Debatte | Hintergrund 44 Gesundheitsindustrie regional denken Die industrielle Gesundheitswirtschaft sorgt in Deutschland für Wachstum, Export und qualifizierte Beschäftigung. Sollte die Politik vor diesem Hintergrund Deindustrialisierungsprozessen in der Gesundheitswirtschaft frühzeitig entgegentreten? Eine erste Bestandsaufnahme aus den Bundesländern. Von Dr. Dennis A. Ostwald und Marion C. Schwärzler Vor eindrucksvoller Kulisse und zahlreichen Gästen fand im September 2014 der vierte Gesundheitswirtschaftskongress im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) in Berlin statt. Die zunehmende Bedeutung dieser jährlich wiederkehrenden Branchenveranstaltung, die gemeinsam vom BMWi und dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) ausgerichtet wird, ließ sich schon daraus ablesen, dass zur Eröffnung erstmals beide Minister sprachen und dabei die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft betonten. Wachstumsmotor statt Kostentreiber In den vergangenen Jahren ist die Analyse der Gesundheitswirtschaft nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Forschungsaufträge des BMWi und diverser Landesministerien von einem Paradigmenwechsel geprägt: weg vom Kostenfaktor und hin zu einem bedeutenden Faktor für Wachstum, Stabilität und Beschäftigung der deutschen Volkswirt- Volkswirtschaftlicher Beitrag der industriellen Gesundheitswirtschaft für die gesamte Branche Anteil der Gesundheitswirtschaft an der Gesamtwirtschaft, 2013 Anteil der industriellen Gesundheitswirtschaft an der Gesundheitswirtschaft, 2013 rund 11,4% xx zur Bruttowertschöpfung rund 10,1% zur Bruttowertschöpfung rund 15,1% zur Erwerbstätigkeit rund 5,9% zur Erwerbstätigkeit rund 7,4% zum Export rund 86,2% zum Export Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt, GGR I, GBE, VGR der Länder, BA (2014). Abb. 1 Debatte | Hintergrund schaft. Der ökonomische Fußabdruck der Gesundheitswirtschaft lässt sich an volkswirtschaftlichen Kennzahlen festmachen. Laut der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung (GGR) waren im Jahr 2013 mehr als sechs Millionen und damit rund jeder siebte Erwerbstätige (etwa 15 Prozent der Gesamtbeschäftigten) in dieser Branche tätig. Die Bruttowertschöpfung (BWS) belief sich im selben Jahr auf mehr als 270 Milliarden Euro und trug damit rund elf Prozent zur gesamten Bruttowertschöpfung in Deutschland bei. In Deutschland wurde somit etwa jeder neunte Euro der Bruttowertschöpfung (BWS) in der Gesundheitswirtschaft generiert. Des Weiteren wurden mehr als sieben Prozent der gesamten deutschen Exporte in der Gesundheitswirtschaft realisiert. Aktuelle Analysen zeigen zudem, dass die Gesundheitswirtschaft auch als automatischer Stabilisator in Krisenzeiten wirkt. GesundheitsWirtschaft | 9. Jahrgang | 1/15 | Februar/März 2015 Die Bedeutung der Industrie nimmt ab Im Rahmen dieses Beitrags wird erstmals die industrielle Gesundheitswirtschaft einer umfassenden regionalen Analyse unterzogen. Die industrielle Gesundheitswirtschaft in der Abgrenzung der GGR beinhaltet neben der pharmazeutischen Industrie und der Medizintechnik auch sonstige Waren des Kernbereichs. Im Jahr 2013 erwirtschaftete die industrielle Gesundheitswirtschaft als Teilbereich der deutschen Gesundheitswirtschaft etwa zehn Prozent der Wertschöpfung, beschäftigte rund sechs Prozent der Erwerbstätigen und exportierte mehr als 86 Prozent der Exporte der deutschen Gesundheitswirtschaft (Abbildung 1). Bemerkenswert ist, dass die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft seit der Wiedervereinigung im Verhältnis zur gesamten Gesundheitswirtschaft abgenommen hat. Während die industrielle Gesundheitswirtschaft im Jahr 1991 noch etwa 12,8 Prozent der Wertschöpfung der Gesundheitswirtschaft realisierte, waren es im Jahr 2013 nur noch 10,1 Prozent. Als Gründe hierfür können unter anderem neben Produktivitätsveränderungen aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen auch die Verlagerung von Produktionsstätten und Investitionen herangezogen werden. Zugleich belegen diese Zahlen, dienstleistungsorientierte Gesundheitswirtschaft in den vergangenen Jahren stärker gewachsen ist als die industrielle Gesundheitswirtschaft. Die Bedeutung der regioinalen Gesundheitswirtschaft fällt sehr unterschiedlich aus. Um dies zu belegen, wird der BWS-Anteil der Gesundheitswirtschaft an der Gesamtwirtschaft als Bedeutungsmaß für Wachstum und Stabilität herangezogen. In den Tabellen 1 und 2 sind erstmals die Wachstumsraten der BWS und der Erwerbstätigenzahlen der industriellen Gesundheitswirtschaft, der Gesundheitswirtschaft sowie der Gesamtwirtschaft für die Bundesländer gegenübergestellt. Im Bundeslandvergleich lag die Spanne dieses Bedeutungsmaßes für die Gesundheitswirtschaft im Jahr 2013 zwischen 9,4 Prozent (Hamburg) und 14,2 Prozent (Berlin/Schleswig-Holstein). Dies ist gleichbedeutend damit, dass beispielsweise in Berlin bereits heute rund jeder siebte Euro des regionalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Gesundheitswirtschaft erbracht wird. Sehr moderates Wachstum in Bremen Tabelle 1 zeigt, dass die Wachstumsraten der gesamten Gesundheitswirtschaft seit dem Jahr 2000 in allen Bundesländern bis auf Brandenburg und Bremen durchschnittlich über der Gesamtwirtschaft lagen. Hinsichtlich der Entwicklung der industriellen Gesundheitswirtschaft sind die hohen Wachstumsraten in den neuen Bundesländern bemerkenswert. Zugleich ist ersichtlich, dass in eini- 45 Dr. Dennis A. Ostwald ist Geschäftsführer des WifoR-Instituts an der Technischen Universität Darmstadt Marion C. Schwärzler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am WifoR-Institut Debatte | Hintergrund 46 gen Bundesländern sehr moderate Wachstumsraten der Gesundheitsindustrie vorliegen. So lag das jährliche Wachstum der industriellen Gesundheitswirtschaft in Bremen bei durchschnittlich 0,5 Prozent pro Jahr und in Schleswig-Holstein bei 1,0 Prozent pro Jahr. Aus der Tabelle 2 lässt sich der Erwerbstätigen-Anteil – als „Bedeutungsmaß“ der Gesundheitswirtschaft für den regionalen Arbeitsmarkt – ablesen. Dieser lag im Bundesländervergleich zwischen 13,7 Prozent (Hamburg) und 17,9 Prozent (Berlin). Somit ist in Berlin rund jeder sechste Erwerbstätige in der Gesundheitswirtschaft beschäftigt. Die Wachstumsraten der Erwerbstätigen der Gesundheitswirtschaft liegen stets über der der Gesamtwirtschaft. Bemerkenswert sind die stagnierenden Erwerbstätigenzahlen in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. In sieben Ländern weniger Beschäftigte Hinsichtlich der industriellen Gesundheitswirtschaft wird deutlich, dass in sieben Bundesländern im Durchschnitt der zurückliegenden Jahre Beschäftigung abgebaut wurde. Am stärksten waren davon die beiden Stadtstaaten Berlin und Bremen betroffen, in denen die Beschäftigung in der industriellen Gesundheitswirtschaft um durchschnittlich rund zwei Prozent pro Jahr abnahm. In der Tabelle sind erstmals die unterschiedlichen Wachstums- und Beschäftigungskennzahlen für die industrielle Gesundheitswirtschaft aufgetragen. Die Spannbreite der Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft im Verhältnis zur Gesundheitswirtschaft liegt dabei zwischen 18,3 Prozent (Hessen) und 2,0 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern (Abbildung 2). Bemerkenswert ist, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft in nur vier der 16 Bundesländer – namentlich Brandenburg, Sachsen, Wachstumsraten der Bruttowertschöpfung (BWS) im Bundesländervergleich Durchschnittliches jährliches Wachstum der regionalen Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft (GW), 2000-2013 Bundesland Wachstum Gesamtwirtschaft Brandenburg Mecklenburg Vorpom. Thüringen Sachsen Bayern Sachsen-Anhalt Baden Württemberg Hamburg Hessen Deutschland Niedersachsen Saarland Rheinland-Pfalz Nordrhein-Westfalen Berlin Schleswig-Holstein Bremen 2,3% 1,8% 2,2% 2,3% 2,8% 1,8% 2,5% 1,9% 1,7% 2,3% 2,3% 2,0% 2,2% 2,1% 2,3% 1,7% 2,0% Anteil GW an Gesamtwirtschaft 11,9% 13,7% 13,1% 12,6% 10,2% 13,7% 11,1% 9,4% 11,3% 11,4% 11,0% 11,9% 12,1% 11,4% 14,2% 14,2% 10,5% Wachstum GW Wachstum industrielle GW 2,3% 2,6% 2,5% 2,8% 2,9% 2,1% 2,8% 2,7% 2,6% 2,7% 2,6% 2,7% 2,4% 2,7% 2,5% 2,6% 2,0% 4,3% 4,1% 4,1% 4,0% 3,7% 3,6% 3,6% 3,2% 2,9% 2,8% 2,8% 2,6% 1,7% 1,7% 1,3% 1,0% 0,5% Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt, GGR I, GBE, VGR der Länder, BA (2014). Tab. 1 Wachstumsraten der Erwerbstätigenzahlen (ET) im Bundesländervergleich Durchschnittliches jährliches Wachstum der Erwerbstätigen der Gesundheitswirtschaft (GW), 2000-2013 Bundesland Wachstum Gesamtwirtschaftt Thüringen Mecklenburg Vorpommern Brandenburg Sachsen Sachsen-Anhalt Hessen Baden Württemberg Niedersachsen Bayern Hamburg Deutschland Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Saarland Nordrhein-Westfalen Bremen Berlin -0,3% -0,4% 0,0% 0,0% -0,4% 0,4% 0,6% 0,7% 0,8% 1,0% 0,5% 0,6% 0,3% 0,1% 0,4% 0,5% 0,9% Anteil an der Gesamtwirtschaft 15,1% 16,4% 15,3% 15,0% 15,8% 15,2% 14,5% 15,1% 13,9% 13,7% 15,1% 15,7% 17,0% 15,6% 15,4% 14,3% 17,9% Wachstum GW 0,2% 0,1% 0,5% 0,7% -0,1% 1,0% 1,1% 1,2% 1,3% 1,4% 1,0% 1,1% 0,5% 0,9% 1,0% 0,8% 1,1% Wachstum industrielle GW 1,5% 1,5% 1,0% 0,9% 0,8% 0,5% 0,3% 0,3% 0,2% 0,1% -0,2% -0,8% -1,0% -1,1% -1,4% -2,1% -2,1% Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt, GGR I, GBE, VGR der Länder, BA (2014). Tab. 2 Debatte | Hintergrund 47 Regionale Bruttowertschöpfung in der industriellen Gesundheitswirtschaft (GW) 2013 Anteil an gesamter GW in Prozent Bundesland Baden Württemberg -2,2 Bayern -0,8 Berlin -7,1 Brandenburg 0,4 Bremen -2,3 Hamburg -1,0 Hessen -4,5 Mecklenburg Vorpommern -0,3 Niedersachsen -0,7 Nordrhein-Westfalen -3,5 Rheinland-Pfalz -4,6 Saarland -2,4 Sachsen 0,2 Sachsen-Anhalt 1,0 Schleswig-Holstein -5,2 Thüringen 2,8 Deutschland -2,7 Veränderung des Anteils 1991-2013 in Prozentpunkten 17,6 9,8 10,7 4,4 5,4 6,2 18,3 2,0 5,4 6,0 13,6 6,4 5,6 9,5 11,4 7,3 10,1 Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt, GGR I, GBE, VGR der Länder, BA (2014). Nun ist die Politik gefragt Abb. 2 Regionale Erwerbstätigenentwicklung in der industriellen Gesundheitswirtschaft (GW) GesundheitsWirtschaft | 9. Jahrgang | 1/15 | Februar/März 2015 2013 Anteil an gesamter GW in Prozent Bundesland Baden Württemberg -4,6 Bayern -3,0 Berlin -11,1 Brandenburg -2,4 Bremen -2,9 Hamburg -2,1 Hessen -6,2 Mecklenburg Vorpommern -0,6 Niedersachsen -1,3 Nordrhein-Westfalen -3,8 Rheinland-Pfalz -5,6 Saarland -2,7 Sachsen -3,9 Sachsen-Anhalt -5,7 Schleswig-Holstein -4,3 Thüringen -3,4 Deutschland -4,1 Veränderung des Anteils 1991-2013 in Prozentpunkten 10,5 5,6 5,8 2,7 2,8 3,0 11,5 1,7 3,0 3,6 7,3 3,9 4,2 6,6 7,7 5,7 5,9 Quelle: Eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt, GGR I, GBE, VGR der Länder, BA (2014). Abb. 3 Sachsen-Anhalt und Thüringen – seit 1991 einen Bedeutungszuwachs verzeichnen konnte. Hervorzuheben bleibt Thüringen: Hier konnte die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft im Vergleich zur Gesundheitswirtschaft seit 1991 um 2,8 Prozentpunkte gesteigert werden. Bezüglich der Erwerbstätigen lässt sich festhalten, dass in keinem Bundesland ein Bedeutungszugewinn vorliegt (Abbildung 3). Dies legt nahe, dass in vielen Bundesländern eine Deindustrialisierung in der Gesundheitswirtschaft festzustellen ist. Besonders deutlich wird dieser Prozess in den Bundesländern Berlin und Schleswig-Holstein. Seit dem Jahr 1991 ist die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft in diesen beiden Bundesländern um 7,1 beziehungsweise 5,2 Prozentpunkte zurückgegangen (Abbildung 2). In diesem Beitrag wurden erstmals mit Hilfe von Regionalisierungsmodellen auf Basis der nationalen Ergebnisse der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung (GGR) bundesweit vergleichbare Kennzahlen berechnet und regionale Unterschiede hinsichtlich der industriellen Gesundheitswirtschaft herausgearbeitet. Festzuhalten bleibt, dass die Bedeutung der (industriellen) Gesundheitswirtschaft in den letzten Jahren – auch durch zahlreiche Kostendämpfungsmaßnahmen – im Verhältnis zur steigenden Bedeutung der Gesundheitswirtschaft insgesamt abgenommen hat. Dieser Beitrag soll als erster Impuls für zukünftige (politische) Diskussionen über den industriellen Gesundheitswirtschaftsstandort Deutschland dienen. Die vorgestellten Ergebnisse sollten jedoch nicht nur die Bundespolitik, sondern vor allem die Landespolitik anregen, den Fokus künftig verstärkt auf die Potenziale der regionalen (industriellen) Gesundheitswirtschaft zu richten.
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