Interview mit Itta Wiedenmann Liebe Frau Mag. Wiedenmann, mit über zehn komplett unterrichteten Somatic Experiencing (SE)®-Trainings gehören Sie zu den erfahrensten SE-Trainern weltweit. Seit 2014 unterrichten Sie auch an der PGA Akademie Linz. Können Sie unseren LeserInnnen kurz beschreiben, was man sich unter SE® vorstellen darf? SE® ist ein Basiskonzept zum Verständnis, zur Bewältigung und Prävention von Schock-, Stress- und Traumafolgestörungen. Es ist ein wertvoller Ansatz, der sich in viele Beratungsund Therapiekonzepte gut integrieren lässt. Wir vermitteln den verschiedenen Berufsgruppen grundlegendes Wissen über die Rolle und Funktion des Autonomen Nervensystems und seine spezielle Bedeutung für die Psychotraumatologie. Darüberhinaus lernen unsere TeilnehmerInnen zur eigenen Gesundheitsprophylaxe auch, wie sie sich selbst regulieren können. Der Begründer von SE®, Peter Levine PhD/USA, sieht Traumafolgestörungen als biologisch unvollständige Antwort des Körpers auf eine Situation, die als lebensbedrohlich erfahren wurde. Dann nämlich wird unser evolutionsbiologisch geprägtes, instinktives Überlebensprogramm auf den Plan gerufen: Aktive Reaktionsmuster bei Gefahr sind Flüchten und Kämpfen. Passive Reaktionen sind der Totstellreflex, Erstarrung oder Kollaps. Wenn dieser sogenannte "Reiz-Reaktions-Zyklus" störungsfrei, regelrecht und vollständig abläuft, ist der Mensch mit der erlebten Überforderung hinterher im besten Sinne des Wortes gut „fertig geworden“ und sein Leben ist davon nicht nachhaltig beeinträchtigt. Wenn dieser physiologische Zyklus jedoch nicht vollständig abgeschlossen werden kann, bleibt das Nervensystem irritiert und reguliert in der Folge so, als wäre die Gefahr noch präsent. Dies kann sowohl zu anhaltenden somatischen, vegetativen Symptomen führen als auch psychische Probleme und inadäquate Verhaltensweisen mit sich bringen. Deshalb arbeitet SE® ganz bewusst auf der somatischen Ebene, um die unfertigen Regulationsmechanismen des Autonomen Nervensystems aufzuspüren und sie im Nachhinein abzuschließen – körperlich, emotional und mental. Wie funktioniert SE ? Somatic Experiencing heißt ja wörtlich genommen „eine Erfahrung über ihre Körperreaktionen zu erleben“. Im Unterschied zu sog. „top down“ Ansätzen, wie analytische und kognitive Therapiemethoden, arbeiten wir mit SE „buttom up“. Das heißt, dass die tieferen Hirnregionen einbezogen werden, weil dort jene Erinnerungen aus dem prozeduralen (Körper-)Gedächtnis abzurufen sind, die im Kontext der bedrohlichen Erfahrung entstanden sind. Um diesen bei Schock und Trauma zuständigen Instinktanteil (das Tier in uns) anzusprechen, benutzen wir in der Begleitung mit SE die sogenannte "Stammhirnsprache". Wie ein Tierflüsterer locken wir damit unterbrochene bzw. vereitelte Überlebensreaktionen vorsichtig hervor, damit sie kontrolliert zum Abschluss kommen und das Autonome Nervensystem danach wieder situationsgerecht regulieren kann. Ein Beispiel: Ein Mensch, der mit Angst in eine OP geht und seine instinktiven Flucht- und Kampfreaktionen unterdrücken musste, wird erwartungsgemäß im Aufwachraum heftige Körperreaktionen erleben (z.B. Zittern, um sich schlagen, Fluchtimpulse). Wenn diese biologisch gesunden, autonomen Abreaktionen zum Stressabbau kleinschrittig geschehen dürfen, komplettiert sich der „ReizReaktionsZyklus“ und das Nervensystem beruhigt sich von selbst, die Selbstheilung kann ihren Lauf nehmen. Dies kann auch in einer SE Sitzung noch im Nachhinein angebahnt werden. Wir unterstützen Menschen dabei ihre Körperempfindungen zu beachten und immer präziser selbst zu steuern. Sie erleben wie die eigenen Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen sich im Körper manifestieren. Je nachdem ob sie positive oder negative Erlebnisse erinnern, ist dies entscheidend sowohl für das emotionale Befinden wie auch das Lebensgefühl. Bei traumatisierten Menschen soll deshalb die stärkende Lebenskraft von Ressourcen (z.B. Glücksmomente, Erfolg, Triumph, Entspannung) zuerst aufgespürt und körperlich verankert werden. Erst wenn genügend Stabilität(Resilienz) aufgebaut ist, kann mit einer kontrollierten, fein dosierten (Trauma-)Konfrontation begonnen werden. Z.B. durch die Frage „Wenn Sie Angst empfinden oder an die Situation denken: „Was erleben Sie dabei im Körper? Wo spüren Sie das? Und wie?“. Blockierte Überlebensenergie soll in kleinen Portionen wieder in Bewegung kommen. Neue Möglichkeiten dem Leben gegenüber entstehen. Das überwältigende Ereignis wird zunehmend leichter erinnert, „neuverhandelt“ und schließlich in der Vergangenheit abgelegt. Die Vergangenheit beeinträchtigt nicht mehr das Erleben im Hier und Jetzt. Was ist das Besondere an dieser Form der Stress- und Traumaverarbeitung? SE ist gut zu erlernen; die TN des Trainings genießen den hohen Anteil an Selbsterfahrung und Selbstregulation. Es ist ein kreativer, lebensbejahender manchmal auch humorvoller Ansatz, der uns Therapeuten in der Arbeit entlastet. Im Unterschied zu anderen Stressverarbeitungs- und Traumabehandlungs-Methoden richtet SE® den Fokus stark auf die Normalisierung von dysfunktionalen Funktionen des autonomen Nervensystems. Retraumatisierungen werden vermieden durch die graduelle fein dosierte Exposition. Bemerkenswert ist, dass SE bei emotional sehr belastenden Ereignissen auch inhaltsfrei arbeiten kann. Das überwältigende Ereignis muss nicht unbedingt rekonstruiert werden Wie sind Sie damals zu Somatic Experiencing® (im Folgenden kurz SE genannt) gekommen? 1995 hatte ich bereits 20 Jahre Erfahrung als Körpertherapeutin und war ausgerüstet mit verschiedensten Handwerkszeugen, wie z.B. Manualtherapie, Craniosacral-Therapie, Osteopathie, Applied Kinesiologie, systemischen Familienaufstellungen und der FeldenkraisMethode. Immer häufiger beschäftigte mich damals die Frage, warum bei manchen Klienten erste gute Behandlungsergebnisse nicht dauerhaft erhalten werden konnten. Als mir eine Kollegin von SE erzählte, ahnte ich sofort, dass dieser Ansatz zur Stress- und TraumaVerarbeitung eine sinnvolle Ergänzung für meine Arbeit sein würde. Indem ich lernte, wie Stress, Trauma und Schock sich auf den gesamten Menschen auswirken und ihn beeinträchtigen können, erkannte ich, dass es bei vermeintlich „schwierigen Patienten“ meist um übersehene Trauma-Folgestörungen ging. Was erwartet mich als TeilnehmerIn in Ihrer Weiterbildung, Frau Wiedenmann? Mir liegt die Verbindlichkeit seitens der Trainerin und des Teams für die Teilnehmer am Herzen. Trauma bedeutet ja häufig Bindungsunterbrechung und Fragmentierung. Aus diesem Grund und aufgrund meiner langjährigen Trainingserfahrung mit SE, biete ich aus Überzeugung das SE Training (alle 6 Module) „aus einer Hand“ an, um mit engagierter Kontinuität und einheitlichem didaktischen Konzept hohe Lernerfolge zu erzeugen. Dieses Konzept ist mir möglich , da ich als eine der wenigen Trainerinnen weltweit für alle drei Ausbildungsstufen auch autorisiert bin. Wesentlich ist für eine somatisch orientierte Traumaweiterbildung auch ein hoher Selbsterfahrungsanteil. Deshalb fließen circa 50% der Trainingszeit in die Selbsterfahrung. Auch die Achtsamkeit und Resonanzfähigkeit der TeilnehmerInnen wird kontinuierlich über drei Jahre geschult und ständig verbessert. Da ich Peter Levine anfänglich in seinen Trainings lange Jahre begleitet habe, liegt mir die Vermittlung seiner Essenz von SE sehr am Herzen. Videos, die ihn bei der Arbeit zeigen, sind fester Bestandteil meiner Lehre. Ein Trainingstag sieht so aus: Wir beginnen den Tag mit einer Achtsamkeitsübung zum jeweiligen Tagesthema. Dem folgt die Theorie, eine praktische Demo-Sitzung und dann das Einüben des Gelernten in supervidierten Kleingruppen. Den Tag beenden wir mit einer Gruppenreflexion , Fragen und Antworten zur Anwendung und den Erfahrungen mit dem Gelernten. Während der Seminartage gibt es ergänzende Angebote zur Körperwahrnehmung und v.a. auch die Möglichkeit, Einzel- und Supervisionsstunden zu nehmen. In der Zeit zwischen den Modulen können sich die Teilnehmer in Peergruppen organisieren, um das Gelernte zu vertiefen. Sie unterrichten SE auch über die PGA Akademie. An wen richtet sich die Ausbildung? SE lässt sich gut in bestehende Therapie-und Beratungskonzepte integrieren. Die Weiterbildung ist gedacht für alle, die beruflich traumatisierte Menschen begleiten und idealerweise mindestens zwei Jahre Berufserfahrung damit haben. Meist sind dies ÄrztInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen KörpertherapeutInnen, PhysiotherapeutInnen, medizinisches Fachpersonal, GeburtshelferInnen, Sozial- und LebensberaterInnen, Sozial- und HeilpädagogInnen, SeelsorgerInnen, ErzieherInnen und spezialisierte Krankenpflegekräfte sowie Rettungseinsatzkräfte. PsychotherapeutInnen und gesprächstherapeutische Berufsgruppen erfahren/erleben vom Beginner-Modul an den Gewinn der verfeinerten körperorientierten Herangehensweise. Körpertherapeuten erweitern gleichzeitig ihr Repertoire, indem sie den therapeutischen Prozess durch eine gezielte Gesprächsführung ergänzen und vertiefen können. Von wem wird SE angewandt? Angewendet werden kann SE von allen therapeutischen und lebensberatend tätigen Berufsgruppen, die im Rahmen Ihrer Zulassungsbedingungen mit traumatisierten Menschen arbeiten dürfen und eine 3-jährige SE-Weiterbildung absolviert haben (mit Zertifikat als Somatic Experiencing Practitioner/SEP). Wann wird SE angewandt ? SE hilft bei akuter und/oder chronischer Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und wirkt auch präventiv durch den Aufbau von Ressourcen und Resilienz. PsychotherapeutInnen, die ein SE Training absolviert haben, halten das SE-Konzept für eine enorme Bereicherung für die Arbeit mit Bindungs- und Entwicklungstraumata . Beim PGA, Österreichs größtem Gesundheitsverein steht die Gesundheit des Menschen an erster Stelle. Was machen Sie persönlich für Ihre Gesundheit? Wichtig ist mir Achtsamkeit für meine Erdung, Zentrierung, Atmung und Entschleunigung im Alltag. Im Wechsel mit ruhigeren, gespürten Bewegungen und Dehnungen wie bei der Feldenkrais Methode, Yoga , uam, tobe ich mich gern auch so richtig aus - Schwitzen ist gesund! – zB beim Schwimmen, auf meinem Minitrampolin, Tanzen, Radfahren. Das Herzkreislaufsystem muss gefordert werden. Ich bin sehr froh, über mein Wissen über das bestmögliche Zusammenspiel von Bauchgefühl, Herz und Kopf. Dies hilft mir natürlich selbst auch mit den Herausforderungen des Lebens gesünder umgehen zu können. Gibt es etwas (einen Rat, ein Motto), das Sie unseren LeserInnen gerne mit auf den Weg geben möchten? Fragen Sie sich jeden Tag: Haben ich heute schon gelacht ? Hat mich heute jemand umarmt ? Ist mir etwas gut gelungen? Gibt es etwas, wovon ich träume?
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