Antenne April 2015

132. Ausgabe
Betriebsseelsorge Stuttgart
April 2015
Mitgefühl und Solidarität am 05. Januar 2015 gegen fremdenfeindliche
Propaganda der PEGIDA und für eine Kultur des Willkommens
der Bürgerkriegsopfer, der Flüchtlinge
und Asylsuchenden in Stuttgart !
antenne
Flüchtlinge sind in Stuttgart willkommen
Liebe Leserinnen und Leser,
Es ist dem Verein ‚Die Anstifter’ und dem Kabarettisten
Peter Grohmann zu verdanken, dass schon am 5. Januar
in Stuttgart eine Anti-PEGIDA-Demonstration auf dem
Stuttgarter Schlossplatz stattfand. Nach den ersten
Gerüchten, dass ein Stuttgarter Ableger der PEGIDA
(Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des
Abendlandes) latente soziale Sorgen und Abstiegsbefürchtungen auch in Stuttgart in Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit umgießen will, riefen 140 Organisationen
und auch die Stuttgarter Betriebsseelsorge zu einer
gemeinsamen Kundgebung auf. 8000 Demonstranten
zeigten, dass Bürgerkriegsflüchtlinge und Ausländer in
Stuttgart willkommen sind.
Anti-PEGIDA Demonstration
(Bild:Graffiti-Foto)
Die Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen, die vor
Krieg und Terror in ihren Herkunftsländern fliehen, gilt es
auch dann zu bewahren, wenn – wie Tage später in Paris –
islamistischer Terror in europäische Städte getragen wird
und uns Bürgerinnen und Bürger mit Angst und Schrecken
erfüllt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Anschläge auf demokratische Einrichtungen, wie Presse
und Medien, gilt es mit der Härte der Sicherheitsbehörden
und des Rechts zu verfolgen; die Maske des frommen
Anscheins islamistischer Mörder gilt es herunterzureißen
und ihren menschenfeindlichen Hass zu brandmarken. Mit
Recht reagieren wir mit Angst auf den Terror der IS und
der Al-Kaida. Auf Terror antworten wir mit den wehrhaften
demokratischen Mitteln des Rechtsstaates – nicht aber mit
der Ablehnung der Opfer des Terrors, die als Flüchtlinge zu
uns kommen.
Die Veranstaltung am Schlossplatz begann mit der Europahymne ‚Freude schöner Götterfunke’, in der es mit dem
Text von Friedrich Schiller heißt „Alle Menschen werden
Brüder“ und endete mit Gesang junger Syrer, die dem
Bürgerkrieg in ihrem Land entkommen sind. Sie sind
inzwischen Teil eines integrativen Theaterprojektes, die die
Mozart Oper ‚Così fan tutte’ auf die Bühne bringt. In
Stuttgart soll die PEGIDA-Bewegung mit ihrem hinter
angeblichen Bürgerinteressen versteckten Rassismus keine
Chance haben, ist die Meinung der Protestierenden. Oberbürgermeister Fritz Kuhn: „Wir betrachten alle Menschen,
die zu uns kommen, als Stuttgarter und wir wollen sie hier
so gut wie möglich aufnehmen.“ Ende 2015 werden 4000
Flüchtlinge in Stuttgart leben.
Ich war als katholischer Betriebsseelsorger besonders
erbost, dass PEGIDA-Demonstranten in Dresden vor der
Jahreswende christliche Weihnachtslieder oder Trauerflor
nach den Pariser Mordtaten zur ausländerfeindlichen
Stimmungsmache benutzten. Dabei sind die Weihnachtslegenden eindeutig: Gott wird Mensch als Kind in einer
Flüchtlingsfamilie. Gott sucht sichere Zuflucht unter uns
Menschen, in dem ER sich unserem Mitgefühl und unserer
Solidarität als hilfloses Kind anvertraut.
DANKE für Ihre SPENDE
Liebe Spenderinnen und Spender,
dank Ihrer Förderung konnten wir mit dem Ausbau der Erwerbslosenseelsorge beginnen.
Ihre Unterstützung fördert die Solidar- und Solidaritätsarbeit der Betriebsseelsorge
Stuttgart. Ich danke für die Ermöglichung der Beratungsdienste für Menschen ohne und
mit Erwerbsarbeit: Schuldner-; Berufs- und Rehabilitationsberatung; Bewerbungsberatung
und Rechtsauskünfte in Arbeits- und Sozialrecht; Ämterbegleitung und den so wichtigen
Dienst der Jobbörse mit den Zuverdienst-Möglichkeiten für Langzeit-Erwerbslose;
Mobbing- und Burnoutberatung und auch viele seelsorgliche Gespräche.
Unsere IBAN: DE 73 6005 0101 0002 4702 05
BIC: SOLADEST600
Guido Lorenz Betriebsseelsorger
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Kreativität und Sport – Angebote für Flüchtlinge
In Stuttgart in ‚Mercedesstraße’ und ‚Neckarpark’ angekommen
uli.w Immer mehr Flüchtlinge und Asylbewerber kommen
nach Stuttgart. Die Caritas betreut z.B. in Bad Cannstatt
die Unterkünfte ‚Mercedesstraße’ und ‚Neckarpark’. Über
den Aufruf der Betriebsseelsorge zur Begleitung neu
ankommender
Flüchtlinge
stießen Ismail
Cetin und Ulrich
Weißer zum
Freundeskreis der
CaritasUnterkünfte.
Während Ismail
Cetin den
Kontakt über den
Sport suchte, half
Ulrich Weißer bei
Angeboten von
Marima Spahic „In Bewegung“. Mit Arash Hafezi,
Caritas-Mitarbeiter, und dem ehrenamtlichen Begleiter
Ulrich Weißer kam so ein offenes und kreatives Angebot
für alle interessierten Bewohner der Flüchtlingsunterkünfte
zustande. Für Marima Spahic kommen bei dem Projekt die
Teilnehmer in Kontakt mit Sport, Tanz und Kunst. So
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führte uns der Weg in eine Kampfsportschule und in eine
Salza-Tanzschule.
An einem warmen Herbsttag machten wir uns auf den
Weg zur KampfSportschule. Wir
befanden uns
nach kurzer
Anreise mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln und
zu Fuß in den
SportRäumlichkeiten
im Stuttgarter
Westen.
Wir, das waren
drei Begleiter,
15 Kinder und ein Vater. Sie hatten sich bereit erklärt
mitzumachen. Nach zögerlichem Anfang waren alle mit
großem Eifer und Interesse 1½ Stunden voll dabei. Einige
wollten auch künftig regelmäßig an Kursen teilnehmen.
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Leben in Furcht vor Assad
Entwurzelt zwischen Stuttgart und Aleppo
Nach Deutschland. Ich heiße Selma A. (Name geändert),
bin heute 33 Jahre alt, mein Mann 39, mein jüngster Sohn
ist 9, meine Tochter 10 und mein ältester Sohn ist 13.
Mein Vater war gegen das Assad-Regime und er musste
mit der ganzen Familie 1984 flüchten. Wir gingen nach
Deutschland. Ich war damals 3 Jahre alt. Wir waren drei
Geschwister. Meine Eltern konnten überhaupt kein
Deutsch. Im Kindergarten haben wir schnell Deutsch
gelernt. Zudem hatten wir ältere deutsche Damen als
Nachbarn, mit denen ich mich immer gerne gesprochen
habe.
Zurück nach Syrien. Irgendwann wollte mein Vater
wieder nach Syrien gehen. 1988/89 ist mein Opa in Syrien
verstorben. Also gingen wir nach Syrien, obwohl mein
Vater Probleme in Syrien hatte. Wir blieben wegen der
Oma sieben Monate. Aber wir konnten dort nicht mehr
leben. Syrien war ganz anders geworden in den drei
Jahren, in denen wir in Deutschland gelebt hatten. Mein
Vater konnte nicht mehr seine alte Arbeit aufnehmen und
hat halt nur irgendwas gearbeitet, um Geld zu verdienen.
Meine Mutter hat einen kleinen Laden aufgemacht. Wir
lebten in einem kleinen Dorf namens Achtarim ca. eine
halbe Stunde von Aleppo entfernt. Dort waren wir ca. ein
Jahr. Mein Vater hatte keine Papiere und so sind wir
wieder über die Grenze geflohen. Wir gingen durch Berge,
Seen, schliefen mal im Hotel, bis wir in Deutschland
angekommen sind.
Zurück nach Deutschland. Erst Aufnahmestation in
Karlsruhe. Dort blieben wir nur ein paar Monate und
kamen dann nach Böblingen. Dort lief alles sehr gut. Ich
habe die Schule besucht. Mein Vater hat sich als Automechaniker selbständig gemacht. Wir zogen in größere
Wohnungen und landeten dann 1990 in Althengstett in der
Nähe von Calw. Da habe ich die Hauptschule besucht.
Danach lernte ich Friseurin und besuchte die Berufsschule.
Meinen Mann kennengelernt. Ich war inzwischen 17
oder 18 Jahre alt. Wir bekamen einen Anruf von einem
Bekannten meines Vaters. Er hat ihm gesagt, dass ein
Freund nach Deutschland kommt und ob mein Vater Arbeit
in seiner Werkstatt für ihn hätte. Mein Vater hat zugesagt.
So habe ich meinen späteren Mann kennengelernt. Am
3. März 2000 haben wir geheiratet. Ich brach meine Lehre
ab und habe gleich Geld verdient, denn das brauchten wir.
Mein Mann konnte ja die Sprache nicht und hatte keine
Aufenthaltserlaubnis. Ich habe dann bei Motoren Dürr in
Gechingen Leiterplatten montiert. Da habe ich etwa ein
Jahr gearbeitet und sehr gut verdient. Damals hieß es,
sobald wir ein Kind hätten, kriegt mein Mann schneller die
Aufenthaltserlaubnis. Am 9. April 2001 habe ich meinen
Sohn zur Welt gebracht. Ich war 20 Jahre alt. Dann blieb
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ich erst mal zu Hause. Mein Mann hatte bei meinem Vater
einen Mini-Job mit 500 Mark. Er lernte zu Hause Deutsch
und ging dann zu Zeitfirmen. Er fing mit Mini-Jobs an und
da er die Sprache recht gut konnte, wurde er fest
angestellt. Er arbeitete im Lager bei einer Tochterfirma von
Daimler. Es lief sehr gut. Ich war zu Hause. Nach drei
Jahren kamen meine Tochter und dann ein Jahr später
mein zweiter Sohn zur Welt.
Zurück nach Syrien. Als wir frisch verheiratet waren,
konnten wir uns nichts leisten. Mit der Zeit, als er dann
besser verdient hat, haben wir uns ein paar Sachen gekauft. Mein Mann hat damals ca. 3000 Mark verdient. Die
Miete war teuer. Dann wollte mein Mann den LKWFührerschein machen. Das Arbeitsamt zahlte etwas dazu.
Er hat seine Arbeit abgebrochen und das Arbeitsamt zahlte
ihn in der Zeit, in der er den Führerschein machte. Nach
3-4 Monaten hatte er seinen Führerschein. 2010 wurde er
selbständig. Er kaufte einen LKW und machte ein ImportExport Geschäft auf. Meine Schwiegereltern in Syrien
haben auch so eine Firma. Sie handelten mit Lebensmittel
und mein Mann wollte die Waren von Syrien nach
Deutschland bringen. Er nahm einen Kredit von der Bank.
Es lief sehr gut. Ich wollte dann mit den Kindern für 1-2
Jahre nach Syrien gehen, damit wir hier etwas Geld sparen
und er den Kredit schneller zurückzahlen konnte. Ich wollte
zu meinen Schwiegereltern ins Haus ziehen. Ich musste
Papiere ausfüllen, damit ich mit den Kindern ins Ausland
gehen durfte. Ich und unsere Kinder sind ja Deutsche.
2010 ging ich dann mit den Kindern nach Syrien. Mein
Mann blieb hier und kam nach 1-2 Monaten hinterher. Er
hat uns die Wohnung renoviert und Möbel gekauft. Das
war in Albab, einer großen Stadt. Dort kennen sich die
Leute. Die Kinder gingen in die Schule.
2011 syrische Revolution. Nach sechs Monaten fingen
die Leute an ‚Freiheit’ zu rufen. Die Familie meiner
Schwiegereltern war dafür bekannt, dass sie schon immer
gegen Assad war. Wenn bei uns in Syrien jemand gegen
Assad ist, dann kommen sie in eine Computerliste. Sie
dürfen nicht auf einem Amt oder als Lehrer arbeiten. Ich
überlegte, wie lange ich mit den Kindern noch in Syrien
bleiben soll. Bei uns war noch alles ruhig. Dann habe ich
gehört, in Homs werden schon Kinder von den Polizisten
abgeschleppt. Es werden Männer mitgenommen und
verhaftet. Irgendwann klopften Polizisten bei uns am Haus.
Meine Schwiegermutter machte die Tür auf und sie
nahmen meinen Schwager mit. Er war nicht mal 22 Jahre
alt. Am Abend kam er zurück. Er war blau geschlagen. Sie
wollten wissen, ob seine Familie was gegen Assad hat. Er
sagte, er hat damit nichts zu tun und wurde frei gelassen.
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Syrische Flüchtlinge
Verhaftungen. Erpressungen. Folter. Da mein Mann
immer noch Transporte nach Deutschland machte, sagte
er, er wolle für uns wieder eine Wohnung in Deutschland
suchen. Zwei Monate später wurde ein anderer Schwager
von der Polizei abgeholt und in Aleppo eingesperrt. Um ihn
frei zu bekommen, muss man Geld bezahlen und zwar
4000 bis 5000 Euro. So viel Geld hatten meine Schwiegereltern nicht. Mein Mann hat Geld überwiesen, damit man
den Bruder freikaufen konnte. Drei Monate später haben
sie einen anderen Bruder geholt. Mein Mann kam nach
Syrien. Jeden Freitag nach dem Freitagsgebet
demonstrierten die Leute. Mein Mann wollte, dass wir
wieder nach Deutschland gehen. Er wollte mit dem LKW
zurück nach Deutschland und ich würde mit den Kindern
mit dem Flugzeug nachkommen. Ihm wurde gesagt, er
muss an der Grenze aufpassen wegen unserem
verdächtigen Familiennamen. Er hat den LKW an der
syrisch/türkischen Grenze stehen gelassen und ging über
die Grenze. An der syrischen Grenze hat einer gearbeitet,
der ein Auge zugedrückt hat. Er hat wohl den Namen
gelesen und wusste, dass mein Mann festgenommen
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(Bild: Stoyan Nenov, Reuters)
werden sollte, aber er tat so, als ob er es nicht sieht und
hat ihn durchgelassen. In der Türkei kam mein Mann
normal durch.
Nur weg aus Syrien. Nach zwei Tagen bekamen meine
Schwiegereltern einen anonymen Anruf, jemand hatte
nach mir gefragt. Dieser jemand, der an der Grenze
arbeitet, wollte mir Bescheid geben, dass mein Mann auf
keinen Fall mehr nach Syrien kommen soll. Er würde auf
jeden Fall verhaftet werden. Eigentlich aber wollte mein
Mann in zwei Monaten nochmals kommen und uns
rausholen. Da wollte ich mit den Kindern weg. Doch es
hieß, ihr seid schon länger als zehn Monate in Syrien, dann
dürfen die Kinder nicht ohne den Vater aus Syrien
ausreisen. Ich sagte, ich bin die Mutter. Ich bin Deutsche,
die Kinder sind deutsch. Wir wollen wieder nach
Deutschland. Sie: Der Vater muss nach Syrien und mit
seinem Einverständnis die Kinder rausholen. Ich habe
überlegt, wie ich das hinkriegen soll. Manchmal kamen
meine Kinder weinend aus der Schule gerannt, weil
Polizisten die älteren Kinder mit Stöcken geschlagen
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haben, damit sie keine Demos machen. Die Kinder hatten
Angst. Mein jüngster Sohn hatte Angst und wollte nach
Deutschland. Er konnte nachts nicht mehr schlafen. Ich
habe mit meinem Mann gesprochen, dass er kommt und
uns rausholt. Er sagte, er kommt in die Türkei, kommt an
die Grenze, aber nicht nach Syrien rein. Wenn wir es nicht
schaffen da rauszukommen, dann will er mit den
türkischen Beamten reden, dass man uns da rausholt.
Mit dem Taxi an die Grenze. An einem Freitag wollten
wir von der Türkei aus zurückfliegen. Mein Mann hatte den
Flug bereits gebucht. Ich hatte alles zusammengepackt
und mich von meinen Schwiegereltern verabschiedet. Ich
bestellte ein Taxi. Nach Aleppo dauert die Fahrt eine halbe
Stunde. Ich bekam richtig Angst. Von Aleppo an die
syrische Grenze sind es nochmals 20 Minuten. Als wir da
entlang fuhren, merkte man, alles ruhig, keine Autos,
niemand. An der syrischen Grenze sah man Polizisten
hinter Sandsäcken mit Schützengewehren. Die syrische
Grenze war zu. Es kam keiner rein und keiner raus. Der
Taxifahrer fragte: warum ist die Grenze zu? Die Frau will in
die Türkei und hat ein Flugticket. Er bekam zur Antwort, ja
wisst ihr nicht, dass wir im Krieg sind. Sie haben uns dann
die Tore aufgemacht. Wir fuhren in die Grenze rein. Da
waren nur schwarz gekleidete Männer und ich dachte, oh
Gott, wo bin ich bloß gelandet. Es war schrecklich. Ich war
froh, dass dieser Taxifahrer da war. Er sagte zu mir:
Bleiben Sie in der Nähe ihrer Kinder und lassen Sie sie
nicht aus den Augen. Er ging mit unseren Ausweisen in das
syrische Grenzbüro rein und wir blieben im Taxi sitzen.
Irgendwann kam ein Beamter und schrie auf Arabisch:
Steigt aus! Wo wollt ihr hin? Ich: Nach Deutschland, wir
wollen wieder zurück. Er: Wo ist der Vater? Ich konnte ihm
nicht sagen, dass mein Mann auf der anderen Seite der
Grenze steht. Ich sagte: Er ist nicht da und ich will mit den
Kindern in die Türkei. Ich und die Kinder sind deutsch. Er
sagte, im Islam hat der Vater die Verantwortung für die
Kinder. Ich sagte: In Deutschland habe ich als Mutter auch
ein Recht auf die Kinder. Er hat mich nur noch
angeschrien. Ich: Mein Mann wartet auf uns in der Türkei,
damit wir wieder nach Deutschland können. Er: Er soll
reinkommen nach Syrien, unterschreiben, dass er die
Kinder mitnimmt und dann können wir reisen. Ich aber
wusste schon, dass es ein Spiel war… Zu dem Zeitpunkt
kamen die ‚Freiheitskämpfer’, die gegen Assad sind, von
der anderen Seite und haben zu schießen angefangen. Ich
bin mit den Kindern direkt in das Gebäude reingelaufen
und wir haben uns hinter Tischen versteckt. Irgendwann
hat die Schießerei nachgelassen… Da kam der Beamte
wieder und war wütend. Er zu mir: Jetzt muss dein Mann
hier rein. Er hat mich gezwungen, bei meinem Mann
anzurufen. Ich sah Schützen auf den Dächern. Er solle nur
ans Grenztor kommen und schreien, dass er der Vater ist.
Ich dachte, dann wird er erschossen. Ich musste auf
Arabisch mit meinem Mann reden. Bevor ich auflegte, rief
ich auf Deutsch: Komm nicht rein, die warten auf dich. Der
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Beamte wurde dann aggressiver, weil ich deutsch
gesprochen habe. Er hat uns gedroht. Es wurde gefährlich.
Geld und Vollmacht. Ich habe den Taxifahrer gebeten,
er soll meinem Mann Bescheid sagen, was hier passiert. Er
ging zur Seite und hat heimlich meinen Mann angerufen.
Er sagte ihm, wenn er reinkommt, wird er verhaftet und
wir kommen nicht raus. Nach dem Gespräch fuhr der
Taxifahrer Richtung Türkei. Mein Mann gab ihm Geld und
eine Vollmacht für den Taxifahrer, dass er uns mit
rausnehmen darf. Der syrische Beamte aber ist vor Wut
gesprungen. Da kam ein anderer Beamter, der sagte mir,
ich soll zu meinen Schwiegereltern zurückgehen. Er kann
mich nicht rauslassen. Ich wollte nur weg. Ich musste ein
anderes Taxi bestellen, das mich zurück zu meinen
Schwiegereltern brachte. Ich war mit den Nerven am
Ende. Dem anderen Taxifahrer sagte ich, er soll meinem
Mann Bescheid sagen, dass ich zurückgehe und wir fuhren
zurück zu den Schwiegereltern. Die türkischen Beamten
aber wollten meinem Mann helfen. Er hat sie angefleht,
dass die türkischen Beamten ihn nach Syrien reinbringen,
damit ihm die Polizisten nichts tun können. Die Türken
haben mit den Syrern gesprochen, dass meinem Mann
nichts getan wird, da er ja nur seine Familie holen will.
Doch die syrischen Polizisten brachten ihn ins Gefängnis
nach Aleppo.
Ich wusste gar nichts davon. Ich fragte mich, was ist
mit meinem Mann passiert. Er müsste eigentlich wieder in
Deutschland sein. Ich versuchte ihn telefonisch zu
erreichen. Ich rief den Taxifahrer an. Er erzählte, er wisse
es nicht, ob mein Mann zurückgeflogen ist. Am nächsten
Tag rief ich meinen Bruder in Deutschland an und fragte,
ob er meinen Mann am Flughafen abgeholt hat. Mein
Bruder sagte, er kam nicht an. Erst nach zwei Tagen erfuhr
ich, dass er in Damaskus im Gefängnis ist.
Verhör in Damaskus. Es wurde nicht gefragt, wer mein
Mann ist und woher er kommt. Man hat ihm die Augen
verbunden und in Unterwäsche gelassen. Er wurde
gefoltert, ohne dass er erzählen konnte, was eigentlich los
ist. Er blieb ca. zwei Wochen in Damaskus. Meine
Schwiegereltern fragten nach, was los ist, und es hieß:
wenn sie Geld schicken, können sie vielleicht mit ihm
sprechen. Sie bekamen ihn nicht ans Telefon, mussten
aber weiter Geld fürs Essen schicken. Mein Mann wurde
mit einem Silikonschlauch geschlagen. Irgendwann schrie
er: Aufhören! Ich komme aus Deutschland. Jeden Tag
kamen andere Leute, die ihn gefoltert haben. Einer von
denen hat dann endlich zugehört. Mein Mann konnte seine
ganze Geschichte erzählen. Danach haben sie ihn nach
Aleppo ins Gefängnis gebracht. Drei Wochen lang ging das
so und wir wussten: je schneller wir Geld bezahlen, umso
schneller kommt er raus. Wir haben von Verwandten und
Nachbarn Geld geliehen. Das waren so große Summen,
dafür kann man in Syrien Häuser kaufen. Als wir das Geld
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antenne
zusammen hatten, ging ein Freund von ihm ins Gefängnis
und hat das Geld abgegeben, damit er raus kam. In dieser
Zeit habe ich mich mit den Kindern in einem Dorf, aus dem
mein Vater kommt, versteckt. Ich hatte Angst: wenn sie
meinen Mann haben, holen sie auch mich und die Kinder.
Freigekauft aus dem Gefängnis. Als mein Mann wieder
zu seinen Eltern kam, sah er anders aus. Bart, Kleidung
musste er gleich im Bad ablegen und sich erst mal mit Gas
oder Benzin abduschen, um die ganzen Läuse und Viecher
abzuwaschen. Aber er hatte im Gefängnis ein Schreiben
vom Richter bekommen, dass die Familie deutsch ist und
wir das Land mit ihm verlassen dürfen. Als er uns abholte,
er sah krank und fertig aus. Er erzählte nicht, wie es ihm
erging, sondern nur: Sobald wir einen Flug bekommen,
fliegen wir von Aleppo nach Deutschland.
Nur weg nach Deutschland. Mein Mann bat Freunde,
die Flugtickets für uns zu kaufen. Die Tickets haben wieder
jede Menge Geld gekostet. Einen Teil haben wir in Syrien
zusammengekriegt, einen Teil hat mein Bruder aus
Deutschland geschickt. Zwei Wochen hat es gedauert, bis
wir einen Flug hatten. In dieser Zeit blieben wir nur im
Hause. Wir konnten uns nicht bewegen. Draußen war
immer was los. Die Polizisten waren immer am rennen.
Man wusste nicht, wer wird heute mitgenommen. Und wir
hatten kein Geld mehr. Dann ging’s zum Flughafen nach
Aleppo. Die Fahrt war anstrengend, denn überall waren
Polizisten. Auch am Flughafen sah es aus wie im Krieg.
Man konnte sich nicht normal bewegen. Alles wurde
kontrolliert. Überall Polizisten, überall Gewehre. Wir hatten
richtig Angst. Die Freunde meines Mannes brachten uns
zum Flughafen und verabschiedeten sich. In einer Stunde
sollten wir fliegen. Am Schalter zeigte mein Mann unsere
Tickets. Da hieß es: nichts gebucht,
die Tickets sind nicht richtig. Unsere
Namen stehen nicht auf der
Passagierliste. Ich zu meinem Mann:
Die wollen bestimmt Geld. Syrische
Beamte und Polizisten wollen nur
Geld. Mein Mann ging zum Schalter
und fragte, wenn er Geld bezahlt, ob
es dann noch Plätze für uns gibt.
Antwort: Das wäre vielleicht
machbar. Sie wollten 1000 Euro.
Mein Mann hatte noch 200 Euro in
der Tasche. Er rief wieder seine
Freunde an, die bereits zu Hause
waren. Sie legten das Geld
zusammen und kamen mit 1000
Euro, die wir hintenrum zahlen
mussten. Dann waren Plätze frei.
Und kurze Zeit später saßen wir Gott
sei Dank im Flieger. Ich war froh,
dort raus-zukommen, egal wie viel
wir bezahlt hatten. Ein Verwandter
von uns hatte sein Haus verkauft,
weil er Geld für uns und die ganze
Familie brauchte. Er zog dann zu
einem anderen Bruder. Da leben
heute zwei Familien in einem Haus.
Es hieß, unser Flug geht nach
Deutschland. Irgendwann hieß es
dann, wir landen in Frankreich, da
Passagiere für Frankreich mit im
Flugzeug saßen. Also gab es doch
Plätze. Danach flogen wir weiter bis
Frankfurt und dort holten uns zwei
meiner Brüder ab. Im Mai 2012
waren wir wieder hier in
Deutschland.
Frau und Kind warten auf Ablug aus Syrien (Bild: Khaled al-Hariri, Reuters)
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antenne
Leben in Deutschland. Mein Mann hatte keine Wohnung
für uns als Familie gefunden. So wohnten wir in einer
1-Zimmer-Wohnung. Wir waren hoch verschuldet. Meine
Brüder hatten uns ja ständig Geld geschickt. Wir waren mit
den Nerven am Ende. Ich hatte 10 Kilo abgenommen. Man
hat es uns angesehen, dass es uns in Syrien nicht gut
ging. Mein Mann im syrischen Gefängnis war mit 50
Männern in einem Raum. Viele waren krank, hatten Läuse.
Wenn man schlafen wollte, musste man sich an einen
anderen lehnen. Es waren Leute schon 4 oder 5 Monate
drin. Man bekam nur schmutziges Wasser, verfaultes Brot.
Mein Mann hat nichts zu sich genommen, weil er Angst
hatte, dass ihm etwas passiert. Von diesen Erlebnissen
mussten wir uns erst erholen. Ich wohnte dann drei
Monate bei meinen Eltern. Aber auch das war zu eng. Mein
Mann hatte seine 1-Zimmer-Wohnung. Dann wurde er
krank. Er hatte Leberprobleme und war drei Monate krank.
Wir suchten wie verrückt nach einer Wohnung. Ich ging
zum Jobcenter. Ich habe alles erzählt, aber niemand hat
uns geholfen. Ich bekam eine Liste für Wohnungssuchende. Das ging vier Monate so. Mein Vater war ein
Jahr vorher gestorben und meiner Mutter ging es auch
nicht gut. Der Vermieter der 1-Zimmer-Wohnung meines
Mannes hat uns dann eine 2-Zimmer-Wohnung in
Zuffenhausen vorgeschlagen, damit ich mit den Kindern
hinziehen kann. Ich war froh. Die Kinder mussten zur
Schule. Ich bin mit den Kindern nach Zuffenhausen
gezogen, hab mich angemeldet und mein Mann blieb in
Böblingen.
Nachrichten aus Syrien Im August 2012 wurde ein
jüngerer Bruder meines Mannes in Aleppo erschossen. Er
wurde damals als erster mitgenommen. Drei Monate
später wurden zwei Cousinen, die Nichte und ihr Mann
durch die Explosion eines Gebäudes getötet. Wir haben an
einem Tag vier Personen verloren. Die eine Cousine hatte
fünf Kinder, die andere zwei Kinder und die Nichte hatte
zwei Söhne. Alle Kinder haben es überlebt. Doch das alles
war ein Horror.
Zur Schuldnerberatung der Betriebsseelsorge. Mein
Mann konnte zunächst nicht arbeiten. Wir aber haben
Schulden und finden keine Wohnung. Ich ging zur
Schuldnerberatung, weil ich mir Hilfe gesucht habe. Ich
wollte zuerst nur reden. Ich ging auch zum Jobcenter, aber
mit denen kann man nicht reden. Ich muss sehen, dass ich
die Schulden in Griff bekomme. Wir stehen in der Schufa
mit unseren Schulden und deshalb bekommen wir auch
keine Wohnung, trotz Wohnberechtigungsschein. Gott sei
Dank arbeitet mein Mann seit zwei Monaten wieder. Er ist
bei mir in Stuttgart angemeldet, wohnt aber nicht bei mir,
sondern in Böblingen. Und bis heute finden wir keine
Wohnung, in die wir als Familie zusammenziehen können.
Warten auf Abflug aus Syrien
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(Bild: Khaled al-Hariri, Reuters)
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antenne
BW Post-Tochter: Bernd K. muss bleiben!
Protest gegen Kündigung des Betriebsratsvorsitzenden
g.l. Vor zwei Jahren versuchte die BW-Post ihrer Betriebsratsvorsitzende zu kündigen. Ver.di und die Betriebsseelsorge reagierten mit Aktionen unter dem Motto ‚Branka
muss bleiben‘. Im Januar nun versucht die BW-PostTochter PS 12 – Zustellgesellschaft mit einer fristlosen
Kündigung den aktiven Gewerkschafter Bernd Kleinschmidt
loszuwerden. Mahnwache, Flugblattverteilung und Kundgebung auf dem Marienplatz – damit unterstützten ver.di
und der Betriebsseelsorger Guido Lorenz den mit
arbeitsrechtlichen Mitteln bekämpften Betriebsratsvorsitzenden. „Mobbing gegen einen kündigungsgeschützten Betriebsrat“ nennt den Vorgang der Betriebsseelsorger Lorenz. Mit Hilfe von ver.di war 2012 ein
Betriebsrat zustande gekommen, der sich seitdem für die
ca. 150 KollegInnen, die täglich Post und Zeitungen
zustellen, einsetzt; ohne Tarifvertrag und Mindestlohn.
Deshalb ist es notwendig! ‚Bernd K. muss bleiben!‘
DiePoschtischda
Praktikant Lorenz als Zusteller in Weinstadt unterwegs
g.l. Auf einer Betriebsversammlung bei der Deutschen
Post, hatte sich Guido Lorenz als Betriebsseelsorger
angeboten, ein paar Wochen als Briefzusteller zu arbeiten.
Mit Hilfe des Betriebsrates wurde das Anliegen zumindest
ein eintägiges Hineinschnuppern am 4. November 2014,
Postpackstation Waiblingen, ein Zustellbezirk in
Beutelsbach.
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Morgens in Waiblingen: Die Briefe, Werbekataloge,
Einschreiben und kleinen Päckchen wurden zunächst per
Hand für die spätere Zustellung sortiert; hinzu kamen die
maschinell sortierten Briefe vom Briefverteilzentrum. Es
war 7.30 Uhr und mit Hilfe meiner ausgesprochen
freundlichen Einlernerin Geli war meine Verwirrung über
die vielen, oft geteilten Straßen im Sortierregal halb so
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schlimm. Nur eine blaue Postkarte fiel ihr auf.
„DiePoschtischda“ stand drauf; auch zur Belustigung der
Kolleginnen. Ich konnte mich erinnern, dass ich zwei Tage
vorher meine Freunde mit solch blauen Postkarten zu
einem Fest eingeladen hatte. Was für ein Zufall! „Ein, zwei
Wochen muss man schon lernen, bis man Sortieren und
Zustellen einigermaßen kann.“, war Gelis Aussage, wenn
ich wieder einmal verwirrt eine Straße oder die passende
Hausnummer suchte. Seit sie 18 ist, also seit 34 Jahren
arbeitet Geli bei der Deutschen Post. „Ein guter
Arbeitgeber!“, darauf besteht sie. „Obwohl – seit die Post
privatisiert ist, ist der Druck riesig. So war es früher nicht.“
– „Die Zustellbezirke sind größer geworden. Und immer
wieder muss man Werbung in jeden Briefkasten werfen,
wenn dies nicht ausdrücklich als unerwünscht gekennzeichnet ist. Und nächsten Samstag kommt die BILD.
Ausgabe zu ‚25 Jahre Mauerfall’ – kostenlos in jeden
Briefkasten. – Dann bin ich fertig. Ein Bad zur Entspannung. – Aber eigentlich wollten wir am Wochenende
zu einer Taufe gehen. Ob ich das überhaupt schaffe?“
Nach Beutelsbach fuhren wir mit dem Privat-PKW, luden
den Zustellwagen aus, behängten ihn mit den gefüllten
Zustelltaschen und zogen los. Ein herrlicher Spätherbsttag
war es: Nicht zu warm, nicht zu kalt, trocken. Mit dem
Ausblick auf einen 12 km langen Wandertag füllten wir die
ersten Briefkästen und ich schwärmte über das angenehme Wetter. Nicht, dass mir Geli widersprach, aber sie
meinte, ich hätte irgendwelche himmlischen Verbindungen
spielen lassen, denn morgen, wenn ich nicht mehr dabei
wäre, würde es regnen und erheblich kälter sein. Und
schon fielen ihr die kalten Zustelltage ein, wo einem trotz
Handschuhen die Fingerspitzen gefroren; und an denen
sich trotz Wollsocken nach den ersten Stunden die Kälte
durch die dicksten Klamotten fraß. O.K. ich hatte
verstanden und merkte schon bald, dass ich auch schon
länger keine 12 km mehr gelaufen war. Am nächsten Tag
hatte ich Muskelkater. Ich hätte Dehnungsübungen
machen sollen – doch darauf hatte mich Geli nicht
hingewiesen.
die Billigpost, wie die BW-Post, deren Zusteller häufig nur
Minijobs mit Mini-Löhnen haben. Aber schon ging die
Zustellung weiter. Nach fünf Stunden gab’s dann eine
Pause an einem Mäuerchen, das sich Geli seit längerem
ausgesucht hatte. Danach der Rest der Zustellung;
schließlich Rückfahrt nach Waiblingen; Abschlussarbeiten
für Briefe, Päckchen und Einschreiben, die nicht zugestellt
werden konnten. Es war 16.30 Uhr und endlich
Feierabend; die meisten Kolleginnen waren noch nicht
zurück. Nach 9 Stunden und 12 km Zustellweg durch
Beutelsbach bedankte ich mich bei meiner heutigen
Kollegin und entwickelte eine Ahnung, was es heißt, ein
Arbeitsleben lang Zustellerin zu sein, besonders nachdem
die Post privatisiert worden ist. Am nächsten Morgen saß
ich im wohl temperierten Büro der Betriebsseelsorge – und
draußen ein Regenschauer nach dem anderen. Da fiel mir
meine gestrige Kollegin Geli ein. Wie machte sie die
Zustellung bloß bei Regen? Immer wieder die schweren
Poststapel in der linken Hand, während sie von Haustür zu
Haustür eilt und aufpassen muss, dass die Post nicht
durchnässt und sie selber bei dem pitschnassen Wetter
nicht krank wird. Postzustellung ist eine bedeutende
öffentliche Dienstleistung, die nicht in die Hände privater
Unternehmen gehört und ordentlich entlohnt werden
müsste.
An der Stuttgarter Straße entdeckte ich die Wohnung von
zwei meiner Freunden und Geli drücke mir sofort die Post
für die entsprechenden Häuser in die Hand. Also Briefe
und Werbung hinein, auch in den Briefkasten der Freunde.
Und da kam sie zum Vorschein: Die blaue Karte mit dem
Aufdruck „DiePoschtischda“. Hoppla – die kannte ich doch.
Und tatsächlich: ich hatte sie zwei Tage zuvor in einen
Briefkasten in Schorndorf geworfen. Nun war ich Postkunde und Postzusteller meiner eigenen Post geworden.
Klar – die Post ist eine wichtige öffentliche Dienstleistung;
auch wenn inzwischen die Deutsche Post privatisiert ist, sie
die Lohnschraube anzieht und auch prekäre Beschäftigungsformen einführt. Schließlich gibt es politisch gewollt
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antenne
Menschenfreundliche Arbeit
Arbeitnehmerempfang 2014
g.l. Am Freitag, den 14. November 2014 fand der Arbeitnehmer-Empfang in die Betriebsseelsorge statt. Betriebsseelsorger Guido Lorenz begrüßte die anwesenden BetriebsrätInnen, Bürger und Erwerbslosen, die sich in den
bescheidenen Räumlichkeiten drängten. ‚Partners in
Rhyme’, Alain an der Gitarre und Ebbe an den Drums,
verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Gastredner war
Frank Iwer, Sekretär IG Metall Bezirk Baden Württemberg.
Heute verbringt ein normaler Beschäftigter 40 Jahre seines
Lebens in der Arbeit und er macht das mit Engagement,
zumindest wenn die Arbeit interessant ist. Doch in der Arbeit ist vieles nicht gut. Das muss wieder stärker zum Markenzeichen für Gewerkschaften in Betrieben werden.
Damit meine ich nicht, dass wir uns nicht auch um Gesellschaftspolitik kümmern müssen. Wir brauchen natürlich
Frank Iwer: Wir haben im letzten Jahr mittels einer
Beschäftigtenbefragung versucht herauszufinden, was die
Themen sind, die um den Begriff Arbeit kreisen und den
Beschäftigten unter den Nägeln brennen. 560.000 Kolleginnen und Kollegen haben bundesweit mitgemacht. Dabei
ist eines deutlich geworden: In den Betrieben ist längst
nicht alles gut. Es gibt Themen, wo wir in den letzten 1520 Jahren weggeguckt haben.
Ich habe überspitzt gesagt den Eindruck, wir, die
IG Metall, haben uns mit den Erfahrungen aus der Krise
1993/1994 eigentlich neben der Frage Entgeltentwicklung
nur noch um das Thema gekümmert, wie Beschäftigte aus
dem Erwerbsleben rauskommen. Wir haben uns um die
Frühverrentung gekümmert, um Alterteilzeit, um Beschäftigung- und Qualifizierungsgesellschaften. Das sind Handlungsfelder, die alle wichtig und richtig waren. Aber es ging
immer um die Frage, wie kommt der Arbeitnehmer aus
dem Betrieb raus.
Guido Lorenz Betriebsseelsorger
auch eine entsprechende Sozialgesetzgebung. Wir brauchen entsprechende Arbeitsgesetzgebung. Wir brauchen
entsprechende Rentensysteme und Bildungssysteme. Aber
Kernjob von Gewerkschaften und Betriebsräten ist nun
einmal, sich um das Arbeitsleben der Menschen zu kümmern.
In der Befragung haben 40 % der Beschäftigten gesagt,
dass der Arbeitgeber regelmäßig in massiver Form in ihre
Arbeitszeitgestaltung eingreift. In vielen hundert Betrieben
haben wir heute ‚Arbeit auf Abruf’. Da haben wir die Situation, dass der Arbeitgeber sagen kann: 14 Uhr, ich hab
kein Material mehr, geh mal nach Hause, es kostet dich ja
nichts, denn du hast ja noch Zeit auf dem Arbeitszeitkonto.
Das ist aber Enteignung, was da passiert, denn die Zeit auf
dem Arbeitszeitkonto gehört dem Beschäftigten. Und der
Planungsfehler des Materials ist Verschulden des Arbeitgebers.
Frank Iwer Sekretär IG Metall
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Nun haben wir im IG Metall Bezirk beschlossen, ein Projekt
zu starten. Das heißt BEAT. Bei den Themenkomplexen
Arbeitszeitflexibilisierung, Arbeits- und Leistungsbedingungen, Qualifizierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf
und Altersübergänge wollen wir die Arbeitsbedingungen
wieder verbessern. Wenn wir dieses Projekt gut machen,
können wir das dann im Jahr 2015 bilanzieren. In Baden
Württemberg könnten wir dann in 50 Betrieben die Leistungsvereinbarung zu Gunsten der Kollegen verbessern.
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antenne
Ebbe und Alain: Partners in Rhyme
Wir könnten in 100 Betrieben die Altersübergänge besser
geregelt haben, wir könnten in 100 Betrieben dafür gesorgt haben, dass Arbeit auf Abruf der Vergangenheit angehört.
Das zweite, was wir versuchen werden. Wir wollen aus den
Themen der Befragung Aspekte für unsere Tarifpolitik aufgreifen. Neben dem, dass wir mehr Geld rausholen wollen,
wollen wir das Thema Altersteilzeit deutlich verbessern und
das Thema Bildungsteilzeit als neues Instrument einführen.
Das Thema Bildung ist in den Betrieben nicht besonders
beliebt. Es gibt Widerstände. Es reicht nicht einfach Betriebsvereinbarungen zu schreiben, wo drinsteht, du darfst
dich 10 Tage im Jahr weiterbilden. Das Stück Papier bewirkt gar nichts. Man muss den Einzelnen gewinnen und
ermutigen, sich das zuzutrauen. Manche haben Angst davor, weil vielleicht eine Lern-, Lese-, Schreib- oder Rechenschwäche zum Vorschein tritt. Aber das größere Problem ist, Bildungs-ansprüche auch mal gegen den Arbeitgeber durchzusetzen. Der Betriebsrat sollt da mitentscheiden,
wer in die persönliche Weiterbildung gehen darf. Es geht
nicht um den Computerkurs, den der Unternehmer
braucht, nicht um den CNC-Kurs, sondern um Kurse, bei
denen Kollegen sagen, das brauche ich für mich selber.
Und das Gleiche gilt für die Frage der Altersteilzeit. Die Arbeitgeber, unsere Tarifpartner, werden hierbei von ihrer
eigenen Ideologie aufgefressen. Sie haben uns gesagt,
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Altersteilzeit brauchen wir auch in Zukunft, aber die bekommt nur der, der nicht mehr kriechen kann. In Altersteilzeit darf nur noch der, der eigentlich gesundheitlich so
angeschlagen ist, dass er keinen Tag mehr ganz arbeiten
kann. Wir sind aber der Meinung: Ein Mensch muss sich
selber für seine Altersteilzeit entscheiden können. Und wir
wollen, dass die Beschäftigten mit geradem Rücken und
ohne soziale Not zu leiden, vorgezogen in Rente gehen
können.
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Karstadt Stuttgart – Unter die Räuber gefallen
„Rene Benko“: Immobilien-Millionär in Stuttgart gesichtet
g.l. Im Oktober 2014 erhielten die oft schon seit
Jahrzehnten beschäftigten MitarbeiterInnen der KarstadtFiliale den Bescheid, dass ihre Filiale zur Jahresmitte 2015
geschlossen und die Immobilie
Königstraße/Schulstraße ertragreicher vermietet werden soll. Hatte
der Investor Nicolas Berggrün einst
den insolventen Karstadt-Konzern
für 1 € erworben und über den
Konzern-Namen Profite herausgezogen. So verkaufte Bergruen
nun den Konzern an den
österreichischen 37-jährigen
Immobilienunternehmer Renè
Benko. Benko versucht aus
Stuttgart Profit zu schlagen, nicht
aus der schwarze Zahlen
schreibenden Stuttgarter KarstadtFiliale, sondern aus der Vermietung,
vermutlich an Primark. Um ihre
ohnmächtige Wut auszudrücken,
unterbrachen über 60 KarstadtBeschäftigte am 6. Februar 2015
ihre Betriebsversammlung und
machen ihrer Empörung vor den
Türen der Stuttgarter Filiale Luft. Sie wollten, dass der
örtliche Betriebsrat über den Interessensausgleich und den
Sozialplan verhandeln kann, damit auch die Möglichkeit
einer Transfer-Gesellschaft für die Beschäftigten vereinbart
wird, d.h. ein leichterer Übergang in eine neue
Beschäftigung.
Zu aller Überraschung erschien der Immobilienbesitzer
Renè Benko höchstpersönlich. Betriebsseelsorger
Guido Lorenz hatte sich als Räuber verkleidet und
rühmte sich als Renè Benko, der immerhin zu den 50
reichsten Österreichern gehört. Benko: „Immobilien mach
ich zu Silber und Kaufhäuser zu Gold. Ihm schallte ein
lauter Protest der Karstadt-MitarbeiterInnen entgegen:
„Renè Benko macht unser Kaufhaus platt. Drum sagen
wir’s laut: Dich haben wir satt!“
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antenne
Hallo Glück – Wo bist du?
Seminar am Rand des Meteoritenkraters Nördlinger Ries
Musik Verwendung findet. Und schon spielte er
Weisen von Mikis Theodorakis. Da konnte sich der
Spanier Enrique nicht zurück-halten. Mit seiner
markanten, kräftigen Stimme stimmte er spanische
Liebes- und Widerstands-lieder an und fügte
eigene Kompositionen hinzu. Die Holländerin
José fand im Nu Volks- und Kinderlieder und sang
zum wachsenden Vergnügen aller. Andere hatten
noch Strophen von deutschen Arbeiterliedern in
Erinnerung, denn „Die Gedanken sind frei“.
Katharina schien wie aus dem Steh-greif eine
lange Ballade zu rezitieren, dass keiner erahnen
konnte, wieviel Arbeit dahinter steckte.
g.l. Keiner hatte sich vorher gedacht, welche ungeahnten
Fähigkeiten das technische Versagen bei der Vorführung
des Films „Hektors Reise und die Suche nach dem Glück“
oder des Films „Anleitung zum Unglücklichsein“ hervorbrachte. Die Rhythmen des Tanzes aus dem Film Alexis
Sorbas rissen Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die
Tanzfläche und schon bewegten sie sich zum Sirtaki.
Sicher hatte die Wanderung zum Ipf, dem Hausberg von
Bopfingen, die Lust an Bewegung, an Gespräch und
Begegnung gefördert. Der Ipf ist ein 668 m hoher
Zeugenberg der östlichen Schwäbischen Alb. Auf dem
Gipfelplateau befinden sich mächtige vorgeschichtliche
Befestigungsanlagen, die bereits in der Spätbronzezeit ab
dem 12. Jahrhundert v. Chr. angelegt wurden. Nach der
Wanderung wurden unter der fachlichen Anleitung der
Teamerin Mirjam Kretschmer Glückskraniche gefaltet;
nach japanischer Tradition der Weg zu einem Glücksversprechen, wenn man 1000 Kraniche gefaltet hat. Am
Abend dann die Überraschung: Alexander, selbst Grieche
und vor Jahrzehnten als Arbeitsmigrant nach Stuttgart
gekommen, holte aus seinem Hotelzimmer eine griechische
Gitarre. Diese Bouzouki (griechisch:- µπουζούκι) ist ein
Lauteninstrument, das hauptsächlich in der griechischen
So vergaßen die Teilnehmer am Samstag, den
25. Oktober 14, in Kirchheim/Ries schnell den technisch
verpatzten Abend. Man hatte sich ja zum Glücksseminar
der Betriebsseelsorge im Hotel Oßwald getroffen. Wir
hatten schon die eigenen Assoziationen zum Glücksbegriff
gesucht; das Buch vom Betriebsseelsorger Guido
Lorenz „Wohin gingen am Abend die Maurer?“ als
Medium benutzt, sich auf Lebensfragen einzulassen wie
„Möchtest du wissen, was du schon alles vergessen hast?“
oder „Wie viel Geld möchtest du besitzen? Ab welcher
Vermögenshöhe beginnst du zu teilen?“ oder „Ist unser
Leben dazu da, die Erde mit Besitzrechten zu überziehen
und als Handelsware zu vermarkten?“
Die Kooperation der „Stummen Maler“ führte gewiss
dazu, dass die Teilnehmer sichtliche Freude an der
„Glücksdusche“ am Sonntagmorgen empfanden. ‚Was
einem am anderen gut gefällt, durfte man den anderen
Seminarteilnehmern auf ein Blatt am Rücken schreiben.
„Inge hat viele Kunden!“ meinte Reza, weil er bei ihr für
seine Botschaft lange anstehen musste. Während des
Gottesdienstes erschloss sich allen schnell die biblische
Botschaft von der ‚Stillung des Sturmes‘. Im Vertrauen
auf Gott lässt sich auch in aufgeregten Zeiten immer
wieder Freude und in Gemeinschaft großes Glück finden.
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Fachkräftemangel und Nicht-Übernahme der Azubis
Die Belastungen sind hoch in Feuerbach
g.l. Beim Oktobertreff des Feuerbacher Betriebsräte
Treffs im Betriebsratsbüro des Aufzugherstellers
Haushahn stellte sich die betriebliche Situationen der
Betriebe ausgesprochen widersprüchlich dar. Während
Haushahn mit massivem Fachkräftemangel kämpft,
besonders im Bereich Allgäu und Bodensee, lehnt der
Betriebsrat des Maschinenbauers Coperion die beantragte
Mehrarbeit ab, weil die Firmenleitung die Azubis, die
zukünftigen Fachkräfte, nicht unbefristet übernehmen will
und ab 2015 eine Reduzierung der Ausbildung im
gewerblichen Bereich plant.
Die Belastungen sind hoch. „Manchen Kollegen muss man
schon aus Gesundheitsgründen heimschicken!“ „Das
Gesetz verlangt 11 Stunden ununterbrochene Ruhezeiten“ So froh die Betriebsräte bei Haushahn über
die gute Auftragslage sind, so machen nun die Überlastungen der Mitarbeiter durch ausbleibende Neubesetzung Sorge. Gewiss haben Burnout, Herzinfarkt
und Gehirnschlag vielfältige Ursachen, aber Arbeitsdruck, psychische Mehrfachbelastungen und
unterbrechungslose Arbeit müssen im Blick der
Geschäftsleitungen und Betriebsräte bleiben. „Wir
werden eine Vereinbarung über eine ganzheitliche
Gefährdungsbeurteilung notfalls auch mit Hilfe einer
Einigungsstelle durchsetzen!“, so der Betriebsrat von
Coperion. Beim Chemiekonzern AKZO Nobel werden
im Bereich Performance Coatings und Verkaufsregionen die Verkaufsregionen von 70 auf ca. 30
reduziert. Das gibt den Betriebsräten vor Ort die
Chancen der nahen Wege.
Die Zahl der Azubis wurde in Stuttgart gesteigert. Man
bildet nun wieder Chemikanten aus. Bei KBA MetalPrint
ist die Auftragslage durchaus positiv. Der Personalaufbau
hängt aber der Steigerung des Umsatzes hinterher. Dies, in
Verbindung mit vielen von der Geschäftsleitung gleichzeitig
angegangenen Projekten, überlastet viele Mitarbeiter,
besonders auch in der mittleren Ebene, weil die betrieblichen Veränderungen zu zahlreichen offenen Baustellen
führen, die zeitlich gar nicht bearbeitbar sind. Ein
Veränderungsbedarf besteht jedoch, da z.B. die Fertigung
durch ausgebliebene Investitionen in der Vergangenheit
viel Nachholbedarf hat und ebenso auch die Prozesse im
Unternehmen.
Trotz Rekordgewinn Personalabbau
Cannstatter Betriebsräte in Sorge
g.l. Selbst im Stiftungsbetrieb Mahle kommt die
Belegschaft nicht zur Ruhe. Das wurde beim Cannstatter
Betriebsrätetreff am 21. November 2014 berichtet.
Eigentlich wollten sich die Betriebsräte auf die Neuverhandlung der Standort- und Beschäftigungssicherung
konzentrieren, da überbrachte der Vorstand die HiobsBotschaft ‚ 15% weniger Personalkosten’. Was will die
Geschäftsleitung: 40 Stundenwoche? Kein Weihnachtsgeld? Mehr Leiharbeit? Urlaubsgeld streichen? Die
Betriebsräte berichteten von einer sehr engagierten
Betriebsversammlung ein paar Tage zuvor. Man hatte ja
erst kürzlich beim Firmenzusammenschluss mit Behr eine
brauchbaren Wegstrecke erreicht – und nun diese HiobsBotschaft, obwohl Mahle insbesondere durch die
ehemaligen Behr-Betriebe ein Rekordergebnis eingefahren
15
hat. Doch immer wieder schlägt der Wettbewerbsdruck auf
die Automobilzulieferer durch, den die Automobilindustrie
erzeugt. Sich gegenseitig abstützende Verträge wie
Preisnachlässe bei den Produkten und höhere Gewinnmargen bei den Entwicklungsaufträgen gibt es heute nicht
mehr.
Bei Foxboro Eckardt ist man nach dem Kauf durch den
französischen Schneider-Konzern alarmiert. Da die EckardtProdukte nicht ins Konzern-Portfolio passen, könnte der
benachbarte, wirtschaftlich expandierende Mahle-Betrieb
Gebäude und Grundstücke kaufen wollen. Dann stände der
Cannstatter Standort von Foxboro Eckardt auf der Kippe.
Zudem haben innerbetriebliche Personalveränderungen
dazu geführt, dass der örtliche Betriebsrat keinen
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Geschäftsführer als Ansprechpartner vor Ort mehr hat.
Und den Betriebsräten ist klar: Wenn der Standort an
Mahle verkauft wird, ist die Zukunft höchst ungewiss.
Bei solchen Berichten aus der Industrie zeigten sich die
Personalräte des LKA (Landeskriminalamt) betroffen.
Die Arbeitsplatzsicherheit als Beamte ist den Beschäftigten
schon sehr viel wert. Allerdings gibt es im LKA auch
Tarifangestellte, die als Befristete auf Übernahme hoffen.
Sie waren eingestellt worden, um persönliche Arbeitszeitreduzierungen wegen Kindererziehung oder Pflege
auszugleichen. Das betriebliche Gesundheitsmanagement
wird bei der Polizei derzeit ausgebaut. Die steigende Zahl
der Krankheitstage und der hohe Anteil an LangzeitKranken stehen hierbei im Fokus.
Betriebsratsbüro Mahle
Damit der Erwebslosentreff gelingt
Mittwochstreff – eine Einladung für Stuttgarter Langzeitarbeitslose
g. l. Seit einen Jahr spielt unser Musikus Richard
Hellbach höfische Tänze von Mozart oder flotten Rock
und Jazz als Umrahmung des Mittagessens im Erwerbslosenkreis. Inzwischen ist seine Musik eine regelmäßige
Bereicherung für unsere Gäste geworden, die als
Langzeitarbeitslose, EU-Rentner oder als Rentner mit
Aufstockung zu uns in die Betriebsseelsorge kommen.
Norbert Miczek, ehemaliger Betriebsrat bei der
Deutschen Post, kommt seit 15 Jahren immer um den
6. Dezember herum als St. Nikolaus in den Mittwochstreff.
Regelmäßig erfreut er die TeilnehmerInnen mit seinen
Legenden, die zum Ausdruck bringen: Niemand wird
übersehen und vergessen. Häufig hat er noch Nudeln für
das Mittagessen in unserem Erwerbslosentreff im Sack.
HERAUSGEBER:
Guido Lorenz – Kath. Betriebsseelsorger, Wiesbadener Str. 20 70372 Stuttgart,
FON: 0711/56 10 84 FAX 56 10 85 Mail: [email protected]
Web-Adresse: www.stuttgart.betriebsseelsorge.de
Konto-Nr. BIC: SOLADEST 600 IBAN: DE73 6005 0101 0002 4702 05
g.l. = Guido Lorenz u.w.= Ute Weber uli.w.=Ulrich Weißer
Bilder: Betriebsseelsorge, Reuters, Graffiti,
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Ich wünschte, ich wäre tot!
Geschlagen, vergewaltigt, entwürdigt …
Haben die Opfer von Gewalt und Mord nur ‚Pech
gehabt’? Und gibt es damit keine Hoffnung auf Gerechtigkeit? In unseren Tagen: Geschlachtet von Boko
Haram in Nigeria oder als 10jähriges Mädchen zum Selbstmord-Attentat missbraucht! 1975-78 ermordet von den
Roten Khmer in Kambodscha (2 Millionen Opfer)! 1994
während 100 Tage in Ruanda: 1 Million Tutsi hingemetzelt
von der ethnischen Mehrheit der Hutu! In unseren Tagen:
Gekreuzigt, vergewaltigt und geköpft – in Syrien von den
14 Jahre vom Rest getrennt und ihnen vor aller Augen in
den Kopf geschossen. „Darunter waren auch mein Mann,
mein Bruder, unser Vater und der Onkel.“ Die Frauen und
Kinder wurden in ein Nachbardorf gebracht. Frauen, Jesidinnen, gelten der Terrororganisation IS als Ungläubige
und damit als legitime Beute. In einem Saal wurden die
Frauen und Mädchen feilgeboten, nach Alter und Schönheit
für sechs bis zwölf Euro. Sie wurden getrennt, verkauft,
geschlagen, bedroht, vergewaltigt …
Jesidinnen mit ihren Kindern auf der Flucht
IS-Terroristen und im Irak! 1941-45: Holocaust mit dem
Ziel der vollständigen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa durch das nationalsozialistische Deutschland (5,6 - 6,3 Millionen Opfer). – Fassetten der Völkermorde. „Ich wünschte, ich wäre tot.“, erzählte Amscha mit
monotoner Stimme. Die junge Jesidin wurde von den
Milizen des Islamischen Staates (IS) verschleppt und in der
Stadt Mosul wie ein Stück Vieh für umgerechnet 12 Euro
weiterverkauft. Als sie das sagt, streichelt sie ihr Baby auf
ihrem Schoß. „Das Kind und die Tatsache, dass ich ein weiteres in meinem Bauch habe, ist der einzige Grund, warum
ich mich nicht umgebracht habe, denn ohne mich könnten
sie nicht weiterleben.“ Als die islamistischen Dschihadisten
Anfang August 2014 ihr Dorf beschossen, flüchteten sie in
ein 4 km entferntes Nachbardorf. Vor dem Dorf zwei Fahrzeuge der IS. Sie haben alle männlichen Flüchtlinge über
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(Bild: REUTERS/Rodi Said)
Amscha gelang die Flucht mit Hilfe eines alten sunnitischen
Dorfbewohners. (vgl. St.N. 4.Okt.2014)
Mitleid und Respekt! Wenn man von solchen Klagen
unschuldiger Opfer der Geschichte erfährt, gibt es nur eins
für uns: Hinschauen! Es muss Gerechtigkeit über diese
Gewalttaten, diesen Mord und diesen Tod hinaus geben.
Die Klagen dürfen nicht verhallen. Und die Täter, die diese
Verbrechen begangen haben, dürfen nicht einfach entkommen. Ihre Schuld darf nicht juristisch verjähren oder
geschichtlich vergessen werden. Die Welt muss mit unsrer
Sehnsucht nach Gerechtigkeit rechnen! Denn wenn es
keine Gerechtigkeit gibt, denn bliebe nur das zynische
‚Pech gehabt’. Gegen diesen Zynismus hoffe ich als Christ
nicht nur auf weltliche Gerechtigkeit, sondern im religiösen
Sinne auf das Letzte Gericht.
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Letztes Gericht: Die Vorstellung eines letztgültigen
Gerichtsverfahrens gab es schon in der altägyptischen
Religion und seitdem in vielen Religionen. Leider wurde sie
immer wieder als Drohbotschaft bis ins Kinderzimmer und
Schlafzimmer der Erwachsenen missbraucht. Doch gegen
diesen Missbrauch ist festzuhalten: das Letzte Gericht ist
im Christentum eine großartige Hoffnungsvorstellung der
Liebe. In ihr heißt es: Kein zugefügtes Leid geht verloren!
Kein Leid wird banal oder vergessen! Es geht nicht um
irgendwelche Vorstellungen von Himmel und Hölle, die als
Urteile drohen oder winken. Hier geht es um die Liebe
angesichts des Guten und des Bösen. Es geht um den
Respekt vor dem Leid und den Leidenden. Es geht um
Mitleid mit den Opfern. Und es geht um das Böse: Die
Grausamkeit der Täter.
Gottes Wahrheitskommission: Wir Christen erhoffen
ein Letzten Gericht. Wir ersehnen, dass uns Menschen
darin die göttliche Liebe begegnet; nicht als göttliche
Reset-Taste, als wäre nichts geschehen; sondern als
Brennglas der Liebe in Sanftheit auf das Leid und in
Gerechtigkeit auf die Grausamkeit. „Ich sah die heilige
Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel
herabkommen. … Seht die Wohnung Gottes unter den
Menschen. Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden
sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird
alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird
nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, kein Mühsal.
Denn alles, was früher war, ist vergangen. … Seht, ich
mache alles neu.“ (Off.21,2-5) Angesichts der Liebe Gottes
werden das Leid aber auch die Schuld umso schärfer hervortreten. Wir Menschen werden mit Freude auf unser
gutes Tun und mit abgrundtiefem Schmerz auf unsere
Grausamkeit reagieren. Um diese Wahrheit und Gerechtig-
keit geht es. Wir Menschen werden angesichts der unerschöpflichen Liebe Gottes in ihrem Herzen weich und
menschlich.
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach der
Apartheid in Südafrika kann vielleicht erahnen lassen, was
die christliche Vorstellung vom Letzten Gericht meint. Die
Arbeit dieser Kommission war in Südafrika ein Weg, die
Wahrheit vieler Verbrechen aufzuklären. Morde und Grausamkeiten kamen ans Licht der Öffentlichkeit. Dieser Weg
musste zwar für die einzelnen Opfer und ihr Leid ungenügend bleiben. Und dieser Weg musste auch den Taten der
Mörder und Gewaltverbrecher gegenüber nur ein unzureichender menschlicher Versuch sein. Aber immerhin: er war
ein Versuch der Liebe. Erst eine Wahrheitskommission
Gottes wird jedem Opfer und jedem Täter gerecht werden,
weit mehr als was uns Menschen überhaupt möglich ist –
dann: wenn Gottes Liebe den Menschen begegnet.
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in
Südafrika war eine Einrichtung zur Untersuchung von
politisch motivierten Verbrechen während der Apartheid.
Sie ging auf eine Initiative des ANC im Jahr 1994 zurück
und wurde im Januar 1996 durch Präsident Nelson
Mandela eingesetzt. Vorsitzender war der schwarze
Erzbischof Desmond Tutu. Die Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela, selbst Mitglied der Kommission, meinte
dazu: „Gerichte ermutigen Menschen, ihre Schuld zu
bestreiten. Die Wahrheitskommission lädt sie ein, die
Wahrheit zu sagen.“ Die Kommission hörte viele Opfer politischer Gewalt. Zahlreiche Morde und Terroranschläge aus
der Zeit der Apartheid konnten aufgeklärt werden. In vielen Fällen erhielten Angehörige von Schwarzen, die einfach
verschwunden waren, erstmals Auskunft über deren
Schicksal bzw. die Todesumstände.
Ostern: Angesichts der Welt wie sie
auch mit ihren Verbrechen ist, ermutigt der christliche Glaube dazu, gegen alle Vernunft mit dem Letzten
Gericht, mit der Kraft der Liebe zu
rechnen. Und diese Ermutigung
meint die Botschaft von Karfreitag
und Ostern, von Kreuzigung und
Auferstehung. Der Mensch kann wie
Jesus von Nazareth die Verlassenheit
am Kreuz erfahren: „Mein Gott, mein
Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Aber der Mensch kann auch die
Geborgenheit und den göttlichen
Frieden im vertrauensvollen Gebet
erleben: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung
preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“
Wahrheitskommision an Präsident Mandela 29.10.98 Bild: REUTERS
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Entzünden der Osterkerze. Bild: Limmer
Friede
…
den hass macht er müde
die übermüdeten bringt er zum atmen
die zitternden zum schlafen
die träumenden zum handeln
die handelnden zum träumen
aus: Dorothee Sölle, Wenn er wiederkommt
Wir Christen setzen gegen den bestialischen Mord am
Kreuz die Hoffnung auf die Liebe Gottes. Die Auferstehung
nimmt die Sehnsucht der Menschen nach Gottes Gerechtigkeit für Opfer und Täter ernst. „Jesus lebt – Halleluja –
Jesus lebt“ singen wir in der Osternacht. Die unschuldigen
Opfer haben nicht Pech gehabt. Sie sind geborgen in
Gottes Händen. Wir singen, nein wir schreien gegen das
Unrecht und die Gewalt der Welt die Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit Gottes herbei.
Frohe Ostern! Du darfst leben!
Guido Lorenz ● Betriebsseelsorger
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antenne
Service
Hilfe und
Beratung
Schuldnerberatung
Bewerbungsberatung
Berufliche Beratung
Arbeits- und sozialrechtliche Auskünfte
Ämterbegleitung
Coaching
Terminvereinbarung:
Montag bis Freitag
9.00 bis 12.00 Uhr
Telefon: 0711/561084
Mobbing-Telefon
0180 2 662 24 64
Mo. bis Fr. 8-22 Uhr
Jobbörse
Hallstr. 21
70376 Stuttgart
Zuverdienst für Menschen
ohne Arbeit
Argumentationshilfen
und Tipps zu Hartz IV
Kontaktzeiten:
Dienstag u. Donnerstag
9.30 - 13.30 Uhr
Telefon: 0711/8826323
Seelsorgerliche
Gespräche
auch bei
Burnout und
Mobbing
Gottesdienste 2015
18.03./ 10.06./ 21.10.
und
Bibelgespräche 2015
22.04./ 02.12.
18:00 Uhr
G. Lorenz, Betriebsseelsorger
Terminvereinbarung:
Montag bis Freitag
9.00 bis 12.00 Uhr
Telefon: 0711/561084
Gesucht für ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen
Die Katholische Betriebsseelsorge Stuttgart sucht
ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer
von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Cannstatter
Unterkünften. Der Caritasverband für Stuttgart als
begleitender Verband der Cannstatter Unterkünfte
hat Freundeskreise gebildet. Hier werden die Flüchtlinge zu Ämtern begleitet, Hilfen beim Ausfüllen von
Formularen angeboten, Orientierung beim SSBTicket-Verkauf gegeben und Übungsfelder für Alltagsdeutsch geschaffen. Für junge Erwachsene werden
Sport- und Freizeitangebote angeboten; für Frauen
gemeinsames Kochen und Nähen. Alles dient der
freundlichen Aufnahme von Menschen in Stuttgart,
die häufig eine lange, gefährliche Flucht hinter sich
haben.
Haben Sie Interesse? Dann melden Sie sich
telefonisch unter 0711/561085 per mail unter
[email protected]
Guido Lorenz, Betriebsseelsorger
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Syrische Flüchtlingsfamilie essen im Friedland
(Bild REUTERS/Ina Fassbender)
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