen zuzuschreiben, ohne die »Glücke« in deinem Leben den »guten« Umständen zuzuschreiben; ohne dem nachzuweinen, was du glaubst,
verpasst zu haben; ohne das zu idealisieren, wovon du glaubst,
es könnte dich eines Tages glücklich machen; ohne dich selbst zu
hassen oder dich selbst zu wichtig zu nehmen; ohne die Wirklichkeit
eine Illusion zu nennen oder die Illusion die Wirklichkeit – und vor
allem: ohne zu hoffen, du könntest die Zukunft beeinflussen und
dich durch das, was du tust, irgendwie vor dem Tod schützen. Denn
das kannst du nicht. Deine Aufgabe ist es zu leben!
Jeden Morgen wird dir ein neuer Lebenstag geschenkt. Jeden Morgen wirst du neu in die Welt geboren. Jeden Morgen öffnet sich
in deinem Lebensbuch eine neue weiße Seite, die von dir mit Text
gefüllt werden will. Also geh und lebe dich. Fülle die Seiten deines
Lebensbuches und erfreue dich an dir, an mir, am Sein, denn in
jedem Moment deines Lebens kannst du dich entscheiden, ob du in
der Angst oder in der Liebe leben willst. Es bedarf nur eines kurzen,
mutigen, ehrlichen In-sich-gehens – und dann »bewegt sich die Vorsehung. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die
Entscheidung und sorgt für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen, Hilfen. Was immer du kannst, beginne es. Beginne jetzt.« (Johann
Wolfgang von Goethe).
621
Perfekt
Das erleuchtete geistige Bewusstsein des zivilisierten
Menschen hat viel weniger mit irgendeinem besonderen
intellektuellen Glauben oder einer speziellen Lebensweise zu tun als mit der Entdeckung der Wahrheit des
Lebens, der guten und richtigen Technik des Reagierens
auf die stets wiederkehrenden Situationen der irdischen
Existenz.
Sittliches Bewusstsein ist nur ein Name für das
menschliche Erkennen und Wahrnehmen jener ethischen, erwachenden morontiellen Werte, an die sich
zu halten die Pflicht den Menschen in seiner täglichen
Disziplin und Lebensführung auffordert.
Das Urantia Buch
Schrift 101, Kapitel 9, Absatz 5
622
Perfekt
623
Perfekt
624