Science-Fiction Bagatellen

Daniel Seefeld
Science-Fiction-Bagatellen
1 Nachrichten über Außerirdische
Die Verpfiffenen (Whistleblowing) ………………………….. 2
Die Zivilisatoren ……………………………………………….8
Die Engel jagen dem Teufel Fausts Seele ab mit der Rechfertigung: "Wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen!"- Aber was passiert mit denen, die sich nicht strebend
bemühen? Daß die Strebeethik auch ziemlich dunkle Seiten haben kann, veranschaulicht die
erste Geschichte. Die zweite zeigt, welche Tücken damit verbunden sind, wenn man, wie
Faust, ein freies Volk auf freiem Grunde schaffen will, aber sich dabei mehr dafür
interessiert, seine Vision zu realisieren, statt zu fragen, wie realitätsgerecht sie ist... - Obwohl
sie verschiedene Aspekte des Dramas beleuchten, gehören die Geschichten zusammen, sie
sind ein Diptychon...
2 Die Optimale Kombination oder: Das MozartModul ………………… 19
Dieser kleine Sketch beleuchtet ebenfalls Implikationen der Philosophie des Strebens: daß
der Mensch, so wie er ist, nicht gut genug sei.
3 Der Anwender, oder: kumulative Effekte ……………………………….21
(einfach nur eine unscheinbare kleine Geschichte…)
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Die Verpfiffenen (Whistleblowing)
Eigentlich haben sie uns zuerst entdeckt. Aber selbst wenn sie gekonnt hätten, hätten sie wohl
keinen Kontakt mit uns aufgenommen, aus Scham, wie ich vermute. Sie nehmen eine Position
etwa in halber Entfernung zwischen Venus und Erde ein, ein Verbund von 17
aneinandergekoppelten Raumschiffen, die zusammen etwa die Ausdehnung von London
haben. Mehr haben sie nicht hingekriegt.
Sie hatten ihren Planeten verlassen müssen, als ihre Sonne sich aufzublähen begann. Da sie
das Phänomen nicht verstanden, hatte es lange gedauert, bis sie begannen, Raumschiffe zu
bauen: erst als die Veränderungen ihrer Sonne so gravierend wurden, daß sie Angst bekamen.
Deshalb hatten sich nur wenige von ihnen retten können, ungefähr 80000. Sie konnten nur
recht primitive Raketen bauen, etwa auf dem Stand unserer Technik von 1945. Wäre ihr
Planet größer gewesen als der Mond, hätten sie seiner Anziehungskraft nicht entkommen
können. Sie sind einfach nicht intelligent genug: Ihr Maschinenbau kommt über ein gewisses
Niveau nicht hinaus, sie kapieren einfach nicht mehr, selbst ihre genialsten Köpfe nicht. D.h., Köpfe haben sie keine. Sie sind Würmer, Dreiwürmer, eine Art, die offenbar aus einem
Gendefekt entstanden ist, der zu siamesischen Drillingen führte, eine vererbte Mißbildung.
Die Nebenwürmer zweigen im oberen Drittel ab, aber fast nie symetrisch, so daß jedes
Exemplar irgendwie unrichtig aussieht, wie verunglückt.
Die Würmer bestehen aus Segmenten, deren jedes sein eigenes Mini-Hirn hat. Schon bei den
entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren hatte eine Mutation zu einer Vernetzung unter den
Kleinhirnen geführt, das hatte die Bewegungskoordination optimiert und die
Überlebensfähigkeit erhöht. Eine weitere Mutation hatte die siamesichen Drillige miteinander
vernetzt, so daß aus den dreien eines wurde. Obwohl das jahrhunderttausende vor ihrer
Intelligenzentwicklung stattgefunden hatte, spielte dieser evolutionäre Schritt in ihrer
Religion eine zentrale Rolle: Drei, die zu Einem werden. Das war ihnen ein Symbol für die
Bindungskräfte der Gemeinschaft.
Sie sind häßlich: von einer schmutzigen gelblich-weißen Farbe, mit pockiger, immer etwas
schmierig aussehender Haut, und vereinzelten dicken schwarzen Haaren. Sie sind etwa zwei
Meter bis zweifufzig lang und armdick. An jedem Wurmende befinden sich ein Mund und
mehrere Augen. Der Mund ist schnabelartig, so kann er gleichzeitig als Greifwerkzeug
dienen. Die vier Extremitäten können sich wie Finger zu einer "Hand" zusammen biegen,
jeder "Finger" hat dabei mit dem Schnabel eine eigene Greifvorrichtung. Diese ganze Anlage
gestattete offenbar genug "Handwerklichkeit", um solchen Hirnmutationen
Überlebensvorteile zu verschaffen, die die körperlichen Potentiale besser nutzen konnten.
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Aber im Vergleich zu uns sind sie handwerklich stark eingeschränkt: Sie können z.B. nicht
hämmern, höchstens klöppeln. Mit ihrer unvorteilhaften körperlichen Ausstattung war nicht
nur die Intelligenzevolution schnell an Grenzen gekommen, sondern nach ihrer
Intelligenzentwicklung hatten sie noch hunderttausende Jahre für die Anfänge einer
technischen Zivilisation gebraucht. Für Vieles, was wir mühelos mit einigen Handgriffen
bewerkstelligen, mußten sie erst Vorrichtungen entwickeln, primitive Werkzeuge und
Maschinen, vor allem für die ersten Schritte zur Beherrschung des Feuers und der
Metallverarbeitung.
Da sie nicht atmen, funktioniert ihre Sprache nur über Klack- und Schnalzlaute. Allerdings ist
sie sozusagen "polyphon" strukturiert: Sie bilden die Worte gleichzeitig mit jedem ihrer 4
Schnäbel. Das Lautbild des Namens, den sie sich selbst geben, klingt für unsere Hör- und
Auffassungsfähigkeit etwa wie: "Kttk" (das letzte "k" betont). Aber das ist stark vereinfacht.
Genau ließe er sich nur mittels einer musikalischen Partitur darstellen.
Sie haben keine Waffen entwickelt, außer Katapulten, und die auch nur zur Abwehr von
Freßfeinden. Ihre Spezies war mehrmals vom Aussterben bedroht gewesen: die Dreiwürmer
konnten nicht unter der Erde leben, über der Erde waren sie leichte Beute. Eine Unterart hatte
eine Symbiose mit den "Riesenstelzen" entwickelt, Wesen, die visuell am ehesten an
symmetrische Bäume erinnern, aber langsam umherwandern. In ihrem "Geäst" waren die
Dreiwürmer vor den Raubtieren an der Oberfläche geschützt, nicht aber vor den "BallonZünglern": Tieren, die Gase erzeugten, mit denen sie sich ballonartig aufblähten, durch die
Gegend schwebten und sich mit Rückstoß steuerten. Ihren Termosensoren und Klebezungen
entging kein Dreiwurm, bis eine neue Dreiwurmart die Intelligenz entwickelt hatte, die für das
Verständnis von Elastizität und den Bau von Pfeilkatapulten hinreichte. Obwohl sie weiter
von den Ballonzünglern dezimiert wurden, brachte ihnen die Waffe den entscheidenden
Überlebensvorteil, ohne sie wären sie ausgestorben.
Sie sind schon deshalb keine kriegerische Lebensform, weil es bei ihnen keine Hierarchien
von Binnen- und Außenmoral gibt. Es gibt keine Clans, keine Stämme, ja nicht einmal Paare,
denn sie sind hermaphroditisch. Die große Bedrohung durch die Ballonzüngler hatte dazu
geführt, daß nur jene Varianten überlebten, die nicht nur eine Hemmung entwickelt hatten,
Artgenossen umzubringen, sondern auch das Bestreben, sich um jeden anderen Dreiwurm zu
kümmern wie um sich selbst. Deshalb wissen sie auch nur zufällig, wer ihre Eltern sind. Die
Kokons werden gemeinschaftlich gelegt und versorgt. Meist weiß niemand mehr, welches
sein eigener war, das ist ihnen einfach egal.
Die Unterarten, in denen Abstammungslinien miteinander konkurrierten, waren ausgestorben,
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sie hatten der Dezimierung durch Fressfeinde die durch die Konkurrenz untereinander
hinzugefügt, und ihre Populationsdichte hatte schließlich eine kritische Grenze unterschritten.
Die Kttk hatten unsere Sonne etwa vor 20 000 Jahren entdeckt. Damals waren sie einmal um
die Erde herumgeflogen, hatten aber mit ihrer schlecht entwickelten Optik keine intelligenten
Lebensformen entdecken können. Da sie unsere Luft nicht vertrugen und es ihnen sowieso zu
kalt war, hatten sie keinen Versuch unternommen, unsere Erde zu kapern, sondern sich mit
ihrem Refugium begnügt. Sie haben dort seit dem Aufbruch aus ihrem Sonnensystem, seit
mehr als einer Million Jahren, alles, was sie brauchen, selbst üppig Platz, denn sie haben sich
auf 4000 Individuen zusammengeschrumpft, gerade doppelt so viel, wie nötig, um zu
überleben. Sie haben keinen Ehrgeiz, sich zu vermehren. Warum auch? Was macht es für eine
unbedrohte Lebensform für einen Unterschied, ob es Tausende oder Millionen von ihnen
gibt?
Sie haben uns ganz zufällig entdeckt: Sie besitzen primitive Funkgeräte, die sie im Alltag nie
brauchen, die nur zur Sicherheitsausrüstung gehören, damit sie in Notfällen schneller
miteinander verbunden sein können. Bei den turnusmäßigen Prüfungen dieser Geräte hatten
sie Radiowellen von uns empfangen, uns aber nicht an unserer Sprache sondern an unserer
Musik erkannt: Sie hatten aus auffälligen, nie gehörten Regelmäßigkeiten erschließen können,
daß es sich um ein nicht-natürliches Signal handeln mußte, um Emissionen einer intelligenten
Lebensform. - Bilder hatten sie nicht empfangen können, sie hatten nur rätseln können, wie
wir wohl aussähen.
Aus Sicherheitsgründen haben wir unsere Entdeckung bis jetzt geheim gehalten. Wir wollten
erst wissen, ob wir es mit einer Gefahr zu tun haben, und Spekulationen und Panik vermeiden.
Die erste Vermutung war, daß sie uns etwas vormachen und gar nicht so primitiv sind, wie sie
tun. Einige skeptische Militärs glauben das immer noch. Aber wir haben wirklich jeden
Winkel ihres Raumschiffs inspiziert, jeden Stein, jeden Ast umgedreht, wir haben nicht den
geringsten Hinweis darauf, daß uns etwas verborgen wurde. Die nächste große Sorge der
Militärs war, daß sie neidisch auf unseren Lebensstandart und unsere Technik werden und aus
Neid unsere Welt mit ihren Microben verseuchen könnten, gegen die bei uns kein Kraut
gewachsen ist.
Wir wurden dabei zusätzlich dadurch verunsichert, daß uns unklar blieb, woraus sie ihre
Lebensfreude beziehen: Ihr Körper ist als Lustquelle weit geringer ausgestattet als unserer.
Liebe gibt es nur in Form einer einmal jährlichen kurzen und heftigen Kopulation. Soetwas
wie kuscheln kennen sie nicht. Selbst die Nahrungsaufnahme wirkt wenig genießerisch: sie
schlingen ihre Beute - die Parasiten der Riesenstelzen - einfach herunter.
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Aus diesen Gründen wurde ein Fond geschaffen, der die Kttk mit allen erdenklichen
Annehmlichkeiten versorgen sollte: Wir entwickelten Computer für ihr Intelligenzniveau, wir
boten ihnen an, ihre Raumstation zu vergrößern, wir boten ihnen an, die nützlichsten
Maschinen, extra für ihre Zwecke zu ersinnen. Doch das einzige, was sie annahmen, waren
elektronische Filter, mit denen sie unsere Musik auf rein rhythmische Impulse reduzieren
können. Das finden sie lustig, weil sie es als eine dadaistische Nonsense-Sprache erleben,
etwa wie wir Worte wie "Kataplü". Am liebsten hören sie Strawinsky.
Alle anderen Angebote halten sie schlichtweg für sinnlos. Die Verrichtungen ihrer täglichen
Lebensvollzüge von Maschinen übernehmen zu lassen, erscheint ihnen so absurd wie uns die
Vorstellung, uns morgens von einer Maschine das Hemd knöpfen und das Brot schmieren zu
lassen. Sie glaubten uns übrigens nicht, daß wir elektrische Zahnbürsten haben, sie hielten das
für einen Witz. Als wir ihnen eine vorführten, platzten sie fast vor Lachen. - Von Lachen kann
bei ihnen natürlich nur im übertragenen Sinne die Rede sein, weil sie nicht atmen. "Lachen"
zeigt sich bei ihnen in einem konvulsischen Verdrillen ihrer Extremitäten. Im Falle der
Zahnbürst-Maschinen war das so heftig, daß wir fürchteten, sie würden sich zerreißen.
Sie sind übrigens sehr dankbar für die Musikfilter. Selbst jemandem der sie zum ersten Mal
gesehen hätte, wäre ihre Erregung nicht verborgen geblieben: sie freuten sich wie Kinder. Sie
waren sehr beflissen darin, uns etwas zurück zu geben, sie zeigten uns bereitwillig alles, was
sie haben und können, aber es war beim besten Willen nichts dabei, nicht das Geringste, was
wir nicht schon besser haben und können. Da wurden sie richtig traurig, daß sie uns nichts
Gutes tun konnten und erheiterten erst wieder, als wir ihnen sagten, daß es für uns ein weit
bedeutenderes Geschenk wäre, als unsere Filter für sie, wenn sie uns erlaubten, sie zu
erforschen. Sie willigten sofort freudig ein. Ich glaube, sie haben nicht wirklich verstanden,
was das bedeutete. Sie hielten es wohl eher für ein Spiel. Aber Spiele haben bei ihnen nunmal
einen hohen Wert.
Wir dachten, daß wir wenigstens kulturell von ihnen profitieren könnten. Doch die
Philosophen und Soziologen wandten sich schnell enttäuscht von ihnen ab: Ihre Reflexionen
auf das Dasein und die Existenz gehen nicht über das Niveau 8-jähriger Menschenkinder
hinaus. Und daß sie keine Kriege führen und untereinander nicht gewaltsam sind, hat weder
mit der Ausbildung besonders leistungsfähiger Institutionen der Konfliktlösung zu tun noch
mit einer besondern Moralität, es ist keine kulturelle Leistung, von der wir etwas lernen
können, es liegt einfach in ihrer Biologie. - Sie haben nichts, nicht das geringste, das uns in
irgendeiner Form weiterbringt, keine Erfindungen, keine Erkenntnisse, keine Weisheiten.
Bis heute können sich führende Militärs nicht mit der Vorstellung anfreunden, daß da droben
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Außerirdische leben. Immer wieder wird der Vorschlag gemacht, was denn dabei sei, einfach
eine Atomrakete drauf zu schießen. Das ginge doch ganz schnell, die würden gar nichts
spüren. Denn wir wüßten ja schließlich nicht, was in deren Wurmhirnen vorginge, und was
die vielleicht irgendwann mal auf uns schießen würden. Die Militärs waren erst beruhigt, als
ihnen die Aufstellung einer speziellen Abteilung zugesichert wurde, die mit Satelliten, die um
die Raumstation kreisen, jeden Quadratmilimeter überwacht, ob irgendetwas die Station
verläßt.
Heimlich zweigten wir von den Kttk und allen Lebensformen ihres Biotops genetisches
Material ab. So sehr ich auch protestierte: ich konnte mich nicht gegen die Funktionäre aus
Militär und Wirtschaft durchsetzen. Vor allem die Militärs betonten: daß es ein Gebot der
Sicherheit sei, alle genetischen Elemente von ihnen zu kennen, für den Fall, daß sie doch was
auf die Erde schießen würden. - Und die Wirtschaftsfunktionäre betonten, es ließen sich
vielleicht Medikamente daraus herstellen für unheilbare Krankheiten. So wanderten die
gesammelten Lebensbausteine jener fremden Welt in geheime Labore von Militär und
Industrie.
Selbst wenn sie wollten: sie können sich gar nicht weiterentwickeln! Sie sind am äußersten
Ende ihrer Entwicklung angelangt, schon seit mehreren Millionen Jahren, mehr geht nicht. So
leben sie zwischen Erde und Venus still vor sich hin. Sie sind für nichts gut. Sie sind einfach
bloß da und freuen sich des Lebens.
Nachtrag.
Die Veröffentlichung meiner Nachricht über die Aliens wurde im Zuge neuer
Sicherheitsmaßnahmen unterdrückt. - Ich habe sie entdeckt und ich fühle mich für sie
verantwortlich. Deshalb werde ich zum Whistleblower. Mein Gewissen läßt mich einfach
nicht in Ruhe.
Die Verantwortlichen der Erde waren einhellig zu der Überzeugung gekommen, aus
Sicherheitsgründen die Kttk nicht in unserem Sonnensystem zu dulden. - Nachdem eine
Komission die Ausweisung der Kttk aus unserem Sonnensystem als zu unsicher befunden
hatte (es wär ja nicht auszuschließen, daß sie sich aus Rache wieder zurückstehlen und etwas
auf uns schießen würden), hatten die Militärs den Antrag gestellt, die Kttk vernichten zu
dürfen, zu "nihilisieren", wie sie sich ausdrückten. Die wissenschaftlichen Expertisen über
Intelligenz und Bewußtsein der Kttk wurden einem internationalen geheimen
Sicherheitsgerichtshof vorgelegt, der anläßlich der Fragen, die das Auftauchen der Kttk
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aufwarf, extra gegründet worden war, für die weltraumrechtlichen Probleme im
Zusammenhang mit der nicht mehr ausschließbaren Möglichkeit illegaler Einreise
extraterrestrischer Lebewesen in unser Sonnensystem.
Gegen die Tötung der Kttk wurde angeführt, daß es gleichbedeutet damit sei, geistig
Behinderte zu töten. Diesem Argument schloß sich das Gericht nicht an. Vielmehr
unterschieden sie humanoide Intelligenzminderung von extraterrestrischer
Intelligenzminderung: Zwischen Menschen bestünden, auch bei Intelligenzminderung, immer
Bindungen, für die Intelligenz nur bedingt relevant sei: Eltern würden ihre behinderten Kinder
schließlich nicht weniger lieben als ihre nicht-behinderten. Solche Bindungen zu zerstören sei
zutiefst inhuman, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. - Doch bei den Kttk sei nicht nur
der Fall, daß sie aufgrund ihres Intelligenzmangels nicht in der Lage seien, mit uns
Beziehungen aufzubauen, die zu irgendetwas führten. Sie könnten nichts mit uns anfangen
und wir nichts mit ihnen. Darüberhinaus seien aber auch andere Ebenen der Beziehung und
Bindung - wie z.B. die emotionale unter Menschen - aufgrund ihrer Nicht-Menschlichkeit
nicht möglich. Daher würde durch ihre Nihilisierung auch keine menschliche Bindung
zerstört, keine menschliche Liebesregung verletzt, die Menschenliebe nicht untergraben und
zersetzt. Aus diesem Grunde sei es auch kein Verbrechen gegen Liebe und Menschlichkeit,
sie zu nihilisieren (sprich: abzuschießen). - Natürlich dürfe man nicht einfach so eine fremde
Spezies abschießen. Aber in diesem Fall wiege die Verantwortung für die Sicherheit der
menschlichen Spezies einfach schwerer. Schließlich könnte es sein, daß auch nur ein einziger
feindlicher Akt der Kttk alles höhere Leben auf der Erde auslöschen würde. Und die Kttk
seien dann nicht einmal in der Lage mit unserem Planeten etwas anzufangen. - Wenn man
dies ins Verhältnis setze: ein Planet, der intelligentes Leben gestatte, werde dieser
Möglichkeit beraubt wegen ein paar Würmern, die in einem Blechverschlag nicht viel größer
als London zwischen Venus und Erde hängen - wenn man dies ins Verhältnis setze, würde das
Mißverhältnis zwischen dem Recht auf Leben für diese Außerirdischen, die das Ende ihrer
Entwicklung längst erreicht hätten, und dem Recht auf freie Entfaltung eines ganzen Planeten
offenbar. Der Schutz des Planeten gebiete daher, einer Veränderung der Haltung der
Außerirdischen vorzubeugen. Ein Wegschleppen ihrer Raumstation sei dabei aus den
angeführten Gründen nicht ausreichend. - Diese Situation gebe dem Begehren einer
Nihilisation, so problematisch dieses Mittel ohne Frage sei, bereits beträchtliches rechtliches
Gewicht. Ausschlaggebend für das Gericht sei jedoch, daß die gewichtigen Gegengründe
entkräftet werden könnten: Den Kttk selbst gehe nichts verloren, weil sie längst am Ende ihrer
Entwicklung angekommen seien: Es sei ihnen kein neues Niveau der Selbst- und
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Seinserkenntnis möglich, es gebe nichts, was sie noch nicht erlebt hätten, es gebe nichts, was
sie noch erreichen könnten, die Nihilisation raube ihnen keine Chance. Die Nihilisation sei
außerdem insofern legitim, weil wir ja die genetischen Informationen der Außerirdischen
gerettet hätten, auch dem Universum gehe also nichts verloren von dem, was es
hervorgebracht habe. Es gebe lediglich zur Zeit keine lebendigen Exemplare zu bestimmten
genetischen Codes. Für die Nihilisation spreche schließlich auch, daß sie so bewerkstelligt
werden könne, daß die Kttk nichts davon mitkriegen würden: keinen Schrecken, keine
Schmerzen, keine Todesnot. Sie würden nicht leiden, sie wären plötzlich einfach weg.
Trotz heftigster Proteste der maßgeblichen beteiligten Wissenschaftler und Philosophen
wurde am 01.12.2013 eine Atomrakete gestartet, die die außerirdische Zivilisation
vernichtete.
Die Zivilisatoren
Bericht von Opa Artur für seine Enkel, Berlin den 25.08.2097
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Sie waren nicht halb so überrascht wie wir, als sie uns entdeckten, aber sie fanden das nicht
aufregend sondern bloß nervig, und versuchten, das Beste draus zu machen.
Ganz sang und klang los hatten sie sich über alle elektronischen Medien gleichzeitig
gemeldet, um uns vor vollendete Tatsachen zu stellen, an einem Dienstag um zehn nach Eins.
Selbst die hochrangigsten Politiker erfuhren es nur aus dem Fernsehen. Empfänge mit den
maßgebenden Staaten- und Wirtschaftslenkern, Wissenschaftlern und Geistesgrößen lehnten
sie gelangweilt ab. An irgendwelche Verhandlungen war gar nicht zu denken. Innerhalb von
24 Stunden hatten sich die Lebensumstände der Menschheit völlig verändert.
Dabei waren sie nur auf der Suche nach einem Leckerbissen gewesen! Ihre
Langstreckenskanner hatten alle Lebensformen der Erde auf ihre Schmackhaftigkeit
untersucht und nur darauf, es hatte gar nicht auffallen können, daß eine dieser Lebensformen wir nämlich - intelligent war. Glücklicherweise schmeckten wir ihnen nicht. Sie hatten es nur
auf Hähnchenküken abgesehen. Komischerweise ausgerechnet Hähnchenküken.
Auch die Radiowellen, die wir unabsichtlich ständig in den Weltraum emittieren, waren ihnen
nicht aufgefallen. Da ihre Lebensvollzüge 6,223 mal schneller als unsere ablaufen, hätten sie
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ohne gezielte Aufmerksamkeit keine nicht-natürlichen Emissionen bemerken können. Sie
hatten erst, als sie Sichtkontakt bekamen, gesehen, was auf der Erde los war. - Daß es dort
eine intelligente Lebensform gab, war für sie genauso lästig, wie für einen Straßenplaner,
wenn sich herausstellt, daß die Trasse mitten durch die Laichgründe einer seltenen Krötenart
führt.
Sie nannten sich "die Marla" und waren eine sehr alte Lebensform, vermutlich eine der ersten
Intelligenzen im Universum. "Marla" heißt übersetzt "Klughirn". Sie nannten jede intelligente
Lebensform "Marla", aber unter Hinzufügung eines Suffixes und eines Indexes. Wir hießen:
"Marlaprött IIIc", das heißt soviel wie: Krüppelklughirn drittletzten Ranges mit wenig
Entwicklungspotential. Selbst die Analyse von Beethovensinfonieen und Bachfugen hatte die
Marla nicht begeistern können. Sie hatten nur müde konstatiert, daß diese Artefakte
Anzeichen einer gewissen, schwach bis mäßig ausgeprägten Intelligenz erkennen ließen. - Der
einzige Mensch, den sie ernstgenommen hätten, wäre Kant gewesen. Sein Verweis, daß die
von ihm aus der Struktur der Vernunft abgeleiteten ethischen Prinzipien Gültigkeit für alle
vernünftigen Wesen hätten, hatte sie erstaunt. Sie verstanden das förmlich als eine Anspielung
auf ihre Existenz und sie wären geneigt gewesen, Kant für einen hellsichtigen Mutanten zu
halten, hätten sie nicht gewußt, daß Hellsehen nicht möglich ist.
Jedes Individuum der Marla hatte eine Lebensspanne von etwa 300 Erdenjahren. Aber da sie
mehr als sechsmal so schnell wie wir dachten, stand ihnen zur geistigen Entwicklung ein
Zeitraum zur Verfügung, der für Menschen 2000 Erdenjahre entsprach! - Kein Wunder, daß
unsere größten Genies als Gesprächspartner für sie genauso uninteressant waren, wie für
einen Quantenphysiker ein Schulkind, das gerade die vier Grundrechenarten beherrscht.
Evolutionär war ihre Spezies aus Gemeinschaften röhrenartiger Weichtiere hervorgegangen,
die kugelförmig zusammengewachsen waren, zu einem Wesen mit fließender Verformbarkeit,
ähnlich unserer Kraken. Eine Mutationslinie hatte zu neuronalen Arbeitsteilungen zwischen
den Segmenten geführt, die die Multiindividualität immer weiter reduzierten und schließlich
zu einem vereinten hochkomplexen Nervensystem zusammenwuchsen. Gleichzeitig entstand
eine Symbiose zwischen den mittlerweile 3 Meter Durchmesser betragenden Kugeltieren und
einer Spinnen- oder Krebsartigen Tierart. Die Spinnenkrebse hatten sich ursprünglich an die
äußeren Röhren nur festgekrallt, bis eine evolutionäre Linie begann, mit den Röhren zu
verwachsen. In der weiteren Evolution drangen über diese Verwachsung Nerven der
Röhrentiere in die Spinnenkrebse, so daß sie über das Röhrentier gesteuert wurden. Mit dieser
Symbiose verfügte das Röhrentier über die Voraussetzungen, die Urmeere zu verlassen und
sich an Land weiterzuentwickeln - ein fließend verformbares Kugelwesen mit über hundert
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sehenden Werkzeughandfüßen. Die dadurch ermöglichte "Handwerklichkeit"
("Operationalität") wirkte auf die Hirnentwicklung zurück und brachte schließlich Intelligenz
hervor.
Die Nachkommen der Marla wuchsen zunächst ohne Symbionten auf und wurden ab einem
bestimmten Alter mit Ablegern der Symbionten bestückt. - Das war eines der größten Feste
im Leben einer Marla: wenn sie ihre Symbionten bekam!
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Doch, was ich eigentlich berichten wollte:
Sie waren eine Händlerkultur. Und plötzlich total versessen auf Hähnchenküken. - Und sie
fanden, daß wir Menschen uns keinen besonders sinnvollen und produktiven Tätigkeiten
widmeten. Sie fanden, daß wir vernünftigere Dinge tun sollten, statt mit primitiven
Rechenarten herumzuspielen, uns geschäftlich gegenseitig übers Ohr zu hauen oder gar den
Schädel einzuschlagen. Wir sollten uns lieber intergalaktisch nützlich machen, gemäß unseren
Befähigungen. Sie wollten eine win-win-Situation herstellen, von der sie glaubten, daß das für
uns eine ganz große Chance sei. Aus ihrer Sicht wollten sie nur unser Bestes: uns die
Möglichkeit verschaffen, intergalaktisch gültige Devisen zu verdienen, damit wir uns die
Mittel für ein würdiges Leben verschaffen könnten. - Denn wenn sie uns auch nicht für sehr
intelligent befanden: wir gehörten zur Kategorie der Marla, zu den intelligenten
Lebensformen! Das erkannten sie nicht nur an, sondern sie forderten auch, daß wir wie eine
solche leben sollten, Pröttung hin oder her. Und ein Leben ohne "Intentiomatisierung" galt
ihnen für Intelligenzen als entwürdigend. "Intentiomatisierung" bedeutete: das sämtliche
unangenehmen und unwillkommenen Tätigkeiten - sämtliche! - von Maschinen übernommen
wurden, die aufgrund von Datenauswertung aus dem menschlichen Verhalten automatisch
Intentionen erschlossen und bedienten, damit die Intelligenzen alle Zeit zur Vermehrung des
Geldes zur Verfügung hatten, oder - falls es mal keine Geldvermehrungsmöglichkeit gab - zur
Beschäftigung mit allem, was lustvoll und faszinierend war. Es gab selbst Maschinen zum
Entwerfen von Maschinen, so daß man nur ein Problem zu nennen brauchte und binnen
kurzem eine maschinelle Lösung bekam. Die einzige "Pflichttätigkeit" bestand nur noch
darin, zu lernen, die Maschinen zu verstehen, das wollten die Marla sich nicht aus der Hand
nehmen lassen und auch nicht an eine Kaste von Ingenieuren delegieren, denn darin hätten sie
eine Gefährdung ihrer Demokratie gesehen.
Doch wie hätten wir uns nützlich machen sollen? Alles, was wir konnten, konnten sie selber
weit billiger und besser als wir, selbst wenn wir unentgeltlich gearbeitet hätten.
Doch die Marla hatten wenigstens eine Beschäftigungsidee für uns Männer. - Sie befanden,
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daß die Männer sowieso bloß biologisch outgesourcte Funktionen hatten, ähnlich wie
Maschinen, deshalb durften sie bei ausreichender Intentiomatisierung den Frauen auch
weggenommen werden.
Über Nacht war die Welt intentiomatisiert und die Menschheit bei den Marla
hochverschuldet. Wir Männer mußten die Schulden abarbeiten.
Die Aufgabe, die sie für uns ersonnen hatten, war: Wir sollten Werbung machen für
Hähnchenküken, in allen bekannten Galaxien. - Alle männlichen Menschen ab dem 6. bis
zum 60zigsten Lebensjahr wurden in dottergelbe flauschige Kapuzenoveralls gesteckt, nur das
Gesicht blieb frei. Die Kükenkostüme waren bauchig ausgestopft, die Flügelchen am Oberarm
weit, die Beine eng eingeschnürt. Kurz: Die athletischen Männer hatten, was das Aussehen
anbetraf, die größten Nachteile: nichts, aber auch gar nichts von ihrer ausgeprägt maskulinen
Gestalt kam zur Geltung. Wir sahen alle gleich lächerlich aus. Und man wußte nicht: was
wirkte niederschmetternder: Wenn ein markantes geistvoll-maskulines Gesicht aus diesem
Kokon hervor blickte oder ein grobes, ungeschlachtes, primitives - wenn also ein
Widerspruch zwischen Gestalt und Gesicht entstand oder sich die Geistlosigkeiten beider
potenzierten. - Eine größere Verteilungsgerechtigkeit bezüglich körperlicher Gegebenheiten
hat es in der Geschichte der Menschheit wohl nie gegeben.
Unsere Arbeit bestand darin: Wir mußten 16 Stunden lang an irgendwelchen Ecken
intergalaktischer Einkaufzentren herumstehen und in festgesetzten Intervallen stolzieren,
tanzen und krähen. Verweigerung wurde mit Lohnkürzung bestraft. Das bedeutete nicht nur:
den Schuldendienst der Menschheit zu verlängern, sondern auch: hungern zu müssen, nur ein
wenig zwar, daß es nicht schadete, aber genug, um sich ständig unbehaglich zu fühlen.
Anfangs wurden die Verweigerer von den andern Männern bewundert und selbstverständlich
mit durchgefüttert. Doch im Laufe der Zeit fanden es immer mehr Nicht-Verweigerer
ungerecht, dafür auf zu kommen, daß die Verweigerer sich wie Helden fühlen durften.
Die 16 Stunden Arbeitszeit schienen den Marla gerechtfertigt, weil sie davon ausgegangen
waren, daß diese "Arbeit" für eine so wenig intelligente Lebensform wie uns, eigentlich keine
Arbeit sei, sondern Spiel und Clownerei, und uns doch bestimmt viel Spaß mache.
Doch wie man auch immer diese Tätigkeit erlebte: Keinem gelang es, in den wenigen
Freizeitstunden noch lange die Augen offen zu halten. Kulturelle und geistige Aktivitäten
waren selbst den Leistungsfähigsten kaum noch möglich. Auch bei denen waren Intelligenz,
Erlebnisfähigkeit und Kreativität wegen der Chronifizierung von Schlafmangel und
Erschöpfung so stark beeinträchtigt, daß ihr Schaffen und ihre Entwicklung fast ganz zum
Erliegen kamen. Es bestand auch keine Aussicht auf Freiheit im Rentenalter: Wir wurden mit
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high-tech Nahrung ernährt, die den Alterungsprozess ab dem 25. Lebensjahr um 80%
verlangsamte. Unsere Lebenserwartung verlängerte sich dadurch allerdings kaum. So blieben
wir arbeitsfähig bis ins höchste Greisenalter. - Nur die Männer, die bei Ankunft der Marla
älter als 55 waren, hatten das Glück, daß sie das Ende ihrer Arbeitsfähigkeit noch bei
lebendigem Leibe erlebten. Denn ab den Altersmerkmalen des 60zigsten Lebensjahres fanden
die Marla uns nicht mehr werbewirksam. Aber bei dem nahrungsinduzierten Schneckentempo
des Alterns musste selbst ein 55 jähriger noch 25 Jahre arbeiten, bis er wie ein 60zig jähriger
wirkte.
Übrigens handelte es sich um Flüssignahrung: ein paar Schluck zwischendurch reichten
schon, um so satt zu werden, daß Überernährung nicht möglich war. Wichtiger für die Marla
war jedoch, daß sie der Ansicht waren, für ein Kulturwesen sei es unwürdig, wie Tiere
Blätter, Früchte, Samen oder Fleisch zu essen. Und das sahen sie durch die unbestreitbaren
Nachteile einer niedrig-kultivierten Ernährung eindeutig erwiesen: Neigung zur
Überfütterung, natürlicher Alterungsprozess, bedeutender Zeitverlust.
Mein Vater, war bestrebt, wenigstens mit bedeutenden Menschen zusammen in einer
Kükenkolonne zu dienen. So sah ich in unserer Kolonne den berühmten jungen Pianisten A.,
Liebling der Frauen, den Philosophieprofessor M., der knapp über 50 gerade an seinem Opus
Magnum arbeitete, einen Verteidigungsminister eines nicht unbedeutenden Landes, der bis
vor kurzem noch als imposanter schneidiger General in den Medien mit seinen kühnen
politischen Thesen für Aufsehen gesorgt hatte, den tonangebenden Schriftsteller B., mehrere
bedeutende Physiker, einen Intendanten und etliche bekannte Schauspieler, die ihre
Maskulinität professionell gepflegt hatten. Sie alle liefen nun in diesen unförmigen
lächerlichen Kostümen herum, um von Zeit zu Zeit zu stolzieren, zu tanzen, zu krähen.
Keinem von ihnen gelang es, wenigstens zu Anfang die Sache mit Humor zu nehmen. Aber
das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen, zumal wir aus anderen Kolonnen wußten, daß
selbst den Humorvollsten der Humor nach einiger Zeit vergangen war. Am meisten Würde
zeigte noch der General, dessen Ernst bis zum Schluß von der gespannten Wachheit eines
Kriegers gezeichnet war, der auf jeden Umstand aufmerksam ist und alles registriert, was ihm
im Kampf gegen den Gegner nützen könnte. - Die andern waren regelrecht verstört. Und das
um so mehr, je deutlicher sich abzeichnete, daß ihnen die Lebensumstände in der Kolonne nie
wieder Zeit noch Kraft lassen würden, sich mit ihren ehemaligen Berufen zu beschäftigen.
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Die Marla hatten ein System von Wurmlöchern geschaffen, so etwas wie eine intergalaktische
U-Bahn. Die Reise zur nächsten Wurmlochstation betrug meist weit länger, als die Reise von
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einem Wurmlochende zum anderen. Oft mußte man die Wurmlöcher wechseln und die
Entfernung zwischen zwei Wurmlöchern wieder mühselig mit Lichtgeschwindigkeit
zurücklegen. Das fühlte sich an, wie Schienersatzverkehr mit Bussen. - Die Erde war weit ab
vom Schuß, wir galten als Hinterwäldler: bis zum nächsten Wurmloch war man 3 Monate
unterwegs! Für unsere entferntesten Einsatzorte mußten wir wegen der leidigen Umsteigerei
über 2 Jahre reisen! - Weil wir alle Anrecht auf Erdurlaub hatten, gab es eine ständige
Rotation der Einsatzorte, und jeweils die Kollegen des erdnächsten Einsatzortes konnten sich
auf baldigen Urlaub freuen - alle 6 Jahre einen Monat. - Damit es stetigen Nachwuchs gab,
wurden Spermienkonserven angelegt.
Übrigens fanden die Marla es etwas furchtbar Umständliches und Aufwändiges, wegen der
Kombination von Genen Sexualität entwickelt zu haben, mit der Konsequenz, daß nur die
Hälfte einer Spezies Nachkommen produzieren konnte. Schon allein deshalb konnten sie die
Männer nicht recht ernst nehmen. - Allerdings gab ihnen der Einwand eines berliner
Baggerführers zu denken: "Wat is denn daran nu wenija umständlich und uffwändich, wenn
man statt die Hände Spinnen festjewachsen hat?"
Sie sahen außerdem ein, daß es nicht artgerecht sei, uns bis zu unserem Urlaub auf Sexualität
verzichten zu lassen. Deshalb bekamen Männer wie Frauen naturgetreue Puppen. Die mussten
wir natürlich extra bezahlen, und sie waren nicht billig, denn sie waren so aufwändig
gemacht, daß man sie nicht nur optisch mit lebendigen Menschen verwechseln konnte. Und
alle Menschen ab dem 16. Lebensjahr, männlich wie weiblich, mussten eine solche Puppe
kaufen. Die intergalaktische Lobby der Medizinproduktehersteller hatte medizinische
Gutachten in Auftrag gegeben, die erwiesen, daß der Puppensex gesund für Männer wie
Frauen sei, und daß wir ohne ihn auf Dauer krank und zum Kostenfaktor würden. Sie hatten
damit die Einführung einer Puppenpflicht erwirken können, als Präventionsmaßnahme, damit
keiner aus Geiz seine Gesundheit vernachlässige. Diese Befürchtung der Puppenlobby war
nur allzu berechtigt, da die Puppen als Medizinprodukt besonderen
Preisgestaltungsmöglichkeiten unterlagen, auf deren Ausreizung natürlich kein vernünftiger
Produzent verzichtete.
Als die Homosexuellen gegen die Puppenpflicht protestierten, sahen die Marla ihren Protest
im Prinzip als gerechtfertigt an, und billigten ihnen zu, sie von der Puppenpflicht zu befreien,
wenn sie ihre Homosexualität objektiv, d.h. hirnphysiologisch nachweisen könnten. Denn
sonst könne ja jeder behaupten homosexuell zu sein und sich damit vor der Puppenpflicht
drücken. Die Marla versprachen, auf Verlangen die für den Nachweis erforderlichen
Diagnoseinstrumente schleunigst zu bauen, die Homosexuellen müßten sie aber bezahlen.
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Einen weiteren Kredit könnte man ihnen dafür jedoch nicht gewähren. - Da solche Geräte sehr
teuer waren, und wir nach Abzahlen unserer Raten kaum noch Geld übrig hatten, hätte die
Gesamtheit der Homosexuellen 100 Jahre sparen müssen, um eine flächendeckende
Diagnostik zu ermöglichen.
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Unsere Einwände, wie wichtig für uns das Schaffen von Musik, Literatur, die Pflege der
Wissenschaften usw. sei, fanden sie genauso wenig stichhaltig, wie wir die Argumente von
Heranwachsenden, daß ihre Lieblingsbeschäftigungen wichtiger seien als Schule und
Hausaufgaben. - Ernster nahmen sie schon unseren Einwand bezüglich der Sexualität: Wir
hatten sie darüber aufgeklärt, daß Erotik nur ein Aspekt von Partnerschaft, ja, selbst von
körperlicher Nähe ist, und außerdem eine ganzheitliche personale Begegnung: ohne die
Anerkennung, die aus gegenseitiger persönlicher und erotischer Faszination resultiere, sei
sexuelle Betätigung für uns höchstens ein billiger Spaß, und bleibe in jedem Fall
unbefriedigend. - Jedoch die Marla betonten: Da sie Sexualität nicht nachvollziehen könnten,
könnten sie auch nicht wissen, ob wir ihnen nicht bloß etwas vormachen würden, um uns vor
der Puppenpflicht zu drücken.
Auf der Erde florierten Kultur und Wissenschaften: Alle Frauen waren bereits nach 12 Jahren
optimal gebildet, weil ihnen alle für den Lebensunterhalt und die Haushaltsführung nötige
Tätigkeit von den Maschinen abgenommen wurde. Und da es für sie keine Möglichkeit gab,
Geld zu verdienen, konnten sie sich voll und ganz der Kultur und den Wissenschaften
widmen. - Es zeigte sich übrigens, daß selbst die ungebildetsten Frauen nach einiger Zeit die
Bildung der Unterhaltung vorzogen: wenn sie einmal auf den Geschmack gekommen waren,
fanden sie Bildung einfach spannender und waren empört, was ihnen bisher vorenthalten
worden war. Jetzt erst fiel auf, daß schon die Gaußsche Normalverteilungskurve uns darüber
hätte in Kenntnis setzen können, daß mindestens 85 % der Menschen intelligent genug für
Bildung sind.
Viele Männer, die aufgrund der Klassenunterschiede keine Chance gehabt hatten, sich geistig
und intellektuell ihren Potentialen gemäß zu entwickeln, fanden das Exil gar nicht mal so
übel: Sie hatten sowieso keine Perspektive gehabt, waren arm und arbeitslos gewesen oder
hatten unter monotonen, unterfordernden, entnervenden und unkreativen Arbeiten gelitten.
Jetzt hatten sie eine Arbeit, über die sie wenigstens lachen und bei der sie herumblödeln
konnten. Und sie hatten eine lebensechte erwärmbare Gummipartnerin mit Moddelmaßen: An
Frauen, die so aussahen, hätten die meisten nicht im Traum zu denken gewagt, zumal an
solche, die nicht quatschten, nicht zickten und keine Ansprüche stellten, und die man einfach
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tauschen konnte, wenn sie langweilig wurden. - Doch für jene Männer, die anspruchsvolle,
herausfordernde, qualifizierte und hochqualifizierte Tätigkeiten innegehabt und viel
Verantwortung getragen hatten, war die neue Tätigkeit eine Hölle. - Viele Berufe wären
allerdings sowieso völlig überflüssig geworden: Ärzte und Ingenieure wurden durch
Maschinen ersetzt, die die Arbeit weit effektiver erledigten, als es menschliche
Kunstfertigkeit je zuwege bringen könnte. Selbst die Psychotherapeuten wurden unnötig: Mit
Hilfe des marlaschen Gesundheitsdienstes wurden in kürzester Zeit Computerspiele
entwickelt, mit denen sich nachweislich Ängste, Depressionen und Süchte weit effektiver
behandeln ließen, als durch humanbasierte Psychotherapie.
Wegen der Arbeitszeiten schafften es aber auch die Wissenschaftler, Philosophen und
Künstler, selbst die professionellsten und leistungsfähigsten unter ihnen, nicht mehr,
bedeutende Leistungen in ihren alten Berufen zu erbringen. Sie hinkten dem Niveau der
Frauen immer hinterher.
Aber noch weit schlimmer war die Situation für die nachwachsende Generation begabter und
leistungsfähiger Männer: Selbst die hochbegabtesten Jungen hatten keine Chance, ihre
Fähigkeiten zu entwickeln. Wir müssen davon ausgehen, daß der Menschheit einige Mozarts
und Goethes dadurch verloren gegangen sind. Sicher: dafür haben wir jetzt mehr bedeutende
geniale Frauen als früher. Aber für die jungen Männer war die Situation noch weit furchtbarer
als für ihre Väter: Gegenüber dem, was die Frauen auf der Erde schufen, war alles, was sie
leisten konnten reiner Dilletantismus. Selbst die größten Genies konnten nicht viel aus ihrer
Begabung machen und ihre Werke blieben selbst hinter denen durchschnittlicher aber
professioneller Künstlerinnen, Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen so weit zurück, daß
sie einfach unnötig waren.
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Natürlich hatten die Marla uns über unsere Rechte informiert, denn auf ihr Recht waren sie
fast noch stolzer als auf ihre Technik, und selbstverständlich hatten wir gegen ihre
Maßnahmen ein Widerspruchsrecht. Das nutzten wir auch: wir machten geltend, daß wir
freiwillig keine Maschinen von ihnen gekauft hätten und schon gar nicht auf Kredit, zumal
wenn das für die Hälfte der Menschheit einen sklavenartigen Schuldendienst nach sich ziehe.
Wir argumentierten, daß Zwangsarbeit für Menschen entwürdigend sei, zumal so alberne.
Diese Einwände wurden von der Widerspruchsstelle dem Prinzip nach anerkannt und es
wurde uns zugestanden, eine einstweilige Verfügung zu beantragen. Das änderte aber nichts
daran, daß die Maßnahmen erst mal vollzogen wurden. Denn, so argumentierte ihr Justiziar,
es sei zu unwahrscheinlich, daß unsere Ansprüche Erfolg haben könnten. Weit naheliegender
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sei, daß wir völlig illusioniert darüber seien, was gut, artgerecht und angemessen für uns sei
und unserer Würde entspreche. Wir seien wir zwar nicht prinzipiell zu unintelligent dafür, zu
erkennen, was unsere Würde erfordere und was intergalaktisch angemessene Ansprüche
unserer Spezies seien, aber zivilisatorisch noch nicht fortgeschritten genug, es fehle noch das
letzte Lernniveau und der entscheidende Reflexionsschritt: uns mit intergalaktischem Abstand
betrachten zu können. - Zudem könne es niemals unwürdig sein, die Bedingungen eines
marlawürdigen Lebens selbst zu verdienen. Würde habe schließlich nichts damit zu tun,
wieviel Glück man faktisch erlebe und Glück ohne Würde sei unbefriedigender als Würde
ohne Glück. Das wüßten wir seit Kant doch ganz genau. - Und es gehe auch nicht, uns als
Marla-Spezies so lange weiter in Unwürde dahinvegetieren zu lassen, bis wir das Geld für die
Intentiomatisierung zusammen hätten. Außerdem sei der Schuldendienst um so vertretbarer,
weil die Menschheit aus zwei Teilen bestehe, deren einer offenbar ohnehin nur
Appendixfunktion habe und sein Leben mit fragwürdigen Tätigkeiten hinbringe: völlig
unnötige Kriege zu führen und ebenso schäbige wie häßliche Geschäfte auszubrüten und ins
Werk zu setzen. Aus all diesen Gründen könnten unsere Einwände ohne eine gerichtliche
Überprüfung nicht anerkannt werden. - Ihren Abscheu vor unseren Geschäften verstanden die
Marla übrigens wörtlich: Sie hatten schon vom Weltraum aus gesehen, wie wir die
Landschaften der Erde vernutzen, verschmutzen, verunstalteten und zerstörten, und über
unsere Städte und die Baulichkeiten, mit denen wir die Erde zupflasterten, waren sie nur
entsetzt. Nichts konnte ihnen ein sinnfälligerer Beleg für die Rückständigkeit, ja Entgleisung
unserer Zivilisation sein.
Die Mehrheit der Menschheit war sich einig, das Recht auf einstweilige Verfügung zu nutzen.
Nur war das sehr Zeit aufwändig, vor allem wegen der langen Kommunikationswege:
Die Marla hatten uns 2018 entdeckt. Das Verfahren zur Feststellung der Rechtmäßigkeit des
Widerspruchs hatte bereits 2 Jahre gedauert. Für die einstweilige Verfügung mußte unsere
Einigkeit erstmal formal korrekt zum Ausdruck kommen. Dafür brauchten wir
Abstimmungen. Bis das organisiert und durchgeführt war, waren weitere 4 Jahre vergangen.
Erst mit dem Mehrheitsbescheid hatten wir die Voraussetzung erworben, einen Termin
beantragen zu dürfen bei der intergalaktischen Rechtsbehörde, die die für uns zuständige
Spruchkammer ermittelte. Diesen Termin bekamen wir erst Mitte des folgenden Jahres. Da
auch hier wieder die Kommunikationswege Monate dauerten, empfingen wir den
Zuständigkeitsbescheid erst im Juli 2026.
Zuständig für Fragen der Marla-Grundrechte - denn auch für Marlaprött galten die
Marlagrundrechte - war der höchste Gerichtshof, denn die Marla-Würde konnte natürlich nur
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Gegenstand des höchsten Gerichtes sein. Dieser Gerichtshof befand sich - wie könnte es für
einen höchsten Gerichtshof anders sein - auf dem Heimatplaneten der Marla. Allein der
Kommunikationsweg betrug anderthalb Jahre. - Wir waren nicht die einzige Spezies, die eine
einstweilige Verfügung mit Dringlichkeit begehrten. Zwar hatten die Marla den höchsten
Gerichtshof immer weiter vergrößert, so daß eigentlich ihr ganzer Planet nur noch ein
weitläufiges Gerichtsgebäude war, aber es gab eben auch noch viele andere Marlaprötts im
Universum, die sich unwürdig behandelt fühlten. Wegen dem hohen Aufkommen an
Rechtssachen brauchte die interne Postverteilung noch einmal drei Monate. Dann erst hatte
die für uns zuständige Stelle unsere Sache auf dem Tisch. Der Sachbearbeiter musste jetzt
einen Richter ermitteln. Das dauerte weitere drei Monate. Der für uns zuständige Richter
bekam unser Gesuch also erst Ende 2028 auf seinen Stapel. Man versicherte uns, das sei alles
schon sehr schnell gegangen, wie für einstweilige Verfügungen mit Dringlichkeit gefordert,
aber leider stapelten sich bei jedem Richter die einstweiligen Verfügungen und es gehe streng
nach Warteliste. Unsere Warteliste sei zwar aufgrund des geschickten Vermittelungssystem
die kürzeste, wir müssten aber mit einiger Zeit rechnen, bis wir dran seien. - Es dauerte 4
Jahre. - Der Richter befand, daß die Abstimmung zu lange zurück liege. In den mittlerweile
vergangenen 8 Jahren habe sich die Meinung der Menschheit ändern können. Die
Abstimmung müsse wiederholt werden. So vergingen erneut 4 Jahre. Die Menschheit hatte
ihre Meinung natürlich nicht geändert. - Die Entscheidung über unser Gesuch fällte der
Richter anhand der Richtlinien innerhalb von 5 Minuten, doch es dauerte wieder eineinhalb
Jahre, bis wir diesen Bescheid erhielten, da war es 2038.
Die gute Nachricht war: Unser Gesuch war rechtmäßig und wurde zur Entscheidung
angenommen. Aber es hieß: für die Entscheidung sei eine unabhängige Expertise nötig. Der
Richter schloss sich dem Justiziar der Beschwerdestelle an: Da könnte ja jeder kommen,
argumentierte er, und behaupten, die Tätigkeit, mit der er seine Schulden abzahlen müsse, sei
ihm nicht würdig. Dem Gericht sei unplausibel, daß wir Grund hätten, uns zu beschweren.
Die Sorge um unsere Würde habe doch gerade dazu geführt, daß die Marla in Vorleistung
gegangen seien bei der angemessenen Intentiomatisierung unseres Planeten. Und auch die
Sorge um unsere Gesundheit habe ihnen so am Herzen gelegen, daß sie erneut in Vorleistung
gegangen seien zur Deckung unserer medizinischer Notwendigkeiten. Das Gericht könne
zwar nicht ausschließen, daß unsere Behauptung, all diese Bemühungen um unsere Würde
seien nicht zureichend, zutreffe, es müsse das aber aufgrund der äonenlangen Erfahrung im
Umgang mit Marlaprötts für so unwahrscheinlich halten, daß der Marlakultur Unrecht
widerfahre, wenn eine Entscheidung zu unseren Gunsten nur aufgrund von Indizien ergehe.
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Daher sei ein wissenschaftliches Gutachten erforderlich. Es gelte, die Rechtssicherheit des
freien Handels gegen die Möglichkeiten von Willkür und unangemessenen Ansprüchen zu
schützen.
Wir gingen sofort daran, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Das war aber weit aufwändiger,
als wir dachten! Wir fanden keinen Gutachter, der sich mit uns beschäftigen wollte. Allen,
wirklich allen, war die Materie - sprich: wir - zu langweilig! Auch als wir schließlich 2050,
nach 12 Jahren die ersten bereitwilligen Gutachter fanden, waren wir noch keinen Schritt
weiter: Wir hatten gehört, daß sich in der Gutachterlandschaft viele schwarze Schafe
tummelten, die mit wenig Kompetenz und Aufwand hohes Verdienst erreichen wollten. Daher
galt es, die Gutachter begutachten zu lassen. Das führte erneut zu einem Zeitverlust weil wir
erneut einen Gutachter suchen und Kredite zur Begleichung seines Honorars beschaffen
mußten. Schließlich fanden wir nach weiteren 7 Jahren einen gut begutachteten Gutachter. Er
verlangte allerdings einen hohen Langweiligkeitsentschädigungsaufschlag - etwa so, wie
manche Berufe für bestimmte Aufgaben eine Schmutz-Zulage einfordern. - Die
Gesamtsumme für das Gutachten war so hoch, daß wir erneut mit vielen Jahren rechnen
mußten, bis wir die erforderlichen Fördermittel und Kredite zusammen hatten.
Doch im Herbst 2066, wir hatten vielleicht gerade die Hälfte des Geldes beisammen, an
einem Donnerstag Nachmittag, kamen die Sicherheitskräfte, baten uns höflich in ihre
Shuttels, brachten uns zu Raumkreuzern und verschifften uns auf die Erde, uns alle. Sie
verabschiedeten sich mit wenig überzeugenden Höflichkeitsgesten und flogen weg. - Das mit
den Hähnchenküken war nur eine flüchtige kulinarische Mode gewesen, die Geschäftsidee
eines multigalaktischen Fast-Food-Magnaten. Als die Mode uninteressant geworden und die
Umsätze eingebrochen waren, spuckten sie uns wieder aus. Ihre Maschinerie hatten sie bereits
abgebaut, nichts, nicht das kleinste Schräubchen ließen sie hier, obwohl wir doch mittlerweile
eine Menge davon abbezahlt hatten. Aber sie argumentierten, wir seien insolvent und der
Rückkaufwert decke gerade die für den Abbau und Umbau entstehenden Kosten. Wir könnten
froh sein, nicht noch drauf zahlen zu müssen. - Das war vor 31 Jahren. Wir haben nie wieder
etwas von ihnen gehört.
Wir hätten den Dienst bei den Marla übrigens schon im ersten Jahr beenden können: durch
einen Streik. Allerdings fanden wir dazu unter uns Männern keine Mehrheit, es waren nunmal
zu viele auf der Erde unterprivilegiert gewesen, materiell und bezüglich der Bedingungen
ihrer persönlichen Entwicklung. Sie hatten das Arrangement, das die Marla für uns geschaffen
hatten, nicht anders als vorteilhaft erleben können, gemessen an ihrem früheren Erdenleben.
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Sie sahen nicht ein, auf diese Vorteile zu verzichten, bloß damit die Gebildeten wieder ihren
Hobbies nachgehen konnten.
Die optimale Kombination oder: Das MozartModul
Unser Produkt „Genetische Optimierung für Mädchen“ hielt nicht, was es versprochen hatte,
wir hatten Reklamationen in Millionenhöhe. - Den Vorwurf, das Produkt nicht gut genug
durchdacht zu haben, hatte ich entkräften und Konsequenzen für meine Abteilung gerade
noch abbiegen können. Die Vorgaben waren schuld, nicht wir.
Dabei hatte alles so gut angefangen! Wir sind das innovativste Biotechnologie Unternehmen
der Welt. Einen Namen haben wir uns gemacht mit der Optimierung der gängigen
Körperwuchsmodulationen. Die optimalen Proportionen von Beckenbreite,
Oberschenkellänge, Taillenumfang usw. gab es ja längst an jeder Ecke zu kaufen. Wir hatten
als erste ein Verfahren entwickelt, der Gestaltung des Nachwuchses eine persönliche Note
aufzuprägen, z.B. die Beindicke stufenlos zwischen gazellenschlank und athletisch zu wählen
und die Nasenform zwischen main-stream und charakteristisch. Aber ganz groß raus
gekommen waren wir mit der Möglichkeit, auch Geistesgaben und Charakteranlagen
genetisch zu optimieren. So hatten wir schließlich die erste optimale Kombination für
Mädchen in unserer Produktpalette, das Modell „HelenaMozart“, für Töchter, schöner als
Supermodells und genialer als Mozarts. Damit hatten wir unsere Konkurrenz, die bis dahin
Marktführer mit ihrem Modell „Schneewittchen“ gewesen war, weit abgeschlagen.
Was hatte nicht funktioniert? Meiner aufwändigen Fehleranalyse ist es zu verdanken, daß wir
jetzt klar sehen, daß der Ansatz falsch war:
Die Mädchen waren zu liebenswürdig. Schon als Kind lösten sie durch Anmut und
Aufgewecktheit Gefühle aus, sie zu beschenken. In der Pubertät reiften sie schnell zu
hochattraktiven jungen Frauen heran, die sich durch das wertschätzende Interesse, das sie an
allen nahmen, aber auch durch Zurückhaltung, Verbindlichkeit und Taktgefühl überall
Sympathien erwarben. Alle wollten mit ihnen zu tun haben. Bei Männern lösten sie
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überwältigende Impulse aus, ihnen zu Füßen zu fallen, alles für sie herbeizuschaffen, barfuß
übers Gebirge zu gehen, ja, ihre Seele an sie zu verkaufen. Die Mädchen brauchten dazu bloß
ihren optimierten natürlichen Verhaltensbereitschaften freien Lauf zu lassen. So bekamen sie
auch ohne genial sein zu müssen, von Erwachsenen und Gleichaltrigen alles, was für ein
wunderbares Leben nötig ist. Sie entwickelten sich zu völlig normalen liebenswürdigen
Frauen. Alle heirateten überdurchschnittlich erfolgreiche Gatten. Alle lebten trotz Heirat
sexuell höchst freizügig, denn ihre Gatten hatten wegen des beruflichen Erfolgs zu wenig Zeit
und die jungen Frauen konnten mit einem Augenaufschlag die attraktivsten Männer verrückt
machen. - Man hat uns vorgeworfen, das Design des von uns verwendeten Charaktergenoms
sei unausgereift. Das ist nicht der Fall. Unser MutterTeresaModul funktioniert nachweislich
absolut zuverlässig und fehlerfrei. Wir konnten durch meine Fehleranalyse nachweisen, daß
die Gatten schuld waren: Aus Verlustangst sahen sie über alles hinweg. Diese Toleranz
signalisierte den Frauen, daß ihre sexuelle Freizügigkeit für ihre Gatten wohl nicht so
schlimm sein könne, denn was Schlimmes toleriert man ja nicht. Das Verhalten der Frauen
war völlig logisch: Um dem Nachwuchs optimale Bedingungen zu garantieren, wählten sie
die erfolgreichsten Männer als Väter. Die Nebenfolge der sexuellen Vernachlässigung
versuchten sie zu kompensieren, indem sie instinktiv und unschuldig ausprobierten, was denn
passieren würde, wenn sie ihre verbleibenden sexuellen Bedürfnisse mit andern Männern
stillten. Und als nichts passierte, setzten sie dieses Verhalten einfach fort. In den wenigen
Fällen, in denen die Gatten die Seitensprünge ihrer Gattinnen nicht tolerierten, zeigte sich die
hohe Bereitschaft der jungen Frauen zu ehelicher Treue, denn sie liebten ihre Gatten und
wollten ihnen nicht weh tun.
Unser Fazit war: Schon als Kleinkindern wurde den Mädchen aufgrund ihres Wesens und
ihrer Erscheinung alles an Stillung geschenkt, was möglich war. Sie waren von Anfang an
völlig glücklich und zufrieden. Es bildete sich in den Mädchen kein Ziel aus, für das
Genialität Sinn gehabt hätte. Trotz Mozart-Modul wurden sie einfach nicht genial, es
entwickelten sich keine Mozartinen. Aber auch keine Pseudo-Mozartinen! Dieser Umstand ist
noch nicht im Geringsten gewürdigt worden! Unsere Mädchen waren so holdselig und
liebenswürdig, daß die Eltern es nicht übers Herz brachten, sie zu drillen. Und sie für etwas zu
faszinieren, vermochten sie nicht. Denn die Eltern waren ja selber an nichts der Sache wegen,
an Allem nur des Erfolges wegen interessiert gewesen.
Nur bei einem einzigen Mädchen verlief die Entwicklung anders, sie ist jetzt eine der
bedeutensten Menschen der Welt, aber wir dürfen aus Diskretionsgründen ihren Namen nicht
verraten: Ihre Eltern starben bei einem Autounfall. Sie kam in ein Heim. Dort wurde sie
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gerade wegen ihres holden Wesens von den andern Kindern angefeindet, denn man fand es
gemein, daß sie so eine privilegierte Kindheit gehabt hatte und jetzt auch noch alles an
Aufmerksamkeit und Gebebereitschaft auf sich zog, ohne sich dafür anstrengen zu müssen, ja,
sogar ohne ihr vorwerfen zu können, es darauf anzulegen, sondern einfach, weil sie so war,
wie sie war. Das Mädchen geriet in eine Außenseiterposition. Die soziale Frustration führte
dazu, daß sie in nicht-sozialen Aktivitäten Sinn und Befriedigung suchte. Die dabei
entzündete Faszination an der Sache, für die sie nun berühmt ist, aktivierte nach und nach das
ganze Ausmaß ihrer Begabung.
Wir können keine funktionierenden KonzeptKind-Produkte anbieten, die nur auf
Genmodulation basieren. Komplexe KonzeptKind-Produkte funktionieren nur, wenn sie im
Rahmen eines Multifaktorenpackets angeboten werden, das verbürgt, daß die genoptimierten
Kinder auch entsprechend gehalten werden. Wie spricht der Dichter:
"Es ist nunmal so: Das Hirn wächst von selbst nicht so schön wie der Po."
Wenn die Module ihr Potential nicht entfalten, sind die Eltern schuld. Das ist jedoch eine
Botschaft, die sich – laut unserer Marketing-Abteilung – zur Zeit nicht verkaufen läßt.
Aber mal ganz unter uns: Für was braucht man auch ein Mozart-Modul?
Der Anwender, oder: kumulative Effekte
Wir stiegen auf, weil das Objekt zwar geantwortet hatte, aber – wie der Leiter der
Flugüberwachung sich ausdrückte – nur um ihn zu "verarschen". - Es handelte sich um ein
riesiges Flugobjekt, vermutlich ein Spionageluftschiff, das auf 1000 m Flughöhe mit einer
Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern abseits der Flugrouten und außerhalb aller
Hoheitszonen vor sich hin bummelte.
Wir waren zu zweit, zwei schwerbewaffnete Kampfjets. Wir sollten uns das Ding aus der Luft
ansehen und zur Sicherheit, auch wenn das widerrechtlich war, weil es keinen Luftraum
verletzte, es zu Kursänderung und Landung auf unserer Luftwaffenbasis zwingen.
Ich dachte, ich spinne! Ich sah einen Obstgarten, in dem Schafe weideten! Er befand sich
unter einer flachen ovalen Glaskuppel, etwa 500 m lang und 300 m breit und auf einer etwa
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10 m hohen Bodenplatte. An beiden Ovalenden war soetwas wie ein gemütliches großzügiges
Wohnzimmer eingerichtet. Und schließlich sah ich einen Menschen, der uns zuwinkte! Als
wir Funkkontakt aufnahmen erklang die Stimme eines alten Mannes: "Hallo, ja, Ihre Kollegen
sagten mir schon, daß sie jemanden hochschicken würden. Seien Sie willkommen! Sie sind
wahrscheinlich sehr verwundert! Es würde mich riesig freuen, wenn Sie mir einen Besuch
abstatten würden, dann kann ich Ihnen alles zeigen. Geben Sie Kurs und Geschwindigkeit ein,
das Andocken geht vollautomatisch!"
Aus Spaß schauten wir, was geschah – und tatsächlich, das Ding folgte uns und holte uns ein!
- Wir waren über das alles so überrascht und perplex und von der einladenden Freundlichkeit
des Alten so eingenommen, daß wir einfach weitermachten mit dem Andockmanöver, obwohl
es natürlich unprofessionell ist, die Einladung eines UFO´s anzunehmen.
Ein älterer Herr um die 70 begrüßte uns herzlich. Er führte uns auf seinem Luftschiff herum.
Es war ein autarker, geschlossener ökologischer Kreislauf. Alle Arbeit wurde von kleinen
Robotern erledigt – keiner davon sah übrigens menschenähnlicher aus als ein Staubsauger,
alle waren rein funktionale Gestänge und Gehäuse. Die Arbeiten, die der Alte für sich
übriggelassen hatte, bestanden in der Zubereitung der Speisen und der Pflege der Tiere, er
molk sie und verarbeitete die Milch weiter zu Yogurt und 11 verschiedenen Käsesorten. Erklären konnte der Mann uns nichts von alledem, was wir hier sahen. "Aber wie sind Sie
denn zu all dem gekommen?", wollten wir wissen. Daraufhin erzählte er uns seine
Geschichte:
"Ich bin leider nicht gut ausgestattet worden von der Natur. Ich bin klein und schmächtig,
nicht besonders intelligent und habe kein gutes Gehirn. Schon in der Schule hatten die Ärzte
festgestellt, daß ich meine Bewegungen nicht so gut koordinieren kann wie andere, ich bin
von Natur aus etwas täppisch. Und geistig bin ich schnell erschöpft, ich habe keine große
Aufmerksamkeitsspanne. So war ich nie zu etwas zu gebrauchen: Meine Kameraden fanden
es blöd, mich beim Fußball mitspielen zu lassen, denn meine Mannschaft hatte immer einen
Mann weniger, und nicht selten schoß ich aus Versehen Eigentore. In der Schule galt ich als
trübe Tasse, bei den Lehrern sowieso, aber auch bei den Mitschülern. Naja, und da können Sie
sich vorstellen, daß ich den Mädchen auch nicht viel zu bieten hatte. Bei den Schönen bin ich
abgeblitzt, die Unattraktiven haben mich nicht interessiert. Ich schaffte mit Ach und Krach
den mittleren Schulabschluß und die kaufmännische Lehre. Und dann habe ich im Büro
gearbeitet. Ich war ganz gut gelitten bei den Kollegen und beim Chef, weil ich unkompliziert,
hilfsbereit und verläßlich war. Aber ich habe alle immer genervt, weil ich so viele Fehler
machte. Ich bin der Inbegriff von einem Schussel. Schon die Grundschullehrerin nannte mich:
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"zerstreuter Professor". Aber wer schon so früh so zerstreut ist, ohne daß da bereits viel zu
zerstreuen wäre, der wird gar nicht erst Professor. Später stellte sich heraus, daß aus
irgendeinem unerfindlichen Grund auch Kinder mich nicht besonders mögen. Ich glaube, für
Jungs bin ich keine Identifikationsfigur und Mädchen finden mich zu wenig väterlich.
Jedenfalls, die Kinder sind nicht sehr interessiert an mir. Also: Im Beruf war ich an der
Grenze zur Untragbarkeit, Männer ignorierten mich, Frauen ließ ich kalt und Kinder konnten
mit mir nichts anfangen. - Oh, das klingt jetzt alles viel schlimmer, als es war. Sicher, toll
fand ich das nicht, was sich da alles Bereich für Bereich an Unvermögen herauswuchs. Das
war schon jedesmal ernüchternd. Jedesmal dachte ich: "Ach, so ist das! Blöd, aber nicht zu
ändern." Aber wissen Sie, ich war den Menschen deshalb nicht böse. Ich konnte das
nachvollziehen, daß sie mit mir nicht viel anfangen konnten! Es war nunmal wie es war. Was
hilfts, sich zu grämen? Außerdem hatte ich das Glück, daß ich was hatte, was ich gerne
mache, ganz für mich allein. Kommen Sie, ich zeigs Ihnen!"
Damit verließen wir das Sofa, von dem wir gerade das Panorama der Antarktischen
Gebirgszüge genossen und an dem der Alte uns vorzüglichen selbst gezogenen Kaffee serviert
hatte. Er führte uns in einen weiten hellen Raum und wir erblickten – ein Spielzeugland: Er
hatte aus Bauklötzen Städte gebaut mit virtuos equilibrierten grotesken Türmen, zwischen
denen ein Lego-Bahn-Netz verlief. Dabei hatte er das Legosystem regelrecht ausgetrixt: So
gab es schnurgerade Ein-Schienen-Bahnen, die die Türme mit einander verbanden. Er hatte
dafür ganz spezielle Problemlösungen gefunden, denn eigentlich kann man mit Lego so was
gar nicht bauen. Außerdem hatten die Züge keine Motoren, sondern er hatte ein System
ausgeklügelt, sie an Fäden durch die Städte zu kurbeln. Bei der Bahn, die sich am Boden
zwischen den Türmen hinschlängelte, wurden die Fäden in den Kurven von Stangen geführt,
die er seitlich an die Schwellen montiert hatte. Wir rätselten, wieso das alles bei der
Beschleunigung des Schiffs nicht zusammengefallen war.
"Wenn ich mir nicht gerade die Welt von oben anschaue, verbringe ich meine Zeit hier",
erklärte er. "In Betriebe kann ich mich nicht einbringen und ich bin weder interessant noch
wohlgelitten. Was lag also näher, als mich zurück zu ziehen? Zumal mir meine Arbeit im
Büro sehr schwer fiel. Abends war ich immer völlig kaputt, obwohl ich nicht einmal eine
volle Stelle hatte! Und dann starb mein Vater, da war ich 45. Er hinterließ mir ein Haus, das
ich für 200 000 € verkaufte. Da dachte ich: Jetzt steig ich aus! Keiner wird mich vermissen
und ich vermiß auch keinen. - Ich hatte bis dahin – das war 1999 – nicht groß was mit Internet
und so zu tun gehabt. Computerkenntnisse hatte ich nur von der Arbeit. Ich habe das mit den
Computern nie so gemocht, wissen Sie, ich bin ja aufgewachsen, als es das noch gar nicht
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gab, ich hatte immer meine Bauklötze, mich hat Elektrikgedöns nie groß interessiert. Naja, als
ich dann meine Stelle gekündigt hatte, hatte ich mehr Zeit, im Cafe zu sitzen und Zeitung zu
lesen. Und da las ich dann so allerhand von nützlichen Dingen, 3-D-Drucker z.B., durch die
man vieles selber machen konnte. Das war ja für mich sehr wichtig, bis zur Rente hatte ich ja
noch 20 Jahre, die ich mit dem Geld überbrücken mußte, und meine Rente würde sehr klein
sein. Ich kaufte mir also solche nützlichen Sachen. Und ich suchte mir Softwär, mit der man
auch vieles selber machen konnte. Natürlich gab es nicht genau die, die ich brauchte. Also
suchte ich mir Softwär, die Softwär entwickeln konnte, und als das auch noch nicht reichte,
ließ ich von dem Programm Softwär entwickeln, die Softär entwickelnde Softwär entwickeln
konnte. Aber glauben Sie nicht, ich hätte von all dem irgendeine Ahnung gehabt! Ich hatte gar
keine Ahnung. Und das brauchte ich ja auch nicht, die Ahnung steckte ja alle in der Softwär
drin. Ich hab bloß rumgespielt und rumprobiert und dann kam irgendwann immer was
Brauchbares raus. Irgendwann hatte ich dann ein Programm, das 3-D-Drucker entwickeln
konnte, und druckte mir mit meinem 3-D-Drucker Teile, um diesen besseren 3-D-Drucker zu
bauen, der wieder Teile für noch bessere 3-D-Drucker drucken konnten. Und dann
entwickelten mir die Softwärentwickelprogramme Roboter – für alles mögliche – und die 3D-Drucker druckten mir die Teile für die Roboter. Zuerst mußte ich die Teile selbst
zusammenschrauben, das konnte ich gerade noch. Die ersten Roboter, die ich
zusammenstümperte, hatten bloß die Aufgabe, Roboter zu bauen, die ich nicht bauen konnte.
Und die bauten dann die verschiedenen Roboter, die ich brauchte, um Roboter zu bauen, die
noch mehr konnten. - Ja, und schließlich dachte ich: Is ja toll, was die so alles können. Da
könnte ich doch vielleicht mal was ganz Großes bauen! - So kam ich auf die Idee dieses
Luftschiffs. - Das schwierigste war das Energieproblem. Ich ließ also die
Entwicklungssoftwär Softwär entwickeln, die aus dem Internet alles recherchierte, was
Softwär braucht, um das Energieproblem zu lösen. Irgendwann hatte ich dann eine Formel –
ich selbst konnte damit gar nichts anfangen, für mich war das wie Buchstabensalat – aber
meine Softwär konnte damit was anfangen und speiste damit meine Roboter bauenden
Roboter und die bauten die Roboter, die schließlich diese Maschine bauen konnten, die
Sonnenenergie in Gravititationsenergie verwandelt. - Das war alles sehr zeitraubend, aber
eigentlich gar nicht so schwierig. Hätte es sonst jemand hingekriegt, der mit Ach und Krach
einen mittleren Schulabschluß geschafft hat? - Wissen Sie, was das Allerschwierigste war,
woran bald alles gescheitert wäre? Den Garten zu bauen! So daß das jetzt so ein Kreislauf ist
und ich nichts dazu tanken muß, außer ab und zu ein bischen Meer für Wasser und Salz. Aber
auch alles dafür Nötige hat eine Softwär aus dem Internet gezogen. Und eine andere hat es in
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die Form eines Computerspiels gebracht und damit so lange rumgespielt, bis das hier
herauskam. - Fragen Sie mich also nicht, wie ich das hier gemacht habe, ich habe es nicht
gemacht, ich habe nur Sachen gefunden, die nützliche Dinge machen konnten. Das ist alles!"
Wir glaubten ihm kein Wort. Ich nahm Verbindung auf mit meinem Vorgesetzten, erstattete
Meldung, daß wir die Kontrolle über das Luftschiff übernommen hätten und weitere Befehle
erwarteten. - Der Alte war mir sympatisch, auch wenn ich überhaupt nicht wußte, was ich von
der ganzen Geschichte zu halten hatte. Ich hatte etwas Sorge, was die wohl mit ihm machen
würden. Es gelang mir, mir aus zu bedingen, daß ich, als derjenige, der den Erstkontakt hatte,
die weiteren Schritte als Vermittler begleiten dürfe. Es geschah nichts Schlimmes, ich hätte
gar nicht dabei sein müssen. Aber jedenfalls kann ich jetzt von all dem berichten:
Der Alte wurde gebeten, zu rekonstruieren, was er gemacht hatte. Er hatte sich aber nichts
von all dem gemerkt, schon allein deshalb nicht, weil er meist gar nicht verstanden hatte, was
er da eigentlich gemacht hatte, er hatte bloß "rumprobiert", wie er selbst sagte. Und er war
nicht im geringsten daran interessiert gewesen, es zu verstehen, ja nicht einmal, es zu
wiederholen. Er wollte bloß nützliche Dinge für sich selber haben. Das Meiste war durch
Prozesse zustande gekommen, die die Maschinen völlig eigenständig vollzogen hatten. Er
hatte meist nur auf das Feld "weiter" geklickt. Die Maschinen hatten sich dabei selbsttätig so
verändert, daß sie nicht mehr mit unseren Computer kompatibel waren. Wir bauten eine
Kopie des Schiffs und kopierten alle Software. Aber bis heute ist es noch nicht gelungen,
einen Zugang zu den Programmen zu finden, geschweige denn, den Schwerkraftgenerator zu
verstehen.
Der Alte selbst wurde untersucht, von Maschinen und Psychiatern, und seine
Lebensgeschichte wurde überprüft. Wir konnten nicht die geringsten Indizien für unsere
Vermutung finden, daß er in Wirklichkeit ein Genie sei, das bloß versuche, uns etwas
vorzumachen. Nein, er war tatsächlich in allen gemessenen Bereichen unterdurchschnittlich,
auch wenn er zweifellos eine gewisse kreative und kombinatorische Begabung besaß. Seine
Erfolge waren bloß auf Glück zurückzuführen – und natürlich auf die Intelligenz der von ihm
benutzen Programme. Aber da er sein Leben lang ein ziemlich armer Kerl gewesen war,
konnten wir ihm dieses Glück gönnen. So nett er auch war, im Ganzen war er eine ziemlich
trübe Tasse. - So ließen wir ihn schließlich weiter fliegen, und da fliegt er noch.
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