Daniel Seefeld Science-Fiction-Bagatellen Inhalt: Nachrichten über Außerirdische − Die Verpfiffenen (Whistleblowing) ............. 2 − Die Zivilisatoren ...........................................8 Die optimale Kombination ................................... 18 Die Maschine zur Lösung aller Probleme ........... 20 Der Anwender ........................................................ 21 Das Loch ................................................................ 25 Copyright: Diese Texte sind urheberrechtlich geschützt. - Runterladen oder kopieren für den privaten Gebrauch ist gern gesehen. Jede andere Verwendung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung. Copyright-Kontakt über: www.goethesfaust.com 1 Nachrichten über Außerirdische Die Verpfiffenen (Whistleblowing) Eigentlich haben sie uns zuerst entdeckt. Aber selbst wenn sie gekonnt hätten, hätten sie wohl keinen Kontakt mit uns aufgenommen, aus Scham, wie ich vermute. Sie nehmen eine Position etwa in halber Entfernung zwischen Venus und Erde ein, ein Verbund von 17 aneinandergekoppelten Raumschiffen, die zusammen etwa die Ausdehnung von London haben. Mehr haben sie nicht hingekriegt. Sie hatten ihren Planeten verlassen müssen, als ihre Sonne sich aufzublähen begann. Da sie das Phänomen nicht verstanden, hatten sie mit dem Raumschiffbau erst begonnen, als die Veränderungen ihrer Sonne so gravierend wurden, daß sie Angst bekamen. Deshalb hatten sich nur wenige von ihnen retten können, ungefähr 80000. Sie konnten nur recht primitive Raketen bauen, etwa auf dem Stand unserer Technik von 1945. Wäre ihr Planet größer gewesen als unser Mond, hätten sie seiner Anziehungskraft nicht entkommen können. Sie sind einfach nicht intelligent genug, Ihr Maschinenbau kommt über ein gewisses Niveau nicht hinaus, sie kapieren einfach nicht mehr, selbst ihre genialsten Köpfe nicht. – D.h., Köpfe haben sie keine. Sie sind Würmer, Dreiwürmer, eine Art siamesischer Drillinge, eine vererbte Mißbildung. Irgendeine zufällige Mutation hatte dazu geführt, daß ein Zusammenwachsen von drei Wurmkeimen genetisch codiert worden war. Offenbar war es in der Umwelt der Würmer kein Überlebensnachteil, als siamesischer Drilling herum zu kriechen. Die Nebenwürmer zweigen im oberen Drittel ab, aber fast nie symetrisch, so daß jedes Exemplar irgendwie unrichtig aussieht, wie verunglückt. Die Würmer bestehen aus Segmenten. Jedes Segment hat sein eigenes Mini-Hirn und machte ursprünglich, was es wollte. Jene Würmer, in denen Mutationen zu einer Vernetzung der Segmente führte, hatten Überlebensvorteile, weil sie sich koordinieren konnten. Der gleiche Vorgang, der zur Überwindung der Segmentgrenzen geführt hatte, überwand auch die Grenze zwischen den zusammengewachsenen Individuen, so daß aus den Dreien Eines geworden war. Obwohl das jahrhunderttausende vor ihrer Intelligenzentwicklung stattgefunden hatte, spielte dieser evolutionäre Schritt in ihrer Religion eine zentrale Rolle: Drei, die zu Einem werden. Das war ihnen ein Symbol für die Bindungskräfte der Gemeinschaft. Sie sind häßlich: von einer schmutzigen gelblich-weißen Farbe, mit pockiger, immer etwas schmierig aussehender Haut, und vereinzelten dicken schwarzen Haaren. Sie sind zwei bis drei Meter lang und beindick. An jedem Wurmende befinden sich ein Mund und mehrere Augen. Der Mund ist schnabelartig, so kann er gleichzeitig als Greifwerkzeug dienen. Die vier Extremitäten 2 können sich wie Finger zu einer "Hand" zusammen biegen, jeder "Finger" hat dabei mit dem Schnabel eine eigene Greifvorrichtung. Diese ganze Anlage hatte genug "Handwerklichkeit" ermöglicht, um solchen Hirnmutationen Überlebensvorteile zu verschaffen, die die handwerklichen Möglichkeiten besser nutzen konnten. Das führte zur Intelligenzevolution. Im Vergleich zu uns sind sie jedoch handwerklich stark eingeschränkt: Sie können z.B. nicht hämmern, höchstens klöppeln. Mit ihrer unvorteilhaften körperlichen Ausstattung war nicht nur die Intelligenzevolution schnell an Grenzen gekommen, sondern nach ihrer Intelligenzentwicklung hatten sie noch mehrere hunderttausend Jahre für die Anfänge einer technischen Zivilisation gebraucht. Für Vieles, was wir mühelos mit einigen Handgriffen bewerkstelligen, mußten sie erst primitive technische Vorrichtungen entwickeln, vor allem für die ersten Schritte zur Beherrschung des Feuers und der Metallverarbeitung. Da sie nicht atmen, funktioniert ihre Sprache nur über Klack- und Schnalzlaute. Allerdings ist sie sozusagen "polyphon" strukturiert: Sie bilden die Worte gleichzeitig mit jedem ihrer vier Schnäbel. Das Lautbild des Namens, den sie sich selbst geben, klingt für unsere Hör- und Auffassungsfähigkeit etwa wie: "KttK" (das letzte "K" betont). Aber das ist stark vereinfacht. Genau ließe er sich nur mittels einer musikalischen Partitur darstellen. Sie haben keine Waffen entwickelt, außer Katapulten, und die auch nur zur Abwehr von Freßfeinden. Ihre Spezies war mehrmals vom Aussterben bedroht gewesen: Die Dreiwürmer konnten nicht unter der Erde leben, über der Erde waren sie leichte Beute. Eine Unterart hatte eine Symbiose mit den "Riesenstelzen" entwickelt, Wesen, die visuell am ehesten an symmetrische Bäume erinnern, aber langsam umherwandern. In ihrem "Geäst" waren die Dreiwürmer vor den Raubtieren an der Oberfläche geschützt, nicht aber vor den "Ballon-Zünglern": Tieren, die Gase erzeugten, mit denen sie sich ballonartig aufblähten, durch die Gegend schwebten und sich mit Rückstoß steuerten. Ihren Termosensoren und Klebezungen entging kein Dreiwurm. Daher waren die evolutionären Nebenlinien, deren Intelligenz nicht zum Bau von Waffen reichte, ausgestorben. Sie sind schon deshalb keine kriegerische Lebensform, weil es bei ihnen keine Hierarchien von Binnen- und Außenmoral gibt. Es gibt keine Clans, keine Stämme, ja nicht einmal Paare, denn sie sind hermaphroditisch. Die große Bedrohung durch die Ballonzüngler hatte dazu geführt, daß nur jene Varianten überlebten, die nicht nur eine Tötungshemmung gegenüber Artgenossen entwickelt hatten, sondern auch das Bestreben, sich um jeden anderen Dreiwurm zu kümmern wie um sich selbst. Deshalb wissen sie auch nur zufällig, wer ihre Eltern sind. Die Kokons werden gemeinschaftlich gelegt und versorgt. Meist weiß niemand mehr, welches sein eigener war, das ist ihnen einfach egal. – Jene Unterarten, in denen Abstammungslinien miteinander konkurrierten, waren ausgestorben, sie hatten der Dezimierung durch Fressfeinde die durch die Konkurrenz untereinander hinzugefügt, und ihre Populationsdichte hatte schließlich eine kritische Grenze 3 unterschritten. Die KttK hatten unsere Sonne etwa vor 20 000 Jahren entdeckt. Damals waren sie einmal um die Erde herumgeflogen, hatten aber mit ihrer schlecht entwickelten Optik keine intelligenten Lebensformen entdecken können. Da sie unsere Luft nicht vertrugen und es ihnen sowieso zu kalt war, hatten sie keinen Versuch unternommen, unsere Erde zu kapern, sondern sich mit ihrem Refugium begnügt. Sie haben dort seit dem Aufbruch aus ihrem Sonnensystem, seit mehr als einer Million Jahren, alles, was sie brauchen, selbst üppig Platz, denn sie haben sich auf 4000 Individuen zusammengeschrumpft, gerade doppelt so viel, wie nötig, um zu überleben. Sie haben keinen Ehrgeiz, sich zu vermehren. Warum auch? Sie haben uns ganz zufällig entdeckt: Sie besitzen primitive Funkgeräte, die sie im Alltag nie brauchen, die nur zur Sicherheitsausrüstung gehören, damit sie in Notfällen schneller miteinander verbunden sein können. Bei den turnusmäßigen Prüfungen dieser Geräte hatten sie Radiowellen von uns empfangen, uns aber nicht an unserer Sprache sondern an unserer Musik erkannt: Sie hatten aus auffälligen, nie gehörten Regelmäßigkeiten erschließen können, daß es sich um ein nichtnatürliches Signal handeln mußte, um Emissionen einer intelligenten Lebensform. – Bilder hatten sie nicht empfangen können, sie hatten nur rätseln können, wie wir wohl aussähen. Aus Sicherheitsgründen haben wir unsere Entdeckung bis jetzt geheim gehalten. Wir wollten erst wissen, ob wir es mit einer Gefahr zu tun haben, und Spekulationen und Panik vermeiden. Die erste Vermutung war, daß sie uns etwas vormachen und gar nicht so primitiv sind, wie sie tun. Einige skeptische Militärs glauben das immer noch. Aber wir haben wirklich jeden Winkel ihres Raumschiffs inspiziert, jeden Stein, jeden Ast umgedreht, wir haben nicht den geringsten Hinweis darauf, daß uns etwas verborgen wurde. Die nächste große Sorge der Militärs war, daß sie neidisch auf unseren Lebensstandart und unsere Technik werden und aus Neid unsere Welt mit ihren Microben verseuchen könnten, gegen die bei uns kein Kraut gewachsen ist. Wir wurden dabei zusätzlich dadurch verunsichert, daß uns unklar blieb, woraus sie ihre Lebensfreude beziehen: Ihr Körper ist als Lustquelle weit geringer ausgestattet als unserer. Liebe gibt es nur in Form einer einmal jährlichen kurzen und heftigen Kopulation. Soetwas wie kuscheln kennen sie nicht. Selbst die Nahrungsaufnahme wirkt wenig genießerisch: sie schlingen ihre Beute die Parasiten der Riesenstelzen - einfach herunter. Aus diesen Gründen wurde ein Fond geschaffen, der die KttK mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten versorgen sollte: Wir entwickelten Computer für ihr Intelligenzniveau, wir boten ihnen an, ihre Raumstation zu vergrößern, wir boten ihnen an, die nützlichsten Maschinen, extra für ihre Zwecke zu ersinnen. Doch das einzige, was sie annahmen, waren elektronische Filter, mit denen sie unsere Musik auf rhythmische Impulse reduzieren können. Das finden sie lustig, weil sie es als eine dadaistische Nonsense-Sprache erleben, etwa wie wir Worte wie "Kataplü". Am liebsten 4 hören sie Strawinsky. Alle anderen Angebote halten sie schlichtweg für sinnlos. Die Verrichtungen ihrer täglichen Lebensvollzüge von Maschinen übernehmen zu lassen, erscheint ihnen so absurd wie uns die Vorstellung, uns morgens von einer Maschine das Hemd knöpfen und das Brot schmieren zu lassen. Sie glaubten uns übrigens nicht, daß wir elektrische Zahnbürsten haben, sie hielten das für einen Witz. Als wir ihnen eine vorführten, platzten sie fast vor Lachen. – Von Lachen kann bei ihnen natürlich nur im übertragenen Sinne die Rede sein, weil sie nicht atmen. "Lachen" zeigt sich bei ihnen in einem konvulsischen Verdrillen ihrer Extremitäten. Im Falle der Zahnbürst-Maschinen war das so heftig, daß wir fürchteten, sie würden sich zerreißen. Sie sind übrigens sehr dankbar für die Musikfilter. Selbst jemandem der sie zum ersten Mal gesehen hätte, wäre ihre Erregung nicht verborgen geblieben: sie freuten sich wie Kinder. Sie waren sehr beflissen darin, uns etwas zurück zu geben, sie zeigten uns bereitwillig alles, was sie haben und können, aber es war beim besten Willen nichts dabei, nicht das Geringste, was wir nicht schon besser haben und können. Da wurden sie richtig traurig, daß sie uns nichts Gutes tun konnten und erheiterten erst wieder, als wir ihnen sagten, daß es für uns ein weit bedeutenderes Geschenk wäre, als unsere Filter für sie, wenn sie uns erlaubten, sie zu erforschen. Sie willigten sofort freudig ein. Ich glaube, sie haben nicht wirklich verstanden, was das bedeutete. Sie hielten es wohl eher für ein Spiel. Aber Spiele haben bei ihnen nunmal einen hohen Wert. Wir dachten, daß wir wenigstens kulturell von ihnen profitieren könnten. Doch die Philosophen und Soziologen wandten sich schnell enttäuscht von ihnen ab: Ihre Reflexionen auf das Dasein und die Existenz gehen nicht über das Niveau 8-jähriger Menschenkinder hinaus. Und daß sie keine Kriege führen und untereinander nicht gewaltsam sind, hat weder mit der Ausbildung besonders leistungsfähiger Institutionen der Konfliktlösung zu tun noch mit einer besondern Moralität, es ist keine kulturelle Leistung, von der wir etwas lernen können, es liegt einfach in ihrer Biologie. – Sie haben nichts, nicht das geringste, das uns in irgendeiner Form weiterbringt, keine Erfindungen, keine Erkenntnisse, keine Weisheiten. Bis heute können sich führende Militärs nicht mit der Vorstellung anfreunden, daß da droben Außerirdische leben. Immer wieder wird der Vorschlag gemacht, was denn dabei sei, einfach eine Atomrakete drauf zu schießen. Das ginge doch ganz schnell, die würden gar nichts spüren. Denn wir wüßten ja schließlich nicht, was in deren Wurmhirnen vorginge, und was die vielleicht irgendwann mal auf uns schießen würden. Die Militärs waren erst beruhigt, als ihnen die Aufstellung einer speziellen Abteilung zugesichert wurde, die mit Satelliten jeden Quadratmilimeter der Raumstation überwacht, ob irgendetwas sie verläßt. Heimlich zweigten wir von den Kttk und allen Lebensformen ihres Biotops genetisches Material ab. So sehr ich auch protestierte: ich konnte mich nicht gegen die Funktionäre aus Militär und 5 Wirtschaft durchsetzen. Vor allem die Militärs betonten: daß es ein Gebot der Sicherheit sei, alle genetischen Elemente von ihnen zu kennen, für den Fall, daß sie doch was auf die Erde schießen würden. Und die Wirtschaftsfunktionäre betonten, es ließen sich vielleicht Medikamente daraus herstellen für unheilbare Krankheiten. So wanderten die gesammelten Lebensbausteine jener fremden Welt in geheime Labore von Militär und Industrie. Selbst wenn sie wollten: sie können sich gar nicht weiterentwickeln! Sie sind am äußersten Ende ihrer Entwicklung angelangt, schon seit mehreren Millionen Jahren, mehr geht nicht. So leben sie zwischen Erde und Venus still vor sich hin. Sie sind für nichts gut. Sie sind einfach bloß da und freuen sich des Lebens. Nachtrag. Die Veröffentlichung meiner Nachricht über die Aliens, die Sie gerade gelesen haben, wurde im Zuge neuer Sicherheitsmaßnahmen unterdrückt. – Ich habe sie entdeckt und ich fühle mich für sie verantwortlich. Deshalb werde ich zum Whistleblower. Mein Gewissen läßt mich einfach nicht in Ruhe. Die Verantwortlichen der Erde waren einhellig zu der Überzeugung gekommen, aus Sicherheitsgründen die KttK nicht in unserem Sonnensystem zu dulden. – Nachdem eine Komission die Ausweisung der KttK aus unserem Sonnensystem als zu unsicher befunden hatte (es wär ja nicht auszuschließen, daß sie sich aus Rache wieder zurückstehlen und etwas auf uns schießen würden), hatten die Militärs den Antrag gestellt, die KttK vernichten zu dürfen, zu "nihilisieren", wie sie sich ausdrückten. Die wissenschaftlichen Expertisen über Intelligenz und Bewußtsein der KttK wurden einem internationalen geheimen Sicherheitsgerichtshof vorgelegt, der anläßlich der Fragen, die das Auftauchen der KttK aufwarf, extra gegründet worden war, für die weltraumrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der nicht mehr ausschließbaren Möglichkeit illegaler Einreise extraterrestrischer Lebewesen in unser Sonnensystem. Gegen die Tötung der KttK wurde angeführt, es sei gleichbedeutend mit der Tötung geistig Behinderter. Diesem Argument schloß sich das Gericht nicht an. Vielmehr unterschieden die Richter humanoide Intelligenzminderung von extraterrestrischer Intelligenzminderung: Zwischen Menschen bestünden, auch bei Intelligenzminderung, immer Bindungen, für die Intelligenz nur bedingt relevant sei: Eltern würden ihre behinderten Kinder schließlich nicht weniger lieben als ihre nichtbehinderten. Solche Bindungen zu zerstören sei zutiefst inhuman, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. – Doch bei den KttK sei nicht nur der Fall, daß sie aufgrund ihres Intelligenzmangels nicht in der Lage seien, mit uns Beziehungen aufzubauen, die zu irgendetwas führten. Sie könnten nichts mit uns anfangen und wir nichts mit ihnen. Darüberhinaus seien aber auch andere Ebenen der Beziehung und Bindung - wie z.B. die emotionale unter Menschen 6 aufgrund ihrer Nicht-Menschlichkeit nicht möglich. Daher würde durch ihre Nihilisierung auch keine menschliche Bindung zerstört, keine menschliche Liebesregung verletzt, die Menschenliebe nicht untergraben und zersetzt. Aus diesem Grunde sei es auch kein Verbrechen gegen Liebe und Menschlichkeit, sie zu nihilisieren (sprich: abzuschießen). Natürlich dürfe man nicht einfach so eine fremde Spezies abschießen. Aber in diesem Fall wiege die Verantwortung für die Sicherheit der menschlichen Spezies einfach schwerer. Schließlich könnte es sein, daß auch nur ein einziger feindlicher Akt der Kttk alles höhere Leben auf der Erde auslöschen würde. Und die KttK seien dann nicht einmal in der Lage, mit unserem Planeten etwas anzufangen. – Wenn man dies ins Verhältnis setze: ein Planet, der intelligentes Leben gestatte, werde dieser Möglichkeit beraubt wegen ein paar Würmern, die in einem Blechverschlag nicht viel größer als London zwischen Venus und Erde hängen – wenn man dies ins Verhältnis setze, würde das Mißverhältnis zwischen dem Recht auf Leben für diese Außerirdischen, die das Ende ihrer Entwicklung längst erreicht hätten, und dem Recht auf freie Entfaltung eines ganzen Planeten offenbar. Der Schutz des Planeten gebiete daher, einer Veränderung der Haltung der Außerirdischen vorzubeugen. Ein Wegschleppen ihrer Raumstation sei dabei aus den angeführten Gründen nicht ausreichend. Diese Situation gebe dem Begehren einer Nihilisation, so problematisch dieses Mittel ohne Frage sei, bereits beträchtliches rechtliches Gewicht. Ausschlaggebend für das Gericht sei jedoch, daß die gewichtigen Gegengründe entkräftet werden könnten: Den KttK selbst gehe nichts verloren, weil sie längst am Ende ihrer Entwicklung angekommen seien: Es sei ihnen kein neues Niveau der Selbst- und Seinserkenntnis möglich, es gebe nichts, was sie noch nicht erlebt hätten, es gebe nichts, was sie noch erreichen könnten, die Nihilisation raube ihnen keine Chance. Die Nihilisation sei außerdem insofern legitim, weil wir ja die genetischen Informationen der Außerirdischen gerettet hätten, auch dem Universum gehe also nichts verloren von dem, was es hervorgebracht habe. Es gebe lediglich zur Zeit keine lebendigen Exemplare zu bestimmten genetischen Codes. Für die Nihilisation spreche schließlich auch, daß sie so bewerkstelligt werden könne, daß die KttK nichts davon mitkriegen würden: keinen Schrecken, keine Schmerzen, keine Todesnot. Sie würden nicht leiden, sie wären plötzlich einfach weg. Trotz heftigster Proteste der maßgeblichen beteiligten Wissenschaftler und Philosophen wurde am 01.12.2013 eine Atomrakete gestartet, die die außerirdische Zivilisation vernichtete. 7 Die Zivilisatoren Bericht von Opa Artur für seine Enkel, Berlin den 25.08.2097 1 Sie waren nicht halb so überrascht wie wir, als sie uns entdeckten, aber sie fanden das nicht aufregend sondern bloß nervig, und versuchten, das Beste draus zu machen. Ganz sang und klang los hatten sie sich über alle elektronischen Medien gleichzeitig gemeldet, um uns vor vollendete Tatsachen zu stellen, an einem Dienstag um zehn nach Eins. Selbst die hochrangigsten Politiker erfuhren es nur aus dem Fernsehen. Empfänge mit den maßgebenden Staaten- und Wirtschaftslenkern, Wissenschaftlern und Geistesgrößen lehnten sie gelangweilt ab. An irgendwelche Verhandlungen war gar nicht zu denken. Innerhalb von 24 Stunden hatten sich die Lebensumstände der Menschheit völlig verändert. Dabei waren sie nur auf der Suche nach einem Leckerbissen gewesen! Ihre Langstreckenskanner hatten alle Lebensformen der Erde auf ihre Schmackhaftigkeit untersucht und nur darauf, es hatte gar nicht auffallen können, daß eine dieser Lebensformen - wir nämlich - intelligent war. Glücklicherweise schmeckten wir ihnen nicht. Sie hatten es nur auf Hähnchenküken abgesehen. Komischerweise ausgerechnet Hähnchenküken. Auch die Radiowellen, die wir unabsichtlich ständig in den Weltraum emittieren, waren ihnen nicht aufgefallen. Da ihre Lebensvollzüge 6,223 mal schneller als unsere ablaufen, hätten sie ohne gezielte Aufmerksamkeit keine nicht-natürlichen Emissionen bemerken können. Sie hatten erst, als sie Sichtkontakt bekamen, gesehen, was auf der Erde los war. - Daß es dort eine intelligente Lebensform gab, war für sie genauso lästig, wie für einen Straßenplaner, wenn sich herausstellt, daß die Trasse mitten durch die Laichgründe einer seltenen Krötenart führt. Sie nannten sich "die Marla" und waren eine sehr alte Lebensform, vermutlich eine der ersten Intelligenzen im Universum. "Marla" heißt übersetzt "Klughirn". Sie nannten jede intelligente Lebensform "Marla", aber unter Hinzufügung eines Suffixes und eines Indexes. Wir hießen: "Marlaprött IIIc", das heißt soviel wie: Krüppelklughirn drittletzten Ranges mit wenig Entwicklungspotential. Selbst die Analyse von Beethovensinfonieen und Bachfugen hatte die Marla nicht begeistern können. Sie hatten nur müde konstatiert, daß diese Artefakte Anzeichen einer gewissen, schwach bis mäßig ausgeprägten Intelligenz erkennen ließen. - Der einzige Mensch, den sie ernstgenommen hätten, wäre Kant gewesen. Sein Hinweis, daß die von ihm aus der Struktur der Vernunft abgeleiteten ethischen Prinzipien Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen hätten, hatte sie erstaunt. Sie verstanden das förmlich als eine Anspielung auf ihre Existenz und sie wären geneigt 8 gewesen, Kant für einen hellsichtigen Mutanten zu halten, hätten sie nicht gewußt, daß Hellsehen nicht möglich ist. Jedes Individuum der Marla hatte eine Lebensspanne von etwa 300 Erdenjahren. Aber da sie mehr als sechsmal so schnell wie wir dachten, stand ihnen zur geistigen Entwicklung ein Zeitraum zur Verfügung, der für Menschen 2000 Erdenjahre entsprach! - Kein Wunder, daß unsere größten Genies als Gesprächspartner für sie genauso uninteressant waren, wie für einen Quantenphysiker ein Schulkind, das gerade die vier Grundrechenarten beherrscht. Evolutionär war ihre Spezies aus Gemeinschaften röhrenartiger Weichtiere hervorgegangen, die kugelförmig zusammengewachsen waren, zu einem Wesen mit fließender Verformbarkeit, ähnlich unserer Kraken. Eine Mutationslinie hatte zu neuronalen Arbeitsteilungen zwischen den Segmenten geführt, die die Multiindividualität immer weiter reduzierten und schließlich zu einem vereinten hochkomplexen Nervensystem zusammenwuchsen. Gleichzeitig entstand eine Symbiose zwischen den mittlerweile 3 Meter Durchmesser betragenden Kugeltieren und einer Spinnen- oder Krebsartigen Tierart. Die Spinnenkrebse hatten sich ursprünglich an die äußeren Röhren nur festgekrallt, bis eine evolutionäre Linie begann, mit den Röhren zu verwachsen. In der weiteren Evolution drangen über diese Verwachsung Nerven der Röhrentiere in die Spinnenkrebse, so daß sie über das Röhrentier gesteuert wurden. Mit dieser Symbiose verfügte das Röhrentier über die Voraussetzungen, die Urmeere zu verlassen und sich an Land weiterzuentwickeln - ein fließend verformbares Kugelwesen mit über hundert sehenden Werkzeughandfüßen. Die dadurch ermöglichte "Handwerklichkeit" ("Operationalität") wirkte auf die Hirnentwicklung zurück und brachte schließlich Intelligenz hervor. Die Nachkommen der Marla wuchsen zunächst ohne Symbionten auf und wurden ab einem bestimmten Alter mit Ablegern der Symbionten bestückt. - Das war eines der größten Feste im Leben einer Marla: wenn sie ihre Symbionten bekam! 2 Doch, was ich eigentlich berichten wollte: Sie waren eine Händlerkultur. Und plötzlich total versessen auf Hähnchenküken. - Und sie fanden, daß wir Menschen uns keinen besonders sinnvollen und produktiven Tätigkeiten widmeten. Sie fanden, daß wir vernünftigere Dinge tun sollten, statt mit primitiven Rechenarten herumzuspielen, uns geschäftlich gegenseitig übers Ohr zu hauen oder gar den Schädel einzuschlagen. Wir sollten uns lieber intergalaktisch nützlich machen, gemäß unseren Befähigungen. Sie wollten eine win-win-Situation herstellen, von der sie glaubten, daß das für uns eine ganz große Chance sei. Aus ihrer Sicht wollten sie nur unser Bestes: uns die Möglichkeit verschaffen, intergalaktisch gültige Devisen zu verdienen, damit wir uns die Mittel für ein würdiges 9 Leben verschaffen könnten. - Denn wenn sie uns auch nicht für sehr intelligent befanden: wir gehörten zur Kategorie der Marla, zu den intelligenten Lebensformen! Das erkannten sie nicht nur an, sondern sie forderten auch, daß wir wie eine solche leben sollten, Pröttung hin oder her. Und ein Leben ohne "Intentiomatisierung" galt ihnen für Intelligenzen als entwürdigend. “Intentiomatisierung" bedeutete: das sämtliche unangenehmen und unwillkommenen Tätigkeiten - sämtliche! - von Maschinen übernommen wurden, die aufgrund von Datenauswertung aus dem menschlichen Verhalten automatisch Intentionen erschlossen und bedienten, damit die Intelligenzen alle Zeit zur Vermehrung des Geldes zur Verfügung hatten, oder - falls es mal keine Geldvermehrungsmöglichkeit gab - zur Beschäftigung mit allem, was lustvoll und faszinierend war. Es gab selbst Maschinen zum Entwerfen von Maschinen, so daß man nur ein Problem zu nennen brauchte und binnen kurzem eine maschinelle Lösung bekam. Die einzige "Pflichttätigkeit" bestand nur noch darin, zu lernen, die Maschinen zu verstehen, das wollten die Marla sich nicht aus der Hand nehmen lassen und auch nicht an eine Kaste von Ingenieuren delegieren, denn darin hätten sie eine Gefährdung ihrer Demokratie gesehen. Über Nacht war die Welt intentiomatisiert und die Menschheit bei den Marla hochverschuldet. Wir Männer mußten die Schulden abarbeiten. Doch wie hätten wir uns nützlich machen sollen? Alles, was wir konnten, konnten sie selber weit billiger und besser als wir, selbst wenn wir unentgeltlich gearbeitet hätten. - Die Marla fanden schließlich wenigstens eine Beschäftigungsidee für uns Männer. - Sie befanden, daß die Männer sowieso bloß biologisch outgesourcte Funktionen hatten, ähnlich wie Maschinen, deshalb durften sie bei ausreichender Intentiomatisierung den Frauen auch weggenommen werden. Die Aufgabe, die sie für uns ersonnen hatten, war: Wir sollten Werbung machen für Hähnchenküken, in allen bekannten Galaxien. - Alle männlichen Menschen ab dem 6. bis zum 60zigsten Lebensjahr wurden in dottergelbe flauschige Kapuzenoveralls gesteckt, nur das Gesicht blieb frei. Die Kükenkostüme waren bauchig ausgestopft, die Flügelchen am Oberarm weit, die Beine eng eingeschnürt. Kurz: Die athletischen Männer hatten, was das Aussehen anbetraf, die größten Nachteile: nichts, aber auch gar nichts von ihrer ausgeprägt maskulinen Gestalt kam zur Geltung. Wir sahen alle gleich lächerlich aus. Und man wußte nicht: was wirkte niederschmetternder: Wenn ein markantes geistvoll-maskulines Gesicht aus diesem Kokon hervor blickte oder ein grobes, ungeschlachtes, primitives - wenn also ein Widerspruch zwischen Gestalt und Gesicht entstand oder sich die Geistlosigkeiten beider potenzierten. - Eine größere Verteilungsgerechtigkeit bezüglich körperlicher Gegebenheiten hat es in der Geschichte der Menschheit wohl nie gegeben. Unsere Arbeit bestand darin: Wir mußten 16 Stunden lang an irgendwelchen Ecken 10 intergalaktischer Einkaufzentren herumstehen und in festgesetzten Intervallen stolzieren, tanzen und krähen. Verweigerung wurde mit Lohnkürzung bestraft. Das bedeutete nicht nur: den Schuldendienst der Menschheit zu verlängern, sondern auch: hungern zu müssen, nur ein wenig zwar, daß es nicht schadete, aber genug, um sich ständig unbehaglich zu fühlen. Anfangs wurden die Verweigerer von den andern Männern bewundert und selbstverständlich mit durchgefüttert. Doch im Laufe der Zeit fanden es immer mehr Nicht-Verweigerer ungerecht, dafür auf zu kommen, daß die Verweigerer sich wie Helden fühlen durften. Die 16 Stunden Arbeitszeit schienen den Marla gerechtfertigt, weil sie davon ausgingen, daß diese "Arbeit" für eine so wenig intelligente Lebensform wie uns, keine wirkliche Arbeit sei, sondern Spiel und Clownerei, und uns doch bestimmt Spaß mache. Doch wie man auch immer diese Tätigkeit erlebte: Keinem gelang es, in den wenigen Freizeitstunden noch lange die Augen offen zu halten. Kulturelle und geistige Aktivitäten waren selbst den Leistungsfähigsten kaum noch möglich. Auch bei denen waren Intelligenz, Erlebnisfähigkeit und Kreativität wegen der Chronifizierung von Schlafmangel und Erschöpfung so stark beeinträchtigt, daß ihr Schaffen und ihre Entwicklung fast ganz zum Erliegen kamen. Es bestand auch keine Aussicht auf Freiheit im Rentenalter: Wir wurden mit high-tech Nahrung ernährt, die den Alterungsprozess ab dem 25. Lebensjahr um 80% verlangsamte. Unsere Lebenserwartung verlängerte sich dadurch allerdings kaum. So blieben wir arbeitsfähig bis ins höchste Greisenalter. - Nur die Männer, die bei Ankunft der Marla älter als 55 waren, hatten das Glück, daß sie das Ende ihrer Arbeitsfähigkeit noch bei lebendigem Leibe erlebten. Denn ab den Altersmerkmalen des 60zigsten Lebensjahres fanden die Marla uns nicht mehr werbewirksam. Aber bei dem nahrungsinduzierten Schneckentempo des Alterns musste selbst ein 55 jähriger noch 25 Jahre arbeiten, bis er wie ein 60zig jähriger wirkte. Übrigens handelte es sich um Flüssignahrung: ein paar Schluck zwischendurch reichten schon, um so satt zu werden, daß Überernährung nicht möglich war. Wichtiger für die Marla war jedoch, daß sie der Ansicht waren, für ein Kulturwesen sei es unwürdig, wie Tiere Blätter, Früchte, Samen oder Fleisch zu essen. Und das sahen sie durch die unbestreitbaren Nachteile einer niedrigkultivierten Ernährung eindeutig erwiesen: Neigung zur Überfütterung, natürlicher Alterungsprozess, bedeutender Zeitverlust. Mein Vater war bestrebt, wenigstens mit bedeutenden Menschen zusammen in einer Kükenkolonne zu dienen. So sah ich den berühmten jungen Pianisten A., Liebling der Frauen, den Philosophieprofessor M., der knapp über 50 gerade an seinem Opus Magnum arbeitete, einen Verteidigungsminister eines nicht unbedeutenden Landes, der bis vor kurzem noch als imposanter schneidiger General in den Medien mit seinen kühnen politischen Thesen für Aufsehen gesorgt hatte, den tonangebenden Schriftsteller B., mehrere bedeutende Physiker, einen Intendanten und 11 etliche bekannte Schauspieler, die ihre Maskulinität professionell gepflegt hatten. Sie alle liefen nun in diesen unförmigen lächerlichen Kostümen herum, um von Zeit zu Zeit zu stolzieren, zu tanzen, zu krähen. Keinem von ihnen gelang es, wenigstens zu Anfang die Sache mit Humor zu nehmen. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen, zumal wir aus anderen Kolonnen wußten, daß selbst den Humorvollsten der Humor nach einiger Zeit vergangen war. Am meisten Würde zeigte noch der General, dessen Ernst bis zum Schluß von der gespannten Wachheit eines Kriegers gezeichnet war, der auf jeden Umstand aufmerksam ist und alles registriert, was ihm im Kampf gegen den Gegner nützen könnte. - Die andern waren regelrecht verstört. Und das um so mehr, je deutlicher sich abzeichnete, daß ihnen die Lebensumstände nie wieder Zeit noch Kraft lassen würden, sich mit ihren ehemaligen Berufen zu beschäftigen. 3 Die Marla hatten ein System von Wurmlöchern geschaffen, so etwas wie eine intergalaktische UBahn. Die Reise zur nächsten Wurmlochstation betrug meist weit länger, als die Reise von einem Wurmlochende zum anderen. Oft mußte man die Wurmlöcher wechseln und die Entfernung zwischen zwei Wurmlöchern wieder mühselig mit Lichtgeschwindigkeit zurücklegen. Das fühlte sich an, wie Schienersatzverkehr mit Bussen. - Die Erde war weit ab vom Schuß, wir galten als Hinterwäldler: bis zum nächsten Wurmloch war man 3 Monate unterwegs! Für unsere entferntesten Einsatzorte mußten wir wegen der leidigen Umsteigerei über 2 Jahre reisen! - Weil wir alle Anrecht auf Erdurlaub hatten, gab es eine ständige Rotation der Einsatzorte, und jeweils die Kollegen des erdnächsten Einsatzortes konnten sich auf baldigen Urlaub freuen - alle 6 Jahre einen Monat. Damit es stetigen Nachwuchs gab, wurden Spermienkonserven angelegt. Übrigens fanden die Marla es etwas furchtbar Umständliches und Aufwändiges, wegen der Kombination von Genen Sexualität entwickelt zu haben, mit der Konsequenz, daß nur die Hälfte einer Spezies Nachkommen produzieren konnte. Schon allein deshalb konnten sie die Männer nicht recht ernst nehmen. - Allerdings gab ihnen der Einwand eines berliner Baggerführers zu denken: "Wat is denn daran nu wenija umständlich und uffwändich, wenn man statt die Hände Spinnen festjewachsen hat?" Sie sahen außerdem ein, daß es nicht artgerecht sei, uns bis zu unserem Urlaub auf Sexualität verzichten zu lassen. Deshalb bekamen Männer wie Frauen naturgetreue Puppen. Die mussten wir natürlich extra bezahlen, und sie waren nicht billig, denn sie waren so aufwändig gemacht, daß man sie nicht nur optisch mit lebendigen Menschen verwechseln konnte. Und alle Menschen ab dem 16. Lebensjahr, männlich wie weiblich, mussten eine solche Puppe kaufen. Die intergalaktische Lobby der Medizinproduktehersteller hatte medizinische Gutachten in Auftrag gegeben, die erwiesen, daß der Puppensex gesund für Männer wie Frauen sei, und daß wir ohne ihn auf Dauer krank und zum 12 Kostenfaktor würden. Und damit keiner aus Geiz seine Gesundheit vernachlässige, hatten sie die Einführung einer Puppenpflicht erwirken können. Die Befürchtung der Puppenlobby, daß Geizkrägen lieber auf Sex verzichten als eine Puppe kaufen wollten, war nur allzu berechtigt, da die Puppen als Medizinprodukt besonderen Preisgestaltungsmöglichkeiten unterlagen, auf deren Ausreizung natürlich kein vernünftiger Produzent verzichtete. Als die Homosexuellen gegen die Puppenpflicht protestierten, sahen die Marla ihren Protest im Prinzip als gerechtfertigt an, und billigten ihnen zu, sie von der Puppenpflicht zu befreien, wenn sie ihre Homosexualität objektiv, d.h. hirnphysiologisch nachweisen könnten. Denn sonst könne ja jeder behaupten homosexuell zu sein und sich damit vor der Puppenpflicht drücken. Die Marla versprachen, auf Verlangen die für den Nachweis erforderlichen Diagnoseinstrumente schleunigst zu bauen, die Homosexuellen müßten sie aber bezahlen. Einen weiteren Kredit könnte man ihnen dafür jedoch nicht gewähren. - Da solche Geräte sehr teuer waren, und wir nach Abzahlen unserer Raten kaum noch Geld übrig hatten, hätte die Gesamtheit der Homosexuellen 100 Jahre sparen müssen, um eine flächendeckende Diagnostik zu ermöglichen. 4 Unsere Einwände, wie wichtig für uns das Schaffen von Musik, Literatur, die Pflege der Wissenschaften usw. sei, fanden sie genauso wenig stichhaltig, wie wir die Argumente von Heranwachsenden, daß ihre Lieblingsbeschäftigungen wichtiger seien als Schule und Hausaufgaben. - Ernster nahmen sie schon unseren Einwand bezüglich der Sexualität: Wir hatten sie darüber aufgeklärt, daß Erotik nur ein Aspekt von Partnerschaft, ja, selbst von körperlicher Nähe sei, und außerdem eine ganzheitliche personale Begegnung: ohne die Anerkennung, die aus gegenseitiger persönlicher und erotischer Faszination resultiere, sei sexuelle Betätigung höchstens ein billiger Spaß, und bleibe in jedem Fall unbefriedigend. - Jedoch die Marla betonten: Da sie Sexualität nicht nachvollziehen könnten, könnten sie auch nicht wissen, ob wir ihnen nicht bloß etwas vormachen würden, um uns vor der Puppenpflicht zu drücken. Auf der Erde florierten Kultur und Wissenschaften: Alle Frauen waren bereits nach 12 Jahren optimal gebildet, weil ihnen alle für den Lebensunterhalt und die Haushaltsführung nötige Tätigkeit von den Maschinen abgenommen wurde. Und da es für sie keine Möglichkeit gab, Geld zu verdienen, konnten sie sich voll und ganz der Kultur und den Wissenschaften widmen. - Es zeigte sich übrigens, daß selbst die ungebildetsten Frauen nach einiger Zeit die Bildung der Unterhaltung vorzogen: wenn sie einmal auf den Geschmack gekommen waren, fanden sie Bildung einfach spannender und waren empört, was ihnen bisher vorenthalten worden war. Jetzt erst fiel auf, daß schon die Gaußsche Normalverteilungskurve uns darüber hätte in Kenntnis setzen können, daß mindestens 85 % der Menschen intelligent genug für Bildung sind. 13 Viele Männer, die aufgrund der Klassenunterschiede keine Chance gehabt hatten, sich geistig und intellektuell ihren Potentialen gemäß zu entwickeln, fanden das Exil gar nicht mal so übel: Sie hatten sowieso keine Perspektive gehabt, waren arm und arbeitslos gewesen oder hatten unter monotonen, unterfordernden, entnervenden und unkreativen Arbeiten gelitten. Jetzt hatten sie eine Arbeit, über die sie wenigstens lachen und bei der sie herumblödeln konnten. Und sie hatten eine lebensechte erwärmbare Gummipartnerin mit Moddelmaßen: An Frauen, die so aussahen, hätten die meisten nicht im Traum zu denken gewagt, zumal an solche, die nicht quatschten, nicht zickten und keine Ansprüche stellten, und die man einfach tauschen konnte, wenn sie langweilig wurden. Doch für jene Männer, die anspruchsvolle, herausfordernde, qualifizierte und hochqualifizierte Tätigkeiten innegehabt und viel Verantwortung getragen hatten, war die neue Tätigkeit eine Hölle. Viele Berufe wären allerdings sowieso völlig überflüssig geworden: Ärzte und Ingenieure wurden durch Maschinen ersetzt, die die Arbeit weit effektiver erledigten, als es menschliche Kunstfertigkeit je zuwege bringen könnte. Selbst die Psychotherapeuten wurden unnötig: Mit Hilfe des marlaschen Gesundheitsdienstes wurden in kürzester Zeit Computerspiele entwickelt, mit denen sich nachweislich Ängste, Depressionen und Süchte weit effektiver behandeln ließen, als durch humanbasierte Psychotherapie. Wegen der Arbeitszeiten schafften es aber auch die Wissenschaftler, Philosophen und Künstler, selbst die professionellsten und leistungsfähigsten unter ihnen, nicht mehr, bedeutende Leistungen in ihren alten Berufen zu erbringen. Sie hinkten dem Niveau der Frauen immer hinterher. Aber noch weit schlimmer war die Situation für die nachwachsende Generation begabter und leistungsfähiger Männer: Selbst die hochbegabtesten Jungen hatten keine Chance, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Wir müssen davon ausgehen, daß der Menschheit einige Mozarts und Goethes dadurch verloren gegangen sind. Sicher: dafür haben wir jetzt mehr bedeutende geniale Frauen als früher. Aber für die jungen Männer war die Situation noch weit furchtbarer als für ihre Väter: Gegenüber dem, was die Frauen auf der Erde schufen, war alles, was sie leisten konnten reiner Dilletantismus. Selbst die größten Genies konnten nicht viel aus ihrer Begabung machen und ihre Werke blieben selbst hinter denen durchschnittlicher aber professioneller Künstlerinnen, Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen so weit zurück, daß sie einfach unnötig waren. 5 Natürlich hatten die Marla uns über unsere Rechte informiert, denn auf ihr Recht waren sie fast noch stolzer als auf ihre Technik, und selbstverständlich hatten wir gegen ihre Maßnahmen ein Widerspruchsrecht. Das nutzten wir auch: wir machten geltend, daß wir freiwillig keine Maschinen von ihnen gekauft hätten und schon gar nicht auf Kredit, zumal wenn das für die Hälfte der Menschheit einen sklavenartigen Schuldendienst nach sich ziehe. Wir argumentierten, daß 14 Zwangsarbeit für Menschen entwürdigend sei, zumal so alberne. Diese Einwände wurden von der Widerspruchsstelle dem Prinzip nach anerkannt und es wurde uns zugestanden, eine einstweilige Verfügung zu beantragen. Das änderte aber nichts daran, daß die Maßnahmen erst mal vollzogen wurden. Denn, so argumentierte ihr Justiziar, es sei zu unwahrscheinlich, daß unsere Ansprüche Erfolg haben könnten. Weit naheliegender sei, daß wir völlig illusioniert darüber seien, was gut, artgerecht und angemessen für uns sei und unserer Würde entspreche. Wir seien wir zwar nicht prinzipiell zu unintelligent dafür, zu erkennen, was unsere Würde erfordere und was intergalaktisch angemessene Ansprüche unserer Spezies seien, aber zivilisatorisch noch nicht fortgeschritten genug, es fehle noch das letzte Lernniveau und der entscheidende Reflexionsschritt: uns mit intergalaktischem Abstand betrachten zu können. - Zudem könne es niemals unwürdig sein, die Bedingungen eines marlawürdigen Lebens selbst zu verdienen. Würde habe schließlich nichts damit zu tun, wieviel Glück man faktisch erlebe und Glück ohne Würde sei weit katastrophaler für die Lebensbilanz als Würde ohne Glück. Das wüßten wir seit Kant doch ganz genau. - Und es gehe auch nicht, uns als Marla-Spezies so lange in Unwürde dahinvegetieren zu lassen, bis wir das Geld für die Intentiomatisierung zusammen hätten. Außerdem sei der Schuldendienst um so vertretbarer, weil die Menschheit aus zwei Teilen bestehe, deren einer offenbar ohnehin nur Appendixfunktion habe und sein Leben mit fragwürdigen Tätigkeiten hinbringe: völlig unnötige Kriege zu führen und ebenso schäbige wie häßliche Geschäfte auszubrüten und ins Werk zu setzen. Aus all diesen Gründen könnten unsere Einwände ohne eine gerichtliche Überprüfung nicht anerkannt werden. - Ihren Abscheu vor unseren Geschäften verstanden die Marla übrigens wörtlich: Sie hatten schon vom Weltraum aus gesehen, wie wir die Landschaften der Erde vernutzen, verschmutzen, verunstalteten und zerstörten, und über unsere Städte und die Baulichkeiten, mit denen wir die Erde zupflasterten, waren sie nur entsetzt. Nichts konnte ihnen ein sinnfälligerer Beleg für die Rückständigkeit, ja Entgleisung unserer Zivilisation sein. Die Mehrheit der Menschheit war sich einig, das Recht auf einstweilige Verfügung zu nutzen. Nur war das sehr Zeit aufwändig, vor allem wegen der langen Kommunikationswege: Die Marla hatten uns 2018 entdeckt. Das Verfahren zur Feststellung der Rechtmäßigkeit des Widerspruchs hatte bereits 2 Jahre gedauert. Für die einstweilige Verfügung mußte unsere Einigkeit erstmal formal korrekt zum Ausdruck kommen. Dafür brauchten wir Abstimmungen. Bis das organisiert und durchgeführt war, waren weitere 4 Jahre vergangen. Erst mit dem Mehrheitsbescheid hatten wir die Voraussetzung erworben, einen Termin beantragen zu dürfen bei der intergalaktischen Rechtsbehörde, die die für uns zuständige Spruchkammer ermittelte. Diesen Termin bekamen wir erst Mitte des folgenden Jahres. Da auch hier wieder die Kommunikationswege Monate dauerten, empfingen wir den Zuständigkeitsbescheid erst im Juli 15 2026. Zuständig für Fragen der Marla-Grundrechte - denn auch für Marlaprött galten die Marlagrundrechte - war der höchste Gerichtshof, denn die Marla-Würde konnte natürlich nur Gegenstand des höchsten Gerichtes sein. Dieser Gerichtshof befand sich - wie könnte es für einen höchsten Gerichtshof anders sein - auf dem Heimatplaneten der Marla. Allein der Kommunikationsweg betrug anderthalb Jahre. - Wir waren nicht die einzige Spezies, die eine einstweilige Verfügung mit Dringlichkeit begehrten. Zwar hatten die Marla den höchsten Gerichtshof immer weiter vergrößert, so daß eigentlich ihr ganzer Planet nur noch ein weitläufiges Gerichtsgebäude war, aber es gab eben auch noch viele andere Marlaprötts im Universum, die sich unwürdig behandelt fühlten. Wegen dem hohen Aufkommen an Rechtssachen brauchte die interne Postverteilung noch einmal drei Monate. Dann erst hatte die für uns zuständige Stelle unsere Sache auf dem Tisch. Der Sachbearbeiter musste jetzt einen Richter ermitteln. Das dauerte weitere drei Monate. Der für uns zuständige Richter bekam unser Gesuch also erst Ende 2028 auf seinen Stapel. Man versicherte uns, das sei alles schon sehr schnell gegangen, wie für einstweilige Verfügungen mit Dringlichkeit gefordert, aber leider stapelten sich bei jedem Richter die einstweiligen Verfügungen und es gehe streng nach Warteliste. Unsere Warteliste sei zwar aufgrund des geschickten Vermittelungssystem die kürzeste, wir müssten aber mit einiger Zeit rechnen, bis wir dran seien. - Es dauerte 4 Jahre. - Der Richter befand, daß die Abstimmung zu lange zurück liege. In den mittlerweile vergangenen 8 Jahren habe sich die Meinung der Menschheit ändern können. Die Abstimmung müsse wiederholt werden. So vergingen erneut 4 Jahre. Die Menschheit hatte ihre Meinung natürlich nicht geändert. - Die Entscheidung über unser Gesuch fällte der Richter anhand der Richtlinien innerhalb von 5 Minuten, doch es dauerte wieder eineinhalb Jahre, bis wir diesen Bescheid erhielten, da war es 2038. Die gute Nachricht war: Unser Gesuch war rechtmäßig und wurde zur Entscheidung angenommen. Aber es hieß: für die Entscheidung sei eine unabhängige Expertise nötig. Der Richter schloss sich dem Justiziar der Beschwerdestelle an: Da könnte ja jeder kommen, argumentierte er, und behaupten, die Tätigkeit, mit der er seine Schulden abzahlen müsse, sei ihm nicht würdig. Dem Gericht sei unplausibel, daß wir Grund hätten, uns zu beschweren. Die Sorge um unsere Würde habe doch gerade dazu geführt, daß die Marla in Vorleistung gegangen seien bei der angemessenen Intentiomatisierung unseres Planeten. Und auch die Sorge um unsere Gesundheit habe ihnen so am Herzen gelegen, daß sie erneut in Vorleistung gegangen seien zur Deckung unserer medizinischer Notwendigkeiten. Das Gericht könne zwar nicht ausschließen, daß unsere Behauptung, all diese Bemühungen um unsere Würde seien nicht zureichend, zutreffe, es müsse das aber aufgrund der äonenlangen Erfahrung im Umgang mit Marlaprötts für so unwahrscheinlich halten, daß der Marlakultur Unrecht widerfahre, wenn eine Entscheidung zu unseren Gunsten nur aufgrund von 16 Indizien ergehe. Daher sei ein wissenschaftliches Gutachten erforderlich. Es gelte, die Rechtssicherheit des freien Handels gegen die Möglichkeiten von Willkür und unangemessenen Ansprüchen zu schützen. Wir gingen sofort daran, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Das war aber weit aufwändiger, als wir dachten! Wir fanden keinen Gutachter, der sich mit uns beschäftigen wollte. Allen, wirklich allen, war die Materie - sprich: wir - zu langweilig! Auch als wir schließlich 2050, nach 12 Jahren die ersten bereitwilligen Gutachter fanden, waren wir noch keinen Schritt weiter: Wir hatten gehört, daß sich in der Gutachterlandschaft viele schwarze Schafe tummelten, die mit wenig Kompetenz und Aufwand hohes Verdienst erreichen wollten. Daher galt es, die Gutachter begutachten zu lassen. Das führte erneut zu einem Zeitverlust weil wir erneut einen Gutachter suchen und Kredite zur Begleichung seines Honorars beschaffen mußten. Schließlich fanden wir nach weiteren 7 Jahren einen gut begutachteten Gutachter. Er verlangte allerdings einen hohen Langweiligkeitsentschädigungsaufschlag - etwa so, wie manche Berufe für bestimmte Aufgaben eine Schmutz-Zulage einfordern. - Die Gesamtsumme für das Gutachten war so hoch, daß wir erneut mit vielen Jahren rechnen mußten, bis wir die erforderlichen Fördermittel und Kredite zusammen hatten. Doch im Herbst 2066, wir hatten vielleicht gerade die Hälfte des Geldes beisammen, an einem Donnerstag Nachmittag, kamen die Sicherheitskräfte, baten uns freundlich in ihre Shuttels, brachten uns zu Raumkreuzern und verschifften uns auf die Erde, uns alle. Sie verabschiedeten sich mit wenig überzeugenden Höflichkeitsgesten und flogen weg. - Das mit den Hähnchenküken war nur eine flüchtige kulinarische Mode gewesen, die Geschäftsidee eines multigalaktischen Fast-FoodMagnaten. Als die Mode uninteressant geworden und die Umsätze eingebrochen waren, spuckten sie uns wieder aus. Ihre Maschinerie hatten sie bereits abgebaut, nichts, nicht das kleinste Schräubchen ließen sie hier, obwohl wir doch mittlerweile eine Menge davon abbezahlt hatten. Aber sie argumentierten, wir seien insolvent und der Rückkaufwert decke gerade die für den Abbau und Umbau entstehenden Kosten. Wir könnten froh sein, nicht noch drauf zahlen zu müssen. - Das war vor 31 Jahren. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Wir hätten den Dienst bei den Marla übrigens schon im ersten Jahr beenden können: durch einen Streik. Allerdings fanden wir dazu unter uns Männern keine Mehrheit, es waren nunmal zu viele auf der Erde unterprivilegiert gewesen, materiell und bezüglich der Bedingungen ihrer persönlichen Entwicklung. Sie hatten das Arrangement, das die Marla für uns geschaffen hatten, nicht anders als vorteilhaft erleben können, gemessen an ihrem früheren Erdenleben. Sie sahen nicht ein, auf diese Vorteile zu verzichten, bloß damit die Gebildeten wieder ihren Hobbies nachgehen konnten. 17 Die optimale Kombination Unser Produkt „Genetische Optimierung für Mädchen“ hielt nicht, was es versprochen hatte, wir hatten Reklamationen in Millionenhöhe. - Den Vorwurf, das Produkt nicht gut genug durchdacht zu haben, hatte ich entkräften und Konsequenzen für meine Abteilung gerade noch abbiegen können. Die Vorgaben waren schuld, nicht wir. Dabei hatte alles so gut angefangen! Wir sind das innovativste Biotechnologie Unternehmen der Welt. Einen Namen haben wir uns gemacht mit der Optimierung der gängigen Körperwuchsmodulationen. Die optimalen Proportionen von Beckenbreite, Oberschenkellänge, Taillenumfang usw. gab es ja längst an jeder Ecke zu kaufen. Wir hatten als erste ein Verfahren entwickelt, der Gestaltung des Nachwuchses eine persönliche Note aufzuprägen, z.B. die Beindicke stufenlos zwischen gazellenschlank und athletisch zu wählen und die Nasenform zwischen mainstream und charakteristisch. Aber ganz groß raus gekommen waren wir mit der Möglichkeit, auch Geistesgaben und Charakteranlagen genetisch zu optimieren. So hatten wir schließlich die erste optimale Kombination für Mädchen in unserer Produktpalette, das Modell „HelenaMozart“, für Töchter, schöner als Supermodells und genialer als Mozarts. Damit hatten wir unsere Konkurrenz, die bis dahin Marktführer mit ihrem Modell „Schneewittchen“ gewesen war, weit abgeschlagen. Was hatte nicht funktioniert? Meiner aufwändigen Fehleranalyse ist es zu verdanken, daß wir jetzt klar sehen, daß der Ansatz falsch war: Die Mädchen waren zu liebenswürdig. Schon als Kind lösten sie durch Anmut und Aufgewecktheit Gefühle aus, sie zu beschenken. In der Pubertät reiften sie schnell zu hochattraktiven jungen Frauen heran, die sich durch das wertschätzende Interesse, das sie an allen Menschen nahmen, aber auch durch Zurückhaltung, Verbindlichkeit und Taktgefühl überall Sympathien erwarben. Alle wollten mit ihnen zu tun haben. Bei Männern lösten sie überwältigende Impulse aus, ihnen zu Füßen zu fallen, alles für sie herbeizuschaffen, barfuß übers Gebirge zu gehen, ja, ihre Seele an sie zu verkaufen. Die Mädchen brauchten dazu bloß ihren optimierten natürlichen Verhaltensbereitschaften freien Lauf zu lassen. So bekamen sie auch ohne genial sein zu müssen, von Erwachsenen und Gleichaltrigen alles, was für ein wunderbares Leben nötig ist. Sie entwickelten sich zu völlig normalen liebenswürdigen Frauen. Alle heirateten überdurchschnittlich erfolgreiche Gatten. Alle lebten trotz Heirat sexuell höchst freizügig, denn ihre Gatten hatten wegen des beruflichen Erfolgs zu wenig Zeit und die jungen Frauen konnten mit einem Augenaufschlag die attraktivsten Männer verrückt machen. - Man hat uns vorgeworfen, das Design des von uns verwendeten Charaktergenoms sei unausgereift. Das ist nicht der Fall. Unser MutterTeresaModul funktioniert nachweislich absolut zuverlässig und fehlerfrei. Wir konnten durch meine 18 Fehleranalyse nachweisen, daß die Gatten schuld waren: Aus Verlustangst sahen sie über alles hinweg. Diese Toleranz signalisierte den Frauen, daß ihre sexuelle Freizügigkeit für ihre Gatten wohl nicht so schlimm sein könne, denn was Schlimmes toleriert man ja nicht. Das Verhalten der Frauen war völlig logisch: Um dem Nachwuchs optimale Bedingungen zu garantieren, wählten sie die erfolgreichsten Männer als Väter. Die Nebenfolge der sexuellen Vernachlässigung versuchten sie zu kompensieren, indem sie instinktiv und unschuldig ausprobierten, was denn passieren würde, wenn sie ihre verbleibenden sexuellen Bedürfnisse mit andern Männern stillten. Und als nichts passierte, setzten sie dieses Verhalten einfach fort. In den wenigen Fällen, in denen die Gatten die Seitensprünge ihrer Gattinnen nicht tolerierten, zeigte sich die hohe Bereitschaft der jungen Frauen zu ehelicher Treue, denn sie liebten ihre Gatten und wollten ihnen nicht weh tun. Unser Fazit war: Schon als Kleinkindern wurde den Mädchen aufgrund ihres Wesens und ihrer Erscheinung alles an Stillung geschenkt, was möglich war. Sie waren von Anfang an völlig glücklich und zufrieden. Es bildete sich in den Mädchen kein Ziel aus, für das Genialität Sinn gehabt hätte. Trotz Mozart-Modul wurden sie einfach nicht genial, es entwickelten sich keine Mozartinen. Aber auch keine Pseudo-Mozartinen! Dieser Umstand ist noch nicht im Geringsten gewürdigt worden! Unsere Mädchen waren so holdselig und liebenswürdig, daß die Eltern es nicht übers Herz brachten, sie zu drillen. Und sie für etwas zu faszinieren, vermochten sie nicht. Denn die Eltern waren ja selber an nichts der Sache wegen, an Allem nur des Erfolges wegen interessiert gewesen. Nur bei einem einzigen Mädchen verlief die Entwicklung anders, sie ist jetzt eine der bedeutensten Menschen der Welt, aber wir dürfen aus Diskretionsgründen ihren Namen nicht verraten. Ihre Eltern starben bei einem Autounfall. Sie kam in ein Heim. Dort wurde sie gerade wegen ihres holden Wesens von den andern Kindern angefeindet, denn man fand es gemein, daß sie so eine privilegierte Kindheit gehabt hatte und jetzt auch noch alles an Aufmerksamkeit und Gebebereitschaft auf sich zog, ohne sich dafür anstrengen zu müssen, ja, sogar ohne ihr vorwerfen zu können, es darauf anzulegen, sondern einfach, weil sie so war, wie sie war. Das Mädchen geriet in eine Außenseiterposition. Die soziale Frustration führte dazu, daß sie in nicht-sozialen Aktivitäten Sinn und Befriedigung suchte. Die dabei entzündete Faszination an der Sache, für die sie nun berühmt ist, aktivierte nach und nach das ganze Ausmaß ihrer Begabung. Wir können keine funktionierenden KonzeptKind-Produkte anbieten, die nur auf Genmodulation basieren. Komplexe KonzeptKind-Produkte funktionieren nur, wenn sie im Rahmen eines Multifaktorenpackets angeboten werden, das verbürgt, daß die genoptimierten Kinder auch entsprechend gehalten werden. Wie spricht der Dichter: "Es ist nunmal so: Das Hirn wächst von selbst nicht so schön wie der Po." 19 Wenn die Module ihr Potential nicht entfalten, sind die Eltern schuld. Das ist jedoch eine Botschaft, die sich – laut unserer Marketing-Abteilung – zur Zeit nicht verkaufen läßt. Aber mal ganz unter uns: Für was braucht man auch ein Mozart-Modul? Die Maschine zur Lösung aller Probleme Vor drei Jahren ging sie in Betrieb, jetzt sind alle Probleme der Welt gelöst und solange sie läuft können keine mehr entstehen. Mehr als zwei Drittel der Menschheit stimmten zu, als das Konsortium aus den genialsten Wissenschaftlern und Ingenieuren nach jahrzehntelanger Entwicklungsarbeit die Pläne der Maschine vorstellte, und empfahl, sie zu bauen und in Betrieb zu nehmen. Nun schnurrt sie friedlich ein Kilometer unter unseren Füßen, ein weltumspannendes Geflecht von Motoren, Reglern und Öfen, ein riesiges Chemielabor, automatisch und autark, eine Kombination aus Turbinen, Strahlern und Drüsen, mit Energie versorgt von Sonne und Erde. Und das alles ganz ohne schädliche Nebenfolgen. Wir haben das Glück installiert. Gut, es gibt jetzt einen leichten Geruch in der Athmosphäre, und noch ist er etwas unangenehm, wie aus einer Mülltonne im Sommer. Aber er ist nachgewiesenermaßen völlig harmlos, und bald werden wir uns daran gewöhnt haben und ihn gar nicht mehr wahrnehmen - genauso wie den hohen Ton, der jetzt überall auf der Erde vernehmbar ist. 20 Der Anwender, oder: kumulative Effekte Wir stiegen auf, weil das Objekt zwar geantwortet hatte, aber – wie der Leiter der Flugüberwachung sich ausdrückte – nur um ihn zu "verarschen". – Es handelte sich um ein riesiges Flugobjekt, vermutlich ein Spionageluftschiff, das auf 1000 m Flughöhe mit einer Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern abseits der Flugrouten und außerhalb aller Hoheitszonen vor sich hin bummelte. Wir waren zu zweit, zwei schwerbewaffnete Kampfjets. Wir sollten uns das Ding aus der Luft ansehen und es zur Sicherheit, auch wenn das widerrechtlich war, weil es keinen Luftraum verletzte, zu Kursänderung und Landung auf unserer Luftwaffenbasis zwingen. Ich dachte, ich spinne! Ich sah einen Obstgarten, in dem Schafe weideten! Er befand sich auf einer etwa 10 m hohen Bodenplatte unter einer flachen ovalen Glaskuppel, etwa 500 m lang und 300 m breit. An beiden Ovalenden war soetwas wie ein gemütliches großzügiges Wohnzimmer eingerichtet. Und schließlich sah ich einen Menschen, der uns zuwinkte! Als wir Funkkontakt aufnahmen erklang die Stimme eines alten Mannes: "Hallo, ja, Ihre Kollegen sagten mir schon, daß sie jemanden hochschicken würden. Seien Sie willkommen! Sie sind wahrscheinlich sehr verwundert! Es würde mich riesig freuen, wenn Sie mir einen Besuch abstatten würden, dann kann ich Ihnen alles zeigen. Geben Sie Kurs und Geschwindigkeit ein, das Andocken geht vollautomatisch!" Aus Spaß schauten wir, was geschah – und tatsächlich, das Ding folgte uns und holte uns ein! Wir waren über das alles so überrascht und perplex und von der einladenden Freundlichkeit des Alten so eingenommen, daß wir einfach weitermachten mit dem Andockmanöver, obwohl es natürlich unprofessionell ist, die Einladung eines UFO´s anzunehmen. Ein älterer Herr um die 70 begrüßte uns herzlich. Er führte uns auf seinem Luftschiff herum. Es war ein autarker, geschlossener ökologischer Kreislauf. Alle Arbeit wurde von kleinen Robotern erledigt – keiner davon sah übrigens menschenähnlicher aus als ein Staubsauger, alle waren rein funktionale Gestänge und Gehäuse. – Die Arbeiten, die der Alte für sich übriggelassen hatte, bestanden in der Zubereitung der Speisen und der Pflege der Tiere, er molk sie und verarbeitete die Milch weiter zu Yogurt und 11 verschiedenen Käsesorten. - Erklären konnte der Mann uns nichts von alledem, was wir hier sahen. "Aber wie sind Sie denn zu all dem gekommen?", wollten wir wissen. Daraufhin erzählte er uns seine Geschichte: "Ich bin leider nicht gut ausgestattet worden von der Natur. Ich bin klein und schmächtig, nicht besonders intelligent und habe kein gutes Gehirn. Schon in der Schule hatten die Ärzte festgestellt, 21 daß ich meine Bewegungen nicht so gut koordinieren kann wie andere, ich bin von Natur aus etwas täppisch. Und geistig bin ich schnell erschöpft, ich habe keine große Aufmerksamkeitsspanne. So war ich nie zu etwas zu gebrauchen: Meine Kameraden fanden es blöd, mich beim Fußball mitspielen zu lassen, denn meine Mannschaft hatte immer einen Mann weniger, und nicht selten schoß ich aus Versehen Eigentore. In der Schule galt ich als trübe Tasse, bei den Lehrern sowieso, aber auch bei den Mitschülern. Naja, und da können Sie sich vorstellen, daß ich den Mädchen auch nicht viel zu bieten hatte. Bei den Schönen bin ich abgeblitzt, die Unattraktiven haben mich nicht interessiert. Ich schaffte mit Ach und Krach den mittleren Schulabschluß und die kaufmännische Lehre. Und dann habe ich im Büro gearbeitet. Ich war ganz gut gelitten bei den Kollegen und beim Chef, weil ich unkompliziert, hilfsbereit und verläßlich war. Aber ich habe alle immer genervt, weil ich so viele Fehler machte. Ich bin der Inbegriff von einem Schussel. Schon die Grundschullehrerin nannte mich: "zerstreuter Professor". Aber wer schon so früh so zerstreut ist, ohne daß da bereits viel zu zerstreuen wäre, der wird gar nicht erst Professor. Später stellte sich heraus, daß aus irgendeinem unerfindlichen Grund auch Kinder mich nicht besonders mögen. Ich glaube, für Jungs bin ich keine Identifikationsfigur und Mädchen finden mich zu wenig väterlich. Jedenfalls, die Kinder sind nicht sehr interessiert an mir. Also: Im Beruf war ich an der Grenze zur Untragbarkeit, Männer ignorierten mich, Frauen ließ ich kalt und Kinder konnten mit mir nichts anfangen. - Oh, das klingt jetzt alles viel schlimmer, als es war. Sicher, toll fand ich das nicht, was sich da alles Bereich für Bereich an Unvermögen herauswuchs. Das war schon jedesmal ernüchternd. Jedesmal dachte ich: "Ach, so ist das! Blöd, aber nicht zu ändern." Aber wissen Sie, ich war den Menschen deshalb nicht böse. Ich konnte das nachvollziehen, daß sie mit mir nicht viel anfangen konnten! Es war nunmal wie es war. Was hilfts, sich zu grämen? Außerdem hatte ich das Glück, daß ich was hatte, was ich gerne mache, ganz für mich allein. Kommen Sie, ich zeigs Ihnen!" Damit verließen wir das Sofa, von dem wir gerade das Panorama der Antarktischen Gebirgszüge genossen und an dem der Alte uns vorzüglichen selbst gezogenen Kaffee serviert hatte. Er führte uns in einen weiten hellen Raum und wir erblickten – ein Spielzeugland: Er hatte aus Bauklötzen Städte gebaut mit virtuos equilibrierten grotesken Türmen, zwischen denen ein Lego-Bahn-Netz verlief. Dabei hatte er das Legosystem regelrecht ausgetrixt: So gab es schnurgerade Ein-SchienenBahnen, die die Türme mit einander verbanden. Er hatte dafür ganz spezielle Problemlösungen gefunden, denn eigentlich kann man mit Lego so was gar nicht bauen. Außerdem hatten die Züge keine Motoren, sondern er hatte ein System ausgeklügelt, sie an Fäden durch die Städte zu kurbeln. Bei der Bahn, die sich am Boden zwischen den Türmen hinschlängelte, wurden die Fäden in den Kurven von Stangen geführt, die er seitlich an die Schwellen montiert hatte. "Wenn ich mir nicht gerade die Welt von oben anschaue, verbringe ich meine Zeit hier", erklärte er. "In Betriebe kann ich mich nicht einbringen und ich bin weder interessant noch wohlgelitten. 22 Was lag also näher, als mich zurück zu ziehen? Zumal mir meine Arbeit im Büro sehr schwer fiel. Abends war ich immer völlig kaputt, obwohl ich nicht einmal eine volle Stelle hatte! Und dann starb mein Vater, da war ich 45. Er hinterließ mir ein Haus, das ich für 200 000 € verkaufte. Da dachte ich: Jetzt steig ich aus! Keiner wird mich vermissen und ich vermiß auch keinen. - Ich hatte bis dahin – das war 1999 – nicht groß was mit Internet und so zu tun gehabt. Computerkenntnisse hatte ich nur von der Arbeit. Ich habe das mit den Computern nie so gemocht, wissen Sie, ich bin ja aufgewachsen, als es das noch gar nicht gab, ich hatte immer meine Bauklötze, mich hat Elektrikgedöns nie groß interessiert. Naja, als ich dann meine Stelle gekündigt hatte, hatte ich mehr Zeit, im Cafe zu sitzen und Zeitung zu lesen. Und da las ich dann so allerhand von nützlichen Dingen, 3-D-Drucker z.B., durch die man vieles selber machen konnte. Das war ja für mich sehr wichtig, bis zur Rente hatte ich ja noch 20 Jahre, die ich mit dem Geld überbrücken mußte, und meine Rente würde sehr klein sein. Ich kaufte mir also solche nützlichen Sachen. Und ich suchte mir Softwär, mit der man ebenfalls vieles selber machen konnte. Natürlich gab es nicht genau die, die ich brauchte. Also suchte ich mir Softwär, die Softwär entwickeln konnte, und als das auch noch nicht reichte, ließ ich von dem Programm Softwär entwickeln, die Softär entwickelnde Softwär entwickeln konnte. Aber glauben Sie nicht, ich hätte von all dem irgendeine Ahnung gehabt! Ich hatte gar keine Ahnung. Und das brauchte ich ja auch nicht, die Ahnung steckte ja alle in der Softwär drin. Ich hab bloß rumgespielt und rumprobiert und dann kam irgendwann immer was Brauchbares raus. Irgendwann hatte ich dann ein Programm, das einen besseren 3-D-Drucker entwickeln konnte, und druckte mir mit meinem 3-D-Drucker Teile, um diesen Drucker zu bauen, der Teile für noch bessere 3-D-Drucker drucken konnten. Und dann entwickelten mir die Softwärentwickelprogramme Roboter – für alles mögliche – und die 3-D-Drucker druckten mir die Teile für die Roboter. Zuerst mußte ich die Teile selbst zusammenschrauben, das konnte ich gerade noch. Die ersten Roboter, die ich zusammenstümperte, hatten bloß die Aufgabe, Roboter zu bauen, die ich nicht bauen konnte. Und die bauten dann die verschiedenen Roboter, die ich brauchte, um Roboter zu bauen, die noch mehr konnten. – Ja, und schließlich dachte ich: Is ja toll, was die so alles können. Da könnte ich doch vielleicht mal was ganz Großes bauen! So kam ich auf die Idee dieses Luftschiffs. – Das schwierigste war das Energieproblem. Ich ließ also die Softwär Softwär entwickeln, die aus dem Internet alles recherchierte, was Softwär braucht, um das Energieproblem zu lösen. Irgendwann hatte ich dann eine Formel – ich selbst konnte damit gar nichts anfangen, für mich war das wie Buchstabensalat – aber meine Softwär konnte damit was anfangen und speiste damit meine Roboter bauenden Roboter, um Roboter zu bauen, die schließlich eine Maschine bauen konnten, die Sonnenenergie in Gravititationsenergie verwandelt. – Das war alles sehr zeitraubend, aber eigentlich gar nicht so schwierig. Hätte es sonst jemand hingekriegt, der mit Ach und Krach einen mittleren Schulabschluß geschafft hat? – Wissen Sie, was das Allerschwierigste war, woran 23 bald alles gescheitert wäre? Den Garten zu bauen! So daß das jetzt so ein Kreislauf ist und ich nichts dazu tanken muß, außer ab und zu ein bischen Meer für Wasser und Salz. Aber auch alles dafür Nötige hat eine Softwär aus dem Internet gezogen. Und eine andere hat es in die Form eines Computerspiels gebracht und damit so lange rumgespielt, bis das hier herauskam. – Fragen Sie mich also nicht, wie ich das hier gemacht habe, ich habe es nicht gemacht, ich habe nur Sachen gefunden, die nützliche Dinge machen konnten. Das ist alles!" Wir glaubten ihm kein Wort. Ich nahm Verbindung auf mit meinem Vorgesetzten, erstattete Meldung, daß wir die Kontrolle über das Luftschiff übernommen hätten und weitere Befehle erwarteten. – Der Alte war mir sympatisch, auch wenn ich überhaupt nicht wußte, was ich von der ganzen Geschichte zu halten hatte. Ich hatte etwas Sorge, was die wohl mit ihm machen würden. Es gelang mir, mir aus zu bedingen, daß ich, als derjenige, der den Erstkontakt hatte, die weiteren Schritte als Vermittler begleiten dürfe. Es geschah nichts Schlimmes, ich hätte gar nicht dabei sein müssen. Aber jedenfalls kann ich jetzt von all dem berichten: Der Alte wurde gebeten, zu rekonstruieren, was er gemacht hatte. Er hatte sich aber nichts von all dem gemerkt, schon allein deshalb nicht, weil er meist gar nicht verstanden hatte, was er da eigentlich gemacht hatte, er hatte bloß "rumprobiert", wie er selbst sagte. Und er war nicht im geringsten daran interessiert gewesen, es zu verstehen, ja nicht einmal, es zu wiederholen. Er wollte bloß nützliche Dinge für sich selber haben. Das Meiste war durch Prozesse zustande gekommen, die die Maschinen völlig eigenständig vollzogen hatten. Er hatte meist nur auf das Feld "weiter" geklickt. Die Maschinen hatten sich dabei selbsttätig so verändert, daß sie nicht mehr mit unseren Computer kompatibel waren. Wir bauten eine Kopie des Schiffs und kopierten alle Software. Aber bis heute ist es noch nicht gelungen, einen Zugang zu den Programmen zu finden, geschweige denn, den Schwerkraftgenerator zu verstehen. Der Alte wurde untersucht, von Maschinen und Psychiatern, und seine Lebensgeschichte wurde überprüft. Wir konnten nicht die geringsten Indizien für unsere Vermutung finden, daß er in Wirklichkeit ein Genie sei, das bloß versuche, uns etwas vorzumachen. Nein, er war tatsächlich in allen gemessenen Bereichen unterdurchschnittlich, auch wenn er zweifellos eine gewisse kreative und kombinatorische Begabung besaß. Seine Erfolge waren bloß auf Glück zurückzuführen – und natürlich auf die Intelligenz der von ihm benutzen Programme. – Aber da er sein Leben lang ein ziemlich armer Kerl gewesen war, konnten wir ihm dieses Glück gönnen. So nett er auch war, im Ganzen war er eine ziemlich trübe Tasse. – So ließen wir ihn schließlich weiter fliegen, und da fliegt er noch. 24 Das Loch Ich bin verantwortlich. Zuerst dachten wir: „Was solls“. Jetzt hat es die fieberhaftesten Bemühungen in Gang gesetzt mit höchster Priorität. – Ich gelte als genialer Physiker, aber weiß uns nicht mehr zu helfen, und auch meine genialsten Kollegen sind ratlos. – Ich hatte mich mit den Unstimmigkeiten in unseren Modellen nicht abgefunden und ein neues Modell der Quantenwelt entwickelt, das neuartige operative Möglichkeiten nahelegte. Wir bauten eine Maschine. – Das entscheidende Experiment führte nicht zur Bestätigung unserer Vorhersagen, es führte zu was anderem: Zu einem winzigen Loch von 0,3 Nanometern, einem Loch, das nur von Maschinen feststellbar war. Worin haben wir ein Loch geschossen, werden Sie fragen. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich würde sagen: Wir haben ein Loch in die Wirklichkeit geschossen. – Ein winziges Loch. Es ist nur von einer Seite zu sehen. Von der anderen Seite sieht die Welt aus, als gäbe es kein Loch. Es ist ein zweidimensionaler grauer Fleck. Zuerst dachten wir an eine Störung des Elektronenmikroskops. Aber der Fleck wächst, und mittlerweile kann man ihn mit einer starken Lupe sehen: der Durchmesser beträgt zur Zeit 0,053mm. Und was auch immer wir in das Loch einführen: es verschwindet spurlos. Es wird buchstäblich vernichtet. Aber nur was von der sichtbaren Seite hineingerät, verschwindet, die Vernichtung ist vektoriell: Führt man von hinten einen Stab hinein, kann man ihn vorne ergreifen und unbeschadet hindurchziehen. Wir haben aus allen möglichen Materialien einen Sarkophag für das Loch gebaut. Doch nichts kann es aufhalten. Je schneller das Loch wächst, um so schneller nimmt die Geschwindigkeit seines Wachstums zu. Bald werden wir es nicht mehr vor den Augen der Menschheit verbergen können. – Es wird zur Scheibe werden, die die Welt in zwei Teile teilt: Die Menschen hinter der Scheibe werden die vor der Scheibe sehen können. Sie können auch zu ihnen hindurch. Aber sie können nie wieder zurück. Doch das eigentliche Problem ist die Erdrotation: dadurch rotiert die Scheibe auch. Wenn sie immer größer wird – und es gibt nichts, was sie stoppen kann – wird sie irgendwann die Sonne, irgendwann die Galaxie, irgendwann das Universum verschlingen. 25
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