Von der Ortsbewegung zum Wandel
Philosophische Untersuchungen zum
Bewegungsbegriff der modernen Physik
Dissertation
zur
Erlangung des Grades eines
Doktors der Philosophie
der Philosophischen Fakult¨at
der Universit¨at Rostock
vorgelegt von
Michael Vogt
Rostock, im Januar 2003
Dekan:
1. Gutachter:
2. Gutachter:
3. Gutachter:
Tag der Verteidigung:
All of modern physics is governed by that magnificent and thoroughly confusing discipline called
quantum mechanics ... Nobody understand it,
but we all know how to use it and how to apply
it to problems; and so we have learned to live
with the fact that nobody can understand it.
Murray Gell-Mann∗
Es ist wahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik die Sylben, Mathematik die Natur lesen lehrt;
aber man darf nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling∗∗
∗
Zitiert nach: I. Bernard Cohen, The Newtonian Revolution, Cambridge et. al. 1980,
S. 147.
∗∗
Aus der Vorrede zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur“ von 1797, S. IX, zitiert
”
nach F. W. J. Schelling: Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner,
et. al., Reihe I (Werke), Bd. 5, hrsg. v. Manfred Durner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994,
S. 64.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I
4
Die aristotelische Wissenschaft von der Bewegung
10
1 Aristotelische Physik
11
1.1 Das aristotelische Wissenschaftsverst¨
andnis: Vom f¨
ur uns N¨
achstliegenden zur Sache selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.2 Der Argumentationsgang der Physik-Vorlesung . . . . . . . . 13
2 Die Wirklichkeit der Bewegung
16
2.1 Der aristotelische Bewegungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 17
Exkurs: d–namic ‰n‘rgeia, ‰ntel‘qeia . . . . . . . . . 21
2.1.1 Zur Differenzierung der Bewegungsarten . . . . . . . . 26
2.1.2 Die Momente der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.2 Die Kontinuit¨atslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.3 Die Kontinuit¨at der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Exkurs: Anfang und Ende der Bewegung im zeitlichen
Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3 Von der aristotelischen Wissenschaftsauffassung zur Grundlage der Untersuchung
50
II Die neuzeitliche Physik als mathematische Wissenschaft
mechanischer Bewegungen
58
4 Die Grundmotive der Mathematisierung und Mechanisierung innerhalb der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft
4.1 Die Charakterisierung der neuzeitlichen Naturwissenschaft als
empirisch-mathematische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Mechanisierung und Mathematisierung . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Antike Mechanik und der Beginn der neuzeitlichen
Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2 Der mathematische Entwurf der Dinge als der Grundzug der neuzeitlichen Wissenschaft . . . . . . . . . . .
3
58
61
64
65
68
5 Newtons axiomatisierte Mechanik und die Bewegung als
quantifizierbarer Zustand
5.1 Eine Mathematik der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Experimentelle Philosophie: Die newtonsche Methode der Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Axiome der Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Mathematisch konzeptualisierte Ph¨
anomene . . . . . .
5.3 Die neue Bewegungsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
73
76
77
79
80
6 Leibniz’ Prinzip der Kontinuit¨
at und die Logik der mathematisierten Bewegung
84
6.1 Das Labyrinth der Kontinuit¨
at . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.1.1 Leibniz’ logisch-mathematischer Atomismus erster Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
6.1.2 Kontinuit¨at als Prinzip der allgemeinen Seins-Ordnung 89
6.2 Zur Genese des leibnizschen Bewegungsbegriffs . . . . . . . . 93
6.2.1 Transkreation als Begriff der infinitesimalen Bewegung 94
6.2.2 Bewegung zwischen Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨
at . 98
6.2.3 Zur Begr¨
undungsstruktur des Kontinuit¨
atsprinzips . . 101
7 Die Bewegungsauffassung der klassischen Mechanik
103
7.1 Bewegung als Gegenstand der neuzeitlichen Physik . . . . . . 104
7.2 Die mathematische Formulierung eines philosophischen Bewegungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.3 Vom dialektischen Bewegungsbegriff zum mathematischen Schema der Ortsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.4 Zum Grund der Kontinuit¨
at der Ortsbewegung . . . . . . . . 111
7.5 Der naturwissenschaftliche Erfahrungshorizont der Bewegung
und der Zugriff auf das Einzelding . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.5.1 Zum Verh¨altnis von Theorie und Wirklichkeit . . . . . 114
7.5.2 Verobjektivierte Gegenst¨
andlichkeit und Realit¨
at der
Außenwelt als Ausgangspunkte der Naturwissenschaft 115
7.5.3 Die mathematische Erkenntnisweise und die physikalische Wirklichkeit des Ortsbewegten . . . . . . . . . . 116
III Die Quantenmechanik als Aufhebung der klassischen
Mechanik
119
4
8 Zum Problem der Verh¨
altnisbestimmung zwischen Quantenmechanik und klassischer Physik
120
8.1 Wodurch unterscheidet sich die Quantenphysik von der bisherigen Physik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
8.2 Wie atomistisch ist die Quantenphysik? . . . . . . . . . . . . 124
9 Der Untersuchungsgegenstand der Quantenmechanik
126
9.1 Die Aufgabe der Quantenmechanik aus der Entstehungsgeschichte aufgewiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
9.2 Der Ausdruck Quantensprung als Hinweis auf den quantenmechanischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
10 ,Bewegung‘ in der Quantenmechanik und die Bedeutung der
Wellenfunktion
133
10.1 Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
10.2 Zustands¨anderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
10.3 Die Bedeutung der Wellenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . 137
10.3.1 Statistische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
10.3.2 Die Wellenfunktion und der ontologische Begriff der
M¨oglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
¨
10.4 Der Messprozess als Ubergang
von quantenmechanischer Systembeschreibung zum klassischen Messergebnis . . . . . . . . 142
11 Der quantenmechanische Bewegungsbegriff
144
11.1 Quantenmechanik und Entstehen und Vergehen . . . . . . . . 146
11.2 Zwischen diskontinuierlichem Ereignis und zugrundeliegendem Prozess: Die kontinuierliche Wellenfunktion als Vermittlungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
¨
11.3 Uberwindung
der klassischen Reduktion auf die kontinuierliche Ortsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Exkurs: Die Ortsbewegung im Horizont von Entstehen
und Vergehen als Beispiel einer erneuten Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
11.4 Der quantenphysikalische Atomismus kann kein materieller
sein – eine naturphilosophische Schlussfolgerung . . . . . . . . 157
12 Die Wandlung im Bewegungsbegriff und deren Konsequenzen fu
¨ r die Erkenntnissituation in der Quantenmechanik 159
12.1 Das Hervortreten der ontologischen Erfahrungsweise . . . . . 159
12.2 Die Aufl¨osung starrer Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . 164
5
Zusammenfassung
166
A Anhang
170
A.1 Hegels Bewegungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
A.2 Zum Ursprung der quantenmechanischen Begriffe von Zustand und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
A.3 Der Formalismus der Quantenmechanik und die Messung . . 179
A.4 Zur Interpretation der Wellenfunktion als Wahrscheinlichkeit 181
A.4.1 Subjektive versus objektive Wahrscheinlichkeit . . . . 181
A.4.2 Ensemble- versus Einzelfallwahrscheinlichkeit . . . . . 183
B Siglenverzeichnis
185
C Literaturverzeichnis
186
6
Einleitung
Heisenberg berichtet, wie Bohr sich dar¨
uber wundert, dass er nach einem
Vortrag seiner Interpretation der Quantenmechanik1 das Publikum keineswegs erregt fand: Denn wenn man nicht zun¨
achst u
¨ber die Quantentheorie
”
entsetzt ist, kann man sie doch unm¨
oglich verstanden haben.“ (Heisenberg
(1969), S. 241)
In der vorgelegten Untersuchung m¨
ochte ich der Frage nachgehen, worin
das ,so erstaunlich‘ Neuartige der Quantenphysik gegen¨
uber der klassischen
Physik gr¨
undet. Damit soll versucht werden, die Erfahrung der Fremdheit
zwischen dem abzubauen, was wir denken k¨
onnen (das Widerspruchsfreie)
und dem, was im Anschluss an die Quantenmechanik als die empirische
Wirklichkeit der exakten Wissenschaften (hard sciences) erkl¨
art wird (das
paradox und widerspr¨
uchlich Erscheinende).
Die Wirklichkeit der Quantenmechanik erscheint zuweilen nicht nur denjenigen ,entsetzlich‘, die mit der klassischen Physik vertraut, mit Kants
Kategorientafel (Kausalit¨at) bekannt oder an Leibniz’ Kontinuit¨
atsprinzip
gew¨ohnt sind. Wie k¨onnen Quantenobjekte der Mikrophysik zugleich Wellenund Teilcheneigenschaften besitzen, wenn diese sich gegenseitig ausschließen
sollen? Welche Ursache hat der spontane Zerfall eines Radiumatoms? Wie
gelangen die Elektronen von einem Atomorbital in das andere, ohne einen
Weg zur¨
uckzulegen? Die Liste der Fragen ließe sich weiter fortsetzen. Gegen¨
uber den anderen Fragen kommt jedoch der zuletzt genannten ein Vorrang zu. Und zwar nicht nur, weil diese als eine der ersten im Anschluss an
Bohrs Atomtheorie von 1913 gestellt wurde, sondern weil sie nach der Bewegung fragt. Virulent wurde diese Frage bereits, nachdem Planck 1900 mit
der Quantenhypothese den Geltungsbereich des Kontinuit¨
atsbegriffs eingeschr¨ankt hatte.
1
Der Name Quantentheorie wird h¨
aufig synonym zu Quantenmechanik gebraucht. Gelegentlich wird die ¨
altere Quantentheorie – das von Planck 1900 abgeleitete
Strahlungsgesetz – von der Quantentheorie Bohrs – das Atommodell von 1913 – unterschieden. Im obenstehenden Zitat rekuriert Bohr indes mit Quantentheorie auf die
Quantenmechanik in der im Wesentlichen von ihm entwickelten sogenannten Kopenhagener Deutung. Folgende Verwendung der Termini soll angestrebt werden: Quantenphysik heiße die Gesamtheit aller Quanten-Theorien. Dazu geh¨
oren die erw¨
ahnte Quantentheorie von 1900, die bohrsche Quantentheorie des Atoms von 1913, die heisenbergsche Matrizenmechanik von 1925 und die schr¨
odingersche Wellenmechanik von 1926. Die
beiden Letztgenannten bilden die nicht-relativistische Quantenmechanik. Aus dieser wiederum leiten sich die quantisierten Feldtheorien ab: die Quantenelektrodynamik und die
Quantenchromodynamik.
7
Unterdessen lassen sich alle diese Fragen abweisen, wenn die Erkenntnis der Physik als abstrakte Strukturwissenschaft aufgefasst wird, die mit
der Wirklichkeit, wie wir sie vorstellen und denken k¨
onnen, nichts gemein
hat. Doch wie sollten wir von etwas wissen k¨
onnen, was wir weder vorstellen noch denken k¨onnen? Auch diese Frage l¨
asst sich suspendieren: Physik
liefere eben kein Wissen – sie sei keine Wissenschaft im strengen Sinne. In
einem operationalistischen R¨
uckzug wird darauf verwiesen, dass die Quantenmechanik zwar nicht verstanden, indessen um so erfolgreicher angewendet
werden k¨onne. Damit wird vermeintlich eine Antwort gegeben, ohne sich der
Frage gestellt zu haben. – Tats¨
achlich ist dieser R¨
uckzug nicht notwendig.
Wenn die Quantenmechanik nicht auf die Erkenntnis der Wirklichkeit
abzielt, wie sie f¨
ur uns ist, auf das An-sich indes nicht gehen kann und doch
nicht auf das nur Symbolisch-Scheinbare eingeschr¨
ankt ist, zielt sie vielleicht
auf das der Wirklichkeit noch Vorausgehende? Ist sie eine Theorie, die den
Grund und die M¨oglichkeit von physikalischer Wirklichkeit erst bereitet (bereitstellt bzw. vorbereitet)? Wie ist solch eine Theorie als Physik m¨
oglich?
Zugleich ist die moderne Physik in der Mitte gehalten zwischen Technik und
deren Anwendungswissen auf der einen Seite und einer reinen Erkenntnis auf
der anderen, welche die Dinge in der Weise zu betrachten versucht, wie sie
von sich her sind.
Wer heute noch u
¨ber die Quantenmechanik entsetzt ist, der dringt darauf, sich den Sinn der Theorie zu erschließen, d.h. dasjenige aufzusuchen, wodurch sich die Quantenmechanik als Teil der Physik verstehen l¨
asst. Dazu ist
der spezifische Unterschied zwischen der Erkenntnis der Quantenmechanik
und der Erkenntnis der klassischen Physik aufzufinden, um deren Verh¨
altnis
bestimmen zu k¨onnen. Erst dadurch wird es m¨
oglich, die Quantenmechanik
in das Unternehmen der Naturwissenschaft Physik einzuordnen. Um die Frage zu beantworten, was f¨
ur eine Art von Physik die Quantenmechanik ist,
muss zuvor gekl¨art werden, was Physik als Wissenschaft von der Natur ist.
Als wandelhafte sind die Naturdinge alle der Bewegung im weitesten
Sinne unterworfen. Demzufolge zielt die Wissenschaft von der Natur auf die
Erkenntnis des Wirklichen als eines Bewegten. Um von Bewegung etwas wissen zu k¨onnen, bedarf es eines Begriffs, der das Bewegte, insofern es bewegt
ist, erfasst.2 Seit Aristoteles ist der erste und prinzipiell einzige Gegenstand
der Physik die Bewegung des Bewegten und Physik die Wissenschaft von
der Bewegung. F¨
ur eine solche Wissenschaft muss gekl¨
art werden, was Bewegung ist.
2
Damit ist zugleich eine Grundvoraussetzung (,Axiom‘) dieser Untersuchung benannt:
Alle Erkenntnis steht unter der Herrschaft des Begriffs (siehe dazu Kapitel 3).
8
Die ebenso verwirrenden wie faszinierenden Vorstellungen, welche mit
Hilfe der Quantenmechanik von der Wirklichkeit entworfen werden k¨
onnen,
f¨
uhren dazu, jene auf ihre Grundlagen hin zu befragen. Wenn der Bewegungsbegriff eine notwendige Voraussetzung bildet, um das physikalisch Wirkliche zu erschließen, so m¨
ussten sich die Erstaunlichkeiten der quantenmechanischen Wirklichkeitsauffassung in einem gewandelten Bewegungsbegriff
wiederspiegeln. Dies best¨atigt die Rede vom ,Quantensprung‘ als bildlichen
Ausdruck f¨
ur das Versagen der klassisch physikalischen Bewegungsvorstellung. Bisher gibt es nur wenige Versuche, die Andersartigkeit der Quantenmechanik auf einen neuen Begriff von Bewegung zur¨
uckzuf¨
uhren.3
Soll der Wandel in der Auffassung physikalischer Wirklichkeit untersucht werden, ist auf den zugrundeliegenden Wandel des Bewegungsbegriffs
zu sehen. Indem sich gleichzeitig mit Einf¨
uhrung der Quantenphysik der
Bewegungsbegriff grundlegend ge¨
andert hat, kann die quantenmechanische
Wirklichkeitsauffassung nicht zureichend erfasst werden, wenn der Bewegungsbegriff außer Acht gelassen wird. Aus eben diesem Grund vermag es
eine (neuzeitliche) Naturphilosophie, die nur die Ortsbewegung kennt, nicht,
den Begriff der Quantenmechanik zureichend zu bestimmen. Wird Ortsbewegung als das Verh¨altnis angesehen, welches Raum und Zeit eingehen, dann
sollte die Analyse von Raum und Zeit gen¨
ugen, um daraus den jeweiligen Bewegungsbegriff zu bestimmen. F¨
ur eine Diskussion der philosophischen Implikationen der speziellen Relativit¨
atstheorie mag dies bis zu einem gewissen
Grad noch zureichen, nicht jedoch f¨
ur ein Verst¨
andnis der Quantenphysik.
Die Kl¨arung der Begriffe von Raum und Zeit erm¨
oglicht nur eine marginale
¨
Charakterisierung der Quantenphysik, da die Anderungen
in diesen Begriffen im Wandel von der klassischen Physik zur Quantenphysik u
¨berraschend
unauff¨allig sind. Bis zu der Erkenntnis, dass eine Ortsbewegung in der Quantenmechanik nicht mehr wie bisher thematisiert wird, gelangt man nicht.
Wird zudem Ortsbewegung als die einzig denkbare angesehen,4 erg¨
abe sich
3
Max Planck vermutete bereits 1911, dass der Unterschied zwischen klassischer Theorie
und Quantentheorie analog zur Grenze zwischen physikalischen und chemischen Vorg¨
angen
(qualitative Stoffumwandlung) zu suchen sei (vgl. Planck, II, S. 285). An neueren Untersuchungen, die im Anschluss an Aristoteles in der modernen Physik eine Entwicklung von der
ˇ
Betrachtung der Ortsbewegungen zu der des Wandels vermuten, sind Miliˇc Capek
(1979)
sowie Demetra Sfendoni-Mentzou (1990) zu nennen. In ganz ¨
ahnlichem Sinne macht auch
Ivor Leclerc auf die Vernachl¨
assigung der Frage nach der Bewegung aufmerksam und vermutet: [... The] implications for the philosophy of the physical or the nature of a change
”
in the concept of motion are possibly even more far-reaching than in the case of [... space
and time]“ (Leclerc (1987), S. 17).
4
Eine Physik, die zur Erkl¨
arung der Wirklichkeit von der Vorstellung unver¨
anderlicher
Atome ausgeht und dadurch allen Wandel auf das Zusammen- und Auseinandertreten
9
daraus, dass in der Quantenphysik Bewegung eben nicht untersucht wird,
sondern z. B. grundlegende Strukturen des Seienden.
Die Untersuchung der Wandlung des Bewegungsbegriffs in der modernen Physik kann nur von einem außerhalb der beiden neuzeitlichen Theorien liegenden Standpunkt gelingen. Insbesondere ist dazu ein u
¨ber die Beschr¨ankung auf die Ortsbewegung hinausreichender Bewegungsbegriff vorauszusetzen. Dabei zeigt sich jedoch eine Schwierigkeit, die eine solche Untersuchung selbst betrifft. Wenn die Bewegung des Bewegungsbegriffs untersucht werden soll, dann ist hierzu ein Bewegungsbegriff erforderlich, um die
Wandlung des Bewegungsbegriffs aufzudecken. Dieses kann er jedoch nur leisten, wenn sich der zur Untersuchung vorausgesetzte Bewegungsbegriff nicht
zugleich mit dem zu untersuchenden Bewegungsbegriff wandelt. Zur Grundlage ist ein Bewegungsbegriff zu w¨
ahlen, der von solcher Allgemeinheit ist,
dass er alle zu betrachtenden Bewegungsbegriffe darzustellen erlaubt.
Jede physikalische Theorie hat einen Bewegungsbegriff zur Voraussetzung. Dabei liegt dem physikalischen Bewegungsbegriff wiederum ein philosophischer zugrunde. Als philosophische Bewegungsbegriffe, die bei der
erforderlichen Allgemeinheit zugleich eine spezifische Differenzierung nicht
vermissen lassen, kommen der aristotelische und der hegelsche in Betracht.
¨
Die folgenden Uberlegungen
sollen verdeutlichen, warum der aristotelische
Bewegungsbegriff f¨
ur diese Untersuchung herangezogen wird. Bekanntlich ist
zur Untersuchung der neuzeitlichen Physik auf Kant weit h¨
aufiger als auf
Hegel Bezug genommen worden. Kants Bewegungsauffassung ist jedoch, soweit die Metaphysischen Anfangsgr¨
unde der Naturwissenschaft“ als deren
”
Ausarbeitung verstanden werden k¨
onnen, vor allem auf die Ortsbewegung
eingeschr¨ankt. Die von Hegel er¨
offnete M¨
oglichkeit zu einer Entwicklungslogik ist f¨
ur die beabsichtigte Untersuchung entbehrlich, da es weniger um die
Darstellung einer innerphysikalischen Entwicklungslogik der Theorien geht
als vielmehr um ein Verst¨andnis der Quantenmechanik als Physik. Insbesondere aus diesem Grund f¨allt die Wahl auf Aristoteles. Dieser hat als erster die
Physik konsequent als Wissenschaft von der Bewegung begr¨
undet. Dar¨
uber
hinaus gr¨
undet der hegelsche Bewegungsbegriff meines Erachtens auf dem
aristotelischen.
dieser kleinsten Teile zur¨
uckzuf¨
uhren versucht, kennt im strengen Sinne nur die Ortsbewegung (for). Vgl. hierzu das Diktum Descartes’: [Bewegung ist einzig Ortsbewegung ...],
”
denn eine andere kann ich mir nicht denken und deshalb auch in der nat¨
urlichen Welt nicht
annehmen [...]“ (Descartes (1644), Teil 2, §24.) Demgegen¨
uber untersucht die neuzeitliche
Physik zwar nicht allein Ortsbewegungen, sondern ebenso z. B. die Ver¨
anderung thermodynamischer Zustandsgr¨
oßen. Diese, wie alle anderen in ihr untersuchten Bewegungen,
werden indes wiederum schematisch auf die Ortsbewegung reduziert.
10
Die der neuzeitlichen Begr¨
undung der Physik zun¨
achst als fremd gegen¨
uberliegende Position des Aristoteles bietet eine geeignete Perspektive,
aus der sich die Quantenmechanik trotz der Differenz zur klassischen Physik mit dieser in einen gemeinsamen Rahmen einordnen l¨
asst. – Die atomistische Tradition, die ebenfalls die Bewegung widerspruchsfrei zu denken
versucht, bringt f¨
ur das veranschlagte Ziel der Untersuchung weder die erforderliche Differenzierung mit noch findet sie zu einem wirklich tragf¨
ahigen
Bewegungsbegriff.
Das Tertium Comparationis und zugleich die Grundlage dieser Untersuchung bildet demnach der aristotelische Bewegungsbegriff. Dieser ist von
Aristoteles in Auseinandersetzung mit einer ,mathematischen‘ Auffassung
der Erkenntnis entwickelt worden, wie sie von der Schule von Elea vertreten
worden ist, die eine Erkenntnis des Bewegten f¨
ur unm¨
oglich gehalten hat.
Einer solchen Auffassung wird die Bewegung des Bewegten zum Schein,
da mathematisch-abgetrennte Formen nur ein Wissen von Unwandelbarem
erm¨oglichen. In diesem Sinne ist eine mathematische Erkenntnis der Bewegung und mithin Physik nicht m¨
oglich. Wie gelingt es der neuzeitlichen
Physik als mathematischer Naturwissenschaft, zu einem Wissen vom Bewegten zu gelangen? Wie ¨andert sich dies mit der Quantenmechanik?
Aus der dargelegten Fragestellung ergibt sich folgende Gliederung der
Untersuchung in drei Teile: Im ersten Teil erfolgt eine Explikation der aristotelischen Physik, insbesondere des Bewegungsbegriffs in Verbindung mit
der Lehre vom Kontinuum. Der f¨
ur seine ,Schwierigkeit und Dunkelheit
5
ber¨
uchtigte‘ aristotelische Bewegungsbegriff erfordert eine gr¨
undliche Interpretation. Alle von Aristoteles im Zusammenhang mit dem Bewegungsbegriff erarbeiteten Begriffe bed¨
urfen hierzu einer Untersuchung.
Einen antiken Denker in den Horizont der nach-neuzeitlichen Welt seit
Descartes und Hobbes zu u
¨bertragen, ist problematisch. Deshalb ist es unumg¨anglich, die Wandlungen zur neuzeitlichen Physik aufzuzeigen, um zu
¨
entscheiden, inwieweit die Ubertragung
aristotelischer Begrifflichkeiten in
die moderne Physik sinnvoll ist. Im zweiten Teil wird deshalb die Genese
der neuzeitlichen Naturwissenschaft dargelegt und gezeigt werden, auf welche Weise es der klassischen Mechanik gelingt, die Bewegung zu erfassen.
Die ausf¨
uhrliche Diskussion der neuzeitlichen Gr¨
undung der Naturwissenschaft soll deutlich werden lassen, inwiefern es angemessen ist, aristotelische
Begriffe zum Verst¨andnis der Quantenmechanik heranzuziehen. Dabei erweist sich die Aktualit¨at der aristotelischen Physik, wenn die Probleme der
Erkenntnis eines Ver¨anderlichen, die Aristoteles zu l¨
osen versuchte, entwe5
Vgl. Buchheim (1999), S. 105.
11
der in der neuzeitlichen Physik erhalten bleiben oder in erneuerter Sch¨
arfe
wieder hervortreten.
Der dritte Teil der Untersuchung richtet den Fokus auf die Quantenmechanik: Differenzen zur klassischen Mechanik werden aufgezeigt und eine
M¨oglichkeit vorgeschlagen, die Quantenmechanik ohne Paradoxien als Wissenschaft von der Bewegung und der Struktur des Beweglichen (Materie)
zu verstehen. Wie gezeigt werden soll, betrifft das oben erw¨
ahnte Entsetzen nicht irgendwelche Resultate der Quantenmechanik, so erstaunlich diese
auch sein m¨ogen, sondern den Kern und die M¨
oglichkeit der Physik als Wissenschaft von der Bewegung. Mit der Frage nach der Bewegung kann es
gelingen, den Grund des Entsetzens aufzufinden. Steht die neuzeitliche Physik bereits mit der Mathematisierung der Bewegung best¨
andig in der Gefahr,
um der Exaktheit willen die M¨
oglichkeit der Erkenntnis der Bewegung zu
verspielen, so dr¨angt sich seit der Entdeckung der Quantentheorie und der
Einf¨
uhrung des planckschen Wirkungsquantums der Verzicht auf ein Wissen
von der Bewegung unabweislich auf. Die Quantenmechanik w¨
are demnach
keine Wissenschaft von der Bewegung und das hieße keine Physik. Erst im
Hinblick auf diesen Ausgang erweist sich die Brisanz und naturphilosophischen Bedeutung der Frage nach der Bewegung.
12
Teil I
Die aristotelische Wissenschaft von
der Bewegung
Wissen von den Dingen der Natur heißt allgemeine Erkenntnis von Einzelnem zu erlangen, welches dem Wandel unterliegt. F¨
ur Aristoteles ist deshalb die ,Naturwissenschaft‘ die Wissenschaft von der Bewegung. In dieser
wird das Bewegte nicht insofern es seiend (Metaphysik), sondern insofern es
bewegt ist (Physik), betrachtet. – Aristoteles kl¨
art in seiner Physik-Schrift,
wie es m¨oglich ist, vom im steten Wandel befindlichem Bewegten etwas Wissen zu k¨onnen. Einerseits darf dabei das Wissen selbst nicht dem Wandel
ausgesetzt werden, wodurch der Begriff eines wirklichen Wissens aufgehoben
w¨are. Andererseits ist zu kl¨
aren, wie es gelingen kann, die Bewegung zu denken, ohne diese als festgestellten Bestand zu beseitigen. Die Kl¨
arung dieser
Problemlage gelingt mittels des Begriffs der Bewegung als der bedeutenden
Leistung der aristotelischen Physik.
Grunds¨atzlich haben die aristotelische und die neuzeitliche Physik den
zentralen Gegenstand der Untersuchung gemeinsam, n¨
amlich die Bewegung.
– Bewegung ganz allgemein verstanden, synonym mit Ver¨
anderung, Wandel,
Geschehen, Prozess usw. – Wird allerdings bewusst, dass eine zu erkennende
Sache in ihrem So-sein von der Begrifflichkeit gepr¨
agt ist, mit der sie erkannt
wird, dann wird klar, dass aristotelische und neuzeitliche Physik zu inkommensurabler Erkenntnis gelangen m¨
ussen. Und doch wird wohl weitgehend
dar¨
uber Einigkeit herrschen, dass es Bewegung, Ver¨
anderung und Wandel
in der Welt nach wie vor gibt. Nur hat sich die Bewegung in der Weise gewandelt, wie sich der Begriff der Bewegung ge¨
andert hat, denn durch diesen
wissen wir von jener.
Indem sich in der neuzeitlichen Physik Schwierigkeiten zeigen, wie sie
von Seiten des Eleatismus1 einer Wissenschaft von der Bewegung entgegenstehen, hat die aristotelische L¨
osung dieser Probleme systematisch nichts
an Aktualit¨at verloren. – Im Nachvollzug aristotelischer Gedanken soll in
diesem Teil dargestellt werden, in welcher Weise es Aristoteles zu zeigen ge1
Mit Eleatismus sei folgende Problematik bezeichnet: Wenn Wahres nur vom unwandelbaren einen Sein gesagt werden kann, nicht jedoch von der Vielheit des wandelhaften
Seienden, dann kann Bewegung nicht sein, nicht gedacht und nicht erkannt werden.
Wenn ein mathematischer Begriff analog dem eleatischen Seinsbegriff vom steten Wandel befreit ist, zugleich aber auf Bewegtes bezogen werden soll, stellt sich regelm¨
aßig eine
eleatische Situation ein.
13
lingt, dass ein Wissen von Bewegtem m¨
oglich ist und inwiefern der Begriff
der Kontinuit¨at und derjenige der Diskontinuit¨
at f¨
ur ein Verst¨
andnis der
Bewegung unabdingbar sind.
1
Aristotelische Physik
Die aristotelische Physik-Vorlesung beeinhaltet eine philosophische Untersuchung u
¨ber die M¨oglichkeit der Physik als theoretischer Wissenschaft. In
diesem Sinne ist sie eine philosophische Grundlegung der Physik und befasst
sich nicht mit der Erkenntnis konkreter Naturgegenst¨
ande. Ihre Aufgabe besteht darin, das Feld einer Erkenntnis der Naturgegenst¨
ande vorzubereiten.
Dazu muss gekl¨art werden, was unter Naturdingen zu verstehen ist und
worin sie sich von anderen Dingen unterscheiden. Auf diese Weise gewinnt
Aristoteles einen Begriff der Natur. Zuvor stellt sich jedoch die Frage nach
der M¨oglichkeit eines Wissens von Ver¨
anderlichem; denn solches sind die
Naturdinge wie Steine, B¨aume, Pferde und Menschen.
Die Pr¨amisse, dass es Wissen nur von Unver¨
anderlichem geben kann,
wenn das Wissen in einem u
berzeitlichen
Sinn
als
wahr
in Anspruch genom¨
men werden soll, teilt Aristoteles mit Platon (vgl. Met. M 4, 1078 b 1217). Wie Platon den Timaios in dem gleichnamigen Dialog erkl¨
aren l¨
asst,
ist dasjenige, wor¨
uber Aussagen getroffen werden, mit den Aussagen selbst
verwandt. Deshalb, so wird gefolgert, kann es vom Ver¨
anderlichen kein Wissen geben. Eine Wissenschaft von den Naturdingen ist demnach unm¨
oglich,
wenn es nicht gelingt zu zeigen, wie von in best¨
andigem Fluss befindlichen
Dingen ein Wissen m¨oglich ist, welches gegen¨
uber dem Wandel der Dinge
unver¨anderlich beharrt.
Die aristotelische L¨osung des Problems, wie sich allgemeiner Begriff und
zu begreifende einzelne Sache aufeinander beziehen k¨
onnen, konzentriert sich
im Begriff des Wesens (oŽs•a). In den ver¨
anderlichen, wahrnehmbaren Wesen
werden Einzelnes und Allgemeines in unmittelbarer Einheit von Ver¨
anderlichem und Gleichbleibendem gedacht. W¨
ahrend das jeweilige Naturseiende best¨andigem Wandel unterliegt, beharren Bewegung und Ver¨
anderung
selbst. Entstehen, Vergehen, Wandel, Ver¨
anderung und Bewegung entstehen nicht. F¨
ur Aristoteles zeigt sich am Bewegten selbst das im Wandel Unver¨anderliche. Das, was jede partikulare Bewegung u
¨bersteigt, ist die Struktur des Bewegten bzw. der Begriff der Bewegung.
14
1.1
Das aristotelische Wissenschaftsverst¨
andnis: Vom fu
¨ r uns
N¨
achstliegenden zur Sache selbst
Wissen und Verstehen, so sagt Aristoteles am Anfang der Physik-Vorlesung,
erw¨achst aus der Kenntnis von Prinzipien, Ursachen und Elementen der zu
erkennenden Gegenst¨ande. Demgegen¨
uber verf¨
ugen wir beim allt¨
aglichen
,Wissen‘ nicht, wenigstens nicht explizit, u
¨ber die Kenntnis der Ursachen.
Was Brot, Salz, Wein, Tisch und Messer sind, ist aus dem allt¨
aglichen Umgang bekannt, ohne die Prinzipen dieser Dinge zu kennen. Im Unterschied
zum allt¨aglichen ,Wissen‘, der Meinung, sucht die Wissenschaft ausdr¨
ucklich nach Gr¨
unden, die die Sache so erkennen lassen, wie sie ,an sich‘ ist,
nicht bloß wie sie uns im allt¨
aglichen Umgang begegnet. Und doch muss auch
Wissenschaft notwendig die Bekanntheit mit dem zu untersuchenden Gegenstand voraussetzen. D. h. nun gerade nicht, dass wir irgendwie schon immer
w¨
ussten, was die Dinge sind, sondern dass die Wissenschaft von allt¨
aglichen
Erfahrungen und Meinungen ausgehen muss, welche die Sachen so erfassen,
wie sie innerhalb allt¨aglicher Zusammenh¨
ange begegnen. Davon ausgehend
beginnt die wissenschaftliche Zergliederung der Sache, die dadurch zunehmend so gesehen werden soll, wie sie ,eigentlich‘ ist, d. h. ohne interessengeleitete Sicht bzw. unter allen m¨
oglichen Perspektiven.
Wissenschaft ist f¨
ur Aristoteles das Erkennen aus Prinzipien. Aus den
Prinzipien einer Sache kann diese entsprechend ihrer Natur nach erkannt
werden. Deshalb muss es in einer Grundlegung der Wissenschaft um das
Aufsuchen der Prinzipien gehen, die zur Erkenntnis der Dinge anleiten. Prinzip (ˆrq’) meint dabei einen ersten Anfangsgrund (Ursprung, Quelle), ein
Erstes aus dem heraus etwas ist, wird bzw. erkannt wird (vgl. Met. D 1,
1013 a 17-20). Wenn Wissen aus Grundlagen heraus entsteht, m¨
ussen diese
bereits bekannt sein.
Aristoteles bezeichnet den Weg des Erkennens in der Aussage: ,vom f¨
ur
uns Bekannteren zum der Sache nach Bekannteren‘ (Phys. A 1). Ausgangspunkt bildet ein ,konfus‘ Allgemeines (als Einzelerscheinung), von diesem
ausgehend wird der Weg zum Erkennen der Sache selbst beschritten. Das
Ziel ist erreicht, wenn die Prinzipien der Sache selbst gefunden sind. Ohne
einen Ausgangspunkt jedoch kann der Weg des Erkennens nicht begangen
werden. Dies besagt der erste Satz der Zweiten Analytik“ des Aristoteles:
”
Alles vern¨
unftige Lehren und Lernen geschieht aus einer vorangehenden
”
Erkenntnis.“ (Anal. post. 71 a 1f.)
Deshalb bem¨
uht sich eine Grundlagenwissenschaft, wie die aristotelische
Physik um die Erkenntnis von Prinzipien. Wie Aristoteles herausstellt, sind
Form und Stoff zwei Prinzipien, die zur Erkenntnis des Bewegten in Anschlag
15
zu bringen sind. Die einzelwissenschaftliche Erkenntnis greift auf diese Prinzipien zur¨
uck, sie ist Erkenntnis aus Prinzipien und befragt ein besonderes
Seiendes daraufhin, was bei diesem die Stelle von Form und Stoff einnimmt.
Wissenschaft versteht sich bei Aristoteles nicht als Anwendung eines fest
vorgegebenen Prinzipienkatalogs. – Die f¨
ur die Erkenntnis in Anschlag zu
bringenden Prinzipien, aus denen heraus die Sache eingesehen werden soll,
sind f¨
ur den jeweiligen Untersuchungsgegenstand verschiedene. Bei einer
wissenschaftlichen Erkenntnis im aristotelischen Sinne handelt es sich um
Erkenntnis aus Prinzipien, die sowohl sach- wie erkenntnisspezifisch sind.
Diese Prinzipien, sofern sie nicht prim¨
ar ontologisch, sondern epistemologisch verstanden werden, k¨onnen, so Wieland (1962), als ,Reflexionsbegriffe‘
bezeichnet werden, die zur Bildung von inhaltlich bestimmten Begriffen erst
anleiten.2
Die folgende Interpretation des Argumentationsganges der aristotelischen
Physik soll die Begriffe Bewegung und Kontinuit¨
at als zentrale Themen
hervortreten lassen. Indem Aristoteles die ,Wirklichkeit‘ der Bewegung gegen¨
uber den eleatischen Einw¨
anden zu sichern versucht, kann in der aristotelischen Physik eine Streitschrift wider die eleatische Leugnung einer
Erkenntnis der Bewegung gesehen werden.3
1.2
Der Argumentationsgang der Physik-Vorlesung
Nachdem Aristoteles im ersten Kapitel des ersten Buches der Physik-Schrift
die Voraussetzung von Wissenschaft gekl¨
art hat, stellt er die f¨
ur die Untersuchung u
¨ber die Natur leitende Grundannahme auf: Uns aber mag als
”
Grundsatz gelten, daß, was von Natur aus ist, entweder Alles oder wenig2
Dies findet Wieland im Anschluss an Kant (KrV, B 316) unter Vernachl¨
assigung der
neuzeitlichen Hinsicht auf die subjektiven Erkenntnisbedingungen. Die Prinzipien sind
als Reflexionsbegriffe ,gleichsam Leerstellen‘, die erst in Anwendung auf den konkreten
Einzelfall ihre jeweilige Bedeutung erhalten. (Vgl. Wieland (1962), S. 202f.)
3
Inwiefern Aristoteles damit zugleich gegen Platon argumentiert, kann an dieser Stelle
nicht im Detail auseinandergesetzt werden. W¨
ahrend Platons Sokrates in der Politeia eine Erkenntnis des Wandelhaften verneint und die Idee des Guten, insofern sie Erkenntnis
erm¨
oglicht, f¨
ur unver¨
anderlich erkl¨
art (Politeia, 508 d-e), ergibt sich im Sophistes ein differenzierteres Bild. Darin wird die Position der Ideenfreunde, die nur die Ideen f¨
ur wahrhaft
seiend annehmen, genauso verworfen wie die Auffassung derjenigen, die nur das Anfassbare f¨
ur wahrhaft seiend halten (Sophistes, 245 e-249 d). Entwickelt wird die Notwendigkeit
zu einer Dialektik als Wissen von der Verbindung und Trennung der Begriffe. Zwischen
Sein und Nichts wird schließlich ein Drittes festgehalten, ein Nichtseiendes, das Anteil an
Verschiedenem habend doch seiend ist (Sophistes, 255 e-259 d). Meines Erachtens befindet
sich diese Darstellung sachlich nicht mehr in einem strikten Gegensatz zur aristotelischen
Konzeption des M¨
oglichseienden (dunmei £ntoc).
16
stens Einiges, in Bewegung sei [...]“ (Phys. A 2, 185 a 12f., u
¨bers. v. Prantl).
Diese Grundannahme ist insofern mit einem Axiom vergleichbar, als dass sie
den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet. Sie ist die sachliche Voraussetzung der Wissenschaft, welche zu zeigen hat, auf welche Weise von der
Bewegung gewusst werden kann. Insofern diese Grundannahme selbst thematisiert wird, ist sie vom Standpunkt der Physik-Schrift kein unhintergehbares Axiom, sondern eine Tatsache, deren rechtm¨
aßige Annahme anhand
des Denkens (Widerspruchsaxiom) zu pr¨
ufen ist.
Zu Beginn des zweiten Buches (B) unterscheidet Aristoteles die von Natur aus seienden Dinge von denen, die auf Grund anderer Ursachen sind. Ursachen der Dinge sind also entweder die Natur (f–sic) oder die Kunst (t‘qnh
= Technik). Diese strenge Unterscheidung von Natur und Kunst (Technik)
hinsichtlich des Ursprungs der Dinge – ein Baum w¨
achst, ein Haus wird vom
Baumeister gebaut – findet ihren Grund in der Frage nach dem Woher der
Bewegung und Ver¨anderung. Von den von Natur aus seienden Dingen [...]
”
zeigt sich, daß es in sich selbst einen Anfang von Bewegung und Stillstand
hat“ (Phys. 192 b 13ff., u
aßig hergestellten Din¨bers. v. Prantl). Die kunstm¨
ge haben als solche kein Prinzip der Bewegung oder der Ruhe in sich: Ein
Haus baut sich nicht von selbst. – Insofern ein Haus aus den Naturdingen
Holz und Stein ist, tr¨agt es weiterhin ein Prinzip zu Ver¨
anderung in sich,
d. h. nun nicht, dass das Holz ausschl¨
agt, sondern unter entsprechenden
Umst¨anden verfault.
Bei der Unterscheidung von Kunst und Natur ist zu beachten, dass Aristoteles die Kunst gerade als Nachahmung, sogar als Vollendung der Natur
ansieht. Wie Hans Wagner betont, gr¨
undet die Parallele zwischen Kunst
und Natur letztlich in der Strukturgleichkeit von Natur und menschlichem
Herstellen und Arbeiten. (Vgl. Wagner (1967), S. 456.) Da die Struktur der
Technik f¨
ur uns das Bekanntere ist, so ist die Struktur von Naturbeschaffenheit an derjenigen der Technik abzulesen: ,Natur wird technisch gedacht‘.
(Entsprechend sind die aristotelischen Beispiele zumeist dem Bereich der
Technik entnommen.)
Die Thematik der aristotelischen Physik erf¨
ahrt zu Beginn des dritten
Buches (G) ihre volle Entfaltung. Wenn das Wesen der Naturdinge Ver¨
anderung und Wandel ist, muss untersucht werden, was Ver¨
anderung ist. Ebenso
m¨
ussen die mit der Bewegung im Zusammenhang stehenden Begriffe gekl¨
art
werden. F¨
ur Aristoteles sind dies im Wesentlichen die Kontinuit¨
at sowie
Zeit und ,Ort‘ als Voraussetzungen von Bewegung (vgl. Phys. 200 b 16-25).
Nachdem im dritten Buch (G) der Bewegungsbegriff gefunden ist, erfolgt
auf dessen Grundlage die Er¨
orterung von Aspekten an der Bewegung, die
den Bewegungsbegriff in die physikalische Dimension entfalten. Darin liegt
17
zugleich eine Bew¨ahrung des Bewegungsbegriffs. Im sechsten Buch (Z) wird
bei der Diskussion des Bewegungsverlaufs, der Prozessualit¨
at von Bewegung,
der physikalische Begriff von Bewegung vollst¨
andig entwickelt. Alle Einzeluntersuchungen u
at, Unendlichkeit, Zeit und ,Ort‘4 werden
¨ber Kontinuit¨
zu diesem Zweck zusammengef¨
uhrt. Ziel ist es, mit Hilfe des gewonnenen
physikalischen Bewegungsbegriffs die zenonischen Aporien5 der Bewegung
aufzul¨osen, indem die Falschheit der Pr¨
amissen aufgedeckt wird. Damit ist
im Wesentlichen die Grundlegung einer Wissenschaft von den ver¨
anderlichen
Naturdingen geleistet.
Gem¨aß Aristoteles kann Bewegung weder entstehen noch vergehen. Folglich m¨
usse es Bewegung immer gegeben haben und es werde sie immer geben.
Bewegung eines Bewegten m¨
usse zudem verursacht sein. Im Rekurs sucht
Aristoteles eine erste Bewegungsform auf, die als immerw¨
ahrende keinen
Anfang und kein Ende hat. Verursacht wird sie in stetiger Weise vom ,unbewegten Beweger‘, der, insofern er selbst unbeweglich ist, keiner bewegenden
Ursache bedarf, um anderes zu bewegen. (Vgl. die Lehre vom ,unbewegten
Beweger‘ im achten Buch (J) der Physik sowie Metaphysik L.)
F¨
ur unsere Untersuchung ist die Lehre vom ,unbewegten Beweger‘ insofern von Interesse, als darin eine Hierarchie der Bewegungsarten entwickelt
wird. Damit Entstehen oder Vergehen eintreten kann, muss eine kontinuierliche Ver¨anderung vorliegen, die durch das Eintreten des substantiellen
Wandels terminiert ist. Als grundlegende Bewegungsart – im Sinne einer
notwendigen Bedingung f¨
ur das Auftreten der anderen Bewegungsarten –
wird die Ortsbewegung erwiesen. Wie Aristoteles zeigt, ist die Ortsbewegung als Kreisbewegung die kontinuierlichste von allen, d. h. sie erweist sich
in allen ihren Momenten als zusammenh¨
angend.
F¨
ur die Ortsbewegung (for) ist der Begriff des Ortes (t“poc), wie ihn Aristoteles in
Phys. ∆ 1-5 entwickelt, meines Erachtens nicht leitend. Ohne hier auf Einzelheiten n¨
aher
einzugehen, bestimmt Aristoteles den Ort als die den bewegten K¨
orper umschließende
Grenze des ihm am n¨
achsten liegenden unbewegten K¨
orpers. Diese Bestimmung des Ortes
ist als Antwort auf die Frage nach dem Worin des bewegten K¨
orpers zu verstehen, nicht
jedoch nach seinem Wo. Um im Sinne der Ortsbewegung von verschiedenen Orten des
Bewegten sprechen zu k¨
onnen, ist die Angabe des Worin der Bewegung unzureichend.
Tats¨
achlich spricht Aristoteles im Zusammenhang mit der Ortsbewegung in Buch Z von
¨
der Uberwindung
von Gr¨
oße (m‘gejoc), Strecke oder Entfernung. Die Raumvorstellung
im Sinne eines Ordnungsschemas (Entfernungsrelation von K¨
orpern) wird also wenigstens
implizit vorausgesetzt.
5
Gemeint sind die Aporien der Bewegung, die z. B. darstellen, wie etwa der fliegende
¨
Pfeil ruht und das Langsamste nicht vom Schnellsten eingeholt werden kann. Uberliefert
sind sie von Aristoteles im sechsten Buch der Physik, Kapitel 9 (239 b 5ff.). Innerhalb
unserer Untersuchung werden sie nur knapp verhandelt, siehe dazu S. 40 und S. 170.
4
18
2
Die Wirklichkeit der Bewegung
Um die Art und Weise, wie Bewegung in der neuzeitlichen Physik erfasst
wird, darstellen zu k¨onnen und insbesondere das Neu- bzw. Andersartige der
Quantenmechanik gegen¨
uber der klassischen Mechanik in der Wandlung des
Bewegungsbegriffs aufzeigen zu k¨
onnen,6 ist eine grundlegende Analyse des
aristotelischen Bewegungsbegriffs und der damit in Zusammenhang stehenden Begriffe unumg¨anglich. Die erreichbare Leistung einer philosophischen
Untersuchung der modernen Physik ist vor allem durch die der Untersuchung
zugrundegelegten Begriffe beschr¨
ankt. In diesem Kapitel sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um die moderne Quantenphysik hinsichtlich
ihres gewandelten Bewegungsbegriffs zu analysieren.
Unter den Grundproblemen der Philosophie nimmt dasjenige des Wissens von der Bewegung einen Vorrang ein. Zu einer Naturwissenschaft ist
dessen (je vorl¨aufige) Kl¨arung unverzichtbar. Aristoteles sieht sich diesbez¨
uglich kaum anderen Problemen gegen¨
uber als die Begr¨
under der neuzeitlichen Physik und die Entdecker der Quantenmechanik, gleichwohl sich
die Fragen im Detail und in der Intention auf andere Weise stellen.
Um die Wirklichkeit der Bewegung gegen¨
uber deren Leugnung (Eleatismus) als auch gegen¨
uber unzul¨
anglichen L¨
osungsversuchen (Atomismus)
zu verteidigen, entwickelt Aristoteles ein streng terminologisches Begriffsgef¨
uge, welches erlaubt, die Bewegung zum Gegenstand des Wissens zu machen. Die Argumentation f¨
ur die Wirklichkeit der Bewegung wird in drei
Schritten nachvollzogen. Zun¨
achst ist der aristotelische Bewegungsbegriff zu
er¨ortern. Dazu geh¨ort die Darstellung der Momente der Bewegung und das
Problem der Differenzierung von irreduziblen Bewegungsarten. Die Wirklichkeit physikalischer Bewegung ist gebunden an die Grundstruktur des
Kontinuums, welches zu analysieren ist, bevor schließlich die Argumente f¨
ur
die Kontinuit¨at der Bewegung im engeren Sinne untersucht werden. Von
dem dargestellten Standpunkt aus erweist sich die Rede von einer ,diskontinuierlichen Bewegung‘ als eine Contradictio in adjecto, welche auch in der
Quantenphysik nicht sinnvoller wird.
6
Die These, dass der Unterschied zwischen klassischer Physik und Quantenphysik wenigstens unter anderem auf einen ver¨
anderten Bewegungsbegriff zur¨
uckzuf¨
uhren sei, ist
ˇ
ˇ
meines Wissens zuerst von Capek
(1961) und im Bezug auf Aristoteles von Capek
(1979)
explizit vertreten worden. Vor diesem ¨
außerte sich Planck (1911) andeutungsweise in diese
¨
Richtung, indem er einen Ubergang
von der Physik zur Chemie vermutete (vgl. Planck,
II, S. 285).
19
2.1
Der aristotelische Bewegungsbegriff
Eine erste Ann¨aherung an die Struktur der Bewegung eines Bewegten unternimmt Aristoteles in Physik A 7 ausgehend von den Redeweisen von
werden (g•gnesjai). Zugleich zeigt dieses Kapitel eindrucksvoll, wie Aristoteles vom Sprachgebrauch ausgehend die Prinzipien der Dinge herausarbeitet.7 Was aber kann ein an der Umgangssprache gebildeter Bewegungsbegriff f¨
ur die physikalische Forschung leisten? – Die fundamentale Bedeutung
der Umgangssprache f¨
ur die physikalische Forschung hat in der Zeit der
modernen Physik Niels Bohr hervorgehoben: Trotz der Verfeinerungen der
”
Terminologie, die die Anh¨
aufung experimenteller Ergebnisse und die Entwicklung theoretischer Auffassungen mit sich gebracht haben, beruht jede
Beschreibung physikalischer Erfahrungen letztlich auf der Umgangssprache,
die unserer Orientierung in der Umwelt und der Aufsp¨
urung von Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung angepaßt ist.“ (Bohr (1958), S. 156.) –
Aristoteles entwirft seine Physik unter anderem aus dem in der allt¨
aglichen
Sprache niedergelegten Vorwissen vom Sein der sich wandelnden Dinge. In
der Kritik des Vorwissens gelangt Aristoteles zu den erkenntnisgew¨
ahrenden Begriffen. Damit sind die physikalischen Begriffe eng an das allt¨
agliche
Verst¨andnis gebunden. Dass ,Verstehen‘ geradezu heißt: ,eine Sprache sprechen‘, das zeigt sich im Ringen um das Verst¨
andnis der modernen Physik.
Formal-mathematische Ausdr¨
ucke treffen solange nichts physikalisch Wirkliches, solange nicht gesagt werden kann, wof¨
ur sie Ausdruck sind. Eine
sogeartete Interpretation physikalischer Theorien versucht best¨
andig post
festum das einzuholen, was bei Aristoteles von vornherein gew¨
ahrleistet ist,
– n¨amlich, dass die Resultate der Wissenschaft als Antworten auf unsere
Fragen verstanden werden k¨
onnen. Die Frage nach der Wahrheit der Erkenntnisse ist damit noch nicht entschieden, wohl aber u
¨berhaupt erst der
Ort f¨
ur die Entscheidbarkeit der Frage hergestellt.
Wie f¨
uhrt nun Aristoteles diese Untersuchung? Nachdem er eine Reihe
von Redensarten, in denen von werden gesprochen wird, angef¨
uhrt hat –
dem Wort gleichsam zugesehen hat, wie es gebraucht wird –, zeigt Aristoteles auf, dass die Rede von werden einmal etwas Zusammengesetztes trifft,
7
Gegen die von Wieland (1962) vertretene Auffassung, Aristoteles entwickle sein Prinzipien am Leitfaden der Sprache, betont Happ (1971), S. 290ff., dass Aristoteles den Sprachgebrauch h¨
aufig anhand von Sachunterschieden kritisiere. Doch bleibt dann weiterhin zu
fragen, wie wir Kenntnis von den Sachunterschieden haben k¨
onnen. Diese sollen doch gerade durch die Prinzipien aufgewiesen werden. – Ausgangspunkt der Prinzipienforschung
bleibt ein konfus Allgemeines, ob dieses die Ph¨
anomene, der Sprachgebrauch oder die Meinungen der Vorg¨
anger sind, ist dabei unwesentlich. Das hermeneutische Verfahren ist auf
das Medium der Sprache angewiesen.
20
ein andermal ein Einfaches. Dies f¨
uhrt ihn auf die Unterscheidung von zwei
Formen von Werden, die des akzidentellen Werdens und die des substantiellen (oder einfachen) Werdens. Wenn aus einem ungebildeten Menschen
ein gebildeter Mensch wird, so handelt es sich um den Fall des akzidentellen Werdens. Substantielles Werden liege vor, wenn Etwas entsteht, z. B.
wenn aus Erz eine Statue wird. In beiden F¨
allen zeige sich jedoch, dass
dem Werden immer etwas zugrundeliegen m¨
usse, das da wird. Ein Werden
schlechthin gibt es nicht. Dies ist f¨
ur den klar, der genau hinsieht (vgl. Phys.
190 b 3), wie Aristoteles sagt: Pflanzen und Tiere entstehen n¨
amlich aus Samen (Phys. 190 b 3-5), ein Mensch aus einem Menschen (Phys. 193 b 8). Auf
diese Weise ist es Aristoteles gelungen, den Fall des substantiellen Werdens
auf denjenigen des akzidentellen Werdens zur¨
uckzuf¨
uhren, wodurch eine f¨
ur
alle Werdensvorg¨ange g¨
ultige Bestimmung getroffen werden kann.
Insofern jedem Werden die Struktur des akzidentellen Werdens eignet, ist
f¨
ur Aristoteles jedes Werdende (gign“menon) ein Zusammengesetztes (sunjet“n). Dementsprechend lassen sich an jedem Werdensverlauf grunds¨
atzlich
zwei Momente unterscheiden: dasjenige, was da wird (das Werdende), und
das, wozu es wird (das Resultat des Werdens) (vgl. Phys. 190 b 11f.). Das
Werdende ist weiterhin in zweifacher Hinsicht anzusprechen, entweder als
das im Werdensverlauf beharrlich Zugrundeliegende (†poke•menon) oder als
Gegensatz (ˆntike•menon), der der Bestimmung des Resultats des Werdens
gegen¨
uberliegt (vgl. Phys. 190 b 10-13).8 Aristoteles gibt f¨
ur das Zugrundeliegende die Beispiele: Mensch, Erz, Stein und Gold, als Gegensatz nennt
er: Ungebildetsein, Ungestaltetsein, Formlosigkeit und Ungeordnetsein (vgl.
Phys. 190 b 13-17). Was hier als Gegensatz genannt wird, ist jeweils der
Entzug, die Privation (st‘rhsic), der im Werdensverlauf zu erreichenden
finalen Bestimmtheit des Resultats des Vorgangs. Ein Werdendes ist vom
Ziel seines Werdens her bestimmt, es wird nicht einfachhin, sondern es wird
zu Etwas. Damit sind die drei Prinzipien des Werdens (Bewegung im allgemeinen Sinne) gefunden: der Stoff (žlh), die Form (e~
>idoc/morf’) und der
Entzug (st‘rhsic) der im Werden zu verwirklichenden Form als Ausgangspunkt des Werdens.
Die Bestimmung des †poke•menon als das dem Werden Zugrundeliegende
bewegt sich zwischen Stoff 9 (žlh) und Wesen (oŽs•a). Das †poke•menon des
8
Zur Auslegung der Stelle vergleiche Wieland (1962), 126ff. und Wagner (1967), S.
429ff.
9
¨
Als Ubersetzung
f¨
ur žlh hat sich seit dem Mittelalter der terminus technicus materia (Materie) eingeb¨
urgert. Dennoch werde ich bis auf Ausnahmen das griechische žlh
mit Stoff wiedergeben, womit ich eine Unterscheidung der absoluten Materie von der
Materie = Stoff der sinnlich wahrnehmbaren Gegenst¨
ande der Physik erreichen m¨
ochte.
21
akzidentellen Werdens ist das Ding, ein s–njeton, bzw. das Wesen als t“de
ti, an dem sich Bestimmungen ¨
andern, ohne dass es zu einem anderen Wesen w¨
urde. Wird die Unterscheidung von †poke•menon und ˆntike•menon auf
das substantielle Werden ausgedehnt, bei dem ein Wesen entsteht, z. B. eine
Statue aus dem Erz, so zeigt sich, dass auch hierbei etwas als Zugrundeliegendes (†poke•menon), n¨amlich eine bestimmte Stoffmenge (žlh ˆrijmht’),
im Werdensverlauf erhalten bleibt.10 Schlechthin unver¨
anderlich jedoch ist
die Form (e~>idoc). Was sich ver¨
andert, das ist das Gef¨
uge aus Stoff und
Form, eine Ver¨anderung erleidet dabei dasjenige, was sich ver¨
andert, etwa
das St¨
uck Holz (q–lon) durch das Hinzutreten der Form. (vgl. Phys. 224
b 4f.) Der Vorgang des Werdens kann damit als Pr¨
agung des Stoffes in
eine Form verstanden werden, wenn bedacht wird, dass es sich zumeist
um die Pr¨agung eines Gepr¨
agten handelt: nicht Materie wird zur M¨
unze
gepr¨agt, sondern der M¨
unzrohling. Der dem Werden der Statue zugrundeliegende Stoff ist ein wahrnehmbares St¨
uck Erz, und als solches hat er bereits
die Form des Erzklumpens. Das verdeutlicht Aristoteles damit, dass er den
Stoff des Zugrundeliegenden als z¨
ahlbar bezeichnet (›lwc ‚ žlh ˆrijmht’,
Phys. 190 b 25). Z¨ahlbar ist jedoch nur das, was schon ein begrenztes Ding
ist, das wahrgenommen werden kann (vgl. Wagner (1967), S. 429-432).11
Wenn das Erz zur Statue wird, muss Etwas beim Werdensverlauf beharren, was die Verschiedenheit von dem, was da wird, und dem, zu dem
es wird, in der Weise zusammenf¨
ugt, dass von einem Etwas, das sich da
wandelt, gesprochen werden kann. (Nur ein Gleichbleibendes gew¨
ahrleistet,
dass Bewegung u
¨berhaupt erfahrbar wird. Eine unterschiedslos bewegte Welt
w¨are von einer schlechthin unbewegten Welt nicht zu unterscheiden.) Das
Zugrundeliegende (†poke•menon) als Stoff des Bewegten gew¨
ahrleistet diese
Identit¨at. Andererseits g¨abe es ohne Verschiedenheit ebenso keine Bewe¨
gung. Bewegung ist ja gerade der Ubergang
von einem zu einem davon Verschiedenen, vom Ungeformten (Erz) zum Geformten (Statue), von hier nach
dort. Diese Verschiedenheit im Werdensverlauf wird durch den Gegensatz
(ˆntike•menon) von Form-Entzug (st‘rhsic) und Form (e~
>idoc) gew¨
ahrt. Die
Verbindung von Identit¨at und Verschiedenheit in der Bewegung zeigt sich
Zudem soll damit der ¨
außerste Gegensatz zwischen absoluter Materie und Geist (h¨
ochste
stofflose Form) von dem unterschieden werden, was als Stoff-Form-Relation zwischen den
Extremen einzuordnen ist.
10
Zur Ausdifferenzierung des †poke•menon-Begriffs in Phys. A 7, siehe Wagner (1967),
426ff.
11
Happ zeigt, wie Aristoteles den Begriff des Zugrundeliegenden (†poke•menon) ausdifferenziert: vom Zugrundeliegenden als Wesen (oŽs•a) zum Zugrundeliegenden als konkretes
(z¨
ahlbares) Materialst¨
uck (žlh ˆrijmht’) schließlich zum Zugrundeliegenden als Materie
u
¨berhaupt (žlh) (vgl. Happ (1971), S. 286).
22
deutlich am Beispiel des ungebildeten Menschen, der zu einem gebildeten
Menschen wird. Die Identit¨
at zeigt sich am Zugrundeliegenden: ein Mensch
(ein Wesen aus Stoff und Form), sofern zu ihm diese eine und bestimmte
Menge von Stoff geh¨ort (vgl. Met. Z 8, 1034 a 5-8). Die Verschiedenheit
wird demgegen¨
uber durch den Gegensatz von ungebildet versus gebil
det gew¨ahrleistet, den Bestimmungen, die vom Wesen (Mensch) ausgesagt
werden k¨onnen.
Ver¨andern, so sagt Aristoteles in Physik G 1 (Phys. 200 b 33), k¨
onnen
sich nur Dinge (prgmata). Dinge sind konkretes Seiendes. Wie ist es denkbar, dass ein konkret Bestimmtes zu einem anderen konkret Bestimmten
wird? Anderswerden kann ein Bestimmtes nur, wenn es diese Andersheit in
gewissem Sinne schon an sich selbst hat. H¨
atte ein Bestimmtes nicht die
Andersheit ebenso an sich, wie sollte es ein Anderes werden k¨
onnen? Von
etwas anderem kann ihm die Andersheit nicht zugeteilt werden. Dann w¨
aren
dort Verschiedene, die nebeneinander best¨
unden, jedoch keine Ver¨
anderung
eines Dinges. Dazu muss das Ding selbst gerade ein anderes bzw. anders
werden. Folglich muss es selbst dies und das andere ebenso sein. Wenn es
indes dies und jenes schon w¨
are, br¨
auchte es nicht mehr jenes zu werden.
Andererseits kann es dies und jenes nicht zugleich sein, da es dann an ihm
selbst Verschiedenes (gegens¨
atzlich) w¨
are, mithin kein Ding, da dies nicht
mit sich selbst in Widerspruch stehen kann.
¨
Diese Uberlegungen
muten sophistisch an, doch treffen sie im Kern das
Wesen der Bewegung. Soll Bewegung widerspruchsfrei gedacht werden k¨
onnen, so m¨
ussen Aporien der Bewegung, wie sie z. B. die eleatische Schule
aufgestellt hat, aufgel¨ost werden. In Physik A 8 geht Aristoteles auf das
Argument ein, welches besagt, dass es ein Werden nicht geben kann, da
weder aus dem, was nicht ist, noch aus dem, was ist, etwas werden k¨
onne.
Aus Seiendem werde nichts, denn es sei ja bereits, und aus Nichtseiendem
ebensowenig, denn es sei da nichts, aus dem etwas werden k¨
onne. Aristoteles
l¨ost diese Schwierigkeit durch die Differenzierung der Redeweise von seiend (bzw. von nicht-seiend) in im eigentlichen Sinne (kaj> a†t“) bzw.
im Sinne von nebenbei zutreffend, akzidentell (kat¨ sumbebhk“c). Eine
andere L¨osung ergibt sich, wie er sagt, jedoch an jener Stelle nicht ausf¨
uhrt
(Phys. 191 b 27-29), durch die Unterscheidung hinsichtlich M¨
oglichkeit und
Wirklichkeit (l‘gein kat¨ tªn d–namin ka­ tªn ‰n‘rgeian, Phys. 191 b 28f.).
Ein A kann nur ein B werden, wenn es der M¨
oglichkeit nach bereits ein B
ist. Der Wirklichkeit nach ist es noch ein A.
Hatte Aristoteles durch Einf¨
uhrung des Stoff-Prinzips die M¨
oglichkeit
einer Vermittlung der Gegens¨
atze geschaffen, so erkl¨
art er das Verh¨
altnis
der Relate Stoff und Form durch das Verh¨
altnis von M¨
oglichkeit d–namic
23
zu Wirklichkeit ‰n‘rgeia (vgl. Met. IX 6, 1048 b 3-6, auch VIII 6, 1045 b
17-19), wodurch die Prinzipien Stoff und Form selbst eine n¨
ahere Erl¨
auterung erfahren. In einem ersten Anlauf hatte Aristoteles in Physik A 7 die
Stoff-Form-Relation als Struktur des Bewegten aufgedeckt. Indem die Prinzipien Stoff und Form durch die Begriffe M¨
oglichkeit und Wirklichkeit n¨
aher
erl¨autert werden, gelingt es Aristoteles mittels dieser Begriffe, die Seinsweise
der Bewegung anzuzeigen. In diesem Sinne entwickelt Aristoteles in Physik G
1-3 anhand der Begriffe M¨oglichkeit und Wirklichkeit seinen Begriff der Be¨
wegung. Mit Hilfe dieser Begriffe k¨
onnen Wandel, Ubergang,
Ver¨
anderung
und Bewegung verstanden werden. Wandel und Bewegung selbst sind sie
gerade nicht. In der angezeigten Weise sind sie bei Aristoteles ontologische
Bestimmungen: Das Sein eines Seienden gibt es in der Weise der M¨
oglichkeit
und der Wirklichkeit. – Zur Vorbereitung auf die Diskussion des mit diesen
Begriffen erkl¨arten Bewegungskonzepts ist zu untersuchen, wie Aristoteles
den ontologischen M¨oglichkeitsbegriff in Metaphysik Θ gewinnt.
Exkurs: d–namic
‰n‘rgeia, ‰ntel‘qeia
Die Ausdifferenzierung der Begrifflichkeit von d–namic und ‰n‘rgeia in Metaphysik Θ unternimmt Aristoteles ausgehend von der zun¨
achst und zumeist
bekannten Bedeutung dieser Begriffe. Diese handelt von Verm¨
ogen und Verwirklichung in Bezug auf Bewegung (Wandel) (d–namic ka­ ‰n‘rgeia kat¨
k•nhsin, vgl. Met. 1046 a 1f.). In diesem Sinne bestimmt Aristoteles in Physik J 1 zun¨achst die d–namic als ein Prinzip von Bewegung (ˆrqª metabol~hc
‰n llÔ º ~<Ò llo, Met. 1046 a 10f.), entweder in einem anderen, so wie
der Baumeister das Haus baut, oder in der Sache selbst, sofern sie ein anderes ist, etwa wenn der Arzt sich selbst heilt, er dieses als Arzt tut und
nicht als Patient. Diese Art des Verm¨
ogens nennt Aristoteles genauer die
F¨
ahigkeit, etwas zu tun oder zu erleiden (d–namic to~u poie~in ka­ psqein,
Met. 1046 a 19f.). Die F¨ahigkeit, etwas zu erleiden, hat das Fette, insofern
es brennbar ist, das Spr¨ode, insofern es zerbrechlich ist; die F¨
ahigkeit zu
tun, hat das Warme, insofern es w¨
armen kann, der Baumeister, insofern er
ein Haus bauen kann (vgl. Met. 1046 a 24ff.). F¨
ur Wieland steht dieser kinetische M¨oglichkeitsbegriff noch nicht in einem Gegensatz zum Begriff der
Wirklichkeit (Wieland (1962), S. 295, vgl. S. 298).
Den metaphysischen oder ontologischen M¨
oglichkeitsbegriff, der sich in
einem Gegensatz zum Begriff der Wirklichkeit befindet, entwickelt Aristoteles ausgehend davon, was ‰n‘rgeia12 heißt (Met. Θ 6ff.). Wieland plausibiliDas Wort ‰n‘rgeia selbst ist wahrscheinlich eine aristotelische Sch¨
opfung, wie wohl
auch der Begriff ‰ntel‘qeia, der grunds¨
atzlich synonym mit ‰n‘rgeia verwendet wird und
12
24
¨
siert den Ubergang
vom kinetischen zum ontologischen M¨
oglichkeitsbegriff
damit, dass die F¨ahigkeit, etwas zu tun bzw. zu erleiden, als die Seinsweise
dessen angesetzt wird, dem diese F¨
ahigkeit zukommt, wodurch die d–namic
kat¨ k•nhsin eines Seienden zum dunmei £n, zu einem Sein in der Weise der
M¨oglichkeit, wird (Wieland (1962), S. 296).
Was unter ontologischer M¨
oglichkeit und Wirklichkeit zu verstehen ist,
versucht Aristoteles mit Hilfe einer Analogie zu vermitteln. Und zwar verh¨
alt
sich das Wirkliche zum M¨oglichen wie (vgl. Met. 1048 a 35ff.):
das Bauende
das Wachende
das Sehende
das aus dem Stoff abgesonderte
das Bearbeitete
zum Baumeister,
zum Schlafenden,
zu dem, was die Augen geschlossen hat,
zu dem Stoff selbst und
zum Unbearbeiteten.
In erster N¨aherung ließe sich die Analogie verallgemeinern zu: Wie sich
das Bestimmt-Bestimmende zum Unbestimmt-Bestimmbaren verh¨
alt, so verh¨alt sich das Wirkliche zum M¨
oglichen.13 – Worin besteht nun die Leistung
der durch Aristoteles ausgebildeten Begriffe von M¨
oglichkeit und Wirklichkeit? Der Begriff der d–namic erlaubt es, einen Widerspruch durch die Unterscheidung von Hinsichten zu entsch¨
arfen. Die sich widersprechenden Pr¨
adikate werden hinsichtlich M¨
oglichkeit und Wirklichkeit unterschieden. Damit
erm¨oglicht der Begriff der d–namic, das Bewegte als etwas zu denken, welches Gegens¨atze zugleich enth¨
alt. Das Verm¨
ogen also zu dem Entgegen”
gesetzten ist zugleich vorhanden, das Entgegengesetzte selbst aber findet
in dieser Bedeutung auf Bewegung bezogen ist (vgl. Diels (1916), S. 200f.). Als Verwirklichung bezieht sich die ‰n‘rgeia kat¨ k•nhsin jedoch auf Vollendung (‰ntel‘qeia), ist also
nicht schon selbst Vollendung (Met. 1047 a 30-32). Wie Diels darlegt, [...] muß ‰ntel‘qeia
”
aus ‰ntel‘c und ¡qein komponiert sein. Ein ‰nteleq’c ist also einer, der das Vollendete, Vollkommene besitzt, und ‰ntel‘qeia der Zustand des Besitzes der Vollendung, der
Vollkommenheit.“ (Diels (1916), S. 202) In dieser Bedeutung ist ‰ntel‘qeia also nicht
im Sinne von k•nhsic zu verstehen. Heidegger setzt bei dieser Ableitung einen etwas anderen Akzent: Wenn eine Handlung im Werk (¡rgon) ihren Abschluss findet, kann das
Werk als das Ins-Ziel-gekommene-Sein der Handlung verstanden werden. ‰n‘rgeia kat¨
k•nhsin kann man verstehen als ins-Werk-setzen (Verwirklichung) und ‰n-tel-‘qeia
als Sich-in-Fertigkeit-halten (Heidegger (1931), S. 224).
13
In diesem Sinne findet sich die Begrifflichkeit von d–namic und ‰n‘rgeia in Platons
Philebos (23c-27c) vorgebildet. Platons Sokrates unterscheidet das Seiende dort in das
Unbegrenzte ( peiron), die Grenze (p‘rac), das aus beiden Gemischte, d. i. das Begrenzte,
sowie ein die Vermischung verursachendes Prinzip. Das Unbegrenzte ist das Unbestimmte
jedoch Bestimmbare, die Grenze ist das Bestimmende und das Gemischte ist das Bestimmte, das konkrete Seiende.
25
unm¨oglich zugleich statt.“ (Met. 1051 a 10ff., u
¨bers. v. Seidl). Der Stoff ist
das Verm¨ogen zu Gegens¨atzen: Das, was die Gegens¨
atze in sich tr¨
agt, ist ein
wesentlich Unbestimmtes, im Sinne eines noch nicht Vollendeten. Dies trifft
auf etwas zu, das gerade Ver¨
anderung erleidet. – Nach diesem Exkurs u
¨ber
Wirklichkeit und M¨oglichkeit kann auf dieser Grundlage die Interpretation
des Bewegungsbegriffs fortgesetzt werden.
———————————
In Physik Γ 1 gewinnt Aristoteles den Begriff von Ver¨
anderung unter
Rekurs auf die ontologischen Begriffe von Wirklichkeit und M¨
oglichkeit. Bewegung gibt es f¨
ur Aristoteles nur von Seiendem. Nun wird von Seiendem
in vielen Bedeutungen gesprochen, wie Aristoteles sagt. Entsprechend ist
zun¨achst davon auszugehen, dass es von Ver¨
anderung und Wandel so viele
Arten gibt wie von seiend (Phys. 201 a 8f.). Jede Bestimmung des Seienden gem¨aß den Kategorien werde jedoch entweder als der Wirksamkeit
nach (‰ntel‘qeia) oder der M¨
oglichkeit nach (d–namic) zutreffend ausgesagt
(Phys. 201 a 9-10). Daraus, dass Aristoteles den Bewegungsbegriff auf diese
Weise einf¨
uhrt, ist zu ersehen, dass er auf den ontologischen Sinn der Begriffe Wirklichkeit und M¨oglichkeit zielt. Sodann bestimmt er Bewegung als
‰ntel‘qeia eines M¨oglichseienden (dunmei £n), insofern es ein solches ist. (‚
to~u dunmei £ntoc ‰ntel‘qeia, ~
<Ò toio~uton, k•nhs•c ‰stin, Phys. 201 a 10f.)
Wird ‰ntel‘qeia im Sinne des kinetischen Wirklichkeitsbegriffs mit Verwirklichung u
¨bersetzt, so greift diese Bestimmung zu kurz. Verwirklichung in
diesem Sinne ist nichts anderes als Bewegung selbst (vgl. oben S. 22, Anm.
12). Gesetzt, dass Aristoteles hier definieren wollte, was Bewegung ist, so
verfehlte er dann den Sinn einer Definition. Denn zu jeder Definition ist
gefordert, dass das definiens aus genus proximum und differentia specifica
zusammengesetzt ist (vgl. Top. A 8, 103 b 15f.: ...ƒ ƒrism«c ‰k g‘nouc ka­ diafor~
wn ‰st•n). Indem Bewegung dann durch Bewegung erkl¨
art w¨
are, bliebe
auch unverstanden, was der Rest des Satzes: Bewegung eines M¨
oglichen,
sofern es ein solches ist , heißen sollte. Wird indes danach gefragt, was bei
der Definition der Bewegung das genus proximum sein soll, dann zeigt sich,
dass Bewegung selbst Oberbegriff sein muss. Damit m¨
usste es sich meines
Erachtens bei der Bewegung um einen undefinierbaren Grundbegriff handeln. (Vgl. Kappes (1887), S. 13 unter Berufung auf Phys. 201 b 28.)
¨
Bewegung als Ubergang
von M¨
oglichkeit zu Wirklichkeit zu verste¨
auch nur eine Art von
hen, ist gleichermaßen unzureichend, da Ubergang
Bewegung im weitesten Sinne ist. Demnach ist die Passage zu u
¨bersetzen
mit: Wirklichkeit eines M¨
oglichen (...) . Aber das w¨
are bereits Vollendung,
26
Werk, beendete Bewegung, folglich nicht Bewegung selbst, sondern Resultat. Damit zeigt sich die Unverzichtbarkeit des Zusatzes: (...) sofern es ein
M¨ogliches ist, bei der Bestimmung von Bewegung als Wirklichkeit eines
M¨oglichen. Das, was sich ver¨
andert, ist ein Seiendes, welches als Seiendes schon wirklich ist; insofern es jedoch einer Ver¨
anderung unterliegen soll,
muss es ver¨anderbar sein; als solches ist es ein M¨
ogliches. Aber auch das ist
nicht Bewegung, sondern erst M¨
oglichkeit zu Bewegung.
Bewegung nun als das Zugleichsein von Wirklichkeit und M¨
oglichkeit
zu bezeichnen (wie etwa Schramm (1962), S. 106), ist zwar nicht falsch, es
erkl¨art indes zu wenig, da dies Zugleichsein jedem physikalischen K¨
orper,
ob in Ruhe oder in Bewegung, qua Stoff-Form-Relation zukommt. Wieland
sieht hier vielmehr die Modalkategorien stufenweise aufeinander angewandt
(Wieland (1962), S. 298, Anm. 25). Schließlich ist zu u
¨bersetzen: Bewegung
ist [...] die Wirklichkeit des der M¨
oglichkeit nach Seienden, insofern es ein
”
solches [ein M¨ogliches] ist.“ (Vgl. auch die Erl¨
auterung zur Parallele in Met.
K 9 von Seidl, S. 536f.)
Diese Bestimmung erl¨autert Aristoteles am Beispiel eines Erzklumpens,
der der M¨oglichkeit nach ein Standbild ist (Phys. 201 a 31ff.). Ver¨
anderung
heißt hier nicht, dass das Erz verwirklicht w¨
urde, denn wirklich ist das Erz
ja schon, wenn auch nur in der Weise eines Erzklumpens. Verwirklicht kann
nur das werden, was noch nicht wirklich ist. Doch muss die jeweilige Wirklichkeit der M¨oglichkeit nach bereits vorliegen. Ein Erzklumpen hat nicht
die M¨oglichkeit, eine F¨ahigkeit zu erlernen; so wird aus dem Erz niemals
ein Arzt. Aus einem Menschen jedoch kann ein Arzt werden.14 Indes ist das
Vorliegen der M¨oglichkeit zu Ver¨
anderung nicht schon Ver¨
anderung selbst.
Die Ver¨anderung ist auf ihre ‰ntel‘qeia (als Ziel der Verwirklichung) angewiesen. Ver¨anderung ist die Wirksamkeit eines M¨
oglichen, sofern es noch
ein solches ist. So findet Ver¨
anderung genau dann statt, wenn die Verwirklichung selbst sich vollzieht – und weder vorher noch nachher (Phys. 201 b
5-7). Dies erl¨autert Aristoteles am Beispiel des Hausbaus (Phys. 201 b 7ff.).
Wird nach der Wirklichkeit einer F¨
ahigkeit d–namic gefragt, zeigt sich, dass sich die
Verwirklichung in zwei Stufen vollzieht (vgl. De anima B 5, 417 a 21 - b2 sowie die Auslegung der Stelle durch Seidl im Kommentarteil). Die erste Verwirklichung bezeichnet den
¨
Ubergang
von der M¨
oglichkeit zu einer F¨
ahigkeit zum Innehaben derselben etwa durch
¨
Lernen oder Uben.
Die zweite Verwirklichung ist von anderer Natur. Sie bezeichnet den
¨
,Ubergang‘
vom Besitz der F¨
ahigkeit zum Aus¨
uben derselben in freier T¨
atigkeit. In diesem Sinne hat der Baumeister die wirkliche F¨
ahigkeit des Bauens; die Verwirklichung der
bereits wirklichen F¨
ahigkeit ist das Bauen als Vorgang, durch den das Bauwerk hervorgebracht wird. Wenn der Baumeister einmal unt¨
atig ist, so verliert er damit nicht zugleich
die F¨
ahigkeit zu Bauen (sein Baumeister-Sein) und er erlernt sie nicht in dem Moment, in
welchem er bauend t¨
atig wird. Vergleiche hierzu die Er¨
orterung in Metaphysik J 3.
14
27
Die Verwirklichung des Hauses erfolgt gerade dann, wenn aktiv am Haus
gebaut wird. Wenn das Haus schon fertig ist, wird nicht mehr daran gebaut.
Genausowenig wird am Haus gebaut, wenn noch u
¨berlegt wird, wie das Haus
zu bauen ist. Weder das Vorliegen der M¨
oglichkeit, noch das Vorliegen des
Verwirklichten, des Wirksamen, ist Ver¨
anderung – sie ist: Wirklichkeit eines
M¨oglichseienden, insofern es ein M¨
ogliches ist. Wie Aristoteles in Physik G 2
betont, ist Bewegung deshalb zwar eine Wirklichkeit, jedoch eine wesentlich
unvollendete (k•nhsic ‰n‘rgeia [...] ˆtelªc, Phys. 201 b 31ff.). Ursache davon
ist die Unvollkommenheit des M¨
oglichen (ebd.). Dies l¨
asst an Metaphysik
J 9 denken, wo Aristoteles den Vorrang des Wirklichen vor dem M¨
oglichen
dadurch erkl¨art, dass das M¨
ogliche, als Verm¨
ogen zu Gegens¨
atzen, neben
dem Vollkommenen ebenso das Unvollkommene in sich tr¨
agt.
Dasjenige, das die Ver¨
anderung erleidet, das Ver¨
anderliche, ist in unterschiedlicher Weise zu Ver¨
anderung f¨
ahig. Grunds¨
atzlich sollte es gem¨
aß
jeder Kategorie eine Bewegungsart geben. Aristoteles unterscheidet jedoch
nur vier Arten von Bewegung (Phys. 201 a 11-15, u. a.):
• Entstehen und Vergehen (g‘nesic ka­ fjor)
• Quantit¨atsver¨anderung (a¦xhsic ka­ fj•sic)
• Qualit¨atsver¨anderung (ˆllo•wsic)
• Ortsver¨anderung (for)
Diese vier, von Aristoteles bisher allgemein mit Bewegung (k•nhsic) bezeichneten Arten des Wandels (metabol’), erfahren im f¨
unften Buch der
Physik eine grundlegende Differenzierung. Soweit die Er¨
orterung zun¨
achst
15
vom f¨
ur uns Bekannten ihren Ausgang nimmt, werden alle Arten des Wandels als Bewegung (k•nhsic) bezeichnet. Im sachlichen Progress der Untersuchung korrigiert Aristoteles diesen allgemeineren (unterminologischen) Gebrauch von k•nhsic und verwendet den Begriff Bewegung nur f¨
ur die
drei Arten von Ver¨anderung, bei denen ein Wesen als sichtbar Beharrliches
zugrundeliegt. Auf diese f¨
ur die Unterscheidung von klassischer Mechanik
und Quantenmechanik ausschlaggebende Differenzierung von Bewegungsarten werde ich im folgenden Kapitel eingehen. Es wird gezeigt werden,
auf welche Weise zum Verst¨
andnis des Werdens (Entstehen und Vergehen)
ebenso wie bei den drei Arten von Bewegung (k•nhsic) im engeren Sinne ein
15
Bei der Auslegung wird ber¨
ucksichtigt, dass es sich bei der aristotelischen PhysikSchrift um einen didaktisch aufgearbeiteten Text handelt.
28
Zugrundeliegendes vorauszusetzen ist. Ein Wesen als solches ist dies Zugrundeliegende jedoch nicht, denn jenes entsteht bzw. vergeht beim substantiellen
Wandel.
2.1.1
Zur Differenzierung der Bewegungsarten
¨
Bewegung kann nur dann als ein Ubergang
von einem Zustand zu einem anderen verstanden werden, wenn ein Zugrundeliegendes vorausgesetzt wird,
¨
welches diesen Ubergang
dadurch vermittelt, dass es als Beharrliches zugrundeliegt. Dies hat Aristoteles anhand des akzidentellen Werdens herausgestellt. Auch dem substantiellen Werden, dem Entstehen und Vergehen von
Wesenheiten muss die gleiche Struktur wie den u
¨brigen Bewegungsarten eignen, sonst bleibt unverst¨andlich, wie etwas aus dem Zustand des Nicht-Sein
in denjenigen des Seins treten kann.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass alle Wandlung immer von etwas zu
etwas erfolgt (Phys. 224 b 35-225 a 1), findet Aristoteles anhand einer kom¨
binatorischen Uberlegung,
dass bei drei Arten der Ver¨
anderung (gem¨
aß der
Qualit¨at, der Quantit¨at und dem Orte) sich stets ein Zugrundeliegendes in
ein Zugrundeliegendes wandelt. Bei Entstehen und Vergehen (dem substantiellen Werden) wandelt sich hingegen entweder ein Nicht-Zugrundeliegendes
in ein Zugrundeliegendes (Entstehen) oder ein Zugrundeliegendes in ein
Nicht-Zugrundeliegendes (Vergehen) (vgl. Phys. 225 a-225 b 5). Stehen diese
Aussagen indes nicht in einem Widerspruch zur Behauptung, dass stets ein
Zugrundeliegendes angenommen werden m¨
usse, welches beharrt? Um diese
Differenzierung zu verstehen, bedarf es der Kl¨
arung, was mit zugrundeliegend in diesem Fall gemeint ist. Hierzu wird die Schrift u
¨ber Entstehen und
Vergehen (De gen. et corr.) herangezogen, in der Aristoteles seine Elementenlehre vortr¨agt. Wichtig ist ihm vor allem die Unterscheidung zwischen
Entstehen und Vergehen auf der einen Seite und qualitativer Ver¨
anderung
auf der anderen. Im vierten Kapitel des ersten Buches von Entstehen und
”
Vergehen“ unterscheidet Aristoteles am Werdenden das Zugrundeliegende
vom Zustand (pjoc), der von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird. Werden (Entstehen und Vergehen) liege dann vor, wenn sich beide, sowohl der
Zustand wie das Zugrundeliegende ver¨
andere, qualitative Ver¨
anderung dagegen, wenn sich nur der Zustand ¨
andere, das Zugrundeliegende aber w¨
ahrend
der Ver¨anderung erhalten bliebe. Erinnern wir uns daran, dass Aristoteles in
A 7 der Physikschrift herausgestellt hat, dass allem Werden etwas zugrundeliegen muss, das beim Werden – dem substantiellen gleichermaßen wie dem
akzidentellen Werden – erhalten bleibt, so wird diese Auskunft u
¨berraschen.
Bedenkt man jedoch, dass Aristoteles an dieser Stelle aus De gen. et corr. mit
29
dem Zugrundeliegenden dasjenige meint, das als sinnlich Wahrnehmbares
einer Wandlung unterliegt, also ein aus Stoff und Form Zusammengesetztes,
so ist der Weg zur L¨osung dieser Schwierigkeit bereits gewiesen.
F¨
ur Entstehen und Vergehen gibt Aristoteles das Beispiel der Wandlung
von Wasser in Luft; dabei bleibt das Wasser nicht als Ganzes erhalten, sondern vergeht in ein sinnlich so ziemlich nicht wahrnehmbares“: die Luft (ƒ
”
g¨r ˆªr ‰pieik~
wc ˆna•sjhton. De gen. et corr. A 4, 319 b 20f.). Im Gegensatz
dazu bleibt bei qualitativer Ver¨
anderung ein sinnlich Wahrnehmbares, welches seinen Zustand ¨andert, durchg¨
angig erhalten. Die aristotelischen Beispiele hierzu sind: das Erz, welches bald rund, bald eckig wird und der Leib
(s~
wma), der einmal gesund, ein anderes mal krank ist; im ersten Fall bleibt
das Erz als es selbst bestehen und im zweiten bleibt der K¨
orper als solcher
ruhig erhalten, auch wenn sich sein Befinden erheblich ¨
andert. (De gen. et
corr. 319 b 8-24) Nun stellt sich dabei die Frage, welche Qualit¨
at bloßer
Zustand und welche als Eigenschaft f¨
ur die jeweilige Sache wesenskonstitutiv ist. Luft und Wasser sind beide sowohl fl¨
ussig als auch durchsichtig. Das
Fl¨
ussig-Sein, wodurch die ,eigene‘ Gestalt nicht beibehalten werden kann, ist
sowohl dem Wasser wie der Luft eine konstitutive Qualit¨
at (eine Eigen-schaft
im emphatischen Sinne). Weshalb f¨
ur Aristoteles Eis nicht einfach gefrorenes
Wasser ist. W¨ahrend f¨
ur Wasser als auch f¨
ur Luft das Fl¨
ussig-Sein wesenskonstitutiv ist, so ist ihnen die Durchsichtigkeit nur kontingenter Zustand –
braungef¨arbtes Wasser bleibt Wasser wie gelbliche Luft wenigstens luftartig
bleibt, auch wenn es sich um Schwefeldampf handeln sollte. Wird hingegen
das Wasser erw¨armt, so entsteht Luftartiges, n¨
amlich Wasserdampf.16
Ein Kriterium f¨
ur die weitere Differenzierung der drei Arten von Bewegung im strengen Sinne bietet die Betrachtung der Ortsbewegung. Nur
wenn etwas als Ganzes den Ort wechselt, handelt es sich um Ortsbewegung.
¨
Andern
jedoch nur die Teile ihren Ort, etwa durch Ausdehnung, nicht jedoch durch wechselseitige Umstellung der Teile innerhalb einer Kugel, so
handelt es sich um Wachsen (bzw. Schwinden) gem¨
aß der quantitativen
Ver¨anderung, so Aristoteles. Die qualitative Ver¨
anderung einer Sache ist
nicht notwendig – genausowenig wie bei Entstehen und Vergehen – mit einer Ver¨anderung des Ortes verbunden. (De gen. et corr. A 5, 320 a 17-25) Ein
weiteres Kriterium zur Differenzierung der Bewegungsarten wird gewonnen,
wenn nach der Kontinuit¨at der Bewegung gefragt wird. Es zeigt sich, dass
die drei Arten der Bewegung einen kontinuierlichen Bewegungsverlauf aufweisen, w¨ahrend es einen solchen beim substantiellen Wandel nicht gibt (vgl.
¨
Mit diesen Uberlegungen
verbindet sich nicht der Anspruch einer Interpretation der
aristotelischen Elementelehre.
16
30
unten S. 44).17 Dabei verlagert sich die Forderung nach der Kontinuit¨
at des
¨
Ubergangs
deutlich auf diejenige nach der Kontinuit¨
at der zugrunde liegenden Materie. – Dieses Unterscheidungskriterium findet bei der Untersuchung
des quantenmechanischen Prozesses Anwendung, der aufgrund der Quantisierung der Prozessdimension als substantieller Wandel aufzufassen ist. –
Soweit zur Differenzierung voneinander verschiedener Bewegungsarten.
Dass in der Ordnung der Bewegungsarten, wie sie Aristoteles im achten
Buch der Physik entwirft, von allen Arten der Bewegung die Ortsbewegung
als die urspr¨
unglichste der drei Arten ausgezeichnet wird, steht zur Differenzierung der Bewegungsarten nicht im Widerspruch. Auf der Suche nach der
Ursache aller Bewegung plausibilisiert Aristoteles den Vorrang der Ortsbe¨
wegung zun¨achst mit der folgenden Uberlegung:
Damit etwas wachsen kann,
muss das Bestehende vermehrt werden. Dies erfolgt durch Nahrungsaufnahme. Die Nahrung ist jedoch zun¨
achst von dem Bestehenden verschieden,
weshalb es der qualitativen Ver¨
anderung bedarf, damit durch Nahrungsaufnahme etwas wachsen kann. Damit nun eine qualitative Ver¨
anderung stattfinden kann, ist wiederum die Heranf¨
uhrung des Verursachenden an das
zu Verursachende erforderlich. Dies leistet die Ortsbewegung, ohne die eine
Ann¨aherung des Verursachenden an das Verursachte nicht m¨
oglich ist. (Vgl.
¨
Phys. 260 a 29-260 b 5.) Auf diese Uberlegung
aufbauend stellt Aristoteles
heraus, dass die erste und grundlegende Bewegungsart die Ortsbewegung
sein m¨
usse und von dieser wiederum die kreisf¨
ormige, da diese die kontinuierlichste sei.
Zu kl¨aren ist noch die Frage nach der M¨
oglichkeit des substantiellen
Wandels: Wie kann Entstehen und Vergehen gedacht werden, wenn es kein
Zugrundeliegendes als sinnlich Wahrnehmbares gibt? Doch wohl eben nur so,
dass dem Werden etwas als Beharrliches zugrunde gelegt wird, welches nicht
sinnlich wahrnehmbar ist. Dieser Gedanke entspricht der von Aristoteles in
B 1 von De gen. et corr. vorgetragenen L¨
osung. Wir hingegen behaupten
”
wohl, daß es irgendeinen Stoff der sinnlich wahrnehmbaren K¨
orper gebe
(e~>ina• tina žlhn t~
wn swmtwn t~
wn asjht~
wn, 329 a 24f.), aber daß derselbe
nicht getrennt, sondern immer mit einer Gegens¨
atzlichkeit verbunden sei [...]
daß der Stoff zwar unabtrennbar sei, aber eben den Gegens¨
atzen zu Grunde
liege; denn weder das Warme ist Stoff f¨
ur das Kalte, noch dieses f¨
ur das
Warme, sondern das zu Grunde Liegende ist Stoff f¨
ur beide. Folglich ist
als erstes der potentielle sinnlichwahrnehmbare [sic!] K¨
orper (dunmei s~
wma
asjht“n) ein Prinzip, als zweites aber die Gegensatzpaare, ich meine aber
17
Ich danke Sven M¨
uller, private Mitteilung, f¨
ur den Hinweis auf diesen Punkt.
31
hiermit W¨arme und K¨alte, als drittes aber bereits erst Feuer, Wasser und
die derartigen K¨orper [...]“ (De gen. et corr. 329 a 24-329 b 35, u
¨bers. v.
Prantl)
¨
Um einen Wandel als Wandel, d.h. als Ubergang
zwischen Verschiedenem
begreifen zu k¨onnen, muss folglich ein Zugrundeliegendes als Prinzip unterstellt werden. Bei Ver¨anderungen, bei denen ein wahrnehmbarer K¨
orper als
derselbe erhalten bleibt, bildet dieser K¨
orper selbst das Zugrundeliegende;
bei Entstehen und Vergehen jedoch, bei denen ein wahrnehmbarer K¨
orper
nicht als derselbe erhalten bleibt, ist das Zugrundeliegende dieses Werdens
der Stoff (Materie). Da dieser von der Form nicht abtrennbar ist, kann er
selbst nicht sinnlich wahrgenommen werden. Nichtsdestoweniger leistet der
Stoff als Prinzip die Vermittlung zwischen den kontr¨
aren Formen.
¨
Die Uberlegungen
zur Differenzierung der Bewegungsarten abschließend
¨
l¨asst sich die folgende Ubersicht
angeben:
Wandel
(metabol’)
HH
HH
akzidentelles Werden
substantielles Werden
HH
HH
HH
Entstehen
(g‘nesic)
HH
Vergehen
(fjor)
Bewegung/Ver¨
anderung
(k•nhsic)
H
@HH
@ H
@ HH
der Quantit¨
at
der Qualit¨
at des Ortes
Wachsen/Schwinden
(ˆllo•wsic) (for)
(a¦xhsic/ fj•sic)
Ausgehend von der anf¨
anglichen Nennung des Oberbegriffs als Bewegung (k•nhsic), unter welchen gem¨
aß den Kategorien des Wesens, der Qualit¨at, der Quantit¨at und des Ortes vier Arten subsumiert wurden, zeigt die
¨
Ubersicht
die gewonnene genauere Ausdifferenzierung. Oberbegriff ist der
32
Wandel, darunter sind zum einen Entstehen und Vergehen zum anderen die
drei verbleibenden Arten der Bewegung zusammengefasst.
Bis hierher ist gezeigt worden, wie Aristoteles seinen Begriff der Bewegung gewinnt und auf welche Weise er verschiedene Arten des Wandels
unterscheidet. Da sich die Kontinuit¨
at der Bewegung an den Momenten der
Bewegung erweisen lassen muss, ist vor der Diskussion der Kontinuit¨
at der
Bewegung die von Aristoteles gegebene Differenzierung des Bewegungszusammenhangs in Momente zu beleuchten.
2.1.2
Die Momente der Bewegung
Der physikalische Begriff der Bewegung zielt auf die Bewegung eines Seienden. Ein Seiendes ist als ein bestimmtes Dieses-Da (t“de ti) stets ein Gef¨
uge
(sunjet“n) aus Stoff und Form, welches als ein solches dem Wandel unterworfen ist. Dabei zeigt sich das stoffliche Moment am Ganzen der Bewegung
als Antwort auf die Frage nach der Stoffursache. Entsprechend verweist die
Frage nach der Bewegungsursache auf dasjenige, welches in Bewegung setzt:
das in kontinuierlicher Weise Bewegende. Eine jede Bewegung ist eine Bewegung von einem Zustand (Ort A; Gr¨
oße x; Qualit¨
at p) zu einem anderen
¨
Zustand (Ort A’; Gr¨oße x’; Qualit¨
at p’). Jeder Ubergang
erfolgt aus etwas
zu etwas hin (¡k tinoc e¥c ti, Phys. 225 a 1). Bewegen heißt folglich Anders¨
werden, ein Ubergehen
von einem Woher zu einem Wohin.
Die Struktur des Wandels (metabol’), seine Gespanntheit zwischen Anfangszustand und Endzustand ist final auf den Endzustand gerichtet. Deshalb ist f¨
ur Aristoteles eine Bewegung nur von ihrem Ende her zu verstehen.
Dies erweist sich auch daran, wie wir immer schon vom Werden sprechen.
(Wieland (1962), S. 134 u. S. 271) [...] denn mehr auch wird die Ver¨
ande”
rung jenes genannt, in welches, als jenes, aus welchem die Bewegung vor
sich geht [...]“ (Phys. 224 b 7f., u
¨bers. v. Prantl). [...] und es wird aber
”
auch eine jede Ver¨anderung weit mehr mit dem Namen desjenigen bezeichnet, in welches sie vor sich geht, als mit demjenigen, aus welchem, wie z. B.
Gesundmachung heißt die Ver¨
anderung in die Gesundheit, und Erkrankung
die in die Krankheit.“ (Phys. 229 a 25ff., u
¨bers. v. Prantl). Die Angaben
des Woraus und des Wozu etwas wird, im Sinne des Anfangs- bzw. Endzustands, sind aufeinander bezogen. Final- und Formursache gehen hier eng
zusammen und ziehen die Stoffursache nach sich (bzw. sie setzten diese f¨
ur
den Prozess voraus).
Aller Wandel vollzieht sich in der Zeit. Aristoteles nennt sie auch das
in welchem die Bewegung erfolgt (Phys. 224 a 35). Es ist das In-derZeit-Sein (‰n qr“nÔ e~>inai, Phys. 221 a 4ff.) der Bewegung. Das bedeutet
33
im Wesentlichen, dass die Bewegung eine Dauer hat. Bewegung und ihr
Entzug, die Ruhe, er¨offnen immer eine Zeitspanne, und sei sie noch so kurz.
Weder im Punkt noch im Jetzt kann etwas als es selbst ruhen oder sich
bewegen. Aristoteles bestimmte die Zeit als das Maß der Bewegung gem¨
aß
ihrem Fr¨
uher und Sp¨ater (Phys. 219 b 1f.). D.h. die Zeit wird gerade mit der
Bewegung gemessen, genauso wie die Bewegung mit der Zeit gemessen wird.
Die alles umfassende Kreisbewegung der Gestirne ist der Taktgeber zum
Z¨ahlen der Zeit. So ist die Zeit weder Eigenschaft noch Wesen der Bewegung,
nicht von Bewegung abl¨osbar und doch ein Allgemeines. Letztlich bleibt
unbestimmt, was die Zeit ist. Innerhalb der Untersuchung der Metaphysik
wird die Zeit selbst nicht thematisiert. Die einzige inhaltliche Stelle ist ein
,Zitat‘ aus der Physik: Denn Zeit ist entweder dasselbe wie Bewegung oder
”
eine Affektion (pjoc) der Bewegung.“ (Met. Λ 12, 1071 b 10, u
¨bers. v.
Schwarz, vgl. Phys. 251 b 27f.)
Zusammenfassend lassen sich am Ganzen des Bewegungszusammenhangs
nach Aristoteles folgende Momente unterscheiden (vgl. Phys. 224 a 34ff.) –,
wobei ein jedes der folgenden Momente (Ursachen der Bewegung) als kontinuierlich vorausgesetzt werden muss, wenn Bewegung als eine 18 Bewegung
denkbar sein soll:
• das Wodurch: das Bewegende
• das Was: das Bewegte der Bewegung
~
• das topische Worin (‰n Ô
< ) des Bewegten: die Prozessdimension (Ort,
Quantit¨at, Qualit¨at)
– das Woher: von dem ausgehend sich etwas bewegt
– das Wohin: zu dem hin sich etwas bewegt
~
• das temporale Worin (‰n Ô
< ) der Bewegung: die Zeit19
18
Bewegung ist als ein einheitlicher Bewegungszusammenhang aufzufassen. W¨
are dies
nicht der Fall, zerfiele eine Bewegung in viele Bewegungen, die selbst indes ebensowenig als eine Bewegung angesehen werden k¨
onnten. Eine solche Zerstreuung w¨
urde kein
In-Bewegung-Seiendes erkennen lassen. Das Resultat w¨
are ein Verlust an Rationalisierbarkeit, die erst einen geordneten Zusammenhang herzustellen versucht. Von einem Chaos (ungeordnete Leere) w¨
are eine Wissenschaft unm¨
oglich. Dar¨
uber hinaus ginge jede
M¨
oglichkeit zu einer Orientierung verloren. (Den Hinweis auf diesen Punkt verdanke ich
Jochen Wagner.)
19
Bei Aristoteles ist die Bewegung neben der z¨
ahlenden Seele (yuq’) (Phys. 223 a 2528) mindestens eine notwendige Bedingung f¨
ur das Sein der Zeit. In der Zeitauffassung
der neuzeitlichen Physik ist deren Bindung an Bewegung zum Teil aufgel¨
ost, so z. B. in der
34
Aristoteles fasst die Momente der Bewegung h¨
aufig formelhaft: Etwas
”
wird aus etwas zu etwas“ (vgl. Phys. 234 b 11 u. 235 b 6f.) oder als das Was
(das Bewegte), das Worin (Prozessdimension: Ort, Zustand etc.) und das
Wann (Zeitangabe) (Phys. 227 b 23f.), oder auch als das Was, das Worin
(die Zeit) und das Wozuhin (das zu erreichende Ziel) des Wandels (Phys. 236
b 3). Das Worin meint hier einmal die Zeit, in der alle Bewegung verl¨
auft,
ein anderes Mal die Prozessdimension: das, was sich an einem Etwas bzw.
eben das, worin sich dieses wandelt.
Im Unterschied zum ontologischen Bewegungsbegriff aus Buch G bestimmt der Bewegungsbegriff, der in Buch Z zur Grundlage der Argumentation dient, nicht, was Bewegung ist, sondern er umreißt den physikalischen
Sinn von Bewegung: etwas (ein Ding) bewegt sich von etwas zu etwas, und
dies in einer Zeit. Zur Veranschaulichung kann die Ortsbewegung herangezogen werden, gemeint sind mit dieser Bestimmung jedoch alle Arten von
Ver¨anderung (quantitative, qualitative sowie Ortsver¨
anderung).
Obgleich sich Momente an der Bewegung unterscheiden lassen, ist Bewegung keine bloße Zusammenstellung dieser Momenten: Bewegung ist bei
Aristoteles nicht als ein Verh¨
altnis von Raum und Zeit erkl¨
art, schon
rein gar nicht von Raum-und Zeitpunkten. Durch Unterscheidung dieser
Momente an einer Bewegung wird es m¨
oglich, die Bewegung zu verstehen.
Geht die Analyse durch den Verstand allerdings so weit, dass die Momente
der Bewegung realiter voneinander abgetrennt werden, so wird ihr notwendiger Zusammenhang und ihre jeweilige Struktur verkannt. Dann zeigt sich
eine Inkongruenz zwischen Wahrnehmung und Denken, insofern dass man
den Pfeil des Zenon nach wie vor zwar fliegen sieht, dem Verstand aber die
Bewegung als solche undenkbar wird.
Damit sind bis hierher die Elemente zusammengetragen, um sich der
Frage nach der Kontinuit¨at der Bewegung n¨
ahern zu k¨
onnen. Zun¨
achst ist
die aristotelische Kontinuit¨atslehre vorzustellen, um daran anschließend auf
die Argumente f¨
ur die Kontinuit¨
at der Bewegung einzugehen.
2.2
Die Kontinuit¨
atslehre
Das sechste Buch der Physik gipfelt in der Widerlegung der zenonischen
Paradoxien im neunten Kapitel. Diese wird ausf¨
uhrlich in den vorausgehennewtonschen Vorstellung einer absoluten Zeit. Allerdings ist jede Messung der Zeit wiederum nur mittels periodischer Vorg¨
ange, also Bewegungen, m¨
oglich. Die Relativit¨
atstheorie
schafft eine neuartige Bindung der Bewegung an die Zeit und zwar durch die Einf¨
uhrung
einer Raumzeit-Mannigfaltigkeit, die in ihrer Struktur an die Bewegungsm¨
oglichkeiten
gebunden ist.
35
den acht Kapiteln vorbereitet. Die Lehre von der Kontinuit¨
at steht dabei
nicht nur an exponierter Stelle gleich zu Beginn dieses Buches, sondern bildet im Weiteren eine Grundlage der Argumente f¨
ur die Wirklichkeit der
Bewegung. Schon daraus ist erkennbar, dass der aristotelische Begriff der
Kontinuit¨at nicht prim¨ar als Eigenschaft von Gr¨
oßen aufzufassen ist. Vielmehr entspricht er einer grundlegenden Struktur, die die Bewegung in ihrer
Wirklichkeit begr¨
undet als einen durch sie vermittelten Zusammenhang von
Ort (allg. Prozessdimension), Zeit und Bewegung.
Insofern der Begriff der Bewegung f¨
ur eine Wissenschaft der Bewegung,
also die Physik, unverzichtbar ist, handelt es sich bei dieser Er¨
orterung des
Kontinuit¨atsproblems in erster Linie um Fragen, die in den Bereich der Physik geh¨oren. Zugleich werden sie mit der neuzeitlichen Gr¨
undung einer mathematischen Physik in den Bereich der Mathematik getragen. Die Arithmetik als ein Bereich der Mathematik befasst sich nach antiker Auffassung
mit (diskreten20 ) Zahlen, w¨
ahrend die Geometrie (kontinuierliche) Gr¨
oßen
untersucht: Strecke, Fl¨ache, K¨
orper, sofern sie ausgedehnt sind. Als vom
Stoff abgetrennte Formen sind sie wie die Zahlen diskontinuierlich. Demgegen¨
uber unternimmt es die moderne Mathematik, die kontinuierliche Gr¨
oße
als ein Kontinuum von Zahlen (reelle Zahl) aufzubauen. Meines Erachtens
ist mit dem mathematischen Kontinuum der reellen Zahl die Frage nach
der M¨oglichkeit einer Bewegung nicht zu beantworten. Gleichviel ob das
mengentheoretische Kontinuum aus u
ahlbar unendlich vielen Zahlen
¨ber-abz¨
bestehend oder als werdend, als ein best¨
andiges Hinzuf¨
ugen gedacht wird,
es erf¨
ullt meines Erachtens nicht die Anforderungen des aristotelischen Kontinuums (zu diesem Punkt vgl. auch S. 36, Anm. 21).
Im Folgenden wird der aristotelische Begriff der Kontinuit¨
at und des
Kontinuums untersucht. – Wie Wieland (1962), S. 285, ausf¨
uhrt, gewinnt
Aristoteles den vollen Begriff der Kontinuit¨
at aus einem Eigenschafts- und
einem Relationsaspekt. Der Eigenschaftsaspekt erkl¨
art die Kontinuit¨
at eines
Ganzen als dessen Teilbarkeit. Der Relationsaspekt betrifft die Art der Zusammensetzung von Teilen zu einem Ganzen. Er ist bei der Gewinnung des
vollen Begriffs der Kontinuit¨
at leitend. Die in Physik E 3 getroffene Unter20
Innerhalb dieser Untersuchung wird der Terminus diskret als Opposition
zum Terminus kontinuierlich gebraucht. Der Terminus dis-kontinuierlich = ,unzusammenh¨
angend‘ dr¨
uckt genau besehen nur die Negation des Begriffs Kontinuit¨
at =
,zusammenh¨
angend‘ aus. Um den Gegensatz zu betonen, wird der Terminus diskret im
Sinne des lateinischen Partizip Perfekt Passivs von discernere = ,unterschieden‘, ,getrennt‘
verwendet. Auf diese Weise stellt das Begriffspaar continuus – discretus = ,zusammenh¨
angend – getrennt‘ den kontr¨
aren Gegensatz dar. Gleichwohl wird zu dessen Darstellung ebenso das Begriffspaar Kontinuit¨
at – Diskontinuit¨
at herangezogen, da bei diesem
bereits aus den Worten heraus die Entgegensetzung zu ersehen ist.
36
scheidung m¨oglicher Zusammensetzungen von Teilen untereinander wiederholt Aristoteles am Anfang von Physik Z 1. Er unterscheidet drei relevante
Arten der Zusammensetzung von Teilen zu einem Ganzen (vgl. Phys. 231 a
22ff.):
• kontinuierlich (suneq‘c, dtsch.: zusammenh¨
angend, stetig): Die ¨
außersten Grenzen sind Eines. Eine Strecke ist ein Ganzes, das geteilt werden kann. Die gesetzte Grenze ist eine, nur potentiell sind es zwei:
der M¨oglichkeit nach ist sie das Ende der einen Teilstrecke und der
Anfang der anderen Teilstrecke. In Wirklichkeit h¨
angen jedoch beide Teilstrecken in einer identischen Grenze zusammen, durch die das
Ganze geteilt werden kann.
• ber¨
uhrend (€pt“menon): Die ¨
außersten Grenzen sind zugleich, d. h. sie
befinden sich an der gleichen Stelle. Es handelt sich in Wirklichkeit
um zwei Grenzen, etwa der ¨
außeren Grenze eines K¨
orpers und der an
gleicher Stelle befindlichen Grenzfl¨
ache der diesen K¨
orper umgebenden
Luft. (Vgl. Aristoteles’ Ortsdefinition, siehe oben S. 15, Anm. 4.) In
diesem Sinne ist die Grenzfl¨
ache zwischen zwei Medien an der gleichen
Stelle. In Wirklichkeit sind es jedoch zwei sachlich zu unterscheidende
Grenzfl¨achen, diejenige des einen Mediums und diejenige des anderen.
• in-Reihe-folgend (‰fex~
hc): In-Reihe-folgend ist solches, zwischen dem
nichts von der gleichen Art ist, z. B. die nat¨
urlichen Zahlen. Zwischen
der Eins und der Zwei ist nichts von der gleichen Art, n¨
amlich keine
nat¨
urliche Zahl.
Diese Arten von Teil-Teil-Relationen unterliegen einer Ordnung. Aristoteles bezeichnet das Zusammenwachsen, das einzig zum Kontinuierlichen
f¨
uhrt, als das dem Werdevorgang nach Sp¨
ateste (Phys. 227 a 23f.). Die Reihenfolge ist die erste Art der Verbindung, darauf folgt die Ber¨
uhrung und
schließlich die Kontinuit¨at. Wichtig ist, dass man diese Ordnung nicht als
eine Ordnung hinsichtlich der Distanz zwischen den Teilen betrachtet, sonst
m¨
usste die Unterscheidung von Kontinuit¨
at und Ber¨
uhrung (Kontiguit¨at) unverst¨andlich bleiben, da bei beiden die Grenzen der Teile an derselben Stelle zusammenfallen. Das Kontinuum ist ein Ganzes, dessen Teile nur potentiell sind. Die Grenze zwischen den potentiellen Teilen ist nur
eine einzige. Im Unterschied dazu haben die Teile des Kontiguums gewisse
Selbst¨andigkeit, so dass das Kontiguum wesentlich von den es konstituierenden Teilen her bestimmt ist. Die Grenze zwischen sich ber¨
uhrenden Teilen
37
ist sachlich eine doppelte, zum einen die Grenze des einen Teils, zum anderen
diejenige des anderen.
Zun¨achst geht Aristoteles darauf ein, woraus ein Kontinuierliches als
Ausgedehntes nicht bestehen kann. Ausdehnung ist eine Forderung an das
Kontinuierliche, die sich aus dessen Teilbarkeit ergibt, “[...] denn das Continuierliche enth¨alt den einen Theil als diesen den anderen als jenen in sich,
und es wird in Theile getheilt, welche in diesem Sinne verschieden und ¨
ortlich getrennt sind.“ (Phys. 231 b 4-6, u
bers.
v.
Prantl.)
Ein
Kontinuum
kann
¨
demnach nicht aus Unteilbarem wie einem Punkt zusammengesetzt werden
(vgl. Phys. 231 a 24f.). Um dies zu beweisen, untersucht Aristoteles die drei
oben genannten M¨oglichkeiten einer Relation von Teilen untereinander. F¨
ur
eine kontinuierliche Zusammensetzung ist die Einheit der Grenzen erforderlich. Punkte jedoch haben als Unteilbare keine Grenzen (Phys. 231 a 26f.),
sie sind selbst nur Grenzen von Strecken. Teilt man eine große Strecke in
zwei kleinere, so treffen sich die beiden kleineren Strecken in einem ausdehnungslosen Punkt. Dieser Punkt ist als das Ende der ersten Teil-Strecke
identisch mit dem Anfang der zweiten Teil-Strecke. Es sind gerade die Grenzen, in denen der Zusammenhalt m¨
oglich wird. Ein bloßes Ineinanderfallen
von Punkten aber kann keine kontinuierliche Erstreckung wie die einer Linie
ergeben.
Ber¨
uhren k¨onnen sich Punkte zwar, doch werden sie sich, weil sie als
Unteilbare keine Teile haben, immer nur als Ganze ber¨
uhren (vgl. Phys.
231 b 3), so dass durch Punkte in dieser Weise auch kein Ganzes (Linie)
zu gewinnen ist. Wiederum ergibt sich durch eine Aufeinanderh¨
aufung von
Punkten in einem Punkt keine Ausdehnung, dabei ist es einerlei, ob diese
Punkte identische werden oder sich als verschiedene nur ber¨
uhren.
Bleibt die Frage, ob die Punkte m¨
oglicherweise in Reihenfolge sein k¨
onnen,
um auf diese Weise ein Ausgedehntes zu bilden. Zwischen zwei in-Reihefolgenden Punkten l¨asst sich eine Linie ziehen. Diese Linie kann mittels
Punkten in k¨
urzere Linien geteilt werden, so dass zwischen den anf¨
anglich
zwei Punkten beliebig viele Punkte eingef¨
ugt werden k¨
onnen. Reihenfolge war jedoch bestimmt als dasjenige, zwischen dem nichts von der gleichen
Art ist. Zwischen den Punkten aber sind immer wieder Punkte auf der Linie zu denken. Dies verst¨oßt gegen die Bestimmung der Reihenfolge, folglich
k¨onnen die Punkte, die eine Linie ergeben sollen, nicht in Reihenfolge sein
(vgl. Phys. 226 b 34ff. u. 231 a 23). Ein Kontinuum l¨
asst sich also nicht
aus Punkten generieren. Das aristotelische Kontinuum ist damit weder als
38
aktual noch als potentiell u
ahlbar unendliche Menge von Punkten
¨ber-abz¨
im Sinne einer mengentheoretischen Auffassung zu begreifen.21
Der Gedankengang, der an dieser Stelle mit Hilfe von Punkten vollzogen
wurde, gilt entsprechend f¨
ur alles Unteilbare, so auch f¨
ur den Augenblick
(das Jetzt, n~un), den Punkt der Zeit, der nur Zeiten begrenzt, Vergangenes
von Zuk¨
unftigem trennt, ohne selbst eine Dauer zu besitzen.22 Genauso sind
die unteilbaren Bewegungseinheiten, die kin’mata, nur Grenzen eines Bewegungsvorgangs und selbst keine Bewegung, sondern Bewegungsergebnisse
(Ereignisse) (vgl. Phys. 232 a 6-10 u. 241 a 2-6).
Damit ist das Kontinuierliche als etwas erwiesen, das nur aus Teilbarem, einem schon Ausgedehnten bestehen kann, dessen Grenzen Eins geworden sind. Auf diese Weise ist der volle Begriff der Kontinuit¨
at entfaltet.
Er dr¨
uckt sich darin aus, dass das kontinuierlich Zusammenh¨
angende in der
Weise als teilbar gedacht wird, dass dessen Teile wiederum kontinuierlich
21
Newstead (2001) vergleicht die aristotelische Auffassung des Kontinuums mit derjenigen Cantors, indem sie das philosophische Kontinuum als ein mathematisches in Betracht
zieht. Aristoteles’ entscheidendes Argument, dass sich aus Punkten keine Extension, kein
Zusammenhang, herstellen l¨
asst, h¨
alt Newstead durch Cantor f¨
ur widerlegt: [...] Aristot”
le’s argument is rejected by Cantor, who does think that some collections of points can be
continua.“ (Newstead (2001), S. 124) Das Argument, mit welchem Cantor den aristotelischen Beweis widerlegt und nicht nur u
¨berspringt, wird jedoch nicht benannt. Schließlich
gibt Newstead die wesentliche Differenz zwischen der cantorschen und der aristotelischen
Auffassung des Kontinuums damit an, [...] that, for Cantor the measure of a set may be a
”
non-additive, emergent property, whereas for Aristotle the sum of the whole must be equal
the sum of each of its parts.“ (ebd., Hervorheb. v. mir) – Letztere Bemerkung ist jedoch
nur richtig in Bezug auf Quantit¨
aten. – Das von Null verschiedene Maß, die Ausdehnung
einer Menge von Ausdehnungslosem muss vom cantorschen Standpunkt eine emergente
Qualit¨
at sein: M. a. W. aus der Punktextension (=0) l¨
asst sich die Extension einer Menge
von Punkten nicht erkl¨
aren, sie ist etwas ,Hinzutretendes‘. Ein Zusammenhang aus unteilbaren Teilen ist auch vom aristotelischen Standpunkt betrachtet etwas Emergentes. Was
hinzutreten bzw. auftauchen (emergieren) muss, ist das Gesuchte selbst, der Zusammenhang des Kontinuums als einer positiven Bestimmtheit. Die charakteristische Eigenschaft
der reellen Zahlen ist deren Nicht-Abz¨
ahlbarkeit (¨
uber abz¨
a√
hlbar unendlich). Gleichwohl
die reellen Zahlen Aristoteles der Sache nach bekannt waren ( 2 x, x : nat¨
urlicheZahl), hat
er sie, insofern Zahl etwa ist, mit dem gez¨
ahlt werden kann (vgl. auch die Unterscheidung
zwischen Begriff und Anschauung bei Kant, KrV, B 39f.), eben nicht f¨
ur Zahlen gehalten
(in diesem Sinne auch Newstead (2001), S. 115, 124). – Das aristotelische Kontinuum und
das mathematische Kontinuum der reellen Zahlen weisen zwar Struktur¨
ahnlichkeiten auf,
haben jedoch ein unterschiedliches t‘loc. Dem Ersteren gebricht es an mathematischer
Exaktheit, weshalb es zur Messung und Berechnung der Bewegung keinen direkten Beitrag
leisten kann; dem Letzteren bleibt der Zusammenhang zur Einheit prek¨
ar, weshalb es das
denkbare Sein der Bewegung nicht zu begr¨
unden vermag.
22
Gemeint ist hier der logische Sinn des n~
un, den Aristoteles in Phys. D 13 (222 a
20ff.) klar von einem ,ph¨
anomenologisch-umgangssprachlichen‘ unterscheidet, der auf eine
Zeitdauer verweist.
39
sind und erneut geteilt werden k¨
onnen usw. Die Teilungsm¨
oglichkeit des
Kontinuierlichen ist niemals ausgesch¨
opft. Wenn Aristoteles den Begriff des
Kontinuums letztlich mit: Teilbar in immer weiter Teilbares (Phys. 231
b 16) bestimmt, so enth¨alt diese Definition den Eigenschaftsaspekt der Teilbarkeit genauso wie den Relationsaspekt des stetigen Zusammenhangs der
Teile untereinander.
Eine Teilung des Kontinuums in immer weiter Teilbares weist auf eine
unendliche Teilung hin. Aristoteles verwendet synonym die Definition des
Kontinuums mit den Worten: [...] das Continuierliche ist ins Unbegr¨
anzte
”
theilbar“ (Phys. 185 b 10, u
¨bers. v. Prantl). Die Vorstellung, dass das unendlich Teilbare auch unendlich geteilt sein m¨
usste, oder aus unendlich vielen
Teilen best¨
unde, w¨
urde die Wirklichkeit einer unendlichen Menge, eine aktuale Unendlichkeit implizieren. Ein Unendliches bzw. Unbegrenztes kann es
f¨
ur Aristoteles als seiende Wirklichkeit jedoch nicht geben (vgl. Phys. Γ 5).
Im Zusammenhang mit dieser Diskussion ¨
andert Aristoteles den bis dahin
von den Naturphilosophen gepr¨
agten Begriff: [Unbegrenzt ist ...] n¨
amlich
”
nicht dasjenige, außerhalb dessen nichts ist, sondern gerade dasjenige, außerhalb desjenigen immer noch etwas ist [...]“ (Phys. Γ 6, 206 b 33-207 a 2,
u
¨bers. v. Prantl). Er erl¨autert dies mit dem Hinweis auf einen Ring, bei dem
u
¨ber einen gedachten Punkt hinaus immer ein weiterer zu fassen sein wird
(Phys. 207 a 2-7).
Das Kontinuierliche als das unendlich Teilbare ist nicht wirklich unendlich geteilt, weshalb Aristoteles die Unendlichkeit dieser Teilung als nur
”
der M¨oglichkeit nach“ bezeichnet (vgl. Phys. 206 a 18). Zu Beginn von
Physik Γ 6 erinnert Aristoteles an die Rede von sein in der Weise der
M¨oglichkeit und Wirklichkeit. Dies l¨
asst vermuten, dass Aristoteles den ontologischen M¨oglichkeitsbegriff meint. Dieser Begriff der M¨
oglichkeit ist vor
dem Hintergrund der Wirklichkeit, eben der Verwirklichung des M¨
oglichen
zu verstehen (Met. Θ 9, 1051 a 29f.). Die unendliche Teilbarkeit des Kontinuierlichen kann jedoch nie wirklich werden. Eine unendliche Teilung, die
nie wirklich werden kann, ist nach dem Gesagten eine unm¨
ogliche Teilung.
Folglich kann Aristoteles hier nicht den ontologischen M¨
oglichkeitsbegriff
meinen. Tats¨achlich pr¨azisiert er den bei der unendlichen Teilbarkeit gemeinten M¨oglichkeitsbegriff und hebt ihn zugleich gegen den ontologischen
ab: [...] so existiert das Unbegr¨
anzte in der Weise, wie z. B. der Tag und
”
das Festspiel dadurch existiert, daß es immer ein Anderes und wieder ein
Anderes wird [...]“ (Phys. 206 a 21ff., u
¨bers. v. Prantl). Was sich hier andeutet, ist ein Begriff von M¨
oglichkeit in Bezug auf ein Sein in der Weise
des Werdens. Diesbez¨
uglich sei an den kinetischen M¨
oglichkeitsbegriff erinnert, der dem ontologischen M¨
oglichkeitsbegriff zugrundeliegt (vgl. S. 21).
40
Entsprechend heißt der M¨
oglichkeit nach unendlich teilbar, dass die Teilung des Kontinuums beliebig weiter fortgesetzt werden kann, ohne je an
ein Ende zu gelangen. Es werden gleichsam Teile in Gedanken erzeugt, die
vor der Teilung nicht gegeben waren. In der T¨
atigkeit des Teilens hat die
Teilung ihre Wirksamkeit – als vollendete unbegrenzte Teilung ist sie hingegen unm¨oglich (vgl. Met. 1048 b 15ff.). Ein Kontinuum ist somit aktual
eine Einheit; es wird nicht durch Zusammensetzung erzeugt, sondern durch
Teilbarkeit in Teilbares erkl¨
art.
Die Teilung in Teilbares, die Kontinuit¨
at, erreicht durch die M¨
oglichkeit ihrer unendlichen Fortsetzung, dass die jeweils geschaffenen Teile von
derselben Natur sind wie das Ganze. [...] denn alles Continuierliche ist der”
artig, daß ein Gleichnamiges (sun”numon) zwischen den Gr¨
anzen liegt [...]“
(Phys. 234 a 8f., u
¨bers. v. Prantl). Diesen Sachverhalt bezeichnet Wieland
¨
als Aquivalenz:
Das Geteilte eines Kontinuums ist hinsichtlich aller Eigenschaften mit dem Ganzen ¨
aquivalent (Wieland (1962), S. 291, Anm. 13).
Bei der Teilung der Linie erh¨
alt man als deren Teile wieder Linien; bei der
Teilung der Zeit ergeben sich (k¨
urzere) Zeiten. Damit wird die quantitative
Natur der kontinuierlichen Teilung deutlich.
Wenn Aristoteles in Physik E 3 von Kontinuit¨
at bei Gegenst¨
anden spricht,
die aufgrund von Zusammenf¨
ugung mittels N¨
ageln, Leim, Gelenkverbindung
oder Anwachsen ein Eines geworden sind, so sind diese Dinge, z. B. Schuhe, als Wesen ein Ganzes. Die Zerlegung w¨
urde zun¨
achst qualitativ sein
und das Wesen des Einzeldings betreffen. Der Schuh wird zerlegt in Sohle, Oberleder, Faden usw. Diese Teile sind ganz klar nicht von der Art des
Ganzen. Sie k¨onnen weiterhin jeweils der Quantit¨
at nach geteilt werden,
z. B. kann der Faden zerschnitten werden. Erst bei jener Teilung erweist sich
die potentiell unendliche Teilbarkeit in Teilbares, die genau besehen nur bei
Unk¨orperlichem, wie einer geometrischen Gr¨
oße ohne Schranken vollzogen
werden kann. Dass die Teilung eines Seienden, etwa eines Fadens, an eine
Schranke gelangt, von der an der Faden nicht mehr Faden ist, sondern in
seine Bestandteile, die Fasern, zerf¨
allt, die dann erneut einer quantitativen
Teilung unterzogen werden k¨
onnen, l¨
asst erkennen, wie das Form-Prinzip
der Teilung jeweils Schranken setzt.
Letztlich erschließt sich das aristotelische Kontinuum nur dann in seiner komplexen Struktur, wenn es als eine Synthese aus unterschiedsloser
Einheit und diskreter Vielheit betrachtet wird. Aktual ist es eine Einheit,
dem potentiell Vielheit eignet, insofern es in verschiedene Teile auseinandergelegt werden kann (partes extra partes). Als zusammenh¨
angende Einheit
ist es nicht aus Teilen aufgebaut, die als selbst¨
andige vorliegen. Ein solches
,Kontinuum‘ w¨are keine Einheit, sondern nur eine Anh¨
aufung, ein Aggregat.
41
Erst der Begriff der Kontinuit¨
at, wie ihn Aristoteles entwickelt hat, er¨
laubt es, die Bewegung als (zeitlichen) Ubergang
zwischen Zust¨
anden zu denken, so dass Bewegung als In-Bewegung-Sein gedacht werden kann. Insofern
sich Bewegung nur als kontinuierliche denken l¨
asst, ist die Kontinuit¨
at kein
,Problem‘ der Wahrnehmung. Sie ist die Weise, wie Bewegung zu denken
ist, um den ,Tatsachen der Wahrnehmung‘ Rechnung zu tragen. Andernfalls w¨are die Bewegung nur Sinneserscheinung und einer wissenschaftlichen
Erkenntnis nicht zug¨anglich. – Im Folgenden wird untersucht werden, auf
welche Weise Aristoteles f¨
ur die Kontinuit¨
at der Bewegung argumentiert.
2.3
Die Kontinuit¨
at der Bewegung
Aus dem Begriff der Bewegung ergibt sich die Kontinuit¨
at der Bewegung,
¨
d. h. die Kontinuit¨at des Ubergangs
zwischen den diskreten Zust¨
anden (Formen). Mit welchen Argumenten versucht Aristoteles die Kontinuit¨
at der Bewegung zu beweisen? Weshalb gr¨
undet diese Kontinuit¨
at nicht in der Wahrnehmung, wie es jede Bewegungswahrnehmung doch zu bezeugen scheint?
Kontinuit¨at wird von Aristoteles der Raumgr¨
oße, der Zeit und der Bewegung zugeschrieben. Nicht jedoch prim¨
ar dadurch, dass diese f¨
ur sich immer
weiter teilbar w¨aren, kommt ihnen gleichermaßen Kontinuit¨
at zu, sondern
dadurch, dass die Bewegung sich innerhalb dieses Bezugs u
¨berhaupt erst
realisiert, so dass erst dann von einem einheitlichen Bewegungsprozess gesprochen werden kann, wenn dessen Momente kontinuierlich sind.23 Zeit,
Bewegungsverlauf, Bewegtes sowie Ausgangszustand und Endzustand sind
nur Momente eines einheitlichen Bewegungsgeschehens und demzufolge auch
nicht von der Bewegung abtrennbar. Die Kontinuit¨
at ist vorausgesetzt, wenn
von einzelnen Wahrnehmungen auf die Bewegung einer Sache geschlossen
wird. Sofern Bewegung als Bewegung und nicht etwa als Zustand gedacht
werden soll, ist ihre Kontinuit¨
at bereits vorauszusetzen.
Was uns als unmittelbare Wahrnehmung der Bewegung erscheint, ist bereits eine vorbewusste Syntheseleistung des Verstandes.24 So wird zwischen
23
Wieland (1962), S. 290, sieht die gemeinsame Kontinuit¨
at der Momente der Bewegung
dadurch gew¨
ahrleistet, dass sie aneinander gemessen werden. So bestimmt Aristoteles
die Zeit als Maß der Bewegung: [... Denn] dies ist eben die Zeit: Zahl einer Bewegung
”
nach dem Fr¨
uher und Sp¨
ater“ (Phys. 219 b 1f., u
¨bers. v. Prantl). Die Bewegung wird
andererseits mit der Zeit gemessen und das Durchmessen einer Entfernung mit der Dauer
der Bewegung und die Zeit wiederum mit der u
¨berwundenen Entfernung (vgl. Phys. 220
b 18f. u. 220 b 28f.). Die M¨
oglichkeit der wechselseitigen Messbarkeit liegt nun aber in
der vorauszusetzenden Einheit der Momente der Bewegung, woraus die Strukturgleichheit
der Momente folgt. Erst wenn die Bewegung als Zusammenhang gedacht wird, k¨
onnen
Momente aneinander gemessen werden.
24
Die ,Wahrnehmung‘ einer Bewegung ist bei Aristoteles Sache des Gemeinsinns, die-
42
der Wahrnehmung eines Flugzeuges und der Erkenntnis der Bewegtheit dieses Gegenstandes nicht differenziert. Dies zeigt sich etwa in der Aussage:
ich sehe das Flugzeug fliegen. Nimmt das Denken die Teilung jedoch als
prim¨ar, entstehen Aporien wie die des Zenon von Elea: Wer glaubt, dass ein
Kontinuum aus Punkten aufgebaut werden k¨
onne, f¨
ur den ruht der fliegende
Pfeil im Jetzt. (Phys. 239 b 5-9 u. 30-33) Wer meint, das potentiell unendlich teilbare Kontinuum sei der Wirklichkeit nach unendlich geteilt, f¨
ur den
kann das Bewegte sich nicht bewegen. Denn bevor es zur H¨
alfte des Weges
gelangt ist, muss es zur H¨alfte dieser H¨
alfte gelangt sein und bevor zu dieser,
muss es wiederum die H¨alfte erreicht haben usw. (Phys. 239 b 11-14) Dass
die mathematische Reihe
∞
X
1 1 1
1
1
+ + + ... + n =
2 4 8
2
2n
n=1
gegen den Grenzwert g = 1 konvergiert, ist keine L¨
osung, denn diese Sichtweise u
berspringt
das
Problem,
wie
ein
aktual
Unendliches
durchlaufen wer¨
25
den k¨onne. In einem ersten Schritt wird die Strecke als aktual unendlich
oft geteilt gedacht, diese unendlich vielen Teile sollen dann in einem zweiten
Schritt aktual durchlaufen werden, d. h. es wird die Summe aktual unendlich vieler Summanden gebildet, wodurch der Ausgangspunkt, das ungeteilte
Ganze, wieder hergestellt sein soll. Zwei gegenl¨
aufige Operationen, die unendliche Teilung und die unendliche Hinzuf¨
ugung, die f¨
ur sich unm¨
oglich
sind, werden als ausgef¨
uhrt gedacht, so dass sie sich gegenseitig aufheben.
ser leistet eine Synthese der Einzelwahrnehmungen entsprechend dem Verm¨
ogen der f¨
unf
Sinne (Gesicht, Geh¨
or, Geruch, Geschmack und Tastsinn) (vgl. De anima II 6; III 1).
Somit u
¨bersteigt er bereits das von einer reinen Wahrnehmung des Sinnestypischen zu
Leistende in Richtung Verstand. Der ,Schluss‘ von Einzelwahrnehmungen auf eine Bewegung ist indes kein bewusstes Schließen des Verstandes, gleichwohl ist es eine urspr¨
ungliche
Syntheseleistung. Vgl. dazu die Ausf¨
uhrungen von Bernard (1988), S. 83f.
25
Die gegenteilige Auffassung findet sich neben Lehrbuchdarstellungen ebenso etwa bei
Whitehead: In seinem Paradoxon >Achilles und die Schildkr¨
ote< verwendet Zenon ein
”
ung¨
ultiges Argument, das auf seiner Unkenntnis der Theorie von den unendlichen konvergierenden Reihen beruht. [...] Einfache Arithmetik belehrt uns dar¨
uber, daß die soeben
bezeichnete Reihe im Ablauf einer Sekunde ausgesch¨
opft wird. [...] Daher beruht dieses
Paradoxon Zenons auf einem mathematischen Irrtum.“ (Whitehead (1929), S. 142f., Hervorhebung von mir.) Laugwitz als Vertreter der Non-Standart-Analysis“ argumentiert
”
differenzierter: Zwei infinitesimal benachbarte theoretische Punkte geh¨
oren zu dem glei”
chen ,empirischen Punkt‘, sie lassen sich durch keine noch so genaue wirklich durchgef¨
uhrte
Messung unterscheiden.“ (Laugwitz (1986), S. 229) Diese Argumentation ist ganz ¨
ahnlich
derjenigen Ferbers (1979), vgl. S. 42, Anm. 27. Der er¨
offnete Dualismus zwischen theoretisch und empirisch zeigt deutlich, dass ungeachtet der Wahrnehmung von Bewegung
dieselbe zenonisch nicht gedacht werden kann.
43
Ohne die Kontinuit¨at der Bewegung in ihrer Struktur zu verstehen, wird auf
diese Weise das Problem einfach umgangen.
Aristoteles zeigt, dass Bewegung nur gedacht werden kann, wenn sie als
kontinuierliche gedacht wird. In der Erfahrung ist sowohl die kontinuierliche
¨
Bewegung pr¨asent als auch der Sprung, die pl¨
otzliche Anderung
eines Zustandes (vgl. Phys. 186 a 15f., 222 b 14-16 und 253 b 14-26), die auf einen
substantiellen Wandel hinweist. Aristoteles fragt nicht, ob die Bewegung an
sich kontinuierlich bzw. diskontinuierlich ist und bloß als diskontinuierlich
bzw. kontinuierlich erscheint. Er zeigt die Voraussetzungen auf, unter denen
wir von Bewegung zu handeln bzw. zu sprechen haben, wenn wir sie genauer
erkennen wollen. Eine Kluft zwischen noumena und phaenomena, zwischen
Ding an sich und Erscheinung oder zwischen physikalischer Wirklichkeit und
lebensweltlicher Erfahrung gibt es hier nicht. Einzig zwischen Wahrnehmung
und Denken gilt es bez¨
uglich der Bewegung Kongruenz herzustellen, wobei
das Denken die Wahrnehmung pr¨
uft.
Im folgenden werden die Argumente betrachtet, die Aristoteles zum Beweis der Kontinuit¨at der Bewegung vortr¨
agt. – Nachdem Aristoteles in dem
ungemein gedr¨angten Gedankengang zu Beginn von Physik Z 1 den Begriff
der Kontinuit¨at entwickelt hat, zeigt er, dass Bewegung, wie er sie bestimmt
hat, nicht anders als kontinuierlich zu denken ist. Folglich ist die Kontinuit¨at der Bewegung von Aristoteles keineswegs einfach vorausgesetzt, wie
Bostock26 annimmt, sondern ergibt sich aus dem zugrundegelegten Bewegungsbegriff. Wenn die Kontinuit¨
at der Bewegung angezweifelt wird, ist die
Rechtm¨aßigkeit dieses Begriffs zu pr¨
ufen. Einstweilen soll jedoch der aristotelische Bewegungsbegriff weder erweitert noch revidiert werden.
F¨
ur Aristoteles ist klar, dass die Momente der Bewegung – die Bewegungsdimension als dasjenige, worin sich die Bewegung vollzieht (etwa die
Gr¨oße m‘gejoc), Zeit und Bewegungsverlauf – alle zusammen entweder kontinuierlich oder diskontinuierlich sein m¨
ussen. Dies ergibt sich schon daraus, dass hier ein einheitliches Bewegungsgeschehen aus Bewegungsdimension (z. B. Erstreckung), Zeit und Bewegungsverlauf nur zum Zweck der
genaueren Betrachtung in die begrifflichen Momente zerlegt wird, ohne dass
diese in Wirklichkeit zu trennen w¨
aren. Dass jedoch alle drei kontinuierlich
sein m¨
ussen, zeigt Aristoteles, indem er aus der Annahme, die Bewegung be26
Bostock (1991), S. 179-212, bes. 188ff. Bostock teilt offensichtlich nicht den aristotelischen Bewegungsbegriff; dies zeigt schon, dass er die Frage nach der Kontinuit¨
at der
Bewegung in der Kontinuit¨
at der mathematischen Funktion verortet sieht (ebd. S. 188,
Anm. 13). Zudem beschr¨
ankt Aristoteles meines Erachtens die Diskussion der Bewegung
im sechsten Buch nicht auf die geradlinig gleichf¨
ormige Bewegung, ja nicht einmal auf die
Ortsbewegung.
44
stehe aus unteilbaren St¨
ucken, unannehmbare Folgerungen ableitet. Ein aus
unteilbaren St¨
ucken bestehender Bewegungsverlauf, wie er sich ergibt, wenn
die Strecke, u
ucken be¨ber die sich etwas bewegen soll, aus unteilbaren St¨
steht, w¨are kein Bewegungsverlauf. Das Bewegte w¨
urde in jedem Teil ruhen
und h¨atte am Ende doch die Strecke u
¨berwunden. Eine solche ,Bewegung‘
m¨
usste aus Bewegungsergebnissen (kin’mata) bestehen, von denen gesagt
werden kann: ,etwas hat sich bewegt, ohne sich zu bewegen‘ (vgl. Phys. 232
a 6-15). Konsequenterweise erfordert eine solche ,Bewegung‘, die aus unteilbaren St¨
ucken besteht, auch eine ebensolche Zeit, die aus unteilbaren
,Jetzten‘ zusammengesetzt ist (Phys. 232 a 18f.).27 Eine so gedachte ,Bewe¨
gung‘ bel¨asst den Ubergang
von einem zu einem anderen Zustand im Dun¨
kel. Indem der Ubergang gerade das Wesentliche der Bewegung ist, bleibt
¨
die Bewegung ohne Analyse des Ubergangs
unverstanden. Weiter als bis zur
Aussage, dass sich etwas bewegt hat, das jeweils ruhte, kommt man nicht.
Vor allem ist das anschauliche Faktum von schnelleren und langsameren
Bewegungen mit dem Begriff einer diskontinuierlichen Bewegung nicht zu
fassen. Schneller bzw. langsamer ablaufende Bewegung erfordert die Kontinuit¨at von Zeit und (Raum)-Gr¨
oße. Nur bei einer kontinuierlichen Bewegung
kann von einer Geschwindigkeit gesprochen werden. Sobald man die Bewegungen zweier K¨orper hinsichtlich des Schneller oder Langsamer vergleicht,
zeigt sich, so Aristoteles, die Kontinuit¨
at von Zeit und Gr¨
oße (Strecke bzw.
Ausdehnung) (Phys. Z 2). Bewegen sich zwei K¨
orper dieselbe Strecke entlang, wobei der schnellere in gleicher Zeit eine gr¨
oßere Strecke u
¨berwindet als
der langsamere, so hat der langsamere eben immer nur einen Teil der Strecke
des schnelleren zur¨
uckgelegt und teilt auf diese Weise die Strecke des schnelleren in Abschnitte. Andererseits teilt der schnellere die Bewegungszeit des
langsameren. Ist der schnellere K¨
orper da angekommen, wo der langsamere
erst noch hinkommen wird, so hat der schnellere eben nur einen Bruchteil der
Zeit ben¨otigt, die der langsamere braucht, um diese Strecke zur¨
uckzulegen.
(Phys. 232 b 20-233 a 12) Sobald man die M¨
oglichkeit von verschiedenen Geschwindigkeiten annimmt, ergibt sich daraus die Kontinuit¨
at von Zeit und
(Raum)-Gr¨oße. D. h. vice versa, nur die in der Zeit erfolgende Bewegung hat
eine Geschwindigkeit, die instantane (bahnlose) Bewegung erfolgt im zeitlo27
Einen solchen Ansatz vertritt Ferber, wenn er versucht, mittels Zeit- und Raumatomen
(unter Berufung auf die empirische Wissenschaft) die Paradoxien des Zenon zu l¨
osen,
indem er sie ,ausschaltet‘ (Ferber (1979), bes. S. 56). Eben dann bleibt offen, wie Bewegung
gedacht werden k¨
onne.
45
sen Jetzt und h¨atte, setzt man die gewohnte Definition von Geschwindigkeit
an, eine unendliche Geschwindigkeit.
Die Kontinuit¨at der Bewegung zeigte sich vorderhand an der entsprechenden Teilbarkeit des Bewegungsverlaufs, zum einen gem¨
aß der Zeit und
der (Raum)gr¨oße, sofern es sich um Ortsbewegung bzw. quantitative Ver¨
anderung handelt und zum anderen gem¨
aß der Bewegungen der Teile des Bewegten (vgl. Phys. 234 b 21f.). Grunds¨
atzlich sind es zwar dieselben Teilungen, die die Momente der Bewegung erfahren, so bei der Zeit, dem Bewegungsverlauf, dem Bewegten und dem Worin der Bewegung (die Prozessdimension). Bei letzterer allerdings ist zu unterscheiden. W¨
ahrend die Kontinuit¨at bei den Ver¨anderungsbereichen der Ortsbewegung: L¨
ange, Strecke,
Erstreckung bzw. Gr¨oße, und bei der quantitativen Ver¨
anderung, dem Wachsen und Schwinden, im eigentlichen Sinne vorliegt, ist sie bei der Ver¨
anderung der Qualit¨at nur in nebenbei zutreffendem Sinne gegeben. Die Qualit¨at ist nur dann im akzidentellen Sinne kontinuierlich, wenn sie an einem
kontinuierlich teilbaren Zugrundeliegenden als dessen Bestimmung auftritt.
(Phys. 235 a 17f. u. 235 a 34-37) Damit dringt Aristoteles zu dem vor,
worin sich im eigentlichen Sinne die Kontinuit¨
at der Bewegung erweist: in
der Kontinuit¨at der Materie (Stoff).
Das Zugrundeliegende einer Bewegung ist nicht bloß teilbar, weil es als
ein Ausgedehntes die Eigenschaft hat, teilbar zu sein – kontinuierlich ist das
Bewegte vor allem weil und insofern es ein Bewegtes ist. (Wieland (1962),
S. 308). In diesem Sinne stellt Aristoteles fest: [...] es ist aber das, dass
”
Alles getheilt wird und unbegr¨
anzt ist, am meisten im Gefolge eben des sich
Ver¨andernden; denn sogleich von vorneherein ist in dem sich Ver¨
andernden
das Theilbare und das Unbegr¨
anzte enthalten [...]“ (Phys. 235 b 1-4, u
¨bers.
v. Prantl). So versucht Aristoteles im vierten Kapitel des sechsten Buches
zu beweisen, dass alles, was sich da wandelt, teilbar sein muss (Phys. 234 b
10) und, [...] daß das Theillose nicht bewegt werden kann [...]“ (Phys. 240
”
b 8f., u
¨bers. v. Prantl).
Im vierten Kapitel zeigt sich die Kontinuit¨
at des Bewegten, wenn nach
dem Anfang von Bewegung gefragt wird. Gesucht ist der erste Wandlungsschritt, der vom Ausgangspunkt des Wandels betrachtet, als erstes Wozuhin des Wandels angesprochen werden muss. Aristoteles’ Beispiel ist die
Ver¨anderung von Weiß zu Schwarz, die alle Stufen des Grau durchl¨
auft. Der
¨
erste Ubergang
ist also der von Weiß zu Grau (Phys. 234 b 17ff.). Bei dieser qualitativen Ver¨anderung sind die n¨
achst anschließenden Zust¨
ande (von
Weiß zu Grau) deutlich diskret zueinander. Entweder ist etwas weiß oder
¨
grau. Die Kontinuit¨at des Ubergangs
kann hier nur durch den Gegenstand,
an dem sich der Wandel vollzieht, gew¨
ahrleistet werden.
46
Jede Bewegung geht bei Aristoteles von etwas aus zu etwas hin. Wenn
das sich Wandelnde als Ganzes im Zustand, von dem der Wandel ausgeht,
verbleibt, hat es sich noch nicht gewandelt. Hat das sich Wandelnde als Ganzes den ersten Wandlungsschritt hinter sich gebracht, ist es bereits in einem
Wozuhin des Wandels, und bezogen auf diesen Zustand wandelt es sich
nicht mehr. Damit ein Ganzes den Wandel vollziehen kann, muss ein Teil des
sich wandelnden Ganzen je schon im Zustand des Wozuhin des Wandels sein,
w¨ahrend der andere Teil noch im Ausgangszustand des Wandels ist. Folglich muss das Bewegte, sofern es sich von einem zum anderen bewegen soll,
an sich selbst teilbar sein (vgl. Phys. 234 b 10-20). Eine irgendwie begrenz¨
te Teilbarkeit w¨
urde die M¨oglichkeit des Ubergangs
wiederum vereiteln, da
wieder das Problem entst¨
unde, dass ein nicht weiter Teilbares nur in einem
von zwei Zust¨anden sein k¨
onnte, nicht jedoch in keinem oder in beiden zu¨
gleich. Unter dieser Voraussetzung ist der Ubergang
zwischen verschiedenen
Zust¨anden folglich nur dadurch erkl¨
arbar, dass ein Teil des Bewegten noch
in dem einen Zustand ist, w¨
ahrend der andere Teil bereits im dem anderen
Zustand ist. Damit sich also etwas bewegen kann, muss das sich Bewegende
teilbar sein. Einzig im akzidentellen Modus w¨
are es m¨
oglich, dass sich etwas
Unteilbares wie ein Punkt bewege. Ein Punkt als Grenze ist f¨
ur Aristoteles
ohnehin nichts Selbst¨andiges, sondern immer nur Grenze von bzw. an etwas. In diesem Sinne denkt sich Aristoteles die Bewegung des Punktes als
Mitnahme: [...] wie auch das in dem Fahrzeuge Befindliche durch die Raum”
bewegung des Fahrzeuges bewegt wird, oder der Theil durch die Bewegung
des Ganzen.“ (Phys. 240 b 10-12, u
¨bers. v. Prantl)
Die Teilbarkeit des Bewegten, dessen Kontinuit¨
at, zeigt sich am deutlichsten, wenn die Prozessdimension (siehe S. 31) diskontinuierlich ist. (Die
Diskontinuit¨at der Prozessdimension bildet ein wichtiges Kriterium zur Differenzierung des quantenmechanischen Prozesses.) Dies ist der Fall bei einem Wandel gem¨aß ausschließendem Widerspruch (Kontradiktion), z.B. von
nicht-Seiend zu Seiend (Entstehen) oder von Seiend zu nicht-Seiend (Vergehen) (vgl. Phys. 235 b 13-16 u. 241 a 28-30). Jedoch auch bei Wandel
gem¨aß Gegensatz (kontr¨arer Wandel, d. i. Ver¨
anderung), z. B. Eigenschaftsver¨anderung von Schwarz zu Weiß, zeigt sich die erforderliche Kontinuit¨
at
des Bewegten. Handelt es sich um Gr¨
oßenver¨
anderung (Wachsen, Schwinden) oder um die Ortsbewegung, die nicht ganz im Bereich von Gegensatz verl¨auft (vgl. Phys. 241 b 2f.), so ist die Kontinuit¨
at des Bewegten
¨
nicht offensichtlich. Sieht man jedoch auf den Ubergang von Ruhe zu Bewegung,28 den es f¨
ur alle Bewegungsarten gleichermaßen gibt, so zeigt sich,
28
¨
Wieland schl¨
agt vor, den Ubergang
von Ruhe zu Bewegung wiederum als Bewegung
47
dass die Kontinuit¨at des Bewegten f¨
ur alle Bewegungsarten gefordert ist. F¨
ur
das Verst¨andnis der Bewegung bringt Aristoteles schließlich beide Momente, dasjenige der Kontinuit¨at und dasjenige der Diskontinuit¨
at, in Relation
zueinander. Wenn sich ein bestimmtes Etwas zu einem davon unterschiedenen bestimmten Etwas wandeln soll, so gew¨
ahrleistet die Diskontinuit¨
at
¨
der Formen die Verschiedenheit der Sache. Der Ubergang jedoch zwischen
Kontr¨arem wird allein durch den Stoff vermittelt; dieser gew¨
ahrleistet die
M¨oglichkeit zur Aufnahme der neuen Form. Das Zugrundeliegende der Bewegung ist qua Stoff-Moment kontinuierlich.
Soweit ist dargestellt worden, mit welchen Argumenten Aristoteles die
Kontinuit¨at als eine notwendige Voraussetzung der Bewegung verteidigt. Die
Untersuchung des zeitlichen Anfangs und Endes der Bewegung scheint das
Erreichte jedoch wieder in Frage zu stellen. In dem nun folgenden Exkurs soll
gezeigt werden, wie diese Schwierigkeiten zu einer Pr¨
azisierung der Struktur
des Kontinuums f¨
uhren.
Exkurs: Anfang und Ende der Bewegung im Zeitkontinuum
Wenn Aristoteles in Physik Z 5 feststellt, dass es keinen Anfang des Wandels gibt (Phys. 236 a 16f.), weil das erste Zeitst¨
uck, w¨
ahrenddessen eine
Bewegung abl¨auft, immer weiter geteilt werden kann, und in allen diesen
Teilst¨
ucken immer schon Bewegung vorlag, so heißt das nicht, dass es deswegen nie Bewegung geben wird, weil sie keinen ersten Zeitpunkt des Anfangs
hat, sondern dass das Bewegte zu jeder Zeit immer schon einen Teil der Bewegung zur¨
uckgelegt und sich folglich immer schon bewegt hat. Dies f¨
uhrt
er in Physik Z 6 aus: [...] folglich wird das Bewegtwerdende schon bewegt
”
zu verstehen (Wieland (1962), S. 310). Dies ist weniger deshalb problematisch, weil Aristoteles in Physik E 2 die M¨
oglichkeit der Selbstpr¨
adikation im Sinne einer Bewegung
”
der Bewegung“ ausschließt (Phys. 225 b 33-226 a 6), sondern weil diese Struktur sich gar
¨
nicht einstellen kann, da der Ubergang
von Ruhe zu Bewegung keine Bewegung ist. Bewegung heißt ja: etwas bewegt sich von einem Zustand zu einem anderen Zustand. Ruhe und
Bewegung sind nach Aristoteles zwar Gegens¨
atze im Sinne der Privation (Phys. E 6, 229
b 23-27, u. a.), jedoch ist die Bewegung selbst kein Zustand, wie Aristoteles in Physik E 1
herausstellt: W¨
are das Wohin einer Bewegung selbst eine Bewegung, [... dann w¨
urde es]
”
eine Ver¨
anderung in eine Bewegung geben [...]“ (¡stai g¨r ec k•nhsin metabol’, Phys.
224 b 14f., u
auft ja von einem Zustand zu einem anderen. Ei¨bers. v. Prantl). Bewegung l¨
ner Bewegung, die von einem Zustand zu Bewegung hin verl¨
auft, fehlte die Bestimmtheit
ihres Wohin. Aristoteles zeigt das am Beispiel der Weißfarbigkeit als Zustand, Weißfarbigkeit ist aber keine Ver¨
anderung – eine solche w¨
are Weißf¨
arbung. In diesem Sinne kann es
keine Bewegung zur Bewegung hin geben.
48
worden sein.“ (Phys. 237 a 2f., u
¨bers. v. Prantl). Jene Aussage ist kein Verweis auf die Ewigkeit der Bewegung, sondern auf die Teilungsunendlichkeit
des Bewegungsvorgangs, so dass kein erstes St¨
uck der Bewegung aufgefunden werden kann. Ausgehend von einem Zustand in dem etwas ruht, ist kein
n¨achster Zeitpunkt zu greifen, zu dem dieses gerade anfing, sich zu bewegen. Damit zeigt sich eine grundlegende Eigenschaft des Kontinuums. Zu
einem beliebigen Punkt gibt es keinen unmittelbar n¨
achsten Punkt, da sich
dazwischen immer noch unendlich viele Punkte einschieben lassen. Wieland
¨
vergleicht den Ubergang
von Ruhe zu Bewegung mit der Vorstellung eines
geschlossenen Intervalls (der Ruhe) dem sich ein offenes Intervall anschließt,
in welchem die Bewegung abl¨
auft (Wieland (1962), S. 313). Die Grenze des
geschlossenen Intervalls markiert dabei den letzten Zeitpunkt der Ruhe. Die
Gegens¨atze der Bewegung und der Ruhe k¨
onnen jedoch keinen gemeinsamen
Grenzpunkt haben, da in diesem Ruhe und Bewegung zugleich w¨
aren.29 Um
dies auszuschließen, darf das offene Intervall nur gegen die Grenze des geschlossenen konvergieren – eine Forderung, wie sie im Kontinuum erf¨
ullt
ist.
Diese Struktureigenschaft des Kontinuums stellt Aristoteles in Physik J
8 (Phys. 263 a 11ff.) deutlich an der Zeit heraus: Der Punkt, der das Fr¨
uher
und das Sp¨ater der Zeit voneinander trennt, [...] ist Beidem gemeinsam, so”
wohl dem Fr¨
uheren als auch dem Sp¨
ateren, und er ist der n¨
amliche und der
Zahl nach Einer, dem Begriffe nach aber ist er nicht Ein und der n¨
amliche,
denn er ist von dem einen das Ende und von dem anderen der Anfang; in
Bezug auf das Ding (t~
w
| d© prgmati) aber geh¨
ort er immer dem sp¨
ateren
Zustande an.“ (Phys. 263 b 12-15, u
¨bers. v. Prantl) Aristoteles zeigt dies,
indem er eine Zeitdauer ABC animmt, zu der sich ein Gegenstand D von
Weiß zu nicht-Weiß wandelt. Im geschlossenen Zeitintervall [A, B] ist der Gegenstand D weiß; im geschlossenen Zeitintervall [B, C] ist der Gegenstand
D nicht-weiß. Der Zeitpunkt B geh¨
ort auf diese Weise als Grenze zu beiden
Zeitintervallen, so dass im Zeitpunkt B der Gegenstand D sowohl weiß als
auch nicht-weiß w¨are. Da dies im eigentlichen Sinne nicht m¨
oglich ist, muss
der Zeitpunkt B einem der beiden Intervalle zugeschlagen werden. F¨
ur Aristoteles geh¨ort er jeweils zum sp¨
ateren Zeitintervall. Folglich ist w¨
ahrend
des mindestens einseitig offenen Intervalls [A, B} der Gegenstand D weiß
und im geschlossenen Zeitintervall [B, C] nicht-weiß. Auf diese Weise ergibt
29
Das Verh¨
altnis von Ruhe zu Bewegung kann als wechselseitige Begrenzung begriffen
werden. Dabei w¨
are die Bewegung die Grenze der Ruhe und die Ruhe die Grenze der Bewegung. (Den Hinweis darauf verdanke ich Frank Schneider.) Diese Verh¨
altnisbestimmung
r¨
aumt weder der Ruhe noch der Bewegung einen Vorrang ein und es wird deutlich, dass
beide gleichermaßen einer Verursachung bed¨
urfen.
49
sich die Struktur der Zeit, sofern auf Intervalle (Epochen) gesehen wird, als
wesentlich in die Zukunft hin offen: [t0 , t1 } [t1 , t2 } ... [tn , tn+1 } ...
Indem Aristoteles die Zeitgrenze nur einem der Intervalle zurechnet, ist
¨
die Kontinuit¨at der Zeit u
ahrleistet. Der Uber¨ber diese Grenze hinweg gew¨
gang von Weiß zu nicht-Weiß wie auch derjenige von Ruhe zu Bewegung
erfolgt widerspruchsfrei in kontinuierlicher Zeit, vermittelt durch die Kontinuit¨at des Zugrundeliegenden. – Nach diesem Exkurs, in welchem die Frage
nach dem Augenblick des Wechsels nur ber¨
uhrt werden konnte,30 sollen die
Ergebnisse der Untersuchung res¨
umiert und in einem erweiterten Zusammenhang dargestellt werden.
———————————
Bewegung, die im Unterschied zum Ereignis einen Verlauf hat, kann nur
kontinuierliche Bewegung sein, die in kontinuierlicher Zeit erfolgt. – Dies
ist die Lehre von Buch Z. Bisher offen geblieben ist die Frage, wie der Bewegungsbegriff aus Physik G 1-3 mit dem Begriff der kontinuierlichen Bewegung zusammenh¨angt. Die Begrifflichkeit von d–namic und ‰n‘rgeia bzw.
‰ntel‘qeia wurde zur Kl¨arung des Seins der Bewegung herangezogen. Damit
l¨ost sich das Problem, wie etwas Bewegtes in seiner Identit¨
at mit sich selbst
verschieden werden kann. Die Prinzipien Stoff und Form verhalten sich zueinander wie M¨oglichkeit und Wirklichkeit. W¨
ahrend die Verschiedenheit
durch die zueinander diskontinuierlichen Formen (e¥dh) gew¨
ahrleistet wird,
vermittelt der kontinuierliche Stoff, der als Zugrundeliegendes identisch be¨
harrt, den Ubergang
zwischen diesen. Im Begriff der Kontinuit¨
at zeigt sich
die aristotelische L¨osung der Vermittlung der Gegens¨
atze von Identit¨
at und
Verschiedenheit des In-Bewegung-Seienden. Bewegung, so sagt Aristoteles,
scheint in den Bereich der Kontinuit¨
at zu geh¨
oren (Phys. 200 b 16f.). Wenn
Bewegung eine Seinsweise ist, dann w¨
are damit die Kontinuit¨
at eine allgemeine Seinsstruktur. Das aristotelische Kontinuum selbst ist eine Synthese
von reiner Kontinuit¨at und reiner Diskontinuit¨
at. Beide f¨
uhrt Aristoteles mit
Hilfe des kinetischen M¨oglichkeitsbegriffs zusammen (d–namic kat¨ k•nhsin,
Met. 1046 a 1f.). Aktual ist das Kontinuum ein identischer Zusammenhang
(Kontinuit¨at), der der M¨oglichkeit nach in Teilbares geteilt werden kann
(Diskontinuit¨at). Insofern die potentiell unendliche Teilung als fortgesetzter
Teilungsvollzug zugleich eine ‰n‘rgeia im Sinne einer k•nhsic ist, so findet
das Kontinuum wiederum eine Erkl¨
arung durch den Begriff der Bewegung
30
Zu einer eingehenderen Darstellung der Geschichte dieses Problems sei auf Niko Strobach: The Moment of Change – A Systematic History in the Philosophy of Space and
”
Time“, Dortrecht, Boston, London 1998, verwiesen.
50
als t¨atige Wirksamkeit. Dieser wechselseitige Verweis ist typisch f¨
ur eine
Explikation von obersten Grundbegriffen, welche sich dadurch von logisch
unabh¨angigen Axiomen unterscheiden.
Es hat sich gezeigt, dass die Bewegung f¨
ur Aristoteles als Gegenstand der
Untersuchung nicht einfach ein sinnliches Faktum ist – einen Geschmackssinn gibt es wohl, aber keinen Bewegungssinn –, vielmehr muss sie aus zugrundeliegenden Prinzipien heraus verstanden werden. Wenn sich etwas bewegt hat (sich gewandelt hat), so ist es ein anderes geworden. Bewegung
¨
heißt nicht dieser Unterschied, sondern bezeichnet den Ubergang
zwischen
Unterschieden. Aus diesem Grund ist die Bewegung auch keine Kategorie,
sondern trifft eine Verhaltensweise innerhalb einer Kategorie.
¨
Der Ubergang
zwischen zwei kontr¨
aren Zust¨
anden ist nur m¨
oglich durch
eine Instanz der Vermittlung, welche als Beharrliche zugrundeliegt. Ein Identisches bleibt und wird doch ein Verschiedenes. Aristoteles l¨
ost das Problem,
indem er das Bewegte als ein Zusammengesetztes aus den Relaten Stoff- und
Formprinzip denkt. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, aus der Struktur des Bewegten die M¨oglichkeit der Bewegung einzusehen. Was jedoch
Bewegung ist, das kl¨art Aristoteles durch den (ontologischen) Begriff der
Bewegung. Hierzu erarbeitet er die Momente der M¨
oglichkeit und der Wirklichkeit. Bewegung ist nun keineswegs damit hinreichend bezeichnet, dass sie
¨
der ,Ubergang
von einer M¨oglichkeit zu einer Wirklichkeit‘ sei. W¨
are dem so,
dann m¨
usste es sich um eine Bewegung handeln, wenn z. B. aus der M¨
oglichkeit, dass hinter dem Strauch ein Katze liegt, unversehens eine Wirklichkeit
,wird‘, indem ich durch Nachsehen feststelle, dass dort tats¨
achlich eine Katze liegt. Bewegung eines Seienden ist das nicht, da eben kein Seiendes der
Bewegung zugrundeliegt; dar¨
uber hinaus werden die Begriffe Wirklichkeit
und M¨oglichkeit hierbei nicht im ontologischen Sinn, sondern im Sinne von
logischen Modalkategorien verwendet. Bewegung kann gem¨
aß Aristoteles indes verstanden werden als Wirklichkeit eines M¨
oglichseienden, insofern es
noch ein solches ist. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der benannten M¨oglichkeit nicht um den Ausdruck der logischen Modalit¨
at des Urteils
handelt, sondern dass die Seinsweise eines Seienden, n¨
amlich des Bewegten,
damit bezeichnet ist. Zudem ist der Nachsatz: ... insofern es noch ein solches ist unverzichtbar. Denn die vollendete Wirklichkeit eines hinsichtlich
der Bewegung nicht mehr M¨
oglichseienden ist nicht Bewegung, sondern das
Resultat der Bewegung. Ein in Stoff-Form-Relation gedachtes Etwas wie ein
Stein, wird auf diese Weise zu einem Zusammengesetzten. Der Stoff repr¨
asentiert das Moment der M¨oglichkeit, die Form dasjenige der Wirklichkeit. Qua
Stoff ist das Bewegte kontinuierlich und qua Form diskret. Die Formen als
Bestimmung des Stoffes grenzen sich voneinander ab; insofern sie dies lei51
sten, m¨
ussen sie diskontinuierlich sein (vgl. tomon e~
>idoc, Met. VII 8, 1034 a
8). Sie bedingen zugleich die Einheit des Stoffes zu einer bestimmten Sache
und stiften damit Kontinuit¨
at.
Innerhalb der hier beabsichtigten Untersuchung der neuzeitlichen Physik wird der aristotelische Bewegungsbegriff als Folie zugrunde gelegt. Es
ist zu zeigen versucht worden, mit welchen Mitteln es Aristoteles gelingt,
Bewegung im weitesten Sinne auf Grundlage einer einheitlichen Begriffsstruktur zu denken. Dabei gelingt es ihm zugleich, verschiedene Arten der
Wandlung deutlich voneinander abzusetzen. Insbesondere vertritt Aristoteles einen nicht-reduktiven Ansatz. Sowohl Entstehen und Vergehen als auch
die qualitative Ver¨anderung beanspruchen in der gleichen Weise wirklich (objektiv) zu sein, wie die Lagever¨
anderung. Mit Begr¨
undung der neuzeitlichen
Naturwissenschaft h¨alt demgegen¨
uber eine auf verschiedene Weise motivierte Reduktion auf die Ortsbewegung Einzug. W¨
ahrend Aristoteles auf die
Erkenntnis der Bewegung eines Seienden als dessen (spezifisches) Verhalten
abzielt, macht es sich die neuzeitlich mathematische Naturwissenschaft zur
ersten Aufgabe, die Bewegung als einen Zustand ,dingfest‘ zu machen, wodurch die Bewegung der Quantifizierung erst zug¨
anglich wird. Sollten es die
von Aristoteles aufgefundenen Prinzipien erm¨
oglichen, die Probleme einer
Erkenntnis der Bewegung zu l¨
osen, m¨
usste sich deren Sachhaltigkeit auch
innerhalb der neuzeitlichen Physik nachweisen lassen. Insoweit die neue Physik Bewegungen erfasst, hat auch sie einen Begriff von Bewegung, selbst wenn
sie sich eines solchen nicht ausdr¨
ucklich versichert. Insofern der Begriff des
Kontinuums eine notwendige Voraussetzung der Erkenntnis von Bewegung
bildet, kann die Bewegung als Vereinigung der Momente der reinen Kontinuit¨at (Identit¨at) und der reinen Diskontinuit¨
at (Verschiedenheit) gedacht
werden. Anhand dieses aus dem aristotelischen Bewegungsbegriff abgeleiteten Merkmals von Bewegung, kann der Bewegungsbegriff (bzw. k¨
onnen
die Bewegungsbegriffe) der neuzeitlichen Physik einer Pr¨
ufung unterzogen
werden.
Bevor die Untersuchung damit in ihren n¨
achsten Teil u
¨bergeht, sollen
einige wesentliche Punkte der aristotelischen Auffassung von Wissenschaft
ausf¨
uhrlicher als bisher dargestellt werden. Zugleich wird auf dieser Basis die
methodische Grundlage der Untersuchung gesichert und gegen¨
uber anderen
Ans¨atzen verteidigt.
52
3
Von der aristotelischen Wissenschaftsauffassung
zur Grundlage der Untersuchung
Im Folgenden werde ich die im Kapitel 1.1 erw¨
ahnten Punkte der aristotelischen Wissenschaftsauffassung vertiefen. In diesem Zusammenhang soll die
zentrale Bedeutung des Begriffs f¨
ur die Erkenntnis herausgearbeitet werden.
Es soll gezeigt werden, inwiefern es sinnvoll ist, im Ausgang von einem aristotelischen Wissenschaftsverst¨
andnis eine naturphilosophische Untersuchung
der modernen Physik vorzunehmen. Durch das Aufweisen von Gemeinsamkeiten der aristotelischen Erkenntnislehre mit derjenigen Kants kann die
M¨oglichkeit eines Br¨
uckenschlages zur Moderne plausibilisiert werden. Des
Weiteren wird angegeben, worin sich der von mir vertretene Ansatz von
wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zur modernen Physik im engeren Sinne unterscheidet.
In den Zweiten Analytiken“ (Anal. post.) legt Aristoteles seine Theo”
¨
rie des Wissens dar. Zu deren Verst¨
andnis ist die in der Schrift Uber
die
”
Seele“ (De anima) ausgef¨
uhrte ,Erkenntnistheorie‘ zu ber¨
ucksichtigen. Zu
Beginn des zweiten Buches der Analytica posteriora“ charakterisiert Ari”
stoteles diejenigen Bedingungen, die f¨
ur Erkenntnis (wahres Wissen) erf¨
ullt
sein m¨
ussen: Wir glauben aber etwas zu wissen, [...] wenn wir sowohl die Ur”
sache, durch die es ist, als solche zu erkennen glauben, wie auch die Einsicht
uns zuschreiben, daß es sich unm¨
oglich anders verhalten kann.“ (Anal. post.
71 b 9-12, u
aß Aristoteles Wissen“
¨bers. v. Rolfes) An dasjenige, was gem¨
”
(‰pist’mh) genannt werden kann, sind demnach vor allem zwei Anforderungen zu stellen. Zum einen muss es begr¨
undet sein und zum anderen notwendig
gelten.
Zun¨achst scheint es naheliegend, die Wahrnehmung als einzige Quelle
des Wissens anzunehmen. Demgem¨
aß m¨
ussten die Dinge so wahrgenommen
werden, wie sie sind. Aus der Wahrnehmung heraus kann dem Wissen jedoch weder Notwendigkeit zugesprochen werden, noch kann es dadurch eine
Begr¨
undung erfahren, ohne die es gem¨
aß Aristoteles aber kein Wissen w¨
are.
Wenn alle Erkenntnis aus der Sinnlichkeit stammt, ist eine ,wahre Wissenschaft‘ nicht m¨oglich. Allenfalls gelangt man durch Gew¨
ohnung zu ,komparativer Allgemeinheit’, wie Kant es nennt. Wird im Gegensatz dazu, um der
Wahrheit des Wissens willen, angenommen, die einzige Quelle des Wissens
sei das Denken, wird die empirische Wirklichkeit in G¨
anze zum Problem.
Diese wird in diesem Fall zum bloßen Schein ohne alle Erkenntnisrelevanz.
Zudem ist die Frage nach einem Erkenntnisgewinn nicht ohne Hindernisse zu
beantworten. W¨are das Denken die einzige Quelle des Wissens, was hinderte
53
dann daran, alles Wissbare bereits zu wissen? Kant versucht diese einseitige
Verabsolutierung zu u
¨berwinden, deren Problematik er auf seine Weise in der
pr¨agnanten Formel ausdr¨
uckt: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauun”
gen ohne Begriff sind blind.“ (KrV, B 75) Auch innerhalb der aristotelischen
Konzeption der Erkenntnis werden Denken und Sinnlichkeit zueinander in
Beziehung gesetzt.
W¨ahrend Kant sich mit der Frage nach den Bedingungen der M¨
oglichkeit von Erkenntnis und Wissenschaft besch¨
aftigt, hat Aristoteles von vorn
herein das Entstehen von Wissenschaft im Blick. Wissenschaft ist f¨
ur Aristoteles wesentlich ein Prozess des Schaffens von Wissen. Dieser vollzieht sich,
wie bereits zu Beginn dieses Teils erw¨
ahnt, von dem f¨
ur uns N¨
achsten zum
der Sache nach Bekannteren. Neben dem Vorwissen der Vorg¨
anger (d“xa)
oder dem Vorverst¨andnis, wie es sich in der Alltagssprache zeigt, ist das
F¨
ur-uns-Erste z. B. das sinnlich Gegebene: die Ph¨
anomene. Von diesen ausgehend f¨
uhrt der Weg zum wissenschaftlichen Begriff der erkannten Sache
(oŽs•a). Dieser ist erreicht, wenn die Prinzipien, Ursachen und Elemente der
Sache bestimmt sind (vgl. Physik A, 1).
Der Prozess der Wissenschaft ist f¨
ur Aristoteles weder allein rationalistisch noch nur empiristisch zu begreifen. Er erweist sich vielmehr als
differenzierte Vermittlung zu unterscheidender Momente, deren reines Auftreten einer Abstraktion entspringt. Wie sich zeigen l¨
asst, verbindet Aristoteles in dem bezeichneten hermeneutischen Erkenntnisprozess die Frage
nach dem Entstehungszusammenhang (Genesis) mit derjenigen nach dem
Begr¨
undungszusammenhang (Geltung) des Wissens. Der Entstehung des
Wissens nach sind die Ph¨anomene das zun¨
achst Bekannte. Sie sind in einem zeitlichen Sinne das Fr¨
uhere, in einem ontologischen Sinne jedoch das
Sp¨atere. Als Fr¨
uher im ontologische Sinne ist der Begriff zu bezeichnen, da
dieser erst erm¨oglicht, das Sinnliche zu erfassen. (Vgl.: Anal. post. 71 b 3372 a 5) Indes ist das Wissen, d. i. der Begriff, der die sachgem¨
aße Erkenntnis
der Ph¨anomene erm¨oglicht, zeitlich verstanden das sp¨
ater Erreichte.
Der Blick auf die Genese zeigt, dass die empirische Erfahrung der Ausgangspunkt des genannten Prozesses ist. Wird dieser jedoch verabsolutiert,
m¨
usste das Wissen zugleich in der Sinnlichkeit begr¨
undbar sein. Dies ist
jedoch nicht m¨oglich, da Sinnesaffektionen nur nahelegen, dass etwas ist,
nicht aber dass es so und so notwendigerweise ist und nicht auch anders sein
k¨onnte. Wird im Gegensatz dazu der Akzent auf die Begr¨
undung des Wissens verlagert, durch die das ,Wissen‘ erst zu einem wirklichen Wissen wird,
erweist sich der Begriff, das Allgemeine, als Ausgangspunkt des Wissens.31
31
Da f¨
ur Aristoteles Begr¨
undung und Notwendigkeit zum Wissen geh¨
oren, bedarf es
54
Im Gegensatz dazu w¨
urde eine Verabsolutierung dieser Seite die Entstehung
und die Realit¨at der Begriffe, kantisch gesagt, die ,Objektivit¨
at‘ der Begriffe,
unerkl¨art lassen. Meiner Auffassung nach sind durchaus Parallelen zwischen
der aristotelischen und der kantischen Erkenntniskonzeption auszuweisen.32
Gedacht sei an das kantische Diktum: Wenn aber gleich alle unsere Er”
kenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht
eben alle a u s der Erfahrung.“ (KrV, B 1)
Kant spricht von der Rezeptivit¨
at der Sinnlichkeit im Unterschied zur
Spontaneit¨at des Verstandes. In Bezug darauf legt Bernard (1988) dar, dass
die Wahrnehmung bei Aristoteles, wie dieser jene in De anima“ ausf¨
uhrt,
”
kein passives Vernehmen ist, sondern die erste aktive Unterscheidungsleistung der Seele. Meines Erachtens ist das Residuum des Gegebenen bei Kant
letztlich in ¨ahnlicher Weise minimal wie bei Aristoteles, bei dem jenem die
Rolle des ¨außeren Anstoßes zukommt, um das Wahrnehmungsverm¨
ogen in
T¨atigkeit zu setzen. (Vgl. Bernard (1988), S. 68) Bei Kant (KrV) erfolgt
dieser ,Anstoß’ – ein nicht unproblematischer Gedanke – u
¨ber die Materie der Anschauung. Diese gibt die Intensit¨
at der Empfindung, die
hinsichtlich ihres Grades nicht vom erkennenden Subjekt konstituiert wird.
Jede weitere Bestimmtheit wird vom transzendentalen Subjekt bzw. von der
immanent gebrauchten Vernunft konstituiert. Weder bei Kant noch bei Aristoteles kann deshalb die Rede davon sein, dass etwas begrifflich Bestimmtes an sich existiert, welches den Erkennenden affiziert. Wird Bestimmtes
erkannt, m¨
ussen Unterschiede gemacht werden. Unterschiede lassen sich jedoch nur durch Grenzziehungen festhalten. Dabei erweist sich der Begriff
(›roc, w¨ortlich: Grenze) gerade als das Mittel der Begrenzung.
Den wissenschaftlichen Prozess der Findung der Begriffe bezeichnet Aristoteles mit dem Terminus ‰pagwg’, der soviel wie Heranf¨
uhrung oder
Hinauff¨
uhrung heißt, zumeist aber mit Induktion wiedergegeben wird,
was zu Missverst¨andnissen verleitet. Der Gang der Heranf¨
uhrung vollzieht
sich von einem Ausgangspunkt, dem Einzelnen, zum Endpunkt, dem Allgemeinen. Um dies zu erl¨autern, gibt Aristoteles das Bild einer sich bei der
Flucht zerstreuenden Schlachtordnung. Bleibt aber einer der Soldaten stehen, so ordnet sich dazu ein zweiter und so fort, bis die anf¨
angliche Ordnung
wiederhergestellt ist. (Anal. post. 100 a 12-14) Entsprechend diesem Bild
des Beweises. In der aristotelischen Wissenschaftstheorie spielt daher der Syllogismus eine
zentrale Rolle. Durch Ursachen zu wissen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine
allgemeine Regel auf den speziellen Fall u
¨bertragen wird. Dabei u
¨bernimmt die Ursache als
Grund des Wissens die Funktion des syllogistischen Mittelterminus, wie Buchheim (1999),
S. 52, ausf¨
uhrt.
32
In diesem Sinne ¨
außert sich etwa auch H¨
offe (1990), S. XXXVIf.
55
wird die Einzelerscheinung im allgemeinen Begriff ,zum Stehen’ gebracht.
Der Weg ist dabei kein Gedankenflug, sondern ein tastender vorsichtiger
Gang, der der best¨andigen Versicherung der ,Koh¨
arenz‘ (Konsistenz der Begriffe) und der Ph¨anomenkompatibilit¨
at bedarf, wie Buchheim (1999), S. 58,
festh¨alt. In diesem Sinne ist der Weg der Wissenschaft [...] ein Prozeß der
”
fortschreitenden Selbstartikulation von in konfuser Weise bereits gegebenen
Informationen u
¨ber einen Wirklichkeitsbereich.“ (Buchheim (1999), S. 60)
Meiner Auffassung nach entspricht der beschriebene Prozess der Struktur
hermeneutischen Erkennens.
Bedenkt man das Gesagte und sieht auf die M¨
oglichkeit der ‰pagwg’,
so zeigt sich, wie unzul¨anglich deren Erkl¨
arung durch einfache Abstraktion
ist, bei der das Allgemeine festgehalten werden soll, indem vom Besonderen
abgesehen wird. Um dieses leisten zu k¨
onnen, muss bereits klar sein, wovon
abzusehen ist. [Jedoch ...] sagt uns die Wahrnehmung nicht, was wirklich
”
relevant ist f¨
ur eine bestimmte Sache [...]“ (Buchheim (1999), S. 61) Mithin
ist das Ziel der ‰pagwg’, der allgemeine Begriff, bereits als Entwurf vorauszusetzen, dessen Rechtm¨
aßigkeit erst sp¨
ater gepr¨
uft werden kann. Ohne
den allgemeinen Begriff kann weder das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden werden, noch kann das je Einzelne als Ausgangspunkt der ‰pagwg’
erfasst werden. Ein einzelner Gegenstand ist als bestimmter in der empirischen Erfahrung nur gegeben, wenn er bereits als Einzelfall eines Allgemeinen erkannt ist. Damit l¨asst sich meines Erachtens festhalten, dass ohne die
Voraussetzung des Begriffs, ein Gegenstand nicht erkennbar ist. In diesem
Sinne muss allem Wissen und Erkennen eine vorangehende Erkenntnis zugrundeliegen (vgl. die These der Anal. post. 71 a 1f.). Daraus ergibt sich,
dass die Prinzipien, die der Wissenschaft vorausgehen, welche in der bezeichneten Weise durch die ‰pagwg’ erarbeitet werden, in der Wissenschaft
selbst nicht bewiesen werden k¨
onnen (Anal. post. 100 b 6-13).
Das zu Erkennende wird also nicht in seiner abstrakten Allgemeinheit
erfasst, bei der vom Einzelding alles Besondere abgestreift wird, bis eine
allgemeine Leerstelle u
¨brig bleibt, sondern als konkret Allgemeines, welches
das Allgemeine eines Einzelnen ist. Dieses konkret Allgemeine bleibt Relat
der unaufl¨oslichen Relation zwischen Einzelnem und seinem Allgemeinen.33
Das Einzelding als vorbestimmtes Ph¨
anomen ist f¨
ur Aristoteles in der Phy”
sik“ zwar Ausgangspunkt der Wissenschaft, kann als solches jedoch nicht
33
Die Missachtung dieser Relation ist den von Aristoteles so bezeichneten IdeenFreunden vorzuwerfen, die von den Einzeldingen losgel¨
oste Ideen hypostasieren. Diese
vergegenst¨
andlichten Ideen verdoppeln indes nur den Bestand des Seienden, begr¨
unden
aber weder das Sein des Seienden, noch ihr eigenes Sein und deren Erkennbarkeit. Vgl.
Met. I 9, 990 a 34-b 8; XIII 9, 1086 a 32-34.
56
zum Gehalt der Wissenschaft werden. Darin zeigt sich indes kein Mangel der
Wissenschaft. Vielmehr erweist es sich als unm¨
oglich, zum empirisch kontingenten Einzelding auf begriffliche Weise vorzudringen. Wer diese Schranke
u
oglich
¨berspringen m¨ochte, der hat zu zeigen, wie ohne Begriffe Begreifen m¨
ist.
Bei der bisherigen Betonung des sachlichen Primats des Begriffs darf
nicht vergessen werden, auf welche Weise der Begriff erarbeitet worden ist.
Mit dem Begriff ist nicht zugleich der Gegenstand als etwas Anfassbares
gegeben. Der Begriff kann nicht bezeugen, dass etwas ist, sondern ,nur‘ wie
es erkannt werden kann. Deshalb ist es in der Physik unumg¨
anglich, den
Begriff zu realisieren. Dies leistet (in der Neuzeit) das Experiment. Erst
dabei zeigt sich, inwiefern einem Begriff physikalische Realit¨
at zukommt.
Das Gelingen der Vergegenst¨
andlichung des Begriffs34 – die Umkehrung der
‰pagwg’ – auf der einen Seite und die Konsistenz der physikalischen Begriffe
einer Theorie auf der anderen entheben erst den Begriff der bloß individuell
¨
subjektiven Erfindung oder der intersubjektiven Ubereinkunft.
Ob der je
gewonnene Begriff rechtm¨
aßiges Resultat der Naturwissenschaft ist, kann
endg¨
ultig nicht festgestellt werden. Aristoteles beurteilt dies meiner Ansicht
nach ganz ¨ahnlich: Es ist aber schwer zu erkennen, ob man weiß oder nicht,
”
weil es schwer ist zu erkennen, ob wir aus den jeweiligen eigent¨
umlichen
Prinzipien wissen oder nicht, worin ja das Wissen besteht.“ (76 a 26-28,
u
¨bers. v. Rolfes)
Die dargestellte Unverzichtbarkeit des Begriffs gilt in analoger Weise
auch f¨
ur das Wissen von der Bewegung des Bewegten. Ohne die Prinzipien kann das Bewegte als ein In-Bewegung-Seiendes nicht erfasst werden. Zu
einer Wissenschaft der Bewegung gen¨
ugt es nicht, auf die Tatsache hinzuweisen, dass sich etwas bewegt. Das Empirische gibt keine Auskunft dar¨
uber, ob
und wie Bewegung zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann. Deshalb ist das ontologisch Erste der naturwissenschaftlichen Forschung ein das
Denken und Erkennen der Bewegung des Seienden erm¨
oglichender Begriff.
Da dieser in der Regel nicht explizit ist, bedarf es einer philosophischen
Untersuchung, um ihn herauszuarbeiten. Eine solche Analyse muss indes
einen philosophischen Bewegungsbegriff bereits voraussetzen. D. h., sie kann
nicht voraussetzungslos an die Physik herantreten und von dieser etwa einen
Bewegungsbegriff ablesen wollen.
34
W¨
ahrend die kantischen Schemata dazu anleiten sollen, einem ,Begriff sein Bild zu
verschaffen‘ (KrV, B179f.), geh¨
ort zur Vergegenst¨
andlichung eines Begriffs nicht nur dessen sinnliche Realisierung. Im Experiment wird – im durchaus poietischen Sinne – das
gegenst¨
andliche Korrelat des Begriffs her- bzw. bereitgestellt (vgl. Pr¨
aparation eines quantenmechanischen Systemzustandes).
57
Meines Erachtens tr¨agt die moderne Wissenschaftstheorie f¨
ur die Interpretation der Physik als einer Wissenschaft von der Bewegung aus zwei
Gr¨
unden wenig bei.35 Da der gew¨
ahlte Ausgangspunkt regelm¨
aßig die neuzeitliche Physik ist, bleibt durch die damit einhergehende Engf¨
uhrung aller
Bewegungen auf Ortsbewegungen die Perspektive auf andere Bewegungsarten verschlossen. Als weitaus problematischer stellt sich jedoch heraus, dass
durch die Annahme der Selbst¨
andigkeit von Gegenstand und Begriff die
erkenntnisleitende Funktion des letzteren u
¨bersehen werden muss. Deshalb
kann es nicht gelingen, die Frage nach dem Bewegungsbegriff u
¨berhaupt in
ihrer Bedeutung angemessen zu erfassen. Auf charakteristische Weise zeigt
sich dies in der Kontroverse um den wissenschaftlichen Realismus (scientific
realism). Gefragt wird dabei nach der Realit¨
at (wirkliche Existenz) der ,Gegenst¨ande‘, welche die moderne Teilchenphysik untersucht. Das Bed¨
urfnis
zur Kl¨arung dieser Frage stellt sich insbesondere aus der Perspektive einer
Abbildtheorie des Erkennens ein, die als solche zumeist nicht reflektiert wird.
Haupts¨achlich werden die Positionen des ,Empirismus‘, des ,Realismus‘
und des ,Konstruktivismus‘ diskutiert. Soweit man darin eine Erneuerung
des Universalienstreites vermuten darf, spiegeln sich darin die Positionen der
universale post rem, der universale in re und der universale ante rem. Nur
dem Anschein nach sind dabei alle M¨
oglichkeiten erfasst. Anhand der Frage
nach der realen Existenz der Gegenst¨
ande (vorzugsweise Elektronen) wird
deutlich, dass bereits implizit vorausgesetzt wird, dass die Untersuchungsobjekte der Physik unabh¨angig von der Weise vorhanden sind, wie von diesen
gewusst werden kann.36 Entgegen begr¨
undeter Zweifel einmal angenommen,
die ,Teilchen‘ w¨aren die Gegenst¨
ande der Physik, dann kann u
¨ber deren
Realit¨at doch nur etwas ausgemacht werden, wenn die Mittel der Physik untersucht werden, die das ,Teilchen‘ zum Bestand des Wissens erheben. Was
das ,Teilchen‘ außerhalb dieser M¨
oglichkeit sei, muss unzug¨
anglich bleiben.
Ein anderer als der physikalische Weg, von den ,Teilchen‘ zu wissen, kann
indes nicht einger¨aumt werden. In diesem Sinne zeigt Falkenburg unter Berufung auf Kant,37 dass es sowohl auf experimenteller wie auf theoretischer
ˇ
Eine ¨
ahnliche Auffassung vertritt auch (Capek,
wobei er das Desinteresse der majo”
rity of philosophers of science“ mit der vorrangigen Behandlung methodologischer Fragen
begr¨
undet: [...] if we focus our attention on method only, we naturally tend to neglect the
”
content, and it is precisely the new content which makes the physics of today so strikingly
ˇ
different from the physics of Newton and Laplace.“ (Capek
(1979), S. 341)
36
Auch diesbez¨
uglich sei an Kant erinnert, der hinsichtlich der ontologischen Konsequenzen seiner Erkenntniskonzeption feststellt: “[...] die Bedingungen der M ¨
oglichkeit
der Erfahrung u
oglichkeit der
¨berhaupt sind zugleich B e d i n g u n g e n d e r M ¨
Gegenst¨
a n d e der Erfahrung [...]“ (KrV, A 158/B 197)
37
Gerade von Kant kann man lernen, daß es schon auf der Stufe der Alltagserfahrung
”
35
58
Seite die jeweiligen theoretischen Grundlagen sind, die bestimmen, in welcher Weise ein physikalisches ,Teilchen‘ begegnen kann. Gerade von diesem
Standpunkt aus wird deutlich, wie sich das Teilchenkonzept in der modernen Physik gewandelt hat. Damit weist Falkenburg im Detail am Beispiel des
Teilchenbegriffs nach, dass es theoriefreie und d. h. begriffslose Erkenntnis
des Was-Seins der Gegenst¨ande nicht geben kann. Durch eine Differenzierung
innerhalb der Positionen des wissenschaftstheoretischen Universalienstreits
gelangt Falkenburg unter Aufgabe eines einheitlichen Teilchenkonzepts zur
¨
Uberwindung
dieses Streites. Dies erreicht sie dadurch, dass sie die unverzichtbare Funktion des Begriffs zur Erkenntnisgewinnung sowohl auf Seiten
der Theorie als auch auf Seiten des Experiments herausstellt. In diesem Sinne
h¨alt Falkenburg schließlich fest: Der Wissenschaftsphilosophie k¨
ame dem”
nach eher die Aufgabe zu, die Inhalte der Quantentheorie und der heutigen
Teilchenphysik auf die traditionellen naturphilosophischen Fragen zu beziehen, als unter Abkopplung von den sehr speziellen Aussagen dieser Theorie
um die realistische Deutung ,des‘ Teilchenbegriffs der Physik zu streiten,
den es als ein einheitliches Konzept l¨
angst nicht mehr gibt.“ (Falkenburg
(1995), S. 297) Diesem Ratschluss Falkenburgs folge ich in meiner Arbeit,
insoweit diese sich der traditionell naturphilosophischen Frage nach der Bewegung widmet. Meiner Auffassung nach ist der Untersuchungsgegenstand
der Physik keineswegs prim¨
ar das Teilchen (physikalische Materie), sondern
die Bewegung, denn nur durch den Bewegungsbegriff wissen wir vom physikalischen K¨orper.38 Dessen ungeachtet wird die Frage nach der Bewegung
bislang u
¨berhaupt nicht in angemessener Weise reflektiert. Solange die ,Philosophy of Science‘ sich zudem als positive Wissenschaft versteht, u
¨bergeht
sie systematisch grundlegende erkenntnistheoretische Einsichten, wie sie etwa von Kant, weit vor diesem aber bereits von Aristoteles herausgearbeitet
worden sind. Weshalb dieser der epistemische Vorrang der Frage nach dem
Bewegungsbegriff entgeht.
———————————
¨
Die Ubertragung
des aristotelischen Gedankenkreises in die neuzeitliche
Debatte, noch dazu die Anwendung der ausgewiesenen Begriffe zur Auslegung der quantenmechanischen Erkenntnis, bedarf einer Auseinandersetzung mit der Genese der Neuzeit. Insbesondere sind dabei die charakterinichts theoriefrei Gegebenes gibt.“ (Falkenburg (1995), S. 29)
38
Auch an dieser Stelle m¨
ochte ich an Kant erinnern. Als eine grundlegende These seiner Metaphysischen Anfangsgr¨
unde der Naturwissenschaft“ erkl¨
art Kant: [...]
”
”
die Naturwissenschaft [Physik] [ist] durchg¨
angig eine entweder reine oder angewandte
B e w e g u n g s l e h r e.“ (MAdN, A XX)
59
stischen Unterschiede zu beleuchten, um ausgehend von den verbleibenden
Gemeinsamkeiten zeigen zu k¨
onnen, in welcher Weise den von Aristoteles
aufgewiesenen Zusammenh¨
angen zwischen Kontinuit¨
at und Bewegung auch
in der klassischen Mechanik grunds¨
atzlich entsprochen werden muss. Dabei
ist die von Aristoteles geleistete Bestimmung der Physik als Wissenschaft
der Bewegung, die Newton im Vorwort der ,Principia‘ durchaus aufnimmt,
leitend.39 In diesem Sinne verstehe ich auch die neuzeitliche Physik als eine
Wissenschaft von der Bewegung.
39 ¨
Uber diese Gemeinsamkeit hinweg ist die Differenz zwischen Aristoteles und Newton nicht zu vergessen: Bewegung ist f¨
ur Aristoteles an Seiendes gebunden. Bewegung als
einen selbst¨
andigen Gegenstand gibt es f¨
ur ihn nicht. Gleichwohl wird untersucht, was
das Bewegte zum Bewegten macht. Der Fokus der philosophischen Forschung richtet sich
damit auf die M¨
oglichkeit des Begriffs der Bewegung. In diesem Sinne verstehe ich die aristotelische Physik als eine Wissenschaft von der Bewegung. (In weit umfassenderer Weise
vertritt Br¨
ocker (1935) diese Auffassung.) Bei Newton geht es zun¨
achst um die Bewegung von K¨
orpern. Diese wird zum Zwecke der Quantifizierung derselben als Zustand des
K¨
orpers verstanden und durch das Verfahren der Mathematisierung vom K¨
orper abgetrennt, was zur Hypostasierung der Bewegung f¨
uhrt. W¨
ahrend f¨
ur Aristoteles das Seiende
das Prim¨
are ist, wird es auf diese Weise bei Newton zu etwas sekund¨
arem.
60
Teil II
Die neuzeitliche Physik als
mathematische Wissenschaft
mechanischer Bewegungen
Zwei Grundmotive durchziehen die neuzeitliche Grundlegung der Naturwissenschaft: dasjenige der Mechanisierung und dasjenige der Mathematisierung. Von diesen ausgehend erkl¨
art sich die Abl¨
osung von der aristotelischen
Physik. Das Werk Galileis vollendend axiomatisiert Newton die Mechanik
und gelangt zu einem quantifizierbaren Bewegungszustand. Ausgehend von
der Methode, durch die Mathematisierung die Wahrheit des Wissens zu
sichern, versucht Leibniz die Bewegung aus der Mathematik heraus zu verstehen. Sein Denken kreist um das der logisch-atomistischen Zersplitterung
entgegenzusetzende allgemeine Ordnungsprinzip der Kontinuit¨
at. Zwar begr¨
undet er die Kontinuit¨at nicht aus dem Bewegungsbegriff, erweitert jedoch
dessen Sinn in Richtung eines universalen Erkenntnisprinzips.
Indem der neuzeitlichen Physik die žlh als das Zugrundeliegende der
Bewegung abhanden kommt, ist auf einen dialektischen Bewegungsbegriff
zur¨
uckzugreifen, aus dem heraus die mathematische Formulierung der mechanischen Bewegungsvorstellung dargestellt werden kann. Alle Bewegung
wird innerhalb der mathematischen Methode der Differentialrechnung nur
im Schema der Ortsbewegung zug¨
anglich (Lagrange-Formalismus) und ist
deshalb unl¨osbar an die Forderung nach Stetigkeit der mathematischen Funktion und der Kontinuit¨at der Bewegungsbahn (Trajektorie) gebunden. Indem die klassische Mechanik zum Ausgangspunkt anderer Sachgebiete der
Physik wird, werden zun¨achst alle erfassbaren Ver¨
anderungen systematisch
auf deren Schema reduziert. Dies a
ndert
sich
erst
mit der Einf¨
uhrung der
¨
Quantenmechanik.
4
Die Grundmotive der Mathematisierung und Mechanisierung innerhalb der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft
Die moderne Philosophie und Wissenschaft l¨
ost die tradierte und scholastisch systematisierte mittelalterliche ab. Bis ins ausgehende Mittelalter
hinein war die aristotelische Philosophie der Ausgangspunkt der philosophi61
schen Auseinandersetzung geblieben, wenngleich sich die Scholastik auch von
den aristotelischen Grundlagen l¨
angst entfernt hat, ohne jedoch mit der aristotelischen Position wenigstens der Intention nach zu brechen. Erst die neuzeitliche Wissenschaft vollzieht den Bruch mit der scholastischen Tradition
¨
im Selbstverst¨andnis der Uberwindung
unfruchtbarer Disputationen erfah1
rungsferner Lehrs¨atze. Dieser Wandel von der scholastisch-aristotelischen
Naturphilosophie zur neuzeitlichen Naturwissenschaft findet sich im Werk
Galileis (1564–1642) ausgedr¨
uckt. W¨
ahrend seine fr¨
uhe Schrift de motu“
”
(1590) noch ganz dem aristotelischen Geist verpflichtet war, wird der Bruch
mit der Tradition in seinen Discorsi“ (1638) schließlich offenkundig. Galilei
”
entwirft die neue Naturwissenschaft aus dem Geist der technischen Mechanik. Neben die bekannte geometrische Konstruktion von Bauwerken und
Maschinen tritt nun der mathematische Entwurf der Naturdinge.
Die in der Zeit Galileis erneut bekanntgemachten Gedanken des antiken
Atomismus in Gestalt des lucretischen Lehrgedichtes De rerum natura“
”
und des zehnten Buches aus Diogenes Laertius De vita et moribus philo”
¨
sophorum“ (Uber
Leben und Meinungen der Philosophen) spielten f¨
ur die
Begr¨
undung der neuzeitlichen Physik nur eine untergeordnete Rolle. Insbesondere die vielzitierte Wiederbelebung der Gedanken Epikurs durch Gassendi (1592–1655) blieb, so Koyr´e, vollkommen steril“ (Koyr´e (1969), S.
”
15f., Anm. 7). Wie Koyr´e weiter ausf¨
uhrt, gelang es erst nachdem durch die
Begr¨
under der modernen Wissenschaft der extreme Sensualismus Epikurs
durch eine mathematische Betrachtungsweise der Natur ersetzt worden war,
den Atomismus in eine wissenschaftlich g¨
ultige Vorstellung zu verwandeln.
Die Gr¨
undung der neuzeitlichen Naturwissenschaft gelingt folglich weniger
durch den R¨
uckgriff auf die zu Aristoteles antipodische Schule des materialistischen bzw. sensualistischen Atomismus, als vielmehr durch die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Schultradition selbst.2
¨
Die allzu gel¨
aufige Meinung, die neuzeitliche Wissenschaft sei allein aus der Uberwindung des Aristoteles entstanden, bed¨
urfte einer differenzierten Kritik, wie sie etwa
Dijksterhuis (1956), S. 261-268, andeutet.
2
Dies zeigt Detel indem er die Unterschiede der Argumentation Epikurs von derjenigen
Gassendis aufdeckt. Damit wendet sich Detel gegen die heute unangefochtene Lehrmei”
nung“, dass Gassendi die ,epikureische Physik im Wesentlichen unver¨
andert u
¨bernommen‘
habe. (Detel (1976/77), S. 168) Detel zeigt, dass Gassendi wiederholt auf aristotelische
Argumente zur¨
uckgreift (ebd., S. 175f., 178, u. 186f.), diese dann aber im Sinne des Atomismus umdeutet. In unserem Zusammenhang ist der Hinweis interessant, dass Gassendi,
was die aristotelische Lehre des Kontinuums betrifft, erhebliche Verst¨
andnisschwierigkei”
ten erkennen“ l¨
asst (Potentialit¨
at der Teilung) (ebd., S. 178). Aus diesem Grund kann
Gassendi die Widerlegung der zenonischen Aporien der Bewegung durch die aristotelische
Kontinuit¨
atslehre nicht nachvollziehen (ebd., S. 178f. Anm. 38) und wird mglw. deshalb
auf die vorherige L¨
osung der eleatischen Problematik durch die Atomisten zur¨
uckgeworfen.
1
62
Gegen¨
uber dem Wissensverst¨
andnis einer das So-sein der Dinge auslegenden theoria, einem von ¨
außeren Zwecken freien Wissen, wird das neuzeitliche Wissen auf N¨
utzlichkeit hin festgelegt. Es wird von vornherein in
den Dienst der Wohlfahrt gestellt, um auf diese Weise [...] das allgemeine
”
Beste [le bien g´en´eral] aller Menschen zu bef¨
ordern“ (Descartes (1637), S.
101, u
¨bers. v. G¨abe). Insofern eignet diesem Wissen der Charakter eines
technischen Wissens, wie er etwa der Medizin und der Architektur von jeher
zukommt. Ganz in diesem Sinne benennt Descartes in seinem ,Discour‘ die
neue Bestimmung des Wissens:
[Es ist m¨oglich ...], zu Kenntnissen zu kommen, die von großem
”
Nutzen f¨
ur das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie,
die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden, die uns die
Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen K¨orper, die uns umgeben,
ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf eben dieselbe Weise zu allen
Zwecken, f¨
ur die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren
und Eigent¨
umern der Natur machen k¨onnten.“ (Descartes (1637), S.
101, u
¨bers. v. G¨abe)
Die als Mechanik begr¨
undete neuzeitliche Physik wird h¨
aufig durch die
Merkmale des empirischen und mathematischen Vorgehens von der aristotelischen bis mittelalterlichen unterschieden. Zun¨
achst wird im Folgenden
gezeigt werden, dass diese n¨
achstliegenden Kennzeichen keineswegs allein zu
einer Charakterisierung der neuzeitlichen Wissenschaft hinreichen. Einzig
an den beiden Grundmotiven der Mechanisierung und der Mathematisierung ist festzuhalten. Das Experimentelle ist, wie sich zeigen wird, vielmehr
eine Folge, die sich aus dem Zusammenspiel von Mathematisierung und Mechanisierung der Naturphilosophie ergibt.
Bereits aus der Darstellung der beiden Grundmotive l¨
asst sich andeuten,
inwiefern es mit Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu einem Wandel des Bewegungsbegriffs kommen musste. Zum einen f¨
uhrt die Mechanisierung zur Einschr¨ankung der Bewegung auf Ortsbewegung bei gleichzeitiger
Suspendierung der Frage nach dem Wesen der Bewegung, da die Ortsbewegung stets mechanisch-technisch verf¨
ugbar gemacht werden kann, ohne dass
eigens nach ihrer (begrifflichen) M¨
oglichkeit gefragt werden m¨
usste. Zum anderen bringt es das Motiv der Mathematisierung mit sich, dass die auf Ortsbewegung eingeschr¨ankte Bewegung einzig hinsichtlich ihrer quantitativen
Verh¨altnisse betrachtet werden kann. Ausgehend von der kantischen Auffassung einer mathematischen Erkenntnis durch ,Konstruktion der Begriffe in
der reinen Anschauung‘ ergibt sich, wie Kant betont, dass das Objekt der
63
Mathematik kein anderes als die Gr¨
oße sein kann: Denn nur der Begriff von
”
Gr¨oßen l¨aßt sich konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen [...]“
(KrV, B 742f.) Ungeachtet der Differenzen zwischen dem aristotelischen Bewegungsbegriff und dem Bewegungsbegriff der neuen Naturwissenschaft, die
im Folgenden genauer ausgef¨
uhrt werden, erweist sich auch bei Letzterem
der Begriff der Kontinuit¨at als ein unverzichtbar vorauszusetzendes Moment.
4.1
Die Charakterisierung der neuzeitlichen Naturwissenschaft als empirisch-mathematische
Um die neuzeitliche Wissenschaft von der antiken bis mittelalterlichen abzuheben und in ihrem grundlegend andersartigen Ansatz zu charakterisieren,
werden verschiedene Merkmale genannt. Inwieweit die Charakterisierung der
neuzeitlichen Naturwissenschaft als empirisch-mathematische zu einer Abgrenzung insbesondere von der aristotelischen Wissenschaft bzw. zu einer
Wesensbestimmung hinreicht, soll im Folgenden untersucht werden.
1. Annahme: Das Charakteristische der neuzeitlichen Naturwissenschaft
ist, dass sie empirisch vorgeht.
Wie sich inzwischen herausgestellt hat, ist die Empirie f¨
ur die neuzeitliche Wissenschaft nun keineswegs so charakteristisch, wie zumeist angenommen. In diesem Sinne stellt Blumenberg fest, dass es einfach nicht zutref”
fend [ist], daß das kritische Heilmittel gegen diese Naturphilosophie [scil. die
aristotelische] ein Mehr an Erfahrung gewesen sei. Es war eine andere Art
von Erfahrung, die zum Bruch mit der physikalischen Tradition f¨
uhrte, eine
bereits auf bestimmte Pr¨amissen abgestellte, nach ihnen ausgew¨
ahlte und
eingerichtete, unter definierten Bedingungen gestellte, also experimentelle
Erfahrung“ (Blumenberg (1975), S. 461f.). Wer wollte leugnen, dass ein wesentliches Verfahren der neuen Naturwissenschaft das Experiment ist? Ein
experimentelles Vorgehen ist allerdings in der Antike genauso bekannt und
m¨oglicherweise kaum weniger verbreitet gewesen. Es ist u
¨berall dort zu finden, wo es um einen herstellenden und gebrauchenden Umgang mit den
Dingen geht, insbesondere also in handwerklichen Zusammenh¨
angen und
nicht zuletzt f¨
ur die Zwecke der Kriegsf¨
uhrung. Neu ist seit Begr¨
undung der
neuzeitlichen Wissenschaft, dass es die theoretische, die betrachtende Naturerkenntnis ist, die zum Mittel der experimentellen Erfahrung greift. Das
Neuartige besteht folglich nicht so sehr in der Tatsache, dass experimentiert
wird. Vielmehr, so Heidegger, m¨
usse gefragt werden, wie und zu welchem
Ende dies getan werde. (Heidegger (1962), S. 51f.)
64
Auch die beim quantitativen Experiment durchgef¨
uhrte Messung von
Gr¨oßen ist nicht erst eine Erfindung der Neuzeit. Maße und Gr¨
oßen waren
f¨
ur die Bed¨
urfnisse des Handwerks und insbesondere f¨
ur den Handel schon
fr¨
uhzeitig eingef¨
uhrt worden. Ebenso ist jede Geometrie, Astronomie und
Nautik unabdingbar auf die Einf¨
uhrung von Maß und Gr¨
oße angewiesen.
Damit erweist sich die Kennzeichnung der neuzeitlichen Wissenschaft als eine empirische bzw. messende Wissenschaft als zu deren Charakterisierung
nicht hinreichend. Gefragt werden muss, wie und mit welchem Ziel Messungen ausf¨
uhrt werden. In der Beantwortung dieser Frage zeigen sich erst
die Akzentverschiebungen, die den umfassenden Wandel zu kennzeichnen
verm¨ogen. So mangelt es Aristoteles keineswegs an Empirie, was daran zu
erkennen ist, dass er in seiner Physik Beobachtungen anf¨
uhrt, welche die
Sachverhalte in einer Weise in den Blick nehmen, wie sie sich immer schon
von sich her zeigen. Folglich ist mit Blumenberg die gel¨
aufige Behauptung
zur¨
uckzuweisen, dass [...] mit der aristotelischen Naturphilosophie [...] ei”
ne Gesamtheit erfahrungsferner, spekulativer S¨
atze u
ost
¨ber die Natur abgel¨
worden [sei] von einem Aussagensystem durch und durch empirischer Herkunft [...]“ (Blumenberg (1975), S. 461) Im Unterschied zur allt¨
aglichen Erfahrung tr¨agt f¨
ur Aristoteles die pr¨
aparierte Erfahrung zur Entscheidung
fundamentaler theoretischer Fragen keineswegs mehr aus als jene, insbesondere dann nicht, wenn sie die Fragestellung verkennt. So erw¨
ahnt Aristoteles
geradezu absch¨atzig die ,schlauchqu¨
alenden Experimentatoren‘, die nachzuweisen versuchen, dass die Luft etwas sei. Dabei u
¨bersehen sie jedoch, dass
es sachlich nicht darum geht zu zeigen, dass die Luft wirklich etwas sei, sondern die Frage zu beantworten, ob es einen leeren Raum geben kann oder
nicht (vgl. Phys. 213 a 23ff.).
Experimente sind dort erforderlich, wo es um zweckhafte T¨
atigkeiten
und um herstellendes Wissen (‰pist’mh poihtik’) im Gegensatz zum theoretischen Wissen (‰pist’mh jewrhtik’) geht. In der neuzeitlichen Naturwissenschaft wird das Experiment hingegen zu einem neuen Kriterium der Wahrheit, welchem dem Anschein nach der Vorrang vor dem Denken zugewiesen
wird. Von einem Wissen um das Wesen der Dinge und um die Prinzipien
der Bewegung wird die Wissenschaft zur Erkl¨
arung des Wie und Wieviel.
Eine vormals qualitative Wissenschaft wird zur quantitativen.
2. Annahme: Das Charakteristische der neuzeitlichen Naturwissenschaft
ist, dass sie die Mathematik anwendet.
Gewiss sind Zahlen, mathematische Operationen und die Geometrie keine Erfindung der Neuzeit, wenn auch die M¨
oglichkeiten der Mathematik
65
(z. B. der Algebra, der Analysis und der analytischen Geometrie) seitdem in
erheblichem Maße erweitert wurden. Die Mathematik, so f¨
uhrt Aristoteles
in Physik B 2 aus, betrachtet zwar die Formen und Eigenschaften der Dinge, jedoch gerade nicht, insofern sie als Begrenzungen bzw. als Eigenschaften an nat¨
urlichen K¨orpern vorkommen. – Entsprechend verselbst¨
andigt die
Mathematik die Formen und betrachtet sie abgetrennt von den nat¨
urlichen
K¨orpern (Phys. 193 b 31-35). Demgegen¨
uber steht der Physik dies Mittel
der Abtrennung nicht zu Gebote. Da die Physik die nat¨
urlichen Dinge betrachtet, insofern sie bewegt sind, kann und darf sie die Form nicht vom Stoff
abtrennen, denn ohne Stoff kann Bewegung nicht gedacht werden. Im Gegensatz dazu ist die Mathematik nahezu dadurch definiert, dass sie die Bindung
von Stoff und Form aufl¨ost (qwr•zein = L¨
osung der Bindung) und das eigentlich unselbst¨andige, die Form, als abgetrennte verselbst¨
andigt. Dieser
”
qwrism“c ist geradezu der Titel f¨
ur das methodische Wesen der Mathematik.
In ihm hat sie ihre Legitimation.“ (Wagner (1967), S. 454) Indem die neuzeitliche Wissenschaft unter R¨
uckgriff auf pythagoreische und platonische
Motive die Natur mathematisch betrachtet,3 u
achst den
¨berspringt sie zun¨
von Aristoteles f¨
ur eine Wissenschaft von der Bewegung als unverzichtbar
aufgewiesenen Zusammenhang von Stoff und Form – Kontinuierlichem und
Diskretem. Der vom Stoff abgetrennten Form mangelt es am Moment der
Kontinuit¨at, ohne welches die Bewegung nicht begriffen werden kann.
In der Antike ist die Anwendung der Mathematik – zwischen Mathematik und Geometrie soll zun¨
achst nicht differenziert werden – in Wissenschaften wie der Astronomie, der Harmonielehre oder der Optik bekannt.
Aristoteles nennt sie die mehr naturbezogenen unter den mathematischen
Lehren (t¨ fusik”tera t~
wn majhmtwn, Phys. 194 a 7ff.). Die Optik, so
erkl¨art er, betrachte eine mathematische Linie, aber nicht insofern sie ma”
thematisch ist, sondern insofern sie ein Naturverh¨
altnis darstellt“ (Phys.
194 a 11f., u
¨bers. Zekl). Zweifellos werden in der Mathematik dabei bereits
verselbst¨andigte Formen und Zahlen vorausgesetzt, welche in die Naturdin3
Blumenberg legt dar, dass [seit] Petrarca die Berufung auf Plato und die ,Platoniker‘
”
vor allem die Funktion [hatte], Positionen gegen Aristoteles und die aristotelischen Scholastiker abzugrenzen und mit vergleichbarer Autorit¨
at abzust¨
utzen.“ (Blumenberg (1971), S.
3) Dabei liegt der Gedanke einer Physik als Wissenschaft der wandelhaften Erscheinungswelt m. E. Aristoteles systematisch viel n¨
aher als Platon. So stellt dann auch Blumenberg
fest: Die Bedeutung des Platonismus f¨
ur die Geschichte der fr¨
uhen neuzeitlichen Wissen”
schaft erweist sich als ambivalent: einmal hat er mit der Lehre von den Ideen und von
der an ihnen teilhabenden Erscheinungswelt die Voraussetzung sanktioniert, daß in den
Erscheinungen Gesetzlichkeit auffindbar sein m¨
usse; andererseits hat er der Resignation
Grund gegeben, daß eine ad¨
aquate Erfassung dessen, worauf es der Erkenntnis ankommt,
gerade in den Erscheinungen nicht m¨
oglich sei.“ (ebd., S. 33)
66
ge und nat¨
urlichen Sachverhalte hineingelegt werden. Wiederum erweist es
sich als weniger ausschlaggebend, dass die Mathematik in der Antike und im
Mittelalter angewendet wird, vielmehr ist zu fragen, wie und mit welchem
Ziel dies geschieht.
Zur angewandten Mathematik geh¨
ort auch die Mechanik (mhqanik’). Sie
ist im antiken Sinne keine betrachtende Wissenschaft (‰pist’mh jewrhtik’),
sondern herstellendes Wissen (‰pist’mh poihtik’), da sie das Erkennen wegen eines außerhalb der Wissenschaft liegenden Zwecks betreibt (vgl. Met.
993 b 20f.) und nicht um des Wissens der Wahrheit willen (vgl. Met. 982
b 8ff.). Ein solches Verf¨
ugungswissen geh¨
ort zur Kunstfertigkeit (t‘qhn). In
der Mechanik vereinigt sich somit die Anwendung der Mathematik (Geometrie) mit der des Experiments zur Verwirklichung der verschiedensten
Zwecke. – Aus der Pr¨
ufung bekannter Charakteristika neuzeitlicher Naturwissenschaft haben sich die Merkmale der Mechanisierung und Mathematisierung als grundlegend herausarbeiten lassen. Sie sind im Folgenden zu
untersuchen.
4.2
Mechanisierung und Mathematisierung
Wahrheit oder Wissen (von den Naturdingen) – so stellt sich pointiert das
eleatische Dilemma dar, bis Aristoteles zeigen konnte, wie trotz der Wandelhaftigkeit der Dinge ein unwandelbares Wissen von diesen m¨
oglich sei.
Eine Wissenschaft von den sich wandelnden Dingen kann f¨
ur Aristoteles
keine mathematische sein, welche die unwandelbaren Formen von den Dingen abtrennt, wodurch zwar Wahrheit gew¨
ahrt ist, jedoch unter Preisgabe
der Bewegung. – Die Zwitterstellung der antiken Mechanik zwischen Physik
und Technik, ihr Status als angewandte Mathematik weist den Begr¨
undern
der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaft (insbes. Galilei und Newton)
den Weg zu einer mathematischen Physik. Dabei garantiert die Mathematik
die Gewissheit des Wissens, welches dem allgemeinen Nutzen dienen soll.
Im Unterschied zu Dijksterhuis (1956), der die Mechanisierung in der
Mathematisierung aufgehen l¨
asst,4 soll in dieser Untersuchung an der relativen Eigenst¨andigkeit der Motive ,Mechanisierung und Mathematisierung‘
festgehalten werden. Insofern in der Untersuchung nach der Erkenntnis der
4
Die in Bezug auf die Schriften Anneliese Maiers erarbeitete Monographie Dijksterhuis’: Die Mechanisierung des Weltbildes“ kulminiert in dem Satz: Die Mechanisierung,
”
”
¨
die das Weltbild beim Ubergange
von antiker zu klassischer Naturwissenschaft erfahren
hat, besteht in der Einf¨
uhrung einer Naturbeschreibung mittels mathematischer Begriffe der klassischen Mechanik; sie bedeutet den Beginn der Mathematisierung der Naturwissenschaft, die in der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Vollendung findet.“
(Dijksterhuis (1956), S. 557)
67
Bewegung gefragt wird, kann der Auffassung, dass die moderne Physik zu
angewandter Mathematik geworden sei, nicht voreilig zugestimmt werden.
4.2.1
Antike Mechanik und der Beginn der neuzeitlichen Physik
Die urspr¨
ungliche Bedeutung des Wortes mhqan’: List, Mittel, haupts¨achlich gebraucht im Sinne von materiellen Mitteln zur Erreichung eines
Zwecks, etwa Wasser zu heben oder eine Stadt zu erobern, wird in der Folge
zu Werkzeug und schließlich zu Maschine.5 In der klassischen Antike
ist die Mechanik eine List, um durch menschlichen Erfindergeist Bewegungen
auszuf¨
uhren, die gegen den nat¨
urlichen Bewegungsverlauf gerichtet sind. Die
nat¨
urlichen Bewegungen der K¨
orper sind bei Aristoteles diejenigen, welche
sich entsprechend der Natur der K¨
orper vollziehen. So bewegen sich die
nat¨
urlichen K¨orper wie Erde, Feuer, Wasser und Luft zu den ihnen von
¨
Natur aus zukommenden nat¨
urlichen Ortern.
Demgem¨
aß steigen die luftigen
K¨orper nach oben in Richtung der Peripherie des Himmels und die irdenen
K¨orper fallen nach unten in Richtung des Weltmittelpunkts.
Im Corpus Aristotelicum findet sich die (pseudo-aristotelische)6 Schrift
Probl’mata mhkanik, deren Einleitung eine Bestimmung der Mechanik
enth¨alt:
Verwunderung erregen nat¨
urliche Vorg¨ange, wenn ihre Ursache
”
nicht erkannt ist, und naturwidrige, wenn sie durch menschliche Kunst
dem Menschen zum Nutzen sich abspielen. In vielen F¨allen bewirkt die
Natur n¨amlich das Gegenteil von dem, was f¨
ur uns nutzbar ist; denn
die Natur nimmt stets und ohne Ausnahme denselben Lauf, w¨ahrend
¨
die Nutzbarkeit vielf¨altigen Anderungen
unterworfen ist. W¨
unscht man
nun, etwas gegen die Natur zu unternehmen, so bereitet es wegen der
Schwierigkeit einige Verlegenheit und bedarf unserer Kunst. Deshalb
nennen wir auch denjenigen Teil der ‘Kunst’, welcher uns bei derartigen Verlegenheiten zu Hilfe kommt, ein mechanisches Hilfsmittel (mhqan’).“ (Mech. 847 a 11-20, u¨bers. v. Krafft (1970), S. 21f.)
Die Mechanik erfindet die Mittel, mit deren Hilfe Bewegungen hervorgerufen werden k¨onnen, die in ihrem Ablauf so nicht von Natur aus stattfinden
5
Vgl. dazu den Artikel Mechanik im Hist. Wb. Philos. Weiteres u
¨ber die antike
¨
Mechanik findet sich in Krafft (1967) und Krafft (1970). Uber
den Entwicklungsstand und
die umfangreichen Aufgabenfelder antiker Mechanik und mechanischer Technik informiert
z. B. Sch¨
urmann (1991).
6
Krafft h¨
alt die ,Problemata Mechanica‘ f¨
ur [...] eine wohl von sp¨
ateren Peripatetikern
”
erweiterte Schrift des Aristoteles selbst [...]“ (Krafft (1967), S. 26). Dies gilt es um so
mehr in Erw¨
agung zu ziehen, wenn die Gr¨
unde, ihm die Autorschaft abzusprechen, einzig
darauf beruhen sollten, dass die Behandlung solch niederer technischer Probleme als eines
Aristoteles f¨
ur nicht w¨
urdig gehalten wurden.
68
w¨
urden. Dabei bleibt sie stets auf die Bewegungsm¨
oglichkeiten der Naturdinge eingeschr¨ankt, und damit auf die ,Physik‘ als theoretische Wissenschaft,
welche eine Kenntnis von den Naturdingen gew¨
ahrleistet. Bei Aristoteles
ist die Mechanik selbst jedoch keine theoretische Wissenschaft, da sie auf
die Verwirklichung von Zwecken abzielt. Eine im strengen Sinn hervorbringende Wissenschaft ist sie allerdings ebensowenig, da bei einer solchen das
Prinzip des Hervorbringens im hervorbringend t¨
atigen Menschen liegt (vgl.
Met. 1025 b 18ff.). Obgleich die Mechanik vom Menschen gesetzte Zwecke
verwirklichen soll, ist sie dabei doch stets auf die Natur als Prinzip zu Ruhe
und Bewegung angewiesen.
Dies gilt solange, wie an der von Aristoteles in der Physik (Phys. 230 a
18ff.) getroffenen Unterscheidung von naturgem¨
aßen und naturwidrigen Bewegungen festgehalten wird. W¨
ahrend die naturgem¨
aßen Bewegungen (kat¨
f–sin) entsprechend einem den Naturdingen als solchen zukommenden Prinzip von Bewegung erfolgen, verlaufen die widernat¨
urlichen (par¨ f–sin) entgegen der nat¨
urlichen Bewegungsrichtung. Alle Bewegungsarten k¨
onnen auf
gewaltsame Weise veranlasst, erschwert oder unterbunden werden. Die Ortsbewegung ist dar¨
uber hinaus die einzige Bewegungsart, bei der es neben
einem naturgem¨aßen Bewegungsablauf, der gewaltlos oder gewaltsam erfolgen kann, einen widernat¨
urlichen gibt, der nur durch Gewalt hervorgerufen
werden kann (vgl. Phys. 230 a 29ff., sowie Wieland (1962), S. 249, Anm.
15). So kann ein Stein nach oben geworfen oder Wasser aus einem Brunnen
gehoben werden; die Dinge sind dabei in einem Bewegungszusammenhang,
der nicht ihrer jeweiligen Natur entspricht.
Dadurch, dass die Ortsbewegung als einzige Bewegungsart sowohl naturgem¨aß als auch widernat¨
urlich verlaufen kann, ist sie dazu pr¨
adestiniert, in
der neuzeitlichen Physik, bei der die Lehre von den Substanzen und deren
artspezifischen Bewegungen aufgegeben wird, nunmehr als einzige untersucht zu werden, weil sie, so Wieland (1962), S. 249, nach Aristoteles als
einzige planm¨aßig herstellbar ist.
Insofern die Physik Wissenschaft von der Natur (f–sic) ist, kann die
Mechanik kein Teil von ihr sein. Wie in den problemata mechanica ausgef¨
uhrt, nimmt die Mechanik eine Zwischenstellung zwischen der angewandten Mathematik und der Physik ein. Die mechanischen Probleme [...] sind
”
n¨amlich nicht genau dieselben wie die physikalischen Probleme, sie sind aber
auch nicht allzu sehr von ihnen unterschieden, sondern stellen eine Verkn¨
upfung von mathematischen und physikalischen Anschauungen dar; denn
w i e etwas hier geschieht, wird aufgrund mathematischer Anschauungen
klar, und jenes, a n d e m es geschieht, aufgrund physikalischer.“ (Mech. 847
a 24-29, u
ande, wie z. B.
¨bers. v. Krafft (1970), S. 22.) Mechanische Gegenst¨
69
Werkzeuge und Maschinen, sind, sofern sie notwendig aus Naturdingen gefertigt worden sind, durch die Physik bestimmt. Ihre Verhaltensweisen, die
Funktion von Werkzeug und Maschine, werden hingegen mathematisch erkl¨art. Zum Wissen von den Bewegungen der Naturdinge (Physik) kann die
Mechanik innerhalb des aristotelischen Horizontes folglich nichts beitragen.
Dies ¨andert sich erst mit Galilei. In dessem Sinn begr¨
undet Newton die Mechanik als theoretische Mechanik, wodurch sie zur fundamentalen Disziplin
der neuzeitlichen Physik wird.
Bezeichnenderweise stammen die von Galilei in seinen Discorsi (1638)
besprochenen Probleme fast ausschließlich aus dem Bereich der mechanischen Technik. Er gibt Beispiele von Vorrichtungen und Maschinen, wobei
er auf die in Antike und Mittelalter gesammelten Erkenntnisse zur¨
uckgreifen konnte. Wesentliche Anst¨
oße erh¨
alt Galilei durch seine Besch¨
aftigung
mit Archimedes (287–212), geht es in der neuen Wissenschaft doch nicht
um ,reine‘ Erkenntnis, sondern, und dies betont Galilei mehrfach in seinen
Discorsi (Galilei (1638), S. 52, 192 u.¨
o.), um viele n¨
utzliche Erfindungen und
Entdeckungen.
Damit das Studium mechanischer Vorg¨
ange u
ur das
¨berhaupt etwas f¨
Wissen von der Natur austragen konnte, so Krafft, musste sich zuvor die
Stellung des Menschen zur Natur und das Verh¨
altnis von Geschaffenem und
Sch¨opfer in einer solchen Weise ver¨
andern, [...] daß dem K¨
unstlichen die
”
prinzipielle Andersartigkeit gegen¨
uber der ebenso ,kunstvollen‘ Sch¨
opfung
Natur abgesprochen wurde. Die ,Natur‘, der Kosmos, steht f¨
ur den Christen
ja nicht mehr als eine Gottheit u
¨ber dem Menschen.“ (Krafft (1967), S. 32)
Auf diese Weise wird die von Aristoteles methodisch benutzte Analogie von
Natur und Technik bez¨
uglich des Hervorbringens radikalisiert: die technisch
gedachte Natur wird zu einem ,technischen‘ Produkt.
Ein Vergleich mit der aristotelischen Auffassung von theoretischem Wissen, welches einzig dem immanenten Zweck des Wissens der Wahrheit unterstellt ist, zeigt, dass das vormals herstellende Wissen, und die mechanische
Kunst insbesondere, in den Rang der theoretischen Naturerkenntnis erhoben
worden ist. Die Frage aber, was und warum die Dinge so sind, wie sie sind,
die Frage nach dem Wesen, wird in der neuen Naturwissenschaft durch die
Antwort auf die Frage nach dem Wie und Wieviel abgegolten. So stellt Salviati (das alter ego Galileis) in den Discorsi zu Beginn des dritten Tages, an
dem u
¨ber die Bewegung gehandelt werden soll, fest, dass es zwar viele sowohl
umfangreiche als auch tiefgr¨
undige B¨
ucher u
¨ber die Bewegung gibt, doch sei
bislang wenig erkannt worden: Einige leichtere S¨
atze h¨
ort man nennen: wie
”
zum Beispiel, dass die nat¨
urliche Bewegung fallender schwerer K¨
orper eine
stetig beschleunigte sei. In welchem Maasse [sic!] aber die Beschleunigung
70
stattfinde, ist bisher nicht ausgesprochen worden; denn soviel ich weiss, hat
Niemand bewiesen, dass die vom fallenden K¨
orper in gleichen Zeiten zur¨
uckgelegten Strecken sich zu einander verhalten wie die ungeraden Zahlen. Man
hat beobachtet, dass Wurfgeschosse eine gewisse Curve beschreiben; dass
letztere aber eine Parabel sei, hat Niemand gelehrt.“ (Galilei (1638), S. 140)
Wenn das Wesen der Dinge, ihr Was-sein, nicht ausdr¨
ucklich gekl¨
art
wird, vor einer Untersuchung des Wie und Wieviel von Gr¨
oßen und Eigenschaften aber gekl¨art sein muss, wovon diese ausgesagt werden, so m¨
usste die
Frage nach dem Wesen der Dinge bereits eine wenn auch implizite Beantwortung erfahren haben. Dementsprechend ist zu fragen, in welcher Weise die
Dinge in der neuzeitlichen Wissenschaft angesetzt sind, damit ein empirischmathematischer Zugang, wie ihn Galilei erstmals vollzieht, m¨
oglich wird. Die
Art und Weise des Ansatzes der Dinge als derjenigen, die sich dem mechanischen, experimentell-geometrischen Zugang erschließen, bringt Heidegger
unter den Titel des Mathematischen (Heidegger (1962), S. 52). Gemeint ist
hiermit nicht die Anwendung der Mathematik auf die Dinge der Natur, –
diese ist nur Folge. Es geht um die mathematische Ansetzung der Naturdinge
selbst.
4.2.2
Der mathematische Entwurf der Dinge als der Grundzug
der neuzeitlichen Wissenschaft
Heidegger kennzeichnet den Grundcharakter der neuzeitlichen Wissenshal”
tung“ mit der Aussage: der neue Wissensanspruch ist der mathematische“
”
(Heidegger (1962), S. 52). Was damit bezeichnet ist, entwickelt er ausgehend
davon, was die Bezeichnung das Mathematische (t¨ maj’mata) im Horizont des griechischen Denkens bedeutet (ebd., S. 53ff.). Schließlich stellt
Heidegger fest:
Die maj’mata, das Mathematische, das ist jenes an den Din”
gen, was wir eigentlich schon kennen, was wir demnach nicht erst aus
den Dingen herholen, sondern in gewisser Weise selbst schon mitbringen“ (Heidegger (1962), S. 57).
Dadurch, dass das Mathematische den Charakter der Vorwegnahme hat,
wird deutlich, inwiefern die Zahlen zum Mathematischen geh¨
oren. So kann
¨
die M¨oglichkeit der Aussage, dass in der Schale drei Apfel zu sehen sind, nicht
den Dingen selbst ,entnommen‘ werden. Zum Z¨
ahlen von Gegenst¨
anden ist
die M¨oglichkeit des quantitativen Urteilens bereits vorauszusetzen. An den
Gegenst¨anden kann der Zahlbegriff nicht abgelesen werden (vgl. Heidegger
(1962), S. 57).
71
Die Aussage, dass Wissen aus Grundlagen heraus entsteht, gilt f¨
ur Aristoteles genauso wie f¨
ur die neuzeitliche Wissenschaft. Die wesentliche Differenz liegt in der Art und Weise, wie jeweils die Grundlagen bestimmt werden.7 W¨ahrend bei Aristoteles die Grundlagen, die Prinzipien und Gr¨
unde
des Wissens aus einem Vorverst¨
andnis gewonnen werden, wie es in der communis opinio, dem griechischen Denken, der Sprache und dem Seinsverst¨
andnis allgemein tradiert ist, werden die Grundbegriffe der neuzeitlichen Naturwissenschaft zun¨achst einfach angesetzt. Sie sind zwar alles andere als
beliebige Begriffsdichtungen,8 jedoch keineswegs der Umgangssprache oder
der allt¨aglichen Wahrnehmung verpflichtet. Legitimation erhalten diese urspr¨
unglich in die Mathematik geh¨
origen Prinzipien (Axiome) erst durch die
in rascher Folge auf ihrer Grundlage gewonnenen Resultate. Diese neuen
Grundbegriffe entspringen weder der allt¨
aglichen Erfahrung noch derjenigen des planm¨aßigen Experiments. Letzteres ist erst dadurch m¨
oglich, dass
die Grundbegriffe bereits gesetzt sind.
Das zur M¨oglichkeit von Erkenntnis vorauszusetzende Vorwissen legt das
Sein der Dinge fest, d. h. es bestimmt, was und wie etwas Gegenstand der
Theorie werden kann. H¨aufig wird u
¨bersehen, dass die ersten Grundgesetze der Physik Voraussetzung und nicht Ergebnis ihrer positiven Forschung
sind. Die Grundbegriffe bestimmen erst, was eine Tatsache ist. Tatsachen
sind nicht einfach gegeben. Sie sind immer schon innerhalb eines Kontextes
eingeordnet und insofern auf etwas hin ausgelegt.
Bekanntlich besaß Galileis Entdeckung der Jupitermonde mit dem Fern¨
rohr wenig Uberzeugungskraft.
Das von Galilei benutzte Fernrohr mochte die
irdischen Gegebenheiten wohl in gewisser Weise n¨
aher bringen (alles steht
auf dem Kopf, von Abbildungsfehlern einmal ganz abgesehen). Da die scholastische Wissenschaft einen kategorialen Unterschied zwischen irdischer und
himmlischer Sph¨are annahm, ist es jedoch keineswegs selbstverst¨
andlich, die
7
Vgl. dazu den Aufsatz Die aristotelische Naturphilosophie und der epistemologische
”
Bruch der neuzeitlichen Wissenschaft“ von Lutz Hieber (1982). Unter dem epistemo”
logischen Bruch“ versteht Hieber die seit der Neuzeit best¨
andig zunehmende Kluft zwischen lebensweltlicher Erfahrung und naturwissenschaftlich experimenteller Erfahrung.
W¨
ahrend die aristotelische Naturphilosophie ganz an der lebensweltlichen Erfahrung orientiert sei, gelte in der neuzeitlichen Physik, so Hieber, als eigentliche wissenschaftliche
”
Erfahrung [...] nur noch [die] technisch erzeugte, instrumentell kontrollierte Erfahrung, das
Experiment.“ (ebd., S. 176) Wenn Hieber jedoch meint, die Naturwissenschaftler m¨
ussten
experimentelle Resultate durch theoretische Prinzipien“ erkl¨
aren (ebd., S. 177), betont
”
dies eine Unabh¨
angigkeit der experimentellen Resultate von den theoretischen Prinzipien,
an der kaum festzuhalten ist.
8
Die Frage, inwiefern die unmittelbaren Postulate einer Wissenschaft zwar gesetzt, aber
nicht beliebig erfunden sind, muss einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben.
72
Erfahrungen in der einen Sph¨
are auf die in der anderen zu u
¨bertragen. Was
auf der Erde f¨
ur rechtm¨aßig gelten kann, muss noch lange nicht f¨
ur Himmelsk¨orper gelten. Was also sollte unter dieser Pr¨
amisse der Blick durch das
Rohr beweisen?
Wie verh¨alt es sich mit dem Fallgesetz? Fallen verschieden schwere K¨
orper
gleichschnell? Ein Experiment wird Unterschiedliches zeigen. Wenn Galileis Gegner dessen Ansicht akzeptiert h¨
atten, dass Experimente Beweiskraft
haben, so m¨
ussten sie sich weit mehr best¨
atigt sehen, als in ihrer Auffassung widerlegt, dass die Fallgeschwindigkeit von der Schwere der K¨
orper
abh¨ange. Die Tatsache, dass verschieden schwere K¨
orper nicht gleichschnell
fallen, obwohl Galilei doch das Gegenteil beweisen wollte, erkl¨
art er mit
dem Luftwiderstand, der unter den gegebenen Umst¨
anden eben nicht zu
vernachl¨assigen sei, wie wohl die Abweichung vom zeitgleichen Aufprall der
K¨orper auch minimal sei. Im Vakuum fallen alle K¨
orper gleichschnell, das
ist f¨
ur ihn Gesetz. Ein Satz, mit einer empirisch unm¨
oglich zu erf¨
ullenden
Bedingung. Erst von diesem Satz ausgehend wird das Experiment zu etwas,
das Tatsachen sprechen l¨asst.
Was zur Durchsetzung der neuen Physik erforderlich war, so musste Galilei einsehen, ergab sich weniger aus der Durchf¨
uhrung von Experimenten als
¨
vielmehr aus der Uberzeugungskraft
der neuen Gesetze. Diese erst bestimmen, was eine Tatsache ist und was nicht. Die neuen Grundbegriffe schreiben
vor, welche und auf welche Weise Erfahrungen m¨
oglich sind. Sie sind axiomatische Ansetzungen dessen, was die Dinge zu Gegenst¨
anden mathematischer
Betrachtung macht. [...Dass] das Gesetz, das die Erscheinungen beherrscht
”
[...] nicht unmittelbar durch sinnliche Wahrnehmung aus ihnen abzulesen
[ist], sondern daß es, um sie zu entdecken, der Spontaneit¨
at des mathematischen Verstandes bedarf [...]“, betont Galilei unabl¨
assig, wie Cassirer weiß.
(Cassirer (1927), S. 173) Denn das Ewige und Notwendige in den Dingen
”
lernen wir nicht durch bloße Anh¨
aufung und Vergleichung sinnlicher Erfahrungen kennen: vielmehr muß der Geist es ‘von sich aus’ erfaßt haben, um
es in den Erscheinungen wiederzufinden.“ (ebd.) Das Gesetz kann folglich
in den Naturverh¨altnissen nur gesehen werden, wenn der Verstand die Natur im Voraus auf dieses Gesetz hin entworfen hat. Im gedachten Entwurf
findet die neuzeitliche Gewissheit ihren archimedischen Punkt. In diesem
Sinne verspricht sich das erkennende Subjekt von dem, was es entwerfend
hervorbringt, die Gewissheit seines Wissens.
Seit Kant heißt diese Wende die kopernikanische Revolution der Denkungsart. In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Ver”
nunft“ bringt Kant das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft auf den Begriff: Als G a l i l e i seine Kugeln die schiefe Fl¨
ache mit einer von ihm selbst
”
73
gew¨
ahlten Schwere herabrollen, oder T o r r i c e l l i die Luft ein Gewicht,
was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassers¨
aule gleich gedacht
hatte, tragen ließ [...]; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe
hervorbringt [...]“ (KrV, B XII f., Kursiva von mir).
Durch die Anwendung der mathematischen Erkenntnisart, d. i. die Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung (KrV, A 713/B 741), auf
die Naturphilosophie wandelte sich diese zur exakten Naturwissenschaft.
Die neue Wissenschaft ist nicht mathematisch, weil sie eine quantitative
Erkenntnis der Naturerscheinungen ist, dies, so Kant, hieße Ursache und
Wirkung verkehren (vgl. KrV, A 714/B 742). Die Naturwissenschaft dr¨
angt
auf quantitative Resultate, weil das Verfahren der mathematischen Erkenntnis nur auf Gr¨oßen gehen kann. Denn nur der Begriff von Gr¨
oßen l¨
aßt sich
”
konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen, Qualit¨
aten aber lassen sich in keiner anderen als empirischen Anschauung darstellen.“ (KrV,
A714f./B 742f.)
Damit l¨asst sich festhalten: Die Differenz zwischen aristotelischer und
neuzeitlicher Wissenschaft besteht im jeweiligen Charakter der Grundlagen, die das Sein der Gegenst¨
ande des Wissens festlegen. Diese Ansetzung
erfolgt bei Aristoteles auf einer ph¨
anomenologisch-hermeneutischen Basis,
w¨ahrend die neuzeitliche Wissenschaft das Sein ihrer Gegenst¨
ande in einem
,freien Entwurf‘ des Geistes axiomatisch festlegt. Dies bezeichnet Heidegger als den mathematischen Entwurf“ (Heidegger (1962), S. 71). In diesem
”
u
¨ber die Dingheit der Dinge hinwegspringendem Entwurf“ (ebd.) wird im
”
Voraus festgelegt, wie die Gegenst¨
ande der Physik, die K¨
orper, Bewegungen und Gr¨oßen in ihren Verh¨
altnissen zueinander begegnen k¨
onnen. Auf
die axiomatische Ansetzung der Natur folgt dann ohne weiteres das Experiment, die Messung und Rechnung als Verfahren der naturwissenschaftlichen
Forschung im engeren Sinne (vgl. ebd., S. 72). Im Experiment soll die Erfahrung eingeholt werden, die zuvor im axiomatischen Entwurf u
¨bersprungen
worden war.
———————————
Indem die neuzeitliche Physik als Mechanik begr¨
undet wird, ist sie auf
ein technisches Wissen hin verpflichtet. Jene hinsichtlich der Verwirklichung
von pragmatischen Zwecken entworfene ,Natur‘-,Wissenschaft‘ substituiert
die Betrachtung (theoria) einer von sich selbst her aufgehenden Natur der
Dinge. Sie gewinnt ein technisches Wissen, das zugleich mit dem Anspruch
verbunden wird, eine Theorie des Wirklichen zu liefern und nicht bloß Konstruktionsanweisungen.
74
Neben dem Entwurfscharakter und der Sicherung der Gewissheit durch
allgemeine Nachvollziehbarkeit beinhaltet das Mathematische das Moment
der Abl¨osung, der Verselbst¨
andigung der Formen. Dieses l¨
asst wiederum eine
Erkenntnis der Bewegung problematisch werden. Zur L¨
osung der eleatischen
Problematik greifen Newton und Leibniz in unterschiedlicher Weise auf die
Grundmotive ,Mathematik und Mechanik‘ zur¨
uck. W¨
ahrend ersterer im Anschluß an Galilei die Mechanik axiomatisiert, mathematisiert letzterer die
Bewegung selbst.
Zweifelsfrei wurde die Gr¨
undung der neuzeitlichen Physik im Wesentlichen von Newton in seinen “Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“
geleistet. Indes ist bei Leibniz die Bildung eines neuen Bewegungsbegriffs unter Aufnahme aristotelischer Begriffe genauer zu verfolgen, da dieser nicht
auf dieselbe Weise mit der Tradition bricht wie Newton. Zudem tritt bei ihm
der Zusammenhang des Bewegungsbegriffs mit dem Begriff der Kontinuit¨
at
deutlicher hervor. Zuvor soll jedoch die newtonsche Grundlegung untersucht
werden.
5
Newtons axiomatisierte Mechanik und die Bewegung als quantifizierbarer Zustand
Newton gilt als der Begr¨
under der klassischen – der newtonschen – Mechanik
und damit der neuzeitlichen Physik u
¨berhaupt. Dabei markiert er mit seinen Principia von 1687 gerade den Punkt, an dem sich die Naturwissenschaft
von der Philosophie trennt (vgl. B¨
ohme (1977)).9 Liegen zwischen Newtons
Principia von 1687 und der vollst¨
andigen Ausbildung der klassischen Mechanik im 19. Jhdt. als analytischer Mechanik mit den Formalismen von
Laplace und Hamilton noch viele Schritte, so ist jedoch die Bewegungsauf9
Den Grund f¨
ur die ,Divergenz von Wissenschaft und Philosophie‘ sieht B¨
ohme [...]
”
in der Mathematisierung der neuen Wissenschaft [...]“ (B¨
ohme (1977), S. 239) Die Ersetzung eines philosophischen Wissens von der Natur durch die mathematische Naturwissenschaft kann indes nur verstanden werden, wenn neben dem Motiv der Gewissheit
dasjenige der N¨
utzlichkeit beachtet wird. Die im Zuge der Mathematisierung erfolgende
axiomatische Ansetzung der Naturdinge m¨
usste ohne ein Woraufhin des mathematischen
Entwurfs im Beliebigen verbleiben. Der gegen¨
uber der Scholastik vorgebrachte Anspruch
an das Wissen, durch den Nutzen zur Wohlfahrt aller beizutragen, bedingt das Woraufhin
der axiomatischen Ansetzung. Von vornherein werden die Naturdinge auf ihre technische
Verf¨
ugbarkeit hin ausgelegt. Deshalb kann das Motiv der Mathematisierung nicht ohne
dasjenige der Mechanisierung die Suspendierung der (scholastischen) Philosophie erkl¨
aren,
die in der Folgezeit zu einer zunehmenden Trennung von Philosophie und Wissenschaft
f¨
uhrte, wodurch die rechnende und messende Wissenschaft erst zur alleinigen Instanz des
Wissens von der Natur werden konnte.
75
fassung der neuzeitlichen Physik bei Newton schon erkennbar. Bevor diese
untersucht werden soll, gilt es zu sehen, worin das Eigent¨
umliche der newtonschen Grundlegung besteht. Wie sich zeigen wird, ist das newtonsche
Vorgehen nur in einem sehr eingeschr¨
ankten Sinn als empirisch zu bezeichnen. Newton greift zudem auf die Mechanik zur¨
uck, um die Bewegung als
reale in die Mathematik einf¨
uhren zu k¨
onnen.
5.1
Eine Mathematik der Bewegung
Die neuartige Auffassung der Naturphilosophie als einer mathematischen
Wissenschaft findet in Newtons Principia ihren programmatischen Ausdruck.
Deren vollst¨andiger Titel lautet: Philosophiae naturalis principia mathematica – Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches, das als solches freilich erst aus dem Blickwinkel einer
klassischen Hierarchie der Wissenschaften bewusst wird.10 Wie k¨
onnen der
Philosophie Prinzipien vorangestellt werden, die nicht selbst der Philosophie angeh¨oren, sondern der Mathematik? Gew¨
ohnlich sind der Mathematik
philosophische Prinzipien voranzustellen, aber nicht umgekehrt. Nun setzt
sich Newton im Vorwort an den Leser“ das Ziel, [...] die Mathematik zu
”
”
entwickeln, insoweit sie sich auf die Philosophie bezieht.“ (PM, S. 9) Mit
Philosophie ist Naturphilosophie gemeint, der alte Name f¨
ur das, was wir
heute Physik nennen. Wenn Newton also die Mathematik der Physik entwickeln will, so denkt wohl jeder an die Differentialrechnung, die Methode
der Fluxionen,11 die er bereits 1666, weit vor Erscheinen der Principia in
drei unver¨offentlichten Abhandlungen dargelegt hatte (vgl. Westfall (1996),
S. 72f.). Doch wird das Thema der Fluxionen in den Principia nur einmal
kurz erw¨ahnt (PM, 2. Buch, Abschn. II, Lemma II und folgendes Scholium;
S. 144ff.).
10
Zum aristotelischen Denken geh¨
orte die strenge Trennung von Mathematik und Philosophie, wobei letzterer insofern der Vorrang vor der Mathematik einger¨
aumt wurde, als
die in der Mathematik unbewiesen vorausgesetzen Prinzipien f¨
ur die Mathematik von der
Philosophie untersucht bzw. bereitgestellt werden. Die Philosophie als erste Wissenschaft
muss sich ihrer Prinzipien selbst versichern.
11
Newton entwickelt seinen Kalk¨
ul zur Berechnung von Bewegungsabl¨
aufen. Ausgehend
von der Vorstellung physikalischer Gr¨
oßen, die sich in Abh¨
angigkeit von der Zeit ver¨
andern,
den Fluenten, bestimmt Newton deren ,Wachstumsgeschwindigkeiten‘, die Fluxionen, in
Abh¨
angigkeit von der Zeit. Diese entsprechen etwa dem, was heute unter der ersten Ableitung nach der Zeit verstanden wird. Des Weiteren verwendet Newton den Begriff des
,Momentes einer Gr¨
oße‘. Newton erkl¨
arte es als einen ,gerade noch wahrnehmbaren Zu”
wachs einer Gr¨
oße‘ und bezeichnet es mit ,o‘.“ (vgl. Wußling (1977), S. 52)
76
Indem Newton einerseits im Mathematischen die Grundlage einer Wissenschaft erkennt, andererseits auf das f¨
ur die Wissenschaft von der Bewegung so wesentliche Ph¨anomen der Bewegung nicht verzichten kann, stellt
sich f¨
ur ihn die Aufgabe, eine Mathematik der Bewegung zu entwickeln.
Cassirer (1943), S. 381, erinnert daran, dass Platon im siebten Buch der
Politeia“ (526 e-527 a) das Verg¨
angliche und sich Wandelnde von dem
”
ewig unwandelbaren Wissen der Geometrie ausgeschlossen hat. Von diesem Standpunkt aus besehen, ist es ein Widerspruch, die Bewegung der
Geometrie (Mathematik) als einen Untersuchungsgegenstand einzugliedern:
To introduce into pure mathematics the category of change would be to
”
undermine its truth and certainty. But this was precisely the step taken
by Newton.“ (Cassirer (1943), S. 381) Wie Cassirer bemerkt, ist es gerade
die Aufgabe, die Bewegung der Mathematik als Gegenstand unterzuordnen,
die Newton zu einer Umkehrung der ,gesamten Hierarchie der Wissenschaften‘ zwingt (vgl. Cassirer (1943), S. 382). Daraus erkl¨
art sich, wie Newton
zu jener ,Eigent¨
umlichkeit‘ gelangt, in der Naturphilosophie mathematische
Prinzipien aufzustellen.
Cassirer erkl¨art, dass Newtons Rede vom Fließen der Gr¨
oßen oder der
Erzeugung der Linie aus der Bewegung des Punktes nicht mehr im Sinne
einer bloßen Metapher gemeint ist (ebd., S. 382). Diese ,Bewegungen‘ sind
Newton genauso real wie diejenige eines physischen K¨
orpers. Um dies zu
rechtfertigen, so Cassier, muss Newton die Geometrie der Mechanik unterordnen. In dieser Absicht vermittelt Newton zun¨
achst die Geometrie mit der
Mechanik, um so die Trennung zwischen Geometrie und Mechanik aufzuheben und damit die Mechanik in den Rang einer beweisenden Wissenschaft
zu erheben. Newton erkl¨art, dass der Grund der bisherigen Trennung nur
auf dem graduellen Unterschied in der jeweiligen Genauigkeit beruhte. F¨
ur
die Ungenauigkeit, die Nicht-Idealit¨
at der vom Handwerk hervorgebrachten Produkte macht er zudem die Mechaniker verantwortlich. Die Mechanik
selbst h¨atte es mit idealen Gegenst¨
anden zu tun. Dabei u
¨bergeht Newton die
Stoffgebundenheit der mechanischen Erzeugnisse, die der Idealit¨
at der Gegenst¨ande der Mechanik zuwiderl¨
auft. G¨
abe es einen perfekten Mechaniker,
so w¨aren die von ihm hervorgebrachten Produkte, so Newton, gerade die
idealen Formen der Geometrie. (Vgl. PM, Vorwort, S. 9) In einem n¨
achsten
Schritt stellt Newton das theoretische Wissen unter das Primat der praktischen Mechanik.
F¨
ur Newton [...] gr¨
undet sich die Geometrie auf die mechanische Praxis
”
[...]“ (PM, S. 9), insofern die Geometrie auf die Bereitstellung ihrer Gegenst¨ande (Linien und Kreise) durch den perfekten Mechaniker angewiesen
ist. Die Geometrie lehre dar¨
uber hinaus nur die Anwendung der bereitge77
stellten Formen (vgl. ebd.). Dabei scheint er zu u
¨bersehen, dass die Formen
der Geometrie keineswegs die stereometrischen Gebilde der Mechanik sind,
wenn sie auch noch so perfekt hergestellt w¨
aren. Newton zeigt damit deutlich, dass er den idealen Gegenstand der Geometrie, die idealisierte Form, f¨
ur
etwas von der Mechanik Bereitzustellendes h¨
alt. Deshalb ist es f¨
ur ihn nicht
mehr eine genuine Leistung der Geometrie, die Formen vom tats¨
achlichen
Gegenstand abzutrennen, um sie durch Idealisierung von der materialen Unvollkommenheit befreit allgemeing¨
ultig untersuchen zu k¨
onnen.
Da Newton nicht die Geometrie als Voraussetzung der Mechanik anerkennt, sondern das Primat der Praxis betont, die der Theorie erst die
Gegenst¨ande liefere, ergibt sich daraus eine Wandlung in der Hierarchie der
Wissenschaften als Verkehrung von Prinzip und Prinzipiertem, von Grund
und Begr¨
undetem. Zudem ist, was vorher ein ideelles Prinzip war, zu einem
materiell gegenst¨andlichen geworden, m. a. W. der Erm¨
oglichungsgrund wird
als Bestandteil aufgefasst, Prinzip und Element werden verwechselt. Indem
Newton nicht akzeptiert, dass der Begriff einer Sache die Erkenntnis dieser
Sache erst erm¨oglicht, muss er das Erscheinende zum Grund machen, aus
dem der Begriff (das Naturgesetz) abgeleitet wird. Allerdings ist Newton
deswegen keineswegs als Sensualist zu bezeichnen. Vielmehr wird sich zeigen, dass die newtonsche Methode der Induktion in ganz besonderer Weise
das Empirische mittels mathematischer Konstruktion umbildet, bevor es als
,Tatsache‘ Eingang in die neue Physik finden kann.
Das in seiner Tragweite in G¨
anze schwerlich auszulotende Vorwort der
Principia“ enth¨alt neben der Rechtfertigung der ,theoretischen Mechanik‘
”
als ,Wissenschaft von der Bewegung‘, die Deduktion des Titels, insofern dieser ,Prinzipien der Naturphilosophie‘ und nicht ,Prinzipien der theoretischen
Mechanik‘ lautet. In einer Skizze zu einer Einteilung der Mechanik in einen
praktischen und einen theoretischen Zweig leitet Newton die neue theoretische Mechanik zum einen vom Inhalt des mechanischen Handwerks her, das
sich mit Bewegungen besch¨
aftige (vgl. PM, S. 10), zum anderen aus dem
theoretischen Anspruch der Geometrie, der im ,genauen behaupten und beweisen‘ bestehe (ebd.). Beide Elemente f¨
uhrt Newton schließlich zusammen,
wodurch der Name der neuen Wissenschaft von der Bewegung gewonnen ist:
In diesem Sinne wird die theoretische Mechanik die Wissenschaft von den
”
Bewegungen sein, die aus bestimmten Kr¨
aften hervorgehen, und von den
Kr¨aften, die zu bestimmten Bewegungen erforderlich sind, und zwar genau
behauptet und bewiesen.“ (PM, S. 10)
Zur Deduktion des Titels der Principia“ gelangt Newton schließlich, in”
dem er die handwerklichen Kr¨
afte von den Kr¨
aften der Natur unterscheidet.
Dies ist nicht unproblematisch, soll doch die Mechanik (Handwerk, Technik)
78
weiterhin zur Erforschung der Natur(kr¨
afte) dienen. Eine strikte Trennung
von Natur und Technik darf deshalb nicht vollzogen werden. Wie Newton
erkl¨art, geht es in seiner Schrift nicht um die Kr¨
afte der ,handwerklichen
K¨
unste‘, sondern um diejenigen der Natur, weshalb er sein Werk als Mathematische Prinzipien der Philosophie (sc. philosophia naturalis ≈ Naturwissenschaft) vorlege und nicht als mathematische Prinzipien der (handwerklichen) Mechanik. (Vgl. PM, Vorwort, S. 9)
Eine eingehende Begr¨
undung, warum es sich bei den Prinzipien der theoretischen Mechanik als der neuen Naturphilosophie um mathematische und
nicht um philosophische Prinzipien handelt, bleibt Newton im Vorwort schuldig.12 – In welchem Sinne die newtonschen Principia mathematisch sind,
zeigt sich in der Aufgabe und Ausf¨
uhrung dessen, was Newton ,experimentelle Philosophie‘ nennt.
5.2
Experimentelle Philosophie: Die newtonsche Methode
der Induktion
Die neue Wissenschaft, die Newton begr¨
undet, heißt experimentelle Philosophie. Was dies bedeutet, kl¨
art eine Passage aus dem Scholium Generale.
In [der experimentellen ...] Philosophie werden Lehrs¨atze aus Na”
turerscheinungen abgeleitet und durch Induktion allgemeing¨
ultig gemacht.“ (PM, Scholium Generale, S. 230)
Damit ist die Aufgabe der experimentellen Philosophie mit dem Titel ,Induktion‘ benannt.
Die newtonsche Methode der Induktion ist mit Cassirer von der Induktion, wie sie etwa von Bacon oder John Stuart Mill vertreten wird, zu unterscheiden (vgl. Cassirer (1943), S. 369). Wie Cassirer ausf¨
uhrt, gelangt
Newton nicht zu seiner Grundlagentheorie, indem er im baconschen Sinne empirische Daten sammelt und vergleicht. Sondern dadurch, dass er die
von seinen Vorg¨angern geleistete Arbeit rezipiert und in einer Art Synthese
auf einen Nenner bringt, wodurch er letztlich zu einer neuen Interpretation meist schon bekannter empirischer Daten gelangt (Cassirer (1943), S.
12
Wenn es zum neuen Wissenschaftsparadigma geh¨
ort, die Philosophie zu mathematisieren, dann bedarf es keiner Begr¨
undung, warum die Prinzipien der Philosophie mathematisch sind. – Neuzeitliche Naturwissenschaft ist sich selbst oberste ,Prinzipienwissenschaft‘.
D. h., was vormals der Philosophie eigent¨
umlich war, n¨
amlich sich selbst der Prinzipien zu
versichern, das leistet (dem Anspruch nach) die Naturwissenschaft selbst. Einen Einwand
wider die Metaphysikfreiheit der Naturwissenschaft formuliert einhundert Jahre nach Erscheinen der newtonschen Principia mathematica“ Kant in seiner Schrift Metaphysische
”
”
Anfangsgr¨
unde der Naturwissenschaft“.
79
371). Die Methode der Induktion, wie sie Newton in den Principia“ an”
gibt, besteht darin, allgemeing¨
ultig von Bewegungserscheinungen auf die sie
verursachenden Kr¨afte zu schließen:
Alle Schwierigkeit der Philosophie besteht wohl darin, daß wir aus
”
den Bewegungserscheinungen die Kr¨afte der Natur erschließen und alsdann von diesen Kr¨aften ausgehend die u
¨brigen Erscheinungen genau
bestimmen.“ (PM, Vorwort, S. 10)
Wie eine kritische Untersuchung der Induktion zeigt, kann diese sich weder aus sich selbst noch aus der Berufung auf die Erscheinungen begr¨
unden.
Es zeigt sich, dass die Induktion wesentlich auf ein Prinzip angewiesen ist,
das weder aus der Erscheinung stammt noch seinen Rechtsgrund darin haben
kann. Die Induktion ist damit unverzichtbar auf Hypothesen angewiesen, die
in den Rang von Axiomen erhoben werden.
Wird gefragt, wie eine solche Induktion m¨
oglich ist, zeigt sich einerseits,
dass, bevor ein Einzelfall u
¨berhaupt als ein Einzelfall eines Allgemeinen in
den Blick kommen kann, bereits dessen Allgemeines bekannt, also vorausgesetzt, sein muss. Ansonsten mangelte es der zur Induktion n¨
otigen Abstraktion an dem Kriterium, das bestimmt, wovon abgesehen werden soll und
wovon nicht. Dies Kriterium kann indes nicht wiederum durch Induktion
gewonnen werden.13 Andererseits hat das Allgemeine nur insofern Realit¨
at
als es auf (s)ein Einzelnes bezogen werden kann. W¨
aren f¨
ur Newton allein die
Erscheinungen der Ausgangspunkt der Erkenntnis, so ließe sich alles daraus
folgern. Mithin muss er bereits vor der Induktion entschieden haben, welche
Erscheinung wie aufgefasst werden soll. Dies nennt B¨
ohme die Konzeptua”
lisierung des Ph¨anomenbereichs“ (B¨
ohme (1977), S. 241). So besehen beruht
die Induktion gerade auf einer Hypothese, ohne die die Einzelf¨
alle gar nicht
als einzelne F¨alle eines gemeinsamen Aspekts gegeben w¨
aren. Einzelf¨
alle
setzen den Aspekt des Gemeinsamen bereits voraus.
5.2.1
Axiome der Induktion
Die von Newton benannte Aufgabe der Induktion – die Ableitung der Kr¨
afte
aus den Bewegungsph¨anomenen und der Bewegungsph¨
anomene aus den
Kr¨aften – erfordert Prinzipien. Diese findet B¨
ohme in den newtonschen Axiomen (Axiomata sive leges motus). Im 2. Axiom ist sowohl die Proportionalit¨at zwischen der einwirkenden Kraft und der Bewegungs¨
anderung erkl¨
art
13
Den Hinweis auf diesen Punkt verdanke ich Jochen Wagner, private Mitteilung; vgl.
¨
im Ubrigen
die Er¨
orterung u
¨ber die Induktion in Kap. 3, S. 52.
80
als auch in welcher Weise die Richtung der Kraft mit der Bewegungs¨
anderung zusammenh¨angt:
Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressae, et
”
fieri secundum lineam rectam qua vis illa imprimitur.“ (PM, Genf 1739,
S. 22)
Die Ver¨anderung der Bewegung ist der angewandten bewegenden
”
Kraft proportional und geschieht l¨angs der Geraden, in der jene Kraft
angewandt wird.“ (¨
ubers. v. B¨ohme, in: De Grav., S. 115)
Dieses Axiom ist der Induktion, dem Schließen von Bewegungsph¨
anomenen auf zugrundliegende Kr¨
afte und umgekehrt, vorauszusetzen; es [...]
”
kann also kein Produkt der Induktion selbst sein, vielmehr wird es selbst
von dieser vorausgesetzt.“ (B¨
ohme (1977), S. 246) Indem jenes Axiom als
Prinzip der Induktion vorausgesetzt ist, kann es nicht durch Induktion aus
der Erfahrung gewonnen worden sein. Es kann mithin kein empirisches Gesetz sein, sondern ist die Bedingung, unter der erst die Bildung empirischer
Gesetze m¨oglich wird.
Das 1. newtonsche Axiom (Tr¨
agheitsprinzip) ist noch grundlegender als
das 2. Axiom, denn es kl¨art die Anwendungsbedingungen des 2. Axioms,
indem es festlegt, was unter dem (Bewegungs-)Zustand eines K¨
orpers zu
verstehen ist und dass Zustands¨
anderungen durch Kr¨
afte erkl¨
art werden
m¨
ussen.
Corpus omne perservare in statu suo quiescendi vel movendi uni”
formiter in directum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum
illum mutare.“ (PM, Genf 1739, S. 20)
Jeder K¨orper verharrt in seinem Zustand, zu ruhen oder sich
”
gleichf¨ormig geradlinig zu bewegen, insoweit er nicht durch angebrachte Kr¨afte gezwungen wird, seinen Zustand zu ver¨andern.“ (¨
ubers. v.
B¨ohme, in: De Grav., S. 115)
Aus dem 1. Axiom, dem Prinzip der Tr¨
agheit, l¨
asst sich entnehmen,
dass Ruhe und geradlinig gleichf¨
ormige Bewegung nicht als Verhaltensweisen
des K¨orpers betrachtet werden, sondern als Zust¨
ande, die keiner Erkl¨
arung
14
bed¨
urfen. D. h. die geradlinig gleichf¨
ormige Ortsbewegung wird als unverursacht betrachtet gleichwie der Zustand der absoluten Ruhe.15 F¨
ur B¨
ohme
14
Indem Newton noch von zwei unterschiedlichen Zust¨
anden, von dem der Ruhe und
dem der geradlinig gleichf¨
ormigen Bewegung handelt, formuliert er das Tr¨
agheitsprinzip
noch nicht als Erhaltungsprinzip, f¨
ur das es gen¨
ugen w¨
urde, die Konstanz des Geschwindigkeitsvektors bei Abwesenheit ¨
außerer Kr¨
afte zu fordern.
15
Newton selbst nimmt zwar noch eine Tr¨
agheitskraft als ,eingepflanzte‘ Kraft an, die jedoch ihre Wirksamkeit nur zeigt, wenn der Bewegungszustand des K¨
orpers ver¨
andert wird
81
ist das 1. Axiom deshalb ein Erkl¨
arungsprinzip: Es legt fest, was erkl¨
art
”
werden muß und was nicht.“ (B¨
ohme (1977), S. 250) Zust¨
ande bed¨
urfen
keiner verursachenden Kraft; Zustands¨
anderungen hingegen werden durch
angebrachte Kr¨afte (PM, Def. IV, S. 38f.) hervorgerufen.
Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die beiden ersten Axiome als Prinzipien der Induktion zugleich den Ph¨
anomenbereich festlegen. Zu diesem
Zweck erfolgt eine mathematische ,Konzeptualisierung der Ph¨
anomene‘.
5.2.2
Mathematisch konzeptualisierte Ph¨
anomene
Bevor von den Bewegungsph¨
anomenen auf Kr¨
afte geschlossen werden kann,
ist es erforderlich zu sehen, was u
ano¨berhaupt als ,wahres‘ Bewegungsph¨
men gelten kann. Bekanntlich unterscheidet Newton die in der Erscheinung
gegebenen Gr¨oßen in:
[...] absolute und relative,
”
wahre und scheinbare,
mathematische und vulg¨
are [...]“
(PM, Scholium zur Def. VIII, S. 43)
Der Unterschied von wahr und scheinbar wird auf diese Weise an die Ph¨
anomene selbst herangetragen, so B¨
ohme, wodurch eine Klasse der Erscheinungen als ,wahre (mathematische) Ph¨
anomene‘ vor den bloß scheinbaren
(lebensweltlichen) ausgezeichnet wird. Die Aufgabe der Auswahl der ,wahren‘ Ph¨anomene, die als Ausgangspunkt der Induktion dienen k¨
onnen, f¨
allt
der Mathematik zu: Was u
anomen ist, legt die mathematische
¨berhaupt Ph¨
”
Wissenschaft fest und zwar dadurch, daß sie, was erscheint, mit Hilfe der
Begriffe des absoluten Raumes, der absoluten Zeit und der absoluten Bewegung bestimmt [...]“ (B¨ohme (1977), S. 252) Nun sind der absolute Raum
und die absolute Zeit empirisch nicht direkt zug¨
anglich, mithin muss wiederum auf das 2. Axiom zur¨
uckgegriffen werden, um die ,wahre‘ von der
bloß scheinbaren Bewegung zu unterscheiden. Eine wahre, nicht bloß scheinbare oder relative, Bewegungs¨
anderung liegt gerade dann vor, wenn dazu
Kr¨afte erforderlich sind. (vgl. PM, Scholium zu Def. VIII, S. 51, dazu B¨
ohme
(1977), S. 252f.) Die ,Konzeptualisierung der Ph¨
anomene‘ erfolgt durch deren Mathematisierung, angeleitet durch das 1. und 2. Axiom der Bewegung.
Tats¨achlich sind die von Newton erw¨
ahnten Ausgangspunkte der Induktion bereits durchaus mathematisch gefasste Bewegungen. B¨
ohme (1977), S.
(PM, Def. III, S. 38). Als wirkliche Ursache der Tr¨
agheitsbewegung kann sie deshalb kaum
in Anschlag gebracht werden. Diesen Umstand einer unverursachten Tr¨
agheitsbewegung
nennt von Weizs¨
acker ein ,kausales Paradox‘ (von Weizs¨
acker (1992), S. 816).
82
253, weist darauf hin, dass Newton im dritten Buch der Principia“ in Regel
”
IV als ,Ph¨anomene‘ die Keplerschen Gesetze und andere Bewegungsgesetze
benennt. Auch Cassirer stellt fest, dass der newtonschen, auf mathematischen Prinzipien beruhenden Naturphilosophie, die Bewegung keineswegs
eine (Sinnes-)Tatsache bleiben konnte, sondern zu einem mathematischen
Begriff umgebildet werden musste: Motion could no longer be regarded as
”
a mere physical fact; it became a basic concept, a category of mathematics.“
(Cassirer (1943), S. 381)
Im Folgenden ist zu untersuchen, welche Bewegungsauffassung dem newtonschen Konzept einer axiomatisierten Mechanik, in der das Mathematische
mit dem Wahren parallelisiert wird, entspricht. Dabei wird sich diese neue
Bewegungsauffassung von der aristotelischen deutlich absetzen lassen. Abschließend wird die Frage nach der Kontinuit¨
at der Bewegung bei Newton
beleuchtet werden.
5.3
Die neue Bewegungsauffassung
Newton erarbeitet seine Bewegungsauffassung in Auseinandersetzung mit
einem gedanklichen Hintergrund, wie er durch Descartes in seinen Princi”
pia Philosophiae“ vorbereitet worden ist.16 Auch f¨
ur Newton ist die einzige
Bewegungsart die Ortsbewegung. Verzichtet Newton in den Principia“ auf
”
eine Definition,17 so gibt er in dem die Principia“ vorbereitenden Manu”
skript De Gravitatione...“ immerhin eine Nominaldefinition: Bewegung ist
”
”
¨
der Wechsel des Ortes18 .“ (De Grav., S. 15) Uber
diese Nominaldefinition
gelangt Newton nicht hinaus; zudem bleibt unklar, was ein Wechsel ist.
Angesichts einer mathematischen, d. h. auf Gr¨
oßen gehenden Wissenschaft
ist mehr wohl nicht erforderlich. Eine Definition der Bewegung gibt es in den
Principia“ nicht. Mit Ausnahme der drei Definitionen, welche die verschie”
denen Kr¨afte benennen, gehen die u
unf Definitionen in den Princi¨brigen f¨
”
pia“ alle auf die Festlegung von Maßen (qualifizierte Quantit¨
aten). So legt
Def. 2 die Quantit¨at der Bewegung als das Produkt aus Geschwindigkeit
und Quantit¨at der Materie (Masse = Dichte × Volumen) fest.
16
Im Vorwort der Ausgabe von De Gravitatione...“ h¨
alt B¨
ohme fest, dass Newton [...]
”
”
seine Naturphilosophie innerhalb und in Fortsetzung eines Diskurses [entwickelt], dessen
wesentliche Positionen durch Descartes gesetzt waren.“ Dies werde gem¨
aß B¨
ohme deutlich,
wenn man Newtons De Gravitatione...“ [...] als Mittelglied zwischen Descartes’ Principia
”
”
Philosophiae und Newtons Principia Mathematica betrachtet [...]“ (De Grav., S. 8).
17
[...] Tempus, Spatium, Locum et Motum, ut omnibus notissima, non definio.“ (PM,
”
Genf 1739, p. 11, Hervorhebung von mir).
18
Gem¨
aß Def. 1 (De Grav., S. 15) ist der Ort, der von dem K¨
orper eingenommene Raum,
vgl. etwa seine Ausdehnung (Volumen).
83
Wie bereits gezeigt, ist es f¨
ur die newtonsche Naturwissenschaft unabdingbar, zwischen den wahren, mathematischen und vulg¨
aren (lebensweltlichen), bloß scheinbaren Bewegungen zu differenzieren. Dieser Unterscheidung geht die notwendige Trennung von Materie und Raum voraus, wodurch
Newton die cartesianische Auffassung der Materie als res extensa u
¨berwindet und zum Konzept des absoluten Raumes gelangt, der unabh¨
angig von
k¨orperlicher Ausdehnung und ohne Bezug auf den Abstand zweier K¨
orper ein
absolutes Ordnungssystem einf¨
uhrt.19 In a
hnlicher
Weise
trennt
Newton
die
¨
absolute Zeit von der physischen Bewegung als auch vom Verstand, der bei
Aristoteles als Seele (yuq’) vorauszusetzen war, welche die Uml¨
aufe z¨
ahlt.
Die wahre Zeit wird Newton zur Bewegung in sich: Die absolute, wirkliche
”
und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichf¨
ormig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem [...]“ (PM, S. 44).
Nachdem auf diese Weise Raum und Zeit vom bewegten K¨
orper abgetrennt
sind, kann eine universale Bewegung, die absolute Bewegung, bezogen auf
die absolute Zeit und den absoluten Raum konstruiert werden.
In der Absicht, eine mathematische Naturwissenschaft zu begr¨
unden,
ist f¨
ur Newton eine Realdefinition der Bewegung wenigstens zun¨
achst entbehrlich. Diese faktische Auslassung erf¨
ahrt indes implizit eine Erf¨
ullung.
Tats¨achlich wird durch die mathematischen Prinzipien, die Axiome, festgelegt, was als Bewegung gilt und was nicht. In diesem Sinne kann das newtonsche Unternehmen als ,Axiomatisierung der Bewegung‘ bezeichnet werden:
Durch axiomatische Ansetzung bestimmt sich implizit das Sein der Bewegung. Dementsprechend ist die newtonsche Bewegungsauffassung im 1. Axiom enthalten: Ruhe und geradlinige gleichf¨
ormige Bewegung werden darin
als Zust¨ande bezeichnet, d.h. als beharrende Eigenschaften des K¨
orpers. Der
¨
Ubergang von einem Ort zu einem anderen, sofern dieser in gerader Linie
und mit konstanter Geschwindigkeit erfolgt, ist als Zustand keine Bewegung im Sinnes des Wortes, da keine Ver¨
anderung in dynamischer Hinsicht
erfolgt. Eine physikalisch relevante Bewegung, bei der sich in dynamischer
Hinsicht etwas ¨andert, liegt erst dann vor, wenn der Zustand des K¨
orpers sich
andert, d. h. wenn durch die Einwirkung von Kr¨
aften der K¨
orper entweder
¨
von seiner geradlinigen Bewegungsbahn abgelenkt wird oder der Betrag der
urspr¨
unglich konstanten Geschwindigkeit ver¨
andert wird. Da die newtonsche
Mechanik auf die Messung der Kr¨
afte abzielt, ist sie an der Bewegung, sofern
diese durch Kr¨afte hervorgerufen wird, interessiert (Dynamik), nicht aber an
19
Wie B¨
ohme zeigt, gelangt Newton in De Gravitatione...“ durch die Trennung von
”
K¨
orper und Raum zum Begriff des absoluten Raumes, der als ,Ausdehnung ohne K¨
orper‘
verstanden werden kann; erst davon ausgehend erh¨
alt er die Bestimmung der Unbeweglichkeit. (Vgl. B¨
ohme (1977), S. 244f.)
84
der Bewegung als solcher (Kinematik). Auf diese Kr¨
afte l¨
asst sich wiederum
aus der geometrischen Bewegungsbahn schließen. Da die Tr¨
agheitsbewegung
bzw. die absolute Ruhe im Rahmen der newtonschen Wissenschaft keiner Erkl¨arung bedarf, f¨allt sie aus der Klasse der zu betrachtenden Bewegungen.
Das auf die Quantifizierung von Kr¨
aften gerichtete Erkenntnisinteresse wird
auf die Untersuchung von Bewegungen mit Richtungs- und/oder Geschwindigkeits¨anderung verlegt. Der wesentliche Grundbegiff der newtonschen Mechanik ist mithin der der Kraft.20
Anhand des 1. Axioms l¨
asst sich zugleich die inhaltliche Differenz zwischen aristotelischer Physik und newtonscher (klassischer) Mechanik aufzeigen (vgl. auch Heidegger (1962), S. 66ff.). Indem das 1. Axiom Geltung
f¨
ur jeden K¨orper beansprucht, liegt darin die Aufhebung des Unterschieds
zwischen himmlischer und irdischer Sph¨
are, zwischen den vier Materien als
¨
Verm¨ogen zu artspezifischer Bewegung und zwischen den Ortern
gem¨
aß der
¨
aristotelischen Orterlehre.
Ruhe und Bewegung werden nunmehr als beharrliche Zust¨ande von K¨orpern aufgefasst. Darin liegt implizit die Aufhebung
der Kontrariet¨at von Ruhe und geradlinig-gleichf¨
ormiger Bewegung, die sich
in der sp¨ateren Formulierung des Tr¨
agheitsprinzips als Erhaltungsprinzip
(~v = const.) durchsetzt. Zwischen dieser und der Ruhe ist nur quantitativ
hinsichtlich der Geschwindigkeit zu unterscheiden. Von den Bewegungsarten
der aristotelischen Physik ist einzig die Ortsbewegung u
¨brig geblieben (vgl.
21
oben S. 66). Diese Reduktion ist fortan bestimmend.
So wenig wie bei Newton das Sein der Bewegung er¨
ortert wird, so wenig wird die Frage nach der M¨
oglichkeit der Bewegung, nach ihrer Denkund Erkennbarkeit thematisiert. Eine explizite Auseinandersetzung mit der
Frage nach Diskontinit¨at und Kontinuit¨
at der Bewegung in aristotelischer
Strenge entspr¨ache dar¨
uber hinaus nicht der Interessenlage Newtons. Die
Frage nach der M¨oglichkeit der Bewegung kann scheinbar suspendiert werden, wenn es nur um die Quantifizierung der Bewegung als Zustand geht.
Ob die Wahrnehmung von Bewegungsabl¨
aufen nur T¨
auschung oder wahres Ph¨anomen ist, entscheidet sich indes daran, inwieweit die Bewegungserscheinung mathematisch ist und unter die Ordnung der Bewegungsgesetze
gebracht werden kann. Indem Raum und Zeit durch Newton ein von der Bewegung unabh¨angiges Dasein erhalten und Ortsbewegung als ein Verh¨
altnis
gedacht wird, das die selbst¨
andigen Sensoria Raum und Zeit eingehen, wird
20
Das Thema dieser Untersuchung ist jedoch die Physik, sofern sie Wissenschaft von der
Bewegung ist, weshalb eine Er¨
orterung des Kraftbegriffs f¨
ur unsere Zwecke entbehrlich ist.
21
Der Frage, ob die Beschr¨
ankung auf die Ortsbewegung eine Folge der Aufnahme atomistischen Denkens oder der Begr¨
undung der neuzeitlichen Physik als Mechanik ist, kann
in dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden.
85
die Kontinuit¨at der Ortsbewegung durch diejenige der letzteren beiden entschieden. Die Frage, ob Raum und Zeit eine (kontinuierliche) Gr¨
oße oder
eine (diskrete) Menge bilden, scheint vorderhand von der Frage nach der
Bewegung, nach den Bedingungen ihrer M¨
oglichkeit, unabh¨
angig zu sein.
Ob Newton deswegen bereits eine atomistische Raum- und Zeitvorstellung
im Sinne von elementaren Raum- und Zeitteilen zugesprochen werden kann,
wie dies Dellian vorschl¨agt (PM, Einl. S. XVIIIf. sowie S. 233, Anm. 37,5 u.
37,6), muss bezweifelt werden. Zwar bleibt Newton die aristotelische Auffassung des Kontinuums verborgen, wie ein Blick in De Gravitatione...“
”
lehrt.22 Nichtsdestoweniger setzt er die Kontinuit¨
at gleichwohl voraus, wenn
er vom stetigen Fluss der Zeit spricht (PM, S. 44), die u
uhrbare
¨berall durchf¨
Teilung des Raumes annimmt (De Grav., S. 39) und seinen Fluxionenkalk¨
ul
aus dem Gedanken einer stetigen Bewegung entwickelt.23
Die von Newton durchgef¨
uhrte mathematische Idealisierung der Erscheinungen steht insofern in Widerspruch zur Wissenschaft der Bewegung, als
dass f¨
ur das Denken der Bewegung das Moment der Kontinuit¨
at unverzichtbar ist, wie dies anhand der aristotelischen Physik-Schrift herausgestellt worden ist (vgl. Kap. 2.3). L¨oste Aristoteles die zenonischen Paradoxien mittels
der Lehre vom Kontinuum, so sollte eine mathematische Erkenntnis der
Bewegung durch die Schaffung eines mathematischen Kontinuums m¨
oglich
werden. Obgleich Newton ebenso wie Leibniz die Infinitesimalrechnung entwickelt hat, wird erst durch Letzteren eine Begr¨
undung der klassischen Mechanik auf dem Gedanken des Infinitesimals m¨
oglich. So sieht Dellian in
Leibniz, und nicht in Newton, den Vorl¨
aufer der analytischen Mechanik, wie
sie von Bernoulli, Euler und d’Alembert auf den Weg gebracht wurde und
mit Lagrange ihren formalen Abschluss erhielt. (PM, Einl., S. XVf. u. S.
XXXII)
Gelingt es Newton durch den R¨
uckgriff auf die Mechanik eine Wissenschaft von den Bewegungszust¨
anden zu begr¨
unden, beginnt Leibniz in gewissem Sinne bei den atomaren Zust¨
anden der Bewegung, den Infinitesimalien
22
Newton spricht einerseits vom Raum, der sich u
¨berall in Teile zerlegen“ lasse und von
”
den Punkten, in denen zusammenh¨
angende Teile [partes continua] von Linien verbunden
”
sind“, andererseits aber auch davon, dass sich ber¨
uhrende [Raum-]Teile [partium contin”
gentium] stets gemeinsame Grenzen haben“ (De Grav., S. 39, Hervorhebung v. mir). Die
aristotelische Unterscheidung zwischen Kontiguum und Kontinuum wird hier verwischt
(vgl. oben S. 34f.).
23
Wie Westfall berichtet, denkt sich Newton ab 1665 die ,unendlich kleinen Elemente‘
als kinetische Gr¨
oßen, wodurch letzlich die Idee der absoluten Zeit Eingang in sein Denken
finde. Die Idee der kontinuierlichen Bewegung, die intuitiv die Diskontinuit¨
at unteilba”
rer Gr¨
oßen aufzuheben scheint, besch¨
aftigte Newton von da an unaufh¨
orlich.“ (Westfall
(1996), S. 71)
86
und versucht aus diesen die Bewegung hervorgehen zu lassen. Zu diesem
Zweck diskutiert Leibniz das Verh¨
altnis von Kontinuit¨
at, wie sie die Physik
erfordert, und Diskontinuit¨at, wie sie die Mathematik bedingt, ausf¨
uhrlich.
6
Leibniz’ Prinzip der Kontinuit¨
at und die Logik
der mathematisierten Bewegung
In der Wertsch¨atzung der Mathematik f¨
ur die Erkenntnis der Natur besteht
Cassirer zufolge zwischen Newton und Leibniz nicht der geringste Unterschied (vgl. Cassirer (1943), S. 380). W¨
ahrend Newton zur Konstitution einer Mathematik der Bewegung die traditionelle Hierarchie der Wissenschaften aufgibt, beh¨alt Leibniz die Ordnung der Wissenschaften bei: In Leibniz
”
we find the classical hierarchic order of scientific knowledge. Geometry and
arithmetics are subordinated to logic [...]“ (Cassirer (1943), S. 382) Deshalb
k¨ame Leibniz mitnichten auf die Idee, die Geometrie auf die Mechanik zu
gr¨
unden, welche ihm eine angewandte Mathematik bleibt.24 Ausgehend von
der klassischen Hierarchie der Wissenschaften kann Leibniz sich nicht mit
einer ,mathematischen Begr¨
undung‘ der neuen Naturphilosophie begn¨
ugen.
F¨
ur ihn bedarf deshalb die neue Wissenschaft einer philosophischen Grundlegung.25 Um dennoch zu einer Mathematik der Bewegung zu gelangen, ohne
die Ordnung der Wissenschaften ver¨
andern zu m¨
ussen, schl¨
agt Leibniz den
Weg einer anderen Umkehrung ein, n¨
amlich derjenigen, das Kontinuierliche
im Diskreten zu erschaffen.
Der Unterschied zwischen Newton und Leibniz ist folglich treffender
damit bezeichnet,26 dass beide von unterschiedlichen Ausgangspunkten zu
einer neuen Wissenschaft der Bewegung zu gelangen versuchen. W¨
ahrend
Newton seine Grundlegung der Physik ausgehend von einem Studium der
24
But even mechanics is simply an ,applied‘ arithmetics and geometry – a study of
”
geometrical and arithmetical relations in concreto.“ (Cassirer (1943), S. 383)
25
Leibniz empfindet den Mangel einer systematischen Grundlage der neuen Physik:
Derzeit aber kommt mir die menschliche Naturerkenntnis wie ein Laden vor, der mit
”
allerlei Waren bestens ausgestattet ist, in dem jedoch Ordnung und Warenverzeichnis
fehlen.“ ( De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et iudicandi“, entstanden
”
zwischen 1679 u. 1685, zitiert nach: PS, Bd. 4, S. 149)
26
Cassirer h¨
alt es f¨
ur unzul¨
assig, Newton dadurch von Leibniz zu unterscheiden, dass
Newton ein empirischer Wissenschaftler und Leibniz ein Metaphysiker sei: To regard
”
Newton as a mere ,empirist‘ would be just as wrong as to regard Leibniz as a mere
,metaphysician‘“. (Cassirer (1934), S. 388) Diese Unterscheidung erweist sich als wenig
geeignet, wie Cassirer hervorhebt, zumal in jener Zeit (Natur-)Wissenschaft, Metaphysik
und Theologie schwerlich voneinander zu trennen waren. Cassirer zufolge sei f¨
ur beide die
Naturphilosophie noch ein Teil der Metaphysik (vgl. ebd.)
87
wissenschaftlichen Fakten und empirischen Gesetze erarbeitet, gelangt Leibniz durch eine logische Untersuchung des Begriffs der Wahrheit zu seinen
Prinzipien und von da aus zur Naturwissenschaft.27 Schließlich gewinnt er
aus dem Geiste der Infinitesimal-Mathematik einem ,wahrhaft‘ mathematischen ,Begriff‘ der Bewegung, dem allerdings die Bewegung auf bezeichnende
Weise verschlossen bleibt, wie die Untersuchung des Dialogs Pacidius Phil”
alethi“ zeigen wird.
Ergibt sich bei Newton der Bewegungsbegriff implizit aus den Axiomen
der Bewegung (Bewegungsgesetze), welche die Bewegungserkenntnis auf eine
Quantifizierung von Kr¨aften und Bewegungen festlegen, so fragt Leibniz
explizit nach dem Wesen der Bewegung. Erst wenn dies gekl¨
art ist, kann
die Frage nach der M¨oglichkeit, die Bewegung mittels einer Bewegungsgr¨
oße
auszumessen, in geeigneter Weise beantwortet werden.
Vor Newton hat bereits Descartes die Bewegung des K¨
orpers als Zustand bestimmt, der dem K¨
orper wie eine Eigenschaft zugeordnet wird (vgl.
Descartes (1644) II. Teil, §25). Damit kann dem K¨
orper zur r¨
aumlichen Lagebeziehung zwar der jeweilige Bewegungszustand angewiesen werden, doch
die Bewegung selbst bleibt der descartesschen Physik verschlossen, da sie
¨
den Ubergang
zwischen den jeweiligen Zust¨
anden des K¨
orpers nicht erfassen kann. Denn hierf¨
ur“, so Cassirer, besitzen Geometrie und geometrische
”
”
Bewegungslehre kein Mittel. Sie verm¨
ogen zwar das S e i n des K¨
orpers in
einem bestimmten Moment zu fixieren, aber die Gesetzlichkeit des zeitlichen U e b e r g a n g s in den Zust¨
anden des K¨
orpers ist ihnen verschlossen.
Hier ist ein neues Prinzip und ein neues mathematisches Grundverfahren
notwendig: das Prinzip der Continuit¨
at und die Methode der Infinitesimalrechnung.“ (Cassirer (1902), S. 55)
Die in der neuzeitlichen Naturwissenschaft vorliegende Vereinigung von
Mathematik und Physik konnte indes keineswegs zwanglos gelingen. Vom
aristotelischen Standpunkt aus betrachtet, stellt sich das Problem der Vereinigung von Mathematik und Bewegungslehre auf folgende Weise dar: Die
Physik als Wissenschaft der Bewegung erfordert die Kl¨
arung der M¨
oglichkeit, Bewegung zu denken. D. h. sie bedarf eines Bewegungsbegriffs. Dieser
bestimmt sich durch die Vereinigung der Momente Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨at. Aristoteles denkt hierf¨
ur das Bewegliche als ein Zusammengesetztes
aus Stoff- und Formprinzip. W¨
ahrend der Stoff das Moment der Kontinuit¨
at
tr¨agt, gew¨ahrleistet die Form als unteilbare, wohlunterschiedene das Moment
27
Whereas Newton started out with the study of certain natural phenomena – with an
”
investigation of optical phenomena and with a theory of the motion of the moon, Leibniz
on the other hand, began with a logical analysis of truth.“ (Cassirer (1943), S. 374)
88
der Diskontinuit¨at. Wenn gem¨
aß Aristoteles die Mathematik die Form vom
Stoff abtrennt, verhindert dies durch die Abspaltung des kontinuierlichen
Moments eine Erkenntnis der Bewegung. So besehen ist es die Aufgabe einer Grundlegung der neuzeitlichen Physik zu zeigen, wie in die diskreten
Formen (Zahlen) selbst das Moment des Kontinuierlichen eingef¨
uhrt werden
kann. F¨
ur Leibniz stellt sich dies Problem in Gestalt der Frage nach dem
Aufbau des Kontinuums aus diskreten Elementen. Tats¨
achlich weiß Leibniz, dass ein Kontinuum weder aus unteilbaren Punkten zusammengesetzt
werden kann, noch kann es elementare Bestandteile des Kontinuums geben,
die selbst ausgedehnt, doch zugleich unteilbar sein sollen. Zur L¨
osung des
Problems sucht Leibniz den Ausweg u
¨ber ein Mittleres, welches ohne Ausdehnung und dennoch teilbar ist. Zwischen Punkt und Atom konzipiert er
das Infinitesimale, das kleiner als jede angebbare Gr¨
oße durch ein Streben
gekennzeichnet ist.
Leibniz’ Denken ist somit wesentlich vom Begriff der Kontinuit¨
at gepr¨agt. Im Bewusstsein des Entzugs der Kontinuit¨
at diskutiert er den philosophischen Begriff der Kontinuit¨
at in einer Ausf¨
uhrlichkeit, wie es kaum
jemand anderes getan hat. Gerade da er die Kontinuit¨
at gegen den ebenfalls akzeptierten Gedanken des Atomismus verteidigt, verspricht die Untersuchung der leibnizschen Philosophie einen Einblick in die Funktion des
Kontinuit¨atsbegriffs, der, wie es scheint, mit Einf¨
uhrung der Quantenphysik
wenigstens eine Einschr¨ankung erf¨
ahrt.
6.1
Das Labyrinth der Kontinuit¨
at
F¨
ur Leibniz bilden die Schwierigkeiten der Zusammensetzung des Kontinuums eines von zwei Labyrinthen28 , in die sich das Denken best¨
andig verirrt. Wie Schmalenbach ausf¨
uhrt, ist es nicht verwunderlich, warum Leibniz
in dieses Labyrinth ger¨at. Da das Kontinuum eine Einheit sei, die wohl
nachtr¨aglich geteilt werden k¨
onne, nicht jedoch aus gegebenen Teilen bestehe, w¨are es unsinnig, nach der Zusammensetzung des Kontinuums zu fragen.
Dies erkenne Leibniz wohl, doch [kann er es ...] nicht anerkennen und muss
”
also trotzdem [...] den Versuch machen, das Kontinuum dennoch als aus Einheiten bestehende Vielheit zu fassen. Er verstrickt sich dadurch, weil solcher
Versuch im Prinzip nur widersinnig sein kann, unaufl¨
oslich in das von ihm
selbst so genannte ,Labyrinth‘ der ,difficultates de compositione continui‘
28
Diese Bezeichnung geht wahrscheinlich auf einen Buchtitel bei Fromondus: Labyrin”
thus sive de compositione continui“, Antwerpen 1631, zur¨
uck. Vgl. dessen Erw¨
ahnung in:
GM, Bd. 7, S. 326. Das andere Labyrinth, das der Frage nach der menschlichen Freiheit,
ist hier nicht zu diskutieren.
89
[...]“ (Schmalenbach (1921), S. 71f.) F¨
ur Schmalenbach bleibt es ein R¨
atsel,
warum Leibniz wider ,bessren‘ Wissens nichts dringender zu kl¨
aren versucht,
als die Zusammensetzung des Kontinuums aus Elementen.
Es soll im Weiteren versucht werden, die Gr¨
unde aufzukl¨
aren, die Leibniz
trotz seines vom Gedanken der Kontinuit¨
at bestimmten Denkens an der Idee
des Atomismus, der Entfaltung des Mannigfaltigen der Welt aus unteilbaren
Teilen, festhalten lassen.
6.1.1
Leibniz’ logisch-mathematischer Atomismus erster Wahrheiten
¨
Aus der Uberzeugung
heraus, dass einzig die mathematische Methode als
Leitfaden der Erkenntnisgewinnung zugleich auch das Kriterum der Wahrheit beinhaltet,29 entwickelt Leibniz einen logisch-ontologischen Atomismus.
Wahrheit gr¨
undet f¨
ur Leibniz in der Beweisbarkeit. Um die Wahrheit
komplexer Aussagen zu demonstrieren, sind diese auf elementare, einfache
Aussagen zur¨
uckzuf¨
uhren. Damit die fortgesetzte Zerlegung sich nicht ins
Unendliche verliert, sind erste Wahrheiten anzunehmen. Diese d¨
urfen in ihrer G¨
ultigkeit nicht wiederum von weiteren Pr¨
amissen abh¨
angen, denn dann
w¨aren sie nicht erste Wahrheiten, aus denen sich alle weiteren Wahrheiten
zusammensetzen bzw. folgern ließen. Aus diesem Grund haben die ersten
Wahrheiten den Charakter der Selbstevidenz. Selbstevident aber sind f¨
ur
Leibniz einzig die analytischen Wahrheiten (wahre Urteile); sie beruhen auf
der Identit¨at von Subjekt und Pr¨
adikat. (vgl. Leibniz: der Vollkommene
”
Begriff der Substanz“ (um 1695), in: Fragm., S. 438 f.)
Die Wahrheit aller anderen (zusammengesetzten) Urteile beruht f¨
ur Leibniz auf der analytischen Wahrheit elementarer Urteile. Auf diesen logischen
Atomismus, d. h. der Annahme elementarer Urteile und deren analytischer
Wahrheit zu verzichten, hieße f¨
ur Leibniz, auf Wissen und Wahrheit u
¨berhaupt zu verzichten. Um der M¨
oglichkeit der Wahrheit unserer Erkenntnis
willen greift Leibniz auf die Denkfigur des Atomismus zur¨
uck. Den physischen Atomismus verwirft er allerdings, der das Kleinste als bereits Ausgedehntes voraussetzt. Das physisch Kleinste muss ausdehnungslos sein; aus
29
Das Vorgehen more geometrico wurde zu einem Losungswort der philosophia reformata. Die Elementa“ des Euklid und das darin angewandte ,axiomatische‘ Vorgehen m¨
ussen
”
einen ungemeinen Eindruck bei den Begr¨
undern der Neuzeit hinterlassen haben, zumal im
16. Jhdt. der Text erstmal wieder zug¨
anglich wurde. Die erste Druckfassung des Textes
erschien 1533 in Basel (Ptassek et. al. (1992), S. 95, Anm. 72). Von der axiomatischen
Methode verspricht man sich die objektive Gewissheit des Wissens, wenn nicht einen Weg
zu Erkenntnis u
¨berhaupt. – Den Hinweis auf diesen Punkt verdanke ich Jochen Wagner,
private Mitteilung.
90
dem Ausdehnungslosen ist wiederum durch Zusammensetzung niemals ein
Ausgedehntes zu generieren, weshalb der physische Atomismus f¨
ur Leibniz scheitert. Auf diese Weise f¨
uhrt die radikale Durchf¨
uhrung des logischmathematischen Denkens zum Atomismus. Innerhalb des mathematischen
Vorgehens werden die vom Seienden abgel¨
osten, an sich diskontinuierlichen
Formen (e¥dh) als begriffliche ,Atome‘ gesetzt.30 Der Atomismus, der sich
dabei einstellt, ist freilich ein ideeller, kein materieller.
Jeder Versuch, Mathematik und Physik zu vereinigen, ger¨
at in die gleichen Schwierigkeiten, auf die auch Leibniz gestoßen ist. Die Mathematik
fordert den Atomismus, w¨ahrend die Physik als Wissenschaft von der Bewegung des Beweglichen die Kontinuit¨
at zur Bedingung hat, dabei aber ohne
das Diskrete nicht auskommt. So besehen stellt sich bei jeder Vereinigung
von Mathematik und Physik das Problem der L¨
osung des antinomischen
Widerstreits von Diskontinuit¨
at und Kontinuit¨
at ein. Die leibnizsche L¨
osung
des Widerstreits schafft die M¨
oglichkeit einer mathematischen Betrachtung
der Bewegung. In Gestalt des Differentialrechnung bleibt sie u
¨ber Relativit¨atstheorie und Quantenphysik hinaus die Grundlage der neuzeitlichen
Physik.
Wenn Leibniz einerseits, um die M¨
oglichkeit von Wahrheit zu sichern,
an einem logischen Atomismus festh¨
alt, bleibt andererseits zu fragen, warum
er nicht u
asst Leibniz
¨berhaupt das Kontinuum verworfen hat. Stattdessen l¨
nichts unversucht, um doch noch ein kontinuierliches Ganzes aus elementaren Einheiten zu erschaffen. Die Kontinuit¨
at ist bei Leibniz wesentlich auf
die Frage nach der Zusammensetzung bezogen, weshalb f¨
ur ihn der Relationsaspekt der Kontinuit¨at (siehe Kapitel 2.2, S. 32) im Sinne eines Zusammenf¨
ugens oder Zusammenwachsens31 als eines aktiven Prinzips bedeutender ist als der (passive) Eigenschaftsaspekt der Teilbarkeit in Teilbares. Im
Folgenden wird Leibniz’ Bestimmung des Kontinuit¨
atsbegriffs zu untersuchen sein, wobei sich der Zusammenhang von Bewegung und Kontinuit¨
at in
anderer, mehr vermittelter Weise ergeben wird, als dies bei Aristoteles der
Fall war.
30
Im Unterschied zum materiell konkreten Tisch, der zerlegt werden kann, ist der Begriff
Tisch, das Tisch-Sein, unteilbar. Etwa in diesem Sinne spricht Aristoteles vom tomon
e~>idoc (Met. 1034 a 8).
31
So interpretiert Kaulbach in seiner Monographie: Der philosophische Begriff der Be”
wegung“ (K¨
oln, Graz 1965) die aristotelische Lehre vom Kontinuum von einem leibnizschen Standpunkt ausgehend. Dabei betont er den Begriff der ,Symphysis‘, des Zusammenwachsens von Teilen, und denkt damit meines Erachtens auf ¨
ahnliche Weise atomistisch
wie Leibniz.
91
6.1.2
Kontinuit¨
at als Prinzip der allgemeinen Seins-Ordnung
Um zu verstehen, wovon man sich bei einer Verabschiedung des Kontinuit¨atsprinzips trennt, muss untersucht werden, welche Schwierigkeiten mit
der Einf¨
uhrung des Begriffs bzw. des Prinzips der Kontinuit¨
at gel¨
ost werden
sollten. Dabei zeigt sich, wie Leibniz in das Prinzip der Kontinuit¨
at einen
erkenntnistheoretischen sowie ontologischen Sinn importiert, wodurch der
Name eines Prinzips der allgemeinen Ordnung erst gerechtfertigt ist.
Wenn das Sein, christlich gedacht als geschaffenes, gewordenes Sein, um
erkannt werden zu k¨onnen, in solcher Weise geschaffen sein muss, dass es dem
menschlichen, dihairetisch-diskursiven Erkennen zug¨
anglich werden kann,
dann ergibt sich aus der Forderung nach Konsistenz (Widerspruchsfreiheit)
unserer Erkenntnisse das Postulat eines ungebrochenen Zusammenhangs in
der Sph¨are des Seins. Die vollst¨
andige Erkennbarkeit des Seins w¨
are gew¨
ahrleistet, wenn dessen Teilung durch den diskursiven Verstand unbeschr¨
ankt
fortgesetzt werden k¨onnte.
Durch diese umfassende Forderung nach Kontinuit¨
at des Seins ergibt
sich f¨
ur Leibniz die Einf¨
uhrung der Kontinuit¨
at in die Formen (e¥dh), die
damit nicht mehr als solche diskret, d. h. streng voneinander geschieden
sind. Weil die dihairetische Teilung des Seinsganzen erst durch den diskursiven Verstand erzeugt wird, entspricht f¨
ur Leibniz die Diskontinuit¨
at der
Formen nicht der sachlichen Realit¨
at. Die Unterschiede in den Arten werden ihm auf diese Weise zu nur scheinbaren Differenzen, so dass er an der
Kontinuit¨at der Arten festhalten kann. In einem Brief an Varignon (2. Februar 1702) gibt Leibniz ein entsprechendes Beispiel. Obgleich die Kurven
(Figuren) verschiedener Kegelschnitte – Parabel, Ellipse und Hyperbel –
so erscheinen, als ob zwischen ihnen eine ungeheure Kluft (une interruption immense) best¨
unde, sind sie tats¨
achlich jedoch so eng verbunden, dass
man zwischen ihnen keine mittlere Art einzuschieben vermag. (PS, Bd. 4,
S. 263, 265) Neben dieser Art der Verkn¨
upfung gleichgeordneter Formen,
erw¨ahnt Leibniz genauso die Verkn¨
upfung in der Hierarchie der Arten. In
Anlehnung an eine scala naturae spricht Leibniz von einer kontinuierlichen
Verbindung der Klassen des Seienden – Mensch, Tier, Pflanze, Fossilien und
leblose K¨orper (vgl. PS, Bd. 4, S. 265). Zwar vermag Leibniz auf diese Weise
die Erkennbarkeit des Seinsganzen zu sichern, allerdings auf die Gefahr hin,
die Unterschiede in der Einerleiheit des reinen Kontinuum zu verlieren.
Die bekannte Formulierung seines Prinzips gibt Leibniz in der Abhandlung u
¨ber das Prinzip der allgemeinen Ordnung, Principium quoddam ge”
nerale“ (1687), wie Leibniz das Prinzip der Kontinuit¨
at in seiner allgemeinen
Formulierung nennt:
92
Wenn sich (bei den gegebenen Gr¨oßen) zwei F¨alle stetig einan”
der n¨ahern, so daß schließlich der eine in den anderen u
¨bergeht, muß
notwendig bei den abgeleiteten bzw. abh¨angigen (gesuchten) Gr¨oßen
dasselbe geschehen.“ (PS, Bd. 4, S. 231)
Wenn Leibniz das Prinzip der Kontinuit¨
at im Sinne der mathematischen
Stetigkeitsdefinition formuliert, wie Cassirer bemerkt,32 so ist es damit nicht
auf den engen Wirkungskreis einer Definition der Stetigkeit einer mathematischen Funktion beschr¨ankt. Insofern f¨
ur Leibniz die Welt im Hinblick auf
ihre vollst¨andige Erkennbarkeit logisch-mathematisch strukturiert ist, tr¨
agt
die Stetigkeitsdefinition metaphysischen Charakter. Das Kontinuit¨
atsprinzip
ist f¨
ur Leibniz jedoch stets auch von methodologischer Bedeutung, wie der
Hinweis auf dessen N¨
utzlichkeit in allen Vernunfterw¨
agungen verr¨
at (GM VI,
S. 129 bzw. PS, Bd. 4, S. 231). Damit wird es in den Rang eines metaphysischen Prinzips erhoben, das schließlich darauf verweist, wie sich Leibniz das
geschaffene Sein, insofern es in seiner optimalen Verfasstheit erkennbar ist,
denkt. Weil das Sein selbst nach Gesetzen der Vernunft gestaltet ist, kann
das Prinzip in allen Wissenschaften Anwendung finden: Es ist von absoluter
”
Notwendigkeit in der Geometrie, bew¨
ahrt sich jedoch auch in der Physik,
da die h¨ochste Weisheit, die der Quell der Dinge ist, wie der vollkommenste
Geometriker handelt [...]“(ebd.)
Leibniz gr¨
undet auf dem Kontinuit¨
atsprinzip die ontologische Einheit
des Seins sowie den umfassenden Anspruch auf die M¨
oglichkeit einer auf
Vollst¨andigkeit angelegten Erkenntnis des Seins. Erst daraus folgt die erkenntnisleitende Funktion des Prinzips im engeren Sinne. In einem Brief an
Varignon (2. Februar 1702) ¨
außert sich Leibniz folgendermaßen:
Nach meiner Ansicht ist kraft metaphysischer Gr¨
unde alles im
”
Universum derart miteinander verbunden, daß die Gegenwart stets mit
der Zukunft schwanger geht und das jeder gegebene Zustand nur durch
den ihm unmittelbar voraufgehenden auf nat¨
urliche Weise erkl¨arbar
ist. Leugnet man dies, dann wird es in der Welt L¨
ucken geben, die
das große Prinzip des zureichenden Grundes umstoßen und uns dazu
zwingen werden, f¨
ur die Erkl¨arung der Ph¨anomene zu Wundern oder
zum bloßen Zufall Zuflucht zu nehmen.“ (PS, Bd. 4, S. 261)
Die universale Verkn¨
upfung, die Leibniz im Zitat benennt, verweist auf einen
Erkenntnisoptimismus, demgem¨
aß die Welt in einem infiniten Forschungsprozess prinzipiell vollst¨andig erkennbar ist. Wie uns die ph¨
anomenale Welt
32
Cassirer schreibt: [...] diese Formel umschreibt, wie man sieht, die gew¨
ohnliche analy”
tische Definition der Stetigkeit einer Funktion, nach der f¨
ur |x0 − x| < : |f (x0 ) − f (x)| < δ
wird.“ (Cassirer (1902), S. 239)
93
erscheint, ob l¨
uckenlos oder sprunghaft, tr¨
agt f¨
ur die Prinzipien ihrer Erkennbarkeit nichts aus. Anders als Kant, der sich gegen¨
uber Aussagen u
¨ber
¨
die wirkliche Welt jeder positiven Außerung zu enthalten versucht, garantiert
bei Leibniz die Struktur der idealen Seinsordnung selbst die M¨
oglichkeit zu
deren Erkenntnis. Was von der vorausgesetzten Unendlichkeit des Erkennbaren als Ganzem in realitas gegenw¨
artig ist, ist nur ein endlicher Ausschnitt.
Dieser entspricht der Schicht des Seins, die gerade mit einer zeitkontingenten Theorie entborgen ist. Da die Prinzipien Ausdruck der vern¨
unftigen
Weltidee als unendliche sind, ist deren Rechtm¨
aßigkeit in der Naturerscheinung niemals selbst aufzuweisen; die Ph¨
anomene zeigen nur einen endlichen
Ausschnitt, der als solcher bereits der Vollkommenheit des Ganzen widersprechen muss. Die noch so umfassende Sammlung von Bl¨
attern wird nicht
bis zur urspr¨
unglichen Einheit vordringen, die die Kontinuit¨
at der Formen
empirisch vor Augen bringen k¨
onnte. Stets wird sich noch ein Blatt finden
lassen, dass sich zwischen noch so ¨
ahnliche einordnen l¨
asst.33 Dies ist die
Aufgabe der Wissenschaft.
Man kann jedoch ganz allgemein sagen, daß die ganze Kontinuit¨at
”
etwas Ideales ist und es nichts in der Natur gibt, das vollkommen
gleichf¨ormige Teile hat; daf¨
ur aber wird das Reale vollkommen durch
das Ideale und Abstrakte beherrscht [...]
[...] denn alles wird durch Vernunft regiert, und es g¨abe sonst weder
Wissenschaft noch Gesetzm¨aßigkeit; das aber w¨are mit dem Wesen des
obersten Prinzips unvereinbar.“ (An Varignon (2. Februar 1702), GM
IV, 91ff., in PS, Bd. 4, S. 257.)
Dass im Bereich sowohl des Ph¨
anomenalen als auch des Realen die empirische Erscheinung nicht mit dem Prinzip aus dem Bereich des Idealen
u
ultigkeit des Prinzips. Vielmehr ist
¨bereinstimmt, widerspricht nicht der G¨
diese Differenz zu erwarten. Obgleich das Besondere mit dem allgemeinen
Gesetz nicht u
allt jenes unter die Ordnung des Allgemei¨bereinstimmt, f¨
nen. Kein empirischer K¨orper beschreibt tats¨
achlich eine Parabel gem¨
aß der
idealen Vorschrift des Fallgesetzes. Trotzdem spricht dies keineswegs gegen
die Rechtm¨aßigkeit des Gesetzes. Hier bereitet sich der Gedanke des Transzendentalen vor, wie ihn Kant sp¨
ater aussprechen wird. Die außerhalb der
Erscheinung liegende, in der Vernunft gr¨
undende Idealit¨
at wird zur Bedingung der M¨oglichkeit des Realen, und zwar in seinem Sein selbst, nicht
33
Ich beziehe mich bei dieser Verdeutlichung der Idee der Kontinuit¨
at auf folgende Anekdote. Es wird erz¨
ahlt, wie bei einem Spaziergang Leibniz’ mit der sp¨
ateren preußischen
K¨
onigin Sophie Charlotte im Park zu Herrenhausen ein H¨
ofling versuchte, zwei identische
Heinbuchenbl¨
atter aufzufinden, um Leibniz’ Prinzip der Identit¨
at des Ununterscheidbaren
zu widerlegen. (vgl. dazu Hecht (1992), S. 113)
94
nur in seinem Erscheinen. Ontologie und Erkenntnistheorie sind bei Leibniz
schwerlich voneinander zu trennen.
W¨ahrend f¨
ur Leibniz das Prinzip in der Geometrie von absoluter Not”
wendigkeit“ ist wie u
¨berhaupt im Koexistierenden, dem Zugleich-Seienden,
wie den Formen, Figuren und dem Raum als Ordnungsrelation des Gleichzeitigen, bew¨ahrt es sich jedoch auch in der Physik“ ( Principium quod”
”
dam generale“ (1687), in: PS, Bd. 4, S. 231). Diese Bew¨
ahrung des Kontinuit¨atsprinzips in der Ordnung des zeitlich Aufeinanderfolgenden wie der
Ordnungsrelation der Zeit und dem Schema der Bewegung, best¨
atigt sich
f¨
ur Leibniz, wenn er mit dessen Hilfe die Ung¨
ultigkeit der Stoßgesetze Descartes’ gegen¨
uber denjenigen Huygens’ darlegt. ( Principium quoddam ge”
nerale“ (1687), in: PS, Bd. 4, S. 235ff.; Brief an Varignon 1702, PS, Bd. 4,
S. 263)
M¨
usste sich die Quantenphysik nicht auf ¨
ahnliche Weise mittels des Kontinuit¨atsprinzips als ung¨
ultig erweisen lassen wie die cartesischen Stoßgesetze? In der Tat w¨are dies der Fall, wenn der Quantenphysik derselbe Bewegungsbegriff zugrunde l¨age wie der klassischen Mechanik. Cassirer vermutet
jedoch eine andere L¨osung; er h¨
alt eine Ersetzung des Kontinuit¨
atsprinzips
durch das Quantenpostulat f¨
ur m¨
oglich, da beiden die gleiche systematische
Funktion zukomme:
Nichts ist vielleicht so sehr dazu geeignet, den scharfen Gegen”
satz zwischen dem klassischen und dem modernen System der physikalischen Grundbegriffe zu beleuchten, als der Umstand, daß Leibniz das Stetigkeitsprinzip genau an derselben Stelle einsetzt, an der
in der Atomphysik das Quantenprinzip steht, und daß er es in genau demselben methodischen Sinne verwendet. Es ist ihm ein heuristischer Grundsatz und ein allgemeines Postulat der Naturerkenntnis.“(Cassirer (1936), S. 310.)
Zwar kann durchaus davon gesprochen werden, dass die Quantisierung
(in Verbindung mit dem Korrespondenzprinzip) als heuristische Regel, ,zur
Auffindung neuer Wahrheiten‘ anleitet, als allgemeines Seins- und Erkenntnisprinzip ist das Quantenpostulat jedoch nicht einsetzbar, da mit diesem
dann vielmehr Grenzen als Zusammenh¨
ange unserer Erkenntnis bezeichnet
w¨aren. Wie im dritten Teil der Untersuchung dargestellt wird, ergibt sich
die Unstetigkeit des Quantenprozesses als Folge des Quantenpostulats. Da in
der klassischen Mechanik alle Bewegungen als stetig angenommen werden,
soll im Folgenden insbesondere gefragt werden, auf welche Weise Leibniz seinen (infinitesimalen) Bewegungsbegriff entwickelt und wie dieser mit dem
Prinzip der Kontinuit¨at zusammenh¨
angt.
95
6.2
Zur Genese des leibnizschen Bewegungsbegriffs
Zur Begr¨
undung der Naturwissenschaft erarbeitet Leibniz zuallererst eine
Bewegungslehre, die er sp¨ater als ,Tor zur Metaphysik‘ bezeichnet (Brief an
de Volder (ohne Datum), GP II, S. 195). Die erste Ausarbeitung der Bewegungslehre hat zwei Teile: die Theoria motus abstracti“ (1671) als phi”
losophische Bewegungslehre und die Theoria motus concreti“ (1671) bzw.
”
Hypothesis physica nova“ als Darstellung der empirischen Bewegungslehre
”
auf Grundlage der Theoria motus abstracti“. W¨
ahrend die Theoria motus
”
”
abstracti“ unabh¨angig von der Erfahrung universelle G¨
ultigkeit beansprucht
und insofern von der Ausdehnung und der Masse des sich Bewegenden absieht, wird diese Grundlage in der Theoria motus concreti“ unter Hinzuzie”
¨
hung einer besonderen Substanzvorstellung (Ather)
u
¨berhaupt erst auf Erfahrung anwendbar. Die Theoria motus abstracti“ ist es indes, die f¨
ur Leib”
niz die Sinneseindr¨
ucke zu wohlbegr¨
undeten Erscheinungen“ werden l¨
asst.
”
(Vgl. Hecht (1991), S. 139ff.) In diesem Sinne schreibt Hartmut Hecht: Die
”
a priori g¨
ultigen, weil geometrisch konstruierbaren philosophischen S¨
atze
der Theoria motus abstracti verb¨
urgen die wissenschaftliche Gewißheit der
Erfahrungsurteile.“ (Hecht (1991), S. 141.)
F¨
unf Jahre nach der Theoria motus abstracti“ entwirft Leibniz 1676 in
”
der Form eines platonischen Dialogs ( Pacidius Philalethi“) einen neuen Be”
wegungsbegriff, denjenigen der Transkreation34 . Die Infinitesimalrechnung
war bereits gewonnen, so dass in diesem Dialog der Versuch gesehen werden kann, unter der Voraussetzung des Infinitesimalkalk¨
uls den Begriff der
Bewegung neu zu formulieren. Leibniz gelingt es, die Antinomie von Kontinuit¨at und Diskontinuit¨at in Dialogform darzustellen. Es ist zu untersuchen,
ob die Antinomie bei Leibniz bestehen bleibt oder ob es ihm gelingt, bis zur
Aufhebung derselben vorzudringen. Als neuer Bewegungsbegriffs kann die
Transkreation letztlich nicht befriedigen, da diese als Ausdruck der Ortsver¨anderung mit grundlegenden Schwierigkeiten behaftet ist. Das im Dialog
Aufgewiesene beh¨alt den Charakter der Vorl¨
aufigkeit. Indes besteht die Bedeutung des Dialogs f¨
ur diese Untersuchung in der darin argumentierten
Beziehung von Kontinuit¨atsbegriff und Bewegungsbegriff. Zun¨
achst soll die
Genese des Bewegungsbegriffs nachgezeichnet werden, um daran anschließend die Kontinuit¨at der Bewegung n¨
aher in den Blick zu nehmen.
34
Mit Transkreation (transcreatio) bezeichnet Leibniz das Vernichten der Substanz in
einem Zustand (Ort) und das Erschaffen derselben im anderen Zustand (Ort). Wie Schepers mitteilt, gr¨
undet diese Vorstellung auf der [...] theologischen Lehre der Erhaltung
”
der Welt durch kontinuierliche Neusch¨
opfung (creatio continua) [...]“ Hist. Wb. Philos.,
Bd. 10, Sp. 1345.
96
6.2.1
Transkreation als Begriff der infinitesimalen Bewegung
Im Dialog l¨asst Leibniz den Pacidius behaupten, das die Phoronomie, die
Lehre von der Bewegung, die Logik der Physik sei: [...] Phoronomiam es”
se Logicam Physicam audacter asseverabo.“ (LSB VI, Bd. 3, S. 533, Z.
2f.) Deshalb geht es Leibniz im Dialog um den Entwurf eines ,physikalischen‘ Bewegungsbegriffs, und zwar dergestalt, dass dieser der Anwendung
des Infinitesimalkalk¨
uls zug¨
anglich ist. Ausgehend von der Frage nach dem
Zustand, in welchem sich das In-Bewegung-Seiende befindet, gelangt Leibniz zur Entwicklung eines neuen Bewegungsbegriffs. Zu Beginn des Dialogs
formuliert der Sch¨
uler, Charinus genannt, den ,gel¨
aufigen‘ Begriff der Bewegung, n¨amlich, [...] daß die Bewegung eine Ver¨
anderung des Ortes [mu”
tationem loci] ist, und daß die Bewegung in dem K¨
orper ist, der den Ort
wechselt.“ (Pac. Phil., S. 111) Nun kann dieser ,Definition‘ zwar zugestanden
werden, dass sie nicht zirkul¨ar ist, befriedigen kann sie deshalb noch nicht, ist
sie doch unvollst¨andig. Die Begriffe Ver¨
anderung, Ort, K¨
orper und
in-sein d¨
urfen keineswegs als bekannt vorausgesetzt werden, wie Pacidius
betont. Was also ist die Ver¨
anderung (mutatio)?
Im folgenden Dialogteil wird gezeigt, dass der letzte Augenblick des Zustandes Leben und der erste Augenblick des Zustandes Tod weder
derselbe sein k¨onnen, noch dass es einen Zustand der Ver¨
anderung zwischen
beiden Zust¨anden geben kann, da diese unmittelbar angrenzend sind. Leibniz
nimmt dazu die aristotelische Unterscheidung von Kontinuum und Kontiguum auf: [...] C o n t i n u a sint quorum extrema unum sunt, C o n t i g u a
”
quorum extrema simul sunt.“ (LSB IV, Bd. 3, S. 537, Z. 16f. Vgl. Phys.
VI 1, 31 a 22f.) Diese Unterscheidung durchzieht den gesamten Dialog und
m¨
undet in die Theorie der Transkreation, nach der insbesondere die Ortsbewegung gefasst wird als ein best¨
andiges Vernichten des K¨
orpers an einem
Ort und ebensolches Wiedererschaffen am n¨
achsten Ort.
Unter der Annahme, dass es einen letzten Augenblick des Lebens und
einen ersten Augenblick des Todes gibt, die beide als unmittelbar angrenzende Zust¨ande betrachtet werden, ergibt sich, dass es einen mittleren Zustand
der Ver¨anderung nicht geben kann. An der Wirklichkeit der Ver¨
anderung
wird jedoch festgehalten:
Pacidius: Aber ver¨andern denn die Dinge sich nicht?
”
Charinus: Wer kann das leugnen?
Pacidius: Die Ver¨anderung ist also irgend etwas.
Charinus: Gewiß.
Pacidius: Sie muß etwas anderes sein als das, was wir als unm¨oglich
bewiesen haben, etwas anderes n¨amlich als ein augenblicklicher Zustand.“ (Pac. Phil., S. 118f.)
97
In einem ersten Anlauf versucht Leibniz’ Pacidius den Begriff der Ver¨
anderung zu gewinnen, indem er den momentanen Zustand der Ver¨
anderung als
aus zwei Zust¨anden bestehend denkt, dem letzten Moment des vorausgehenden Zustandes und dem ersten Moment des n¨
achstfolgenden Zustandes.
Pacidius: Wir wollen nun festhalten, daß die Ver¨anderung die
”
Ber¨
uhrung (contactum) oder die Zusammensetzung (aggregatum) zweier entgegengesetzter Zust¨ande ist, [...] und in keiner Weise ein mittlerer
¨
Zustand oder ein Ubergang
von der M¨oglichkeit (potentia) zur Wirklichkeit (actus) oder von der Privatio zur Forma, wie die Philosophen
gew¨ohnlich die Ver¨anderung und die Bewegung zu definieren pflegen.“
(Pac. Phil., S. 123)
W¨ahrend Leibniz die scholastische Definition der Bewegung, die nur noch
sehr wenig mit der aristotelischen gemein hat, ablehnt, stellt er heraus, dass
die Bewegung aus zwei kontradiktorischen Zust¨
anden bestehen m¨
usse. In¨
dem Leibniz nach dem Ubergang zwischen diesen beiden Zust¨
anden fragt,
zeigt sich die Zeitlichkeit der Bewegung, ohne die der Widerspruch bestehen
bleiben m¨
usste. Die Bewegung hat eine Dauer.
Wenn wir vorhin richtige Grunds¨atze aufgestellt haben, so darf
”
der Satz: Irgendein K¨
orper bewegt sich jetzt nicht wahr sein und darf
nicht zugelassen werden, wenn man n¨amlich unter dem Jetzt einen
¨
Augenblick versteht; denn es gibt keinen Augenblick des Uberganges
oder eines mittleren Zustandes, so daß man sagen kann, daß der K¨orper
in diesem Augenblick sich bewegt oder den Ort ver¨andert; denn in
diesem Augenblick w¨
urde er, wie du gezeigt hast, weder an dem Orte
sein, den er ¨andert, noch w¨
urde er nicht an diesem Orte sein. Im u
¨brigen
w¨are er entweder an keinem Orte oder an zwei Orten, n¨amlich an dem,
den er verl¨aßt, und an dem, den er erreicht.“ (Pac. Phil., S. 130)
W¨ahrend Leibniz den Widerspruch in der Bewegung zu beseitigen versucht,
ist dies f¨
ur Hegel gerade der Ankn¨
upfungspunkt, den dialektischen Bewegungsbegriff zu formulieren (siehe Anhang A.1). Wie sich zeigen wird, ist
Leibniz’ L¨osung jedoch nicht widerspruchsfrei; er verlagert die Schwierigkeiten nur von der Bewegung auf den Augenblick (bzw. den punktuellen Ort).
Der Augenblick ohne Dauer soll aus zwei n¨
achstbenachbarten Augenblicken
bestehen, die ohne zeitlichen Abstand doch nicht zusammenfallen sollen.
Leibniz’ Charinus f¨ahrt fort:
Jene Schwierigkeiten werden vermieden, wenn wir [...] die Bewe”
gung einen Zustand nennen, der zusammengesetzt ist aus dem letzten
Moment des Existierens des K¨orpers an einem bestimmten Orte und
dem ersten Moment des Nicht-mehr-Existierens an demselben Orte
98
oder des Existierens am n¨achstbenachbarten Orte. Die augenblickliche
Bewegung wird n¨amlich nichts anderes sein als ein Zusammengesetztes aus zwei augenblicklichen Existenzen an zwei benachbarten Orten.
Man wird nicht sagen k¨onnen: J e t z t bewegt sich etwas, wenn man
nicht unter dem J e t z t die Summe zweier n¨achstbenachbarter Augenblicke versteht oder die Ber¨
uhrung zweier Zeiten, denen verschiedene
Zust¨ande zukommen.“ (Pac. Phil., S. 130f.)
Leibniz schreitet zur L¨osung der Antinomie mittels des Begriffs des Infinitesimalen. Er ringt sichtlich darum, eine Formulierung des Infinitesimalen
zu geben, ohne in einen logischen Widerspruch zu geraten. Das Infinitesimale geht aus einer bestimmten Gr¨
oße hervor. Aus dem Abstand ∆s wird
das infinitesimale Linienelement ds. Die Teilung des Kontiuums hat nun
aber keine Schranke. Zwar ,strebt‘ das Element ds gegen Null, es nimmt
den Wert Null jedoch nicht an.35 Dass die im Dialog Pacidius Philalethi“
”
gegebene Erkl¨arung des Infinitesimalen indes wenig befriedigend ist, dr¨
uckt
Leibniz’ Pacidius aus:
Ich w¨
urde diese unendlich kleinen Abst¨ande und Zeiten in der
”
Geometrie der Erfindung halber zwar zulassen, wenn sie auch nur etwas
Vorgestelltes (imaginaria) sind. Ich bin aber ungewiß, ob man sie auch
in der Natur zulassen kann. Es scheint n¨amlich, wie ich anderswo zeigen
will, aus ihnen die Existenz unendlich kleiner, beidseitig begrenzter
Geraden zu folgen, was sinnwidrig ist.“ (Pac. Phil., S. 157)
Leibniz sucht im Dialog nach einer Relation zwischen Kontinuit¨
at und Benachbartsein (in Reihenfolge). Er bezeichnet das Gesuchte mit dem Terminus Ber¨
uhrung (contactum); wie bereits erw¨
ahnt, ist damit das Verh¨
altnis
der Kontiguit¨at gemeint. Anders als f¨
ur Aristoteles scheint sich f¨
ur Leibniz
durch Aneinanderreihung von sich Ber¨
uhrendem, Unausgedehntem eine Erstreckung ergeben zu k¨onnen. Vom gedanklichen Horizont des Infinitesimalkalk¨
uls ausgehend unter R¨
uckgriff auf den Begriff der Kontiguit¨
at entwickelt
Leibniz den (vermeintlich) widerspruchsfreien Bewegungsbegriff der Transkreation. Die sprunghafte Bewegung, bei der eine Distanz u
¨berwunden wird,
wird von Leibniz ausgeschlossen, da der K¨
orper im Sprung in allen dazwischenliegenden Orten gleichzeitig w¨
are. Ebenso schließt Leibniz im Dialog
die kontinuierliche Bewegung aus, was letztlich aus der Formulierung der Bewegung als Zusammensetzung anschließender Zust¨
ande folgt (s. u. S. 100).
Damit bleibt ihm nur, die Bewegung ,kontiguierlich‘ zu denken:
35
Der bis heute unverzichtbare Gedanke des Infinitesimalen erh¨
alt strengbesehen erst
im Differential einen Sinn, d. h. im Bezug zweier infinitesimaler Elemente aufeinander,
z. B. ds/dt.
99
Charinus: Wie aber, so frage ich, wird ein K¨orper vom Punk”
te B nach dem Punkte D u
¨bertragen, nachdem wir nun den Augen¨
blick des Ubergangs
oder des mittleren Zustandes aufgehoben haben?
Pacidius: Das, glaube ich, k¨onnen wir nicht
'$
'$
besser erkl¨aren, als wenn wir sagen, daß der
e
e
K¨orper e in B irgendwie ausgel¨oscht und
A
B
D
C
vernichtet, dann aber aufs neue in D er&%
&%
schaffen und wiederhergestellt wird. [...]
Hier gibt es nun in gewisser Weise einen Sprung von der Kugel B in
die andere Kugel D, nicht jedoch einen Sprung, wie wir ihn fr¨
uher abgelehnt haben, weil diese beiden Kugeln keinen Abstand voneinander
haben.“ (Pac. Phil., S. 161)
Der Begriff der Transkreation ist aus mehreren Gr¨
unden problematisch.
Eine Ver¨anderung gem¨aß der Transkreation kann nur als Folge von best¨
andigem Entstehen und Vergehen begriffen werden; und zwar aus Nichts und in
Nichts, was – gleichbedeutend mit einem Werden von etwas Beliebigem in
Beliebiges – der M¨oglichkeit eines Wissens von der Bewegung zuwiderl¨
auft
(vgl. Phys. 188 a 31-34). Das Erfordernis eines Beharrlichen, welches bei aller
Ver¨anderung, also auch der Ortsbewegung notwendig zugrundegelegt werden muss, ist nicht erf¨
ullt. Diesen Mangel muss Gott beheben, der die Dinge
in ihrer Substantialit¨at erh¨
alt, indem er sie best¨
andig vernichtet und wieder neu erschafft. Mindestens eine ungew¨
ohnliche Vorstellung, die zu Gottes Vollkommenheitsattribut nicht recht passen will. Gott wird gleichsam
selbst zur Substanz der Ver¨
anderung, indem er dasselbe vernichtet, was er
im n¨achsten Moment erneut erschafft.
Keinen Grund aber kann man begreifen, warum ein Ding, das in
”
irgendeinem Zustand zu sein aufgeh¨ort hat, in einem anderen zu sein
beginnt [...] außer [es gibt eine] bleibende Substanz, die sowohl das
erste zerst¨ort als auch das Neue hervorbringt [...]“ (Pac. Phil., S. 162)
Der Versuch einer Formulierung des Bewegungsbegriffs im Sinne der Mathematik, ohne zugrundeliegendes Moment, das bei der Bewegung erhalten
bleibt, so dass u
orpers gesprochen wer¨berhaupt erst von Bewegung eines K¨
den kann, muss scheitern. Jedenfalls solange nicht in die Form selbst Kontinuit¨at und Diskontinuit¨at zugleich hineingedacht werden k¨
onnen. Das mathematische Kontinuum der reellen Zahl ist der Versuch, das Diskrete kontinuierlich zu denken. Bis heute bestehen meines Erachtens berechtigterweise
Zweifel daran, ob dies endg¨
ultig gelungen ist (vgl. hierzu auch die Anm. 21,
S. 36 sowie Anm. 25, S. 40). Wenn die Zahl in Bezug auf das Kontinuum ein
Punkt ohne Extension bleibt, ist dadurch ein echter Zusammenhang (=Kontinuum) im aristotelischen Sinne nicht erreichbar: Man vergesse nicht, daß
”
100
im ,Kontinuum‘ der reellen Zahlen in der Tat die einzelnen Elemente genau
so isoliert gegeneinander stehen wie etwa die ganzen Zahlen.“ (Weyl (1918),
S. 69, Anm. 2)
Nachdem die Entstehung des leibnizschen Bewegungsbegriffs in Anlehnung an den Begriff des Infinitesimalen untersucht worden ist, sollen im Folgenden die Argumente f¨
ur und wider die Kontinuit¨
at bzw. Diskontinuit¨
at
der Bewegung genauer beleuchtet werden.
6.2.2
Bewegung zwischen Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨
at
Gewiss entscheidet sich die Frage nach der Kontinuit¨
at der Bewegung nicht
daran, ob eine Bewegung kontinuierlich oder sprunghaft erscheint. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Bewegung eines Beweglichen geht von Prinzipien und Begriffen aus, mit deren Hilfe das zu Begreifende widerspruchsfrei
und konsistent erschlossen werden soll.
Was jedoch in den einfachen und abstrakten Prinzipien selbst wi”
der die Vernunft ist, das ist in den konkreten Ph¨anomenen der Natur nur wider allgemeines Erwarten. Denn bei den zusammengesetzten
¨
K¨orpern kann es geschehen, daß eine geringf¨
ugige Anderung
der Be¨
dingungen eine große Anderung
der Ergebnisse bewirkt; so kann ein
kleiner Funke, der in eine große Pulvermasse f¨allt, ein Feuer verursachen, das eine Stadt vernichten kann [...] Solches ist jedoch weit davon
entfernt, unserem Prinzip zu widersprechen, sondern erh¨alt vielmehr
durch diese generellen Prinzipien seine Erkl¨arung. In den Prinzipien
und einfachen Dingen kann nichts dieser Art zugelassen werden, da
sonst die Natur nicht das Ergebnis der unendlichen Weisheit w¨are.“
( Principium quoddam generale“ (1687), in: GM VI, S. 133 o. PS, Bd.
”
4, S. 243)
W¨ahrend es in den Erscheinungen durchaus sprunghafte Wandlungen
gibt, so kann es diese f¨
ur Leibniz in den Prinzipien, welche die Erscheinungen
erst konstituieren, nicht geben. Das Kontinuit¨
atsprinzip wird jedoch nicht
aus der ,Logik der Bewegung‘ heraus gefordert, sondern folgt aus der im
Interesse einer vollst¨andigen Erkennbarkeit der Welt zu unterstellenden Intelligibilit¨at des Seinsganzen. Hierin scheint der leibnizsche Idealismus dem
Motiv des Empedokles ,Gleiches erkennt Gleiches‘ (vgl. De anima 404 b
13ff.) zu folgen: W¨are das Sein nicht vern¨
unftig, wie k¨
onnte es von einer
Vernunft erkannt werden?
Aus der f¨
ur Leibniz zur Erkenntnis unabdingbaren Forderung nach Kontinuit¨at im Sinne eines l¨
uckenlosen Zusammenhangs des Seins (Allheit des
Seienden), leitet sich ebenso die Stetigkeit allen Naturgeschehens her. Indem
101
er das Prinzip der Kontinuit¨
at in Anwendung auf die Physik, die Wissenschaft der ver¨anderlichen Gr¨
oßen, formuliert, pr¨
agt Leibniz den popul¨
aren
Ausdruck f¨
ur die Stetigkeit des Naturgeschehens.
Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner gr¨oßten
”
und bew¨ahrtesten Grunds¨atze, daß die Natur niemals Spr¨
unge macht.
Das nannte ich das Gesetz der Kontinuit¨
at [...]: es enth¨alt in sich, daß
man stets durch einen mittleren Zustand hindurch vom Kleinen zum
Großen und umgekehrt fortschreitet, sowohl dem Grade wie den Teilen
nach; daß niemals eine Bewegung unmittelbar aus der Ruhe entsteht,
noch in sie zur¨
uckgeht, außer durch eine kleinere Bewegung hindurch,
wie man auch niemals eine Strecke oder L¨ange v¨ollig durchlaufen kann,
ohne zuvor eine kleine Strecke zur¨
uckgelegt zu haben.“ ( Nouveaux
”
essais sur l‘entendement humain“ (1703–1705), ver¨offentlicht 1765; PS,
Bd. 3.1, Vorwort XXIX)
Bevor die Frage gestellt werden kann, wie Leibniz seinen ,gr¨
oßten Grundsatz‘
beweist, und ob er ihn u
aher auseinanderzuset¨berhaupt beweisen kann, ist n¨
zen, in welchem Verh¨altnis der Begriff der Kontinuit¨
at und der des Sprunges
von Leibniz gedacht werden. Der Dialog Pacidius Philalethi“ bietet dazu
”
einen guten Ankn¨
upfungspunkt. Die sprunghafte Bewegung wird dort wie
zuvor in der Theoria motus abstracti“ abgewiesen. Da Leibniz im Dialog an
”
der Kontinuit¨at der Bewegung nicht festh¨
alt, sucht er eine L¨
osung im Mittelbegriff der Kontiguit¨at, den er zwischen Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨
at
ansiedelt.
Unter der Pr¨amisse des ,infinitesimalen‘ Bewegungsbegriffs – die Bewegung ist aus den Existenzen an zwei n¨
achstbenachbarten Augenblicken und
zwei n¨achstbenachbarten Punkten zusammengesetzt – und der Betrachtung
einer ,stetigen‘ Bewegung ergibt sich f¨
ur Leibniz alias Pacidius:
Durch stetige Fortsetzung der Bewegung vervielf¨altigen wir nur
”
dieses Zusammengesetzte. Wenn also der Raum und die Zeit durch die
Fortsetzung dieser Ver¨anderung durchlaufen wird, dann ist der Raum
aus Punkten, die Zeit aus Augenblicken zusammengesetzt.“ (Pac. Phil.,
S. 146)
Raum und Zeit sind f¨
ur Leibniz jedoch keineswegs aus Punkten und Augenblicken zusammengesetzt. In diesem Sinne wird von ihm an der Kontinuit¨
at
36
von Raum und Zeit festgehalten. Deshalb glaubt Leibniz infolge des im Zi36
In der Absicht, die Kontinuit¨
at zu veranschaulichen, pr¨
agt Leibniz das Bild des in
Falten gelegten Gewandes: Man kann daher die Teilung des Stetigen nicht mit der Teilung
”
des Sandes in K¨
orner vergleichen, sondern mit in Falten gelegtem Papier oder Stoff. Wenn
so auch Falten von unendlicher Zahl entstehen, von denen die einen kleiner als die anderen
sind, so ist deshalb doch niemals ein K¨
orper in Punkte oder kleinste Teile aufgel¨
ost.“ (Pac.
Phil., S. 144)
102
tat angegebenen Argumentes, nicht l¨
anger an einer Stetigkeit (Kontinuit¨
at)
der Bewegung im angegebenen Sinne festhalten zu k¨
onnen. Demgegen¨
uber
war ein echter Sprung – so als wenn ich in einem Augenblick nach Rom ge”
langte“ (Pac. Phil., S. 147) – gleichfalls als sinnwidrig abgewiesen worden. So
bleibt Leibniz, da er an seinem Bewegungsbegriff festh¨
alt, nur der Ausweg
u
at. Die kontiguierliche Transkreation
¨ber den Mittelbegriff der Kontiguit¨
aber, das Vernichten und best¨
andige Wiedererschaffen, das alle Bewegungsarten zu Entstehen und Vergehen einebnet, bleibt weiterhin problematisch.
Was Leibniz u
¨bersehen zu haben scheint, ist, dass eine so gedachte, kontiguierliche Bewegung Raum und Zeit ebenfalls zu Kontigua werden l¨
asst.
In abgewandelter Form findet sich der Bewegungsbegriff der Transkreation auch in Leibniz’ Monadologie“ wieder.37 Die best¨
andige Sch¨
opfung
”
und Annihilation entsprechend der Transkreation wird auf den ultimativen
Sch¨opfungsakt Gottes zur¨
uckgef¨
uhrt. [...] Gott allein ist die urspr¨
ungliche
”
Einheit [...] w¨ahrend die Monaden durch [...] kontinuierliches Aufleuch”
”
ten [Fulgurations continuelles] der Gottheit von Augenblick zu Augenblick
[...]“ entstehen (Monadologie, §47). Dass diese ,kontinuierlichen Ausblitzungen‘ mehr sein sollten als eine bloß gleichm¨
aßige Reihenfolge von Diskretem,
muss bezweifelt werden. Als kontinuierlich im aristotelischen Sinn k¨
onnen
sie nicht betrachtet werden.
Zugleich wird die von Leibniz im Dialog ge¨
außerte Auffassung, dass die
Bewegung weder kontinuierlich noch diskontinuierlich (ausgedehnte Spr¨
unge)
sein k¨onne, in der Monadologie auf folgende Weise wieder aufgenommen.
Dasjenige, was ist, ist ein Zusammengesetztes aus einer Vielheit von einfachen Substanzen (Monaden). Damit eine Ver¨
anderung an den Dingen zu bemerken ist, muss die M¨oglichkeit zu verschiedenen Orten bzw. Zust¨
anden der
Dinge gew¨ahrleistet sein. Daraus ergibt sich die Forderung nach qualitativer
Verschiedenheit dessen, woraus die Dinge zusammengesetzt sind, den Monaden. (vgl. Monadologie, §8) Eine Ver¨
anderung gibt es deshalb noch nicht.
Dazu ist ein inneres Prinzip der Ver¨
anderung in den Monaden erforderlich
(vgl. Monadologie, §11). So sind die Monaden sich kontinuierlich ver¨
andernde Wesen (Monadologie, §10) ¨
außerlich verschiedener Qualit¨
at. Dieses Be”
sondere muß eine Vielheit in der Einheit oder im Einfachen einschließen.
Denn indem sich jede nat¨
urliche Ver¨
anderung graduell vollzieht, ¨
andert sich
irgend etwas und etwas bleibt [...] “ (Monadologie, §13, u
¨bers. v. H. Hecht)
Die Dialektik zwischen der Kontinuit¨
at dessen, was sich ¨
andert, und der
37
Kaulbach erkl¨
art im Artikel Bewegung (Hist. Wb. Philos., Bd. 1, Sp. 874) ohne
Angabe einer Belegstelle, dass Leibniz die Theorie der Transkreation ,sp¨
ater aufgegeben‘
habe. Dies ist mir nicht nachvollziehbar. Im Artikel Transkreation (Hist. Wb. Philos.,
Bd. 10, Sp. 1345) schweigt Heinrich Schepers zu diesem Punkt.
103
Diskontinuit¨at dessen, worin es sich ¨
andert, dr¨
uckt Leibniz demnach in der
Dialektik von Einheit und Vielheit aus.
Dem sich Ver¨andernden muss Identit¨
at und Verschiedenheit gleichermaßen zukommen. Da die sich ver¨
andernde einfache Substanz unteilbar ist, wird
die Struktur dialektisch: Die Vielheit der Einheit, d. i. die Diskontinuit¨
at,
und die Einheit der Vielheit, d. i. die Kontinuit¨
at, sind Wechselbegriffe, die
nur je einen Aspekt eines an sich ungeteilten Ganzen betonen.
6.2.3
Zur Begru
atsprinzips
¨ ndungsstruktur des Kontinuit¨
Sollte eine Begr¨
undung der Kontinuit¨
at aus dem Bewegungsbegriff heraus
gef¨
uhrt werden, w¨are dies ausgehend von der in der Monadologie ausgewiesenen Dialektik der Bewegung wohl m¨
oglich. Leibniz f¨
uhrt sie jedoch nicht
durch. In diesem Sinne schreibt Cassirer:
Es ist bemerkenswert, daß Leibniz nirgends versucht hat, einen
”
direkten metapysischen Beweis f¨
ur die Kontinuit¨at der Bewegung zu
geben.“ (Cassirer (1906), II, S. 159)
Dass Leibniz einen solchen Beweis nicht f¨
uhrt, bedarf besonderer Beachtung, da Leibniz die Physik-Schrift des Aristoteles sicher gut gekannt hat.38
Nun ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Begr¨
undung eines allgemeinen
Erkenntnis- und Seinsprinzips rechtm¨
aßig aus einer derivierten Anwendung
erfolgen kann. Dies w¨are der Fall, wenn das Kontinuit¨
atsprinzip als Erkenntnisprinzip aus dessen Anwendung auf die Bewegung als Erfahrungsgegenstand bewiesen werden sollte. Die Aufgabe des Prinzips besteht nicht nur in
der Begr¨
undung der logisch widerspruchsfreien Denkm¨
oglichkeit der Bewegung, sondern in der Sicherung der Erkenntnism¨
oglichkeit der Welt. Weil zu
dieser die Erkenntnis der Bewegung geh¨
ort, deshalb m¨
ussen die Gesetze der
Bewegung dem Prinzip gem¨
aß formuliert sein. Das Prinzip aber kann nicht
aus den Bewegungsgesetzten deduziert werden. Dies best¨
atigt Cassirer:
Die Stetigkeit kann nicht unmittelbar aus dem Wesen“ der Be”
”
wegung, sondern nur aus den Prinzipien der rationalen Ordnung, d. h.
aus den Erfordernissen unserer vern¨
unftigen Einsicht gefolgert werden.“ (Cassirer (1906), II, S. 159f.)
38
Das zeigen insbesondere die Argumente im Dialog Pacidius Philalethi“, die Leibniz,
”
mit oder ohne Hinweis, aus Aristoteles’ Physik entnommen hat, insbesondere aus dem VI.
Buch. Zu denken ist auch an Leibniz’ Bemerkung: An allen acht B¨
uchern der Physikvor”
lesung [des Aristoteles] k¨
onne ohne Behinderung der ’Philosophia Reformata’ festgehalten
werden. (Imo ausim addere totos illos octos libros, salva philosophia reformata ferri posse.)“ (LSB, II, S. 15, Z. 16f., zit. nach Moll (1978) I, S. 108)
104
Die metaphysische Begr¨
undung, soweit sie Leibniz gibt, muss folglich
in einem transzendental-ontologischen Argument gesehen werden. Dadurch,
dass es Leibniz nicht in dieser Weise ausdr¨
uckt, ist er noch nicht Transzendentalphilosoph. Das Prinzip der Ordnung sichert die Bedingungen der
vollst¨andigen Erkennbarkeit der Welt, und damit setzt es eine entsprechende
Seinsstruktur voraus. In einem Brief von Leibniz an de Volder (1699) findet
sich ein in diesem Sinne gef¨
uhrtes R¨
asonnement:
Nun k¨onnen wir allerdings, wenn wir einmal die Kontinuit¨at der
”
Bewegung als vom Sch¨opfer der Dinge gewollt annehmen, selbstverst¨andlich alle Spr¨
unge ausschließen; wie aber k¨onnen wir das beweisen, wenn
nicht durch Erfahrung oder durch vern¨
unftige Gr¨
unde der Ordnung?
Denn da alle Dinge aus Gott durch eine andauernde Erzeugung und,
wie man sagt, durch best¨andige Sch¨opfung entstehen, warum h¨atte
er nicht einen K¨orper sozusagen von einem Ort in einen entfernten
umschaffen und eine L¨
ucke in der Zeit oder im Raum lassen k¨onnen
[...] Daß solches nicht geschieht, lehrt die Erfahrung, aber das gleiche beweist das rationale Ordnungsprinzip, wonach die Dinge, je mehr
wir sie analysieren, desto mehr dem Verstand Gen¨
uge tun, was f¨
ur
Spr¨
unge nicht zutrifft, da uns hier die Analyse schließlich, sozusagen,
zu etwas Letztem, nicht mehr Analysierbaren f¨
uhrt. Das gilt wie ich
¨
glaube nicht nur f¨
ur die Uberg¨
ange von Ort zu Ort, sondern auch f¨
ur
solche von Form zu Form oder von Zustand zu Zustand.“ (Brief an De
Volder: 24.M¨arz/3. April 1699: GP II, S. 168 ff.; PS, Bd. 4, S. 314 ff.)
Aristoteles hatte die Kontinuit¨
at insbesondere als notwendig vorauszusetzende Struktur der Materie ausgewiesen, um unter Zuhilfenahme der Begrifflichkeit von d–namic und ‰n‘rgeia das Denken der Bewegung zu erm¨
oglichen. Dar¨
uber hinaus wurde die Kontinuit¨
at nicht nur des Beweglichen,
sondern gleichermaßen der Bewegungsdimension (neuzeitlich: der Raum),
der Zeit und der Bewegung selbst erwiesen. Leibniz hingegen als Kenner
der aristotelischen und platonischen Philosophie ist in erster Linie bestrebt,
die neue Wissenschaft (vgl. philosophia reformata) zu begr¨
unden. Aus diesem Grund bestimmt sich der Ursprung der Kontinuit¨
at der Bewegung in
anderer Weise. Die Bewegung ist bei Leibniz nicht kontinuierlich, weil sie
schlechthin nicht anders gedacht werden k¨
onne, sondern weil es mit dem
Sein der besten aller m¨oglichen Welten unvereinbar w¨
are, wenn der prinzipiellen Wissbarkeit (Erkenntnis) Schranken gesetzt w¨
aren. Dar¨
uber hinaus
hat Leibniz klar gesehen, dass die Bewegung ohne die Dialektik von Kontinuit¨at und Diskontinuit¨at nicht zureichend gedacht werden kann.
———————————
105
Den zweiten Teil der Untersuchung abschließend soll im Folgenden der
Bewegungsbegriff der ausgebildeten klassischen Mechanik als Darstellung
eines dialektischen Bewegungsbegriffs er¨
ortert werden. Außerdem wird gezeigt, dass die mechanische Bewegungsauffassung insbesondere die Kontinuit¨at der Prozessdimension erfordert. Eben dies ist in der Quantenmechanik nicht mehr gew¨ahrleistet, weshalb die Quantenmechanik, wie im dritten
Teil dargestellt wird, nicht im Sinne der klassischen Mechanik verstanden
werden kann. Des Weiteren ist auf die erkenntnistheoretische Situation der
mathematisierten Physik einzugehen. Es wird gezeigt, inwiefern diese das
Wirkliche als vom erkennenden Subjekt unabh¨
angig und f¨
ur sich bestehend
auffasst.
7
Die Bewegungsauffassung der klassischen Mechanik
Die neuzeitliche Physik konstituiert sich im Zusammenspiel von Mathematik und Physik. Da die Mathematisierung zu einer Abtrennung und Verselbst¨andigung der Form f¨
uhrt, ist es einer auf dem mathematischen Entwurf basierenden Physik nicht l¨
anger m¨
oglich, sich einen Bewegungsbegriff
zugrunde zu legen, der Bezug auf die Substanz als das Subjekt der Bewegung nimmt. Die f¨
ur einen Bewegungsbegriff erforderliche Vermittlung der
Gegens¨atze von Identit¨at und Verschiedenheit, die bei Aristoteles zur Annahme einer dualen Struktur des Beweglichen f¨
uhrte, verlangt in der Neuzeit
eine monistische L¨osung, da die neuzeitliche Suche nach der res simplex, der
einfachen Sache, eine dualistische L¨
osung von vornherein ausschließt. Leibniz versuchte die bei Aristoteles auf Stoff und Form verteilten Gegens¨
atze
von Kontinuit¨at und Diskontinit¨
at in die ,Form‘ allein zu setzen. Um einem
Widerspruch zu entgehen, w¨
ahlte er mindestens zeitweilig den Mittelbegriff
der Kontiguit¨at. Das geforderte Moment der Kontinuit¨
at ist damit jedoch
preisgegeben. Hegel indes scheut sich nicht vor der Konsequenz, die sich
ergibt, wenn die zum Denken der Bewegung erforderlichen Gegens¨
atze von
Kontinuit¨at und Diskontinut¨
at, von Einheit und Verschiedenheit, ohne Dualismus vereinigt werden. So besehen ist es nur eine nat¨
urliche Konsequenz,
wenn Hegel die Dinge selbst als (ontischen) Widerspruch bezeichnet: A l l e
”
D i n g e s i n d a n s i c h s e l b s t w i d e r s p r e c h e n d [...]“ (WdL, 2.
Buch, 1. Abschn., 2. Kap., C, Anm. 3, S. # 286) Sie sind es, insofern sie sich
als unteilbare Einheiten bewegen, da hierzu Gegens¨
atze vereinigt gedacht
werden m¨
ussen.
106
Im folgenden Kapitel wird dargelegt, inwiefern auch f¨
ur die neuzeitliche Physik die Bestimmung einer Wissenschaft von der Bewegung gilt. Die
f¨
ur die neuzeitliche Physik grundlegende mechanische Bewegungsauffassung
wird in ihrer mathematischen Formulierung als aus dem dialektischen Bewegungsbegriff abgeleitet dargestellt. Zugleich zeigt sich eine sowohl gegen¨
uber
Aristoteles als auch gegen¨
uber Leibniz ver¨
anderte Stellung der Kontinuit¨
at
in Bezug auf die Mechanik der Bewegung. Nichtsdestoweniger erweist sich
die Forderung nach der Kontinuit¨
at auch f¨
ur die Ortsbewegung gem¨
aß klassischer Mechanik als unverzichtbar.
7.1
Bewegung als Gegenstand der neuzeitlichen Physik
Durch den mathematischen Zugang sieht sich die neuzeitliche Physik mit der
Bewegung selbst konfrontiert, ohne dass sie die Bewegung als Bestimmung
einer Substanz begreifen k¨
onnte. Damit wird ihr die Bewegung selbst zum
ersten Gegenstand der Untersuchung. In diesem Sinne stellt Wahsner fest,
dass die neuzeitliche Physik die Bewegung zwar nicht in ihrer Totalit¨
at zum
Gegenstand habe,
[...] aber doch in dem Sinne, daß nicht bewegte Gegenst¨ande und
”
die Beziehungen zwischen bewegten Gegenst¨anden, nicht das Bewegliche das Thema sind, sondern Bewegung als Bewegung, Bewegung
verstanden als Ver¨anderung und als Ver¨anderung von Ver¨anderungen
bestimmter Meßgr¨oßen und deren Beziehungen [...]“ (Wahsner (1996),
S. 54f.)
Zwar ist der Physik durch den messenden Bezug zu den Dingen die Bewegung immer als Bewegung von Etwas gegeben, das sich bewegt, dennoch
kann f¨
ur die Bildung eines Bewegungsbegriffs nicht explizit auf das Bewegte
rekurriert werden. Der messende Bezug auf das Bewegte ist innerhalb einer
mathematischen Physik erst gegeben, nachdem bereits ein Bewegungsbegriff
mathematisch entworfen worden ist.
Dadurch, dass dem bewegten K¨
orper in der neuzeitlichen Physik newtonscher Provenienz kein spezifisches Verm¨
ogen hinsichlich der Bewegung
zukommt, wird bei der Betrachtung der Ortsbewegung vom K¨
orper selbst
abgesehen. F¨
ur die Bewegung ist einzig die Lage und die Bewegungsgr¨
oße
des K¨orpers relevant. Dabei erm¨
oglicht der Begriff des Massenpunktes die
zur mathematischen Betrachtung notwendige Losl¨
osung der Bewegung vom
bewegten K¨orper. Auf diese Weise wird die mathematisch-physikalische Welt
zu einem raumzeitlichen Koordinatensystem, in welchem den Massenpunkten der Platz angewiesen wird. Alle Vorg¨
ange m¨
ussen hier, wenn sie u
¨ber”
haupt als Naturvorg¨ange in die Vorstellung kommen sollen, im voraus als
107
raum-zeitliche Bewegungsgr¨
oßen bestimmt sein.“ (Heidegger (1938), S. 79)
Darin dr¨
uckt sich die in der Gr¨
undung der neuzeitlichen Physik beschlossene Reduktion des physikalischen Wissens aus, dessen Interesse sich fortan
nur noch auf die Quantifizierung von Bewegungen richtet, welche auf das
Schema der Ortsbewegung zur¨
uckgef¨
uhrt werden k¨
onnen.
Die neue Physik beginnt nicht nur thematisch, sondern auch methodisch
mit theoretischer Mechanik. Insofern die neuzeitliche Physik auf der newtonschen Grundlegung basiert, kann innerhalb dieses Rahmens keine andere Bewegungsart als die Ortsbewegung in den Blick kommen. Gegen diese
Auffassung k¨onnte der Hinweis geltend gemacht werden, dass die klassische Physik, zu der neben der klassischen Mechanik ebenso die klassische
Thermodynamik wie die klassische Elektrodynamik geh¨
ort, sich nicht nur
auf die Betrachtung von Ortsbewegungen reduzieren lasse. So ¨
andere doch
gar nichts Materielles seinen Ort, wenn die lokale Ver¨
anderung einer Feldgr¨oße wie der elektrischen Feldst¨
arke in Abh¨
angigkeit von der Zeit registriert werde. – Demgegen¨
uber ist darauf zu verweisen, dass die klassische
Physik schlechterdings alle Ver¨
anderung von Gr¨
oßen, die sie in den Blick
nimmt, nur analog einer Ortsbewegung erfassen kann. Eine kategoriale Differenzierung zwischen Bewegungsarten, wie dies etwa Aristoteles vornimmt,
erfolgt in der neuzeitlichen Physik nicht. Dies mag zudem aus dem R¨
uckgriff auf das Erkl¨arungsmuster des Atomismus deutlich werden. Wird zur
Erkl¨arung aller Ver¨anderungen nur die Lagever¨
anderung kleinster Bestandteile herangezogen, impliziert dies eine Reduktion auf die Ortsbewegung als
einziger Bewegungsart. Entsprechend wird die Ortsbewegung zum Schema
aller zu beschreibenden Ver¨
anderungen. Die Ver¨
anderung der Ortsgr¨
oße in
¨
Abh¨angigkeit von der Anderung
der Zeit, der fließenden Zeit als des Absolutums (vgl. PM, Anm. I zum Scholium der Def. VIII, S. 44), ist das Urbild
aller Ver¨anderung einer Gr¨
oße in Abh¨
angigkeit einer anderen als gegeben
betrachteten Gr¨oße.
In der Vorrede zur Abhandlung u
¨ber Dynamik“ bestimmt d’Alembert
”
den Gegenstand der Mechanik: Die Bewegung und ihre allgemeinen Eigen”
schaften sind das erste und wesentliche Objekt der Mechanik; diese Wissenschaft setzt die Existenz von Bewegung voraus, und auch wir wollen sie
von allen Physikern zugestanden und anerkannt annehmen.“ (d’ Alembert
(1743), S. 7) Die Mechanik untersucht also die bereits vorausgesetzte Bewegung, ihr obliegt weder die Frage nach dem Wesen der Bewegung noch
nach deren Ursprung. Folglich muss in der Mechanik ein Bewegungsbegriff
vorausgesetzt werden, der sich f¨
ur eine mathematische Physik als geeignet
erweist.
108
7.2
Die mathematische Formulierung eines philosophischen
Bewegungsbegriffs
Der physikalische Bewegungsbegriff der klassischen Mechanik erw¨
achst aus
der mathematischen Formulierung eines philosophischen Begriffs der Bewegung. Selbstverst¨andlich muss der vorausgesetzte philosophische Bewegungsbegriff selbst als zureichend erkannt sein, d. h. er muss die gegens¨
atzlichen
Momente so zueinander in Beziehung setzen, dass sich dabei die Bewegung
nicht als das Undenkbare ergibt.
Wie d’Alembert ausf¨
uhrt, sind die Meinungen der Philosophen u
¨ber die
Natur der Bewegung geteilt. Er selbst stellt sich die Ortsbewegung als suc”
cessive[s] Auftreten des Bewegten in den verschiedenen Teilen des unbe¨
stimmten Raumes“ (d’ Alembert (1743), S. 7) vor bzw. als den Ubergang
”
des Bewegten von einem Orte zu einem anderen“ (d’ Alembert (1743), S.
8). Eine solche der zenonischen ganz ¨
ahnlichen Auffassung von Bewegung,
so h¨aufig sie auch anzutreffen ist, erweist sich als unzureichend, da sie statt
Bewegung zu erkl¨aren, sie zu denken unm¨
oglich macht. Der Kontinuit¨
at der
Bewegung als einer notwendigen Voraussetzung, um die Bewegung als einen
¨
Ubergang
verstehen zu k¨onnen, wird nicht Ausdruck verliehen. Es mangelt
¨
am Moment des Zugrundeliegenden, welches den Ubergang
vermittelt.
Wenn Russell im Anschluss an zenonische Motive die Bewegung im Sinne eines jetzt hier – dann dort begreift, so ist das zwar ein mathematischer ‘Bewegungs’-Begriff, der seine Motivation aus mengentheoretischen
Erw¨agungen bezieht, f¨
ur die Begr¨
undung der Physik als Lehre von der Bewegung ist dies jedoch unzureichend.39 Eine solche Abschaffung der Bewegung
mag f¨
ur die reine Mathematik ganz folgerichtig sein, die Physik indes, die
die Bewegung zu ihrem Gegenstand hat, darf sich zu einer solchen mathematischen Ausblendung der Bewegung nicht verleiten lassen. Tats¨
achlich
gr¨
undet die mathematische Formulierung der Bewegung (Differentialkalk¨
ul)
zudem keineswegs auf den angedeuteten Bewegungsbegriffen d’Alemberts
und Russells.
Die Bewegung eines Beweglichen dadurch zu definieren, dass es jetzt
hier bzw. jetzt hier – dann dort sei, ist doppelt ungen¨
ugend. Zum einen,
weil die Angabe von zwei fixierten Bestimmungen, n¨
amlich Anfangs- und
39
So ¨
außert Russell in Affirmation der zenonischen Aporien, that we live in an unchan”
ging world, and that the arrow, at every moment of his flight, is truly at rest.“ (Russell
(1903), §327, vgl. auch die §§446f. u. §334.) Indem Russell die Kontinuit¨
at von Raum und
Zeit verwirft, muss er feststellen: Geometry, Kinematics, and Dynamics become false;
”
but there is no very good reason to think them true.“ (Russell (1903), §334). Russells
Bem¨
uhungen scheinen damit weit vor bzw. außerhalb der aristotelischen Aufgabe der Begr¨
undung eines Wissens vom Ver¨
anderlichen zu liegen.
109
Endpunkt der Bewegung, nicht sagt, was Bewegung ist. Denn diese bezeich¨
net wesentlich den Ubergang
zwischen den Bestimmungen. Zum anderen ist
die Angabe von Punkten gegen¨
uber der Bestimmung der Bewegung eines
Bewegten u
¨berhaupt indifferent: Ruhen bzw. bewegen kann sich etwas nur
im Hinblick auf eine zeitliche Ersteckung. Dies stellt bereits Aristoteles heraus (siehe den Beweis in Phys 234 a 24–b 9, sowie ebd. die Passage 239 a
23–b 4) und auch Kant weist daraufhin, wenn er erkl¨
art, dass Ruhe nicht
als Mangel der Bewegung verstanden werden k¨
onne, wie dieser sich z. B. im
Umkehrpunkt eines senkrechten Wurfes nach oben einstelle, sondern als [...]
”
die beharrliche Gegenwart an demselben Orte [...]“ (MAdN, A 13). Die Frage, ob ein bewegter K¨orper, der in jedem Punkt der Bewegungsbahn einen
Augenblick ist, nun in diesem Zeitpunkt ruhe oder sich bewege, beantwortet
Kant eindeutig damit, dass der K¨
orper sich dort bewege, [...] denn er ist in
”
diesem Punkte nur so fern, als er sich bewegt, gegenw¨
artig.“ (MAdN, A 10)
Kant meint damit nicht, dass der K¨
orper sich in einem Punkt – sowohl Zeitals auch Raumpunkt – seiner Bahn von Ort zu Ort bewegt, noch sich auch
nur dort in dieser Weise bewegen k¨
onnte. Ruhe oder Bewegung kann es nur
u
¨ber eine Zeitdauer hinweg geben. Von einem Sein des Bewegten im Punkt
der Bahn zu sprechen, setzt bereits eine vorliegende Bewegung voraus, deren
Woher und Wohin erst die Bewegungsbahn bestimmt. Im Punkt der Bewegungsbahn ,ist‘ der K¨orper nur als In-Bewegung-Seiender. Bei Kant zeigt
sich im Detail ein gegen¨
uber Aristoteles ver¨
anderter Standpunkt. W¨
ahrend
Aristoteles f¨
ur den Zeitpunkt und den definiten Ort die Aussage der NichtBewegung trifft (mª kine~isjai m©n ˆlhj©c ‰n t~
w
| n~un ka­ e~
>inai kat ti, 239 b
2f.), versucht Kant eine positive Bestimmung u
¨ber Ruhe und Bewegungen
im Zeit- und Raumpunkt zu geben.
Die Physik bleibt bereits in ihrer kinematischen Bewegungsauffassung
weder bei der bloßen Angabe von Zeit- und Raumpunkten stehen, noch bei
der Auffassung, dass die Ortsbewegung eine Folge von assoziierten Zeitund Raumpunkten w¨are. Im Sinne der neuzeitlichen Physik ist die Bewegung solange unbestimmt, wie nicht eine Bewegungsgr¨
oße angegeben wird.
Die Bewegungsgr¨oße der Kinematik ist die Geschwindigkeit. Diejenige der
Dynamik ist der Impuls, der zur Angabe der Geschwindigkeit die Angabe
der Masse des bewegten K¨orpers hinzunimmt. Bei der geradlinig gleichf¨
ormigen Bewegung (einer Ortsbewegung konstanten Geschwindigkeitsvektors) ist
die Angabe der Geschwindigkeit zun¨
achst unproblematisch, hat doch diese
Bewegung u
¨berall die gleiche Geschwindigkeit, welche sich aus dem Quotienten der gesamten Wegstecke ∆x und der entsprechenden Zeitdauer ∆t
ergibt. Im Allgemeinen ist die Geschwindigkeit jedoch nicht konstant, woraus sich die Forderung nach Angabe einer Momentangeschwindigkeit v zu
110
einem Zeitpunkt ergibt. Eine Geschwindigkeit kann indes nur im R¨
uckgriff
auf zwei verschiedene Zeitpunkte definiert werden, weshalb die Angabe einer
momentanen Geschwindigkeit – einer Geschwindigkeit zu einem Zeitpunkt
– problematisch ist; sie existiert nur als Grenzwert. Die Differentialrechnung
erm¨oglicht es, von der Angabe einer jeweiligen Durchschnittsgeschwindigkeit
v¯ zur Bestimmung einer Momentangeschwindigkeit v u
¨berzugehen. Einem
in der Vorstellung bewegten Punkt wird neben dem jeweiligen Hier und
Jetzt eine Bewegungsbestimmung, n¨
amlich die Momentangeschwindigkeit,
zugeordnet, wodurch die ,formallogisch widerspruchsfreie Formulierung des
Bewegungsbegriffs‘ im Sinne einer mathematischen Physik gelingt (von Borzeszkowski/Wahsner (1989), S. 9-17).
Die zu einer mathematischen Erfassung der Bewegung und der daraus
folgenden Quantifizierung der Bewegung erforderliche Definition eines Bewegungszustandes ruft das erl¨
auterte Problem hervor: Der Zustand bezieht
sich auf einen Zeitpunkt; Bewegung indes kann nur im Bezug auf eine zeit¨
liche Erstreckung zwischen zwei Zeitpunkten gedacht werden. Ahnlich
Kant
trifft auch Hegel u
orper die Aussage, dass
¨ber den in Bewegung seienden K¨
dieser in jedem Punkt seiner Bewegungsbahn als bewegt angesehen werden
muss. Allein er geht u
¨ber die bloße Konstatierung dieses Faktums hinaus
und bestimmt genauer, was es heißt, dass der K¨
orper in Bewegung ist:
[...] die Bewegung ist nur so zu fassen, daß Raum und Zeit in sich
”
continuirlich ist, und der sich bewegende K¨orper in d e m s e l b e n Orte
zugleich ist und n i c h t, d. i. zugleich in e i n e m A n d e r n ist, und
ebenso derselbe Zeitpunkt zugleich ist und nicht, d. i. ein A n d e r e r,
zugleich ist.“ (Enc. §298)
Hegels Formulierung der Bewegung eines Bewegten als ,an einem Ort sein
und zugleich nicht sein‘ nimmt das Problem der Formulierung eines Bewegungszustandes auf und versch¨
arft es zudem. Der einer eingehenderen
Untersuchung bed¨
urftige Bewegungsbegriff Hegels wird im Anhang A.1, S.
170ff., besprochen.
F¨
ur die klassische Mechanik stellt sich das Problem der Erfassung des
Bewegungszustandes bei der Definition der Momentangeschwindigkeit bzw.
bei derjenigen des Impulses. Insofern Hegel die Bewegung als einen Bewegungszustand des K¨orpers erkl¨
art, ist dessen Bewegungsbegriff pr¨
adestiniert,
die mathematische Betrachtung der Bewegung als ,L¨
osung‘ dieses Widerspruchs zu erl¨autern.
111
7.3
Vom dialektischen Bewegungsbegriff zum mathematischen
Schema der Ortsbewegung
Den hegelschen Bewegungsbegriff zum Ausgangspunkt nehmend zeigen von
Borzeszkowski und Wahsner, wie der ,Widerspruch der Bewegung‘ mit Hilfe der Infinitesimalrechnung ,formallogisch widerspruchsfrei‘ wiedergegeben
werden kann. Dies gelinge dadurch, dass der Widerspruch auf zwei unabh¨angige Gr¨oßen verteilt werde:
[...] die Physik beschreibt den Bewegungszustand eines K¨orpers
”
zum Zeitpunkt t durch die Angabe zweier Gr¨oßen, der Ortskoordinate
x und der Geschwindigkeit v. Die Formulierung ,...ist und ist nicht...‘
bezieht sich also auf zwei verschiedene Gr¨oßen, wobei die Geschwindigkeit (zum Zeitpunkt t am Orte x) tats¨achlich einen Bezug auf Orte
ungleich x impliziert.“ (von Borzeszkowski/Wahsner (1989), S. 9)
Die Autoren erkl¨aren, dass der formallogische Widerspruch gerade dadurch
vermieden werde, dass die dem K¨
orper zum Zeitpunkt t zugleich zugeordneten Gr¨oßen verschieden und insbesondere algebraisch unabh¨
angig seien.40
Ausgangspunkt f¨
ur die kinematische Darstellung der Bewegung ist die Ortsfunktion x = f (t) als die mathematische Darstellung der Bahnkurve eines
K¨orpers in Abh¨angigkeit des Parameters Zeit t. Die Durchschnittsgeschwindigkeit v¯ ist definiert als die in einer bestimmten zeitlichen Dauer ∆t zur¨
uckgelegte Wegstrecke ∆x:
∆x
v¯ =
∆t
Mit Hilfe der Ortsfunktion x = f (t) l¨
asst sich die Durchschnittsgeschwindigkeit v¯ folgendermaßen ausdr¨
ucken:
v¯ =
∆x
x − x0
f (t) − f (t0 )
f (t0 + ∆t) − f (t0 )
=
=
=
∆t
t − t0
t − t0
∆t
Von der Durchschnittsgeschwindigkeit v¯ zur Momentangeschwindigkeit v des
K¨orpers zu einem Zeitpunkt t gelangt man durch die Grenzwertbildung:
v = lim =
∆t→0
f (t0 + ∆t) − f (t0 )
∆t
40
Dies ist in der Quantenmechanik nicht mehr gew¨
ahrleistet. Die Ortskoordinate x und
die Impulskoordinate p, in die die Geschwindigkeit eingeht (p = mv), sind mittels der
Relation ∆x∆p ≥ ¯
h/2 (Unsch¨
arferelation) algebraisch verkn¨
upft. Damit verbietet sich in
der Quantenmechanik die oben skizzierte L¨
osung des Widerspruchs durch eine dualistische
Zuordnung von Orts- und Bewegungsgr¨
oße zu einem Zeitpunkt.
112
Der Grenz¨
ubergang erfolgt dadurch, dass ∆t beliebig Null angen¨
ahert wird
bis auf eine verschwindende Differenz (infinitesimale Gr¨
oße). Dabei wird aus
dem
Differenzenquotienten
∆x
∆t
das Differential
dx
gebildet.
dt
Auf die Diskussion von Details, insbesondere der Schwierigkeiten des Grenzu
¨bergangs, wird in dieser Untersuchung verzichtet.
Mit der Differentialrechnung werde, wie die genannten Autoren dies bezeichnen, ein ,physikalischer Dualismus‘ statuiert, der eine kategoriale Aufteilung in Raum-Zeit einerseits und in Geschwindigkeit andererseits vornehme. Auf diese Weise gelinge es, den dialektischen Widerspruch der Bewegung
f¨
ur die Belange der mathematischen Physik formallogisch widerspruchsfrei
zu formulieren.
Ohne in logische Widerspr¨
uche zu geraten, gelingt es mithin, den
”
behaupteten Sachverhalt, daß ein bewegter K¨orper zu ein und demselben Zeitpunkt an einem Ort ist und nicht an ihm ist, in einer Weise
darzustellen, die Berechnung und Messung zul¨aßt. Aber um das zu erreichen, mußten die beiden Momente ,ist an einem Ort‘ und ,ist an
einem anderen Ort‘ auf verschiedene, zwar zusammengeh¨orige, aber
mathematisch voneinander unabh¨angige Gr¨oßen verteilt werden.“ (von
Borzeszkowski/Wahsner (1989), S. 10)
Bis zur Quantenmechanik werden alle erfassten Bewegungen, Ver¨
anderungen und Wandlungen mittels des in der klassischen Mechanik (Kinematik) erarbeiteten Schemas der Ortsbewegung begriffen. Die Infinitesimalrechnung ist damit das universale Werkzeug der neuzeitlichen Physik. In diesem
Sinne schreiben die Autoren:
Nach dem hier dargestellten Prinzip wird in der Physik nicht nur
”
¨
die Ortsbewegung, also die Anderung
des Ortes mit der Zeit, sondern werden auch alle anderen physikalischen Bewegungsformen, z. B.
¨
Anderungen
thermodynamischer Zustandsfunktionen mit der Zeit oder
¨
Anderungen
physikalischer Felder mit dem Ort und der Zeit behandelt.“ (von Borzeszkowski/Wahsner (1989), S. 10)
Insbesondere der Verzicht auf einen kontinuierlichen Verlauf der Bewegung ist es, der die Vorstellung einer Ortsbewegung gem¨
aß klassischer Mechanik in der Quantenmechanik problematisch werden l¨
asst. Im Folgenden
wird deutlich, welche systematisch unverzichtbare Funktion die Kontinuit¨
at
der Bewegungsbahn f¨
ur die Erkenntnis der Bewegung in der klassischen Mechanik erf¨
ullt.
113
7.4
Zum Grund der Kontinuit¨
at der Ortsbewegung
Die neuzeitliche Physik, wenigstens in ihren klassischen Theorien, setzt die
Kontinuit¨at der Bewegung unhinterfragt voraus. Zumeist wird auf die Kontinuit¨at (Stetigkeit) als ein Erfordernis der Anwendbarkeit der Infinitesimalrechnung verwiesen. Demgem¨
aß wird das Postulat der Kontinuit¨
at auf die
Forderung nach der stetigen Differenzierbarkeit der mathematischen Funktion reduziert. Sollten nur derlei ,technische‘ Probleme die Physik auf die
Untersuchung stetiger (kontinuierlicher) Vorg¨
ange restringieren? Warum also nicht Raum und Zeit quantisieren (= in elementare Portionen aufteilen)?
Die Kontinuit¨at der Bewegung, darunter versteht man in der klassischen
Physik die Kontinuit¨at des Verlaufs der Ortsbewegung, ist gebunden an
die Kontinuit¨at von Raum und Zeit. In diesem Sinne setzt die Betrachtung
der Bewegung eines Massenpunktes in der analytischen Mechanik die Kontinuit¨at der Bewegungsbahn (Trajektorie) voraus. Sie fordert die L¨
uckenlosigkeit der Bahn, die sich gleichwohl empirisch nie einholen l¨
asst – jede
,Beobachtung‘, jede Messung liefert nur einzelne diskrete Resultate – aus
einem einfachen Grund. Ausgehend von der Voraussetzung, dass bei einer
Bewegung etwas Bestimmtes zu etwas Bestimmtem wird, deckte Aristoteles
die duale Struktur des Bewegten auf. Neben der durch das Form-Prinzip
gew¨ahrleisteten Verschiedenheit der Zust¨
ande ist zugleich die w¨
ahrend des
Prozesses sich durchhaltende Identit¨
at des Bewegten gefordert. Etwas, das
als es selbst anders wird, vereinigt die Momente der Identit¨
at und Verschiedenheit. Das Denken der Bewegung bedarf der Ausweisung eines Identischen, das sich im Anderswerden, in der Verschiedenheit, durchh¨
alt. W¨
are
kein Identisches gegeben, so w¨
are es nicht gerechtfertigt, zwei verschiedene
Seiende zu verschiedenen Zeiten so zueinander in Beziehung zu setzen, dass
von einer Ver¨anderung eines Seienden gesprochen werden k¨
onnte. Der Begriff der Bewegung erm¨oglicht, ein Bewegtes in seiner Bewegung erkennen
zu k¨onnen.
Dass die erst mit der mathematischen Betrachtung der Ortsbewegung
zu einem Konstitutivum von Bewegung erwachsene Kontinuit¨
at des Bewegungsverlaufs direkt aus dem Begriff der Bewegung folgt, hat in neuerer Zeit
wohl kaum je ein Physiker so klar ausgedr¨
uckt wie Hermann von Helmholtz
(1821–1894):
Wenn ein K¨orper sich durch den Raum bewegen soll, so haben
”
wir dabei den Begriff und verlangen, diesen Begriff festzuhalten, daß
das identisch derselbe K¨orper sei, der nach einander in die verschiedenen Punkte des Weges hinein kommt, und diese Identit¨
at des bewegten
K¨
orpers ist f¨
ur unsere Vorstellung nur faßbar, wenn ein allm¨
ahlicher
114
Uebergang vorhanden ist. Wenn der Uebergang durch eine continuierliche Reihe von Raumpunkten hindurch stattfindet, so ist durch die
Nachbarschaft der Punkte die Voraussetzung schon angebahnt, daß es
derselbe K¨orper sein kann, der nacheinander durch die verschiedenen
Punkte hindurch geht. Dagegen bei einem Punkte, der intermittirend
seine Bahn durchliefe und bald an der einen Stelle, im n¨achsten Augenblick an einer davon entfernten Stelle w¨are, bei einem solchen w¨
urden
wir niemals in unserer Vorstellung anerkennen, daß es derselbe Punkt
ist. Denn wir w¨
urden gar keine Kennzeichen uns auch nur vorstellen
k¨onnen, wodurch der Punkt als identisch gegeben w¨are.“ (Helmholtz
(1903), S. 50, Hervorhebungen von mir)
Dem Zitat nach ist die Kontinuit¨
at der raum-zeitlichen Bewegungsbahn
(Ortsraumtrajektorie) nur ein Vehikel, um die vorauszusetzende Identit¨
at
in der Verschiedenheit des sich Bewegenden gew¨
ahrleisten zu k¨
onnen. F¨
ur
Helmholtz ergibt sich die Forderung nach der Kontinuit¨
at klar aus dem
Begriff der Bewegung selbst. Der in der mathematischen Physik zum Massenpunkt stilisierte (starre) K¨
orper bietet f¨
ur sich keinerlei M¨
oglichkeit der
Individuation. Die Identit¨at des Massenpunktes wird allein dadurch gewahrt,
das seine Existenz zu jeder Zeit kontinuierlich im Raum nachvollzogen werden kann. Ein Massenpunkt w¨
are f¨
ur sich genommen mit jedem anderen
Massenpunkt (gleicher Masse) identisch. Durch die Kontinuit¨
at der Bewegungsbahn, die f¨
ur sich keineswegs aus der Kontinuit¨
at von Raum und Zeit
folgen w¨
urde, wird es erst m¨
oglich, einen der Bewegung zugrundeliegenden
identischen K¨orper zu hypostasieren.
Bei Aristoteles zeigte sich die Kontinuit¨
at der Bewegung anhand der Fra¨
ge nach der M¨oglichkeit des Ubergangs eines Identischen von einem Zustand
A in einen davon verschiedenen Zustand B, der den Zustand A ausschließt.
Der bewegliche K¨orper kann als ganzer entweder nur in Zustand A oder in
Zustand B sein, nicht jedoch in beiden Zust¨
anden zugleich (gleichermaßen
gleichzeitig). Wenn er nun in A ist und in B u
¨bergeht, so ist dies nur denkbar, wenn ein Teil des K¨orpers noch in A ist und ein Teil bereits in B. Die
Grenze zwischen den Zust¨anden A und B u
orper
¨berstreicht gleichsam den K¨
w¨ahrend der Zeit der gesamten Bewegung. In diesem Sinne ergibt sich das
Bewegte als kontinuierlich, d. h. teilbar in Teilbares. Eine aktuale Teilung
des K¨orpers ist, damit er sich bewegen k¨
onne, freilich nicht erforderlich.
Auf der Basis kantischer Erkenntniskritik kann gezeigt werden, dass die
Kontinuit¨at von Raum, Zeit und Bewegung keineswegs aus der Wahrnehmung folgt. Wie Cassirer betont, gr¨
undet die Bewegung als Gegenstand der
Physik nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung von Wandel und Ver¨
anderung. Der Ausdruck physikalische Beschreibung der Bewegung sei deshalb
115
irref¨
uhrend, da er nahelegt, dass von einer an sich gegebenen Tatsache der
Bewegung ausgegangen werden k¨
onne, die in ihrem objektiven So-sein nur
zu beschreiben w¨are. Zum physikalischen Begriff der Bewegung wird jedoch
[...] neben der Verschiedenheit die Einheit, neben der Ver¨
anderung die Iden”
tit¨at gefordert: und die Identit¨
at wird niemals durch die bloße Wahrnehmung
verb¨
urgt, sondern schließt eine eigent¨
umliche Leistung des Denkens in sich.“
(Cassirer (1910), S. 156f.) Diese Leistung des Denkens bei der physikalischen
Erkl¨arung von Bewegung besteht in der Vorwegnahme durch den mathematischen Entwurf. Cassirer verdeutlicht dies am Beispiel der Beobachtung der
Marsbahn:
Die einzelnen O r t e des Mars, die Kepler nach den Beobachtun”
gen Tycho de Brahes zugrunde legt, enthalten f¨
ur sich allein nicht den
Gedanken der Marsbahn: und alle H¨aufung einzelner Lagebestimmungen verm¨ochte zu diesem Gedanken nicht fortzuf¨
uhren, wenn hier nicht
von Anfang an ideelle Voraussetzungen wirksam w¨aren, durch die die
L¨
ucken der tats¨achlichen Wahrnehmung erg¨anzt und ausgef¨
ullt werden. Was die Empfindung darbietet, ist und bleibt eine Mehrheit leuchtender Punkte am Himmel: erst der reine mathematische Begriff der
Ellipse, der zuvor konzipiert sein muß, schafft dieses diskrete Aggregat
zum stetigen System um. Jede Aussage u
¨ber die einheitliche Bahn eines
bewegten K¨orpers schließt die Angabe einer U n e n d l i c h k e i t m¨oglicher Stellen in sich: das Unendliche aber kann offenbar als solches nicht
wahrgenommen werden, sondern entsteht erst in der gedanklichen Synthese und in der Anticipation eines allgemeinen Gesetzes. Erst indem
wir kraft dieses Gesetzes eine Bestimmtheit schaffen, die die A l l h e i t
der konstruktiv erzeugbaren Raum- und Zeitpunkte umfaßt, sofern sie
jedem Moment der stetigen Zeit eine und nur eine Lage des K¨orpers im
Raume zuordnet, ist damit die Bewegung als mathematisches Faktum
gewonnen.“ (Cassirer (1910), S. 157)
Nur die Konstruktion der Bewegungsbahn l¨
asst ein Identisches (den Planeten Mars) in der Verschiedenheit r¨
aumlicher Lagebeziehungen innerhalb
eines zeitlichen Nacheinanders begegnen. Das Bewegte, insofern es physikalisches Subjekt (†poke•menon) der Bewegung ist, muss als Identisches aufgefasst werden, dem hinsichtlich der Bewegung ,absolute‘ Konstanz eignet.
Im Folgenden werden Aspekte der Erkenntnissituation der neuzeitlichen
Naturwissenschaft beleuchtet. Es wird untersucht, wie es zu der Aufassung
kommt, in der Physik werde das K¨
orperliche als materiell Einzelnes zum
Gegenstand der Untersuchung. Die Ansicht, durch Einf¨
uhrung der Quan-
116
tenmechanik habe sich diese Auffassung als irrt¨
umlich herausgestellt, ist
unzutreffend. Stets ist es eine erkenntnistheoretische Reflexion, welche die
Schranken dieser innerhalb der Physik allerdings unverzichtbaren Vorstellung aufzeigt.
7.5
Der naturwissenschaftliche Erfahrungshorizont der Bewegung und der Zugriff auf das Einzelding
Die aristotelische Physik zielt auf die Aufdeckung der Prinzipien, Ursachen und Elemente. Dabei wird von Gegebenem ausgegangen, etwa von den
Auffassungen der Vorg¨anger, von der Struktur und Semantik der griechischen Umgangssprache und von im allt¨
aglichen Umgang vertrauten Ph¨
anomenen. Diese Gegebenheiten werden am Leitfaden des Widerspruchssatzes
hinsichtlich ihres Sachgehaltes gepr¨
uft und bewertet. Mittels dieses logischhermeneutischen Verfahrens werden die Begriffe gewonnen, die ein Wissen
vom Naturseienden erm¨oglichen. Demgegen¨
uber kann die neue Physik durch
den axiomatischen Zugang zum Wirklichen charakterisiert werden. Die newtonschen Bewegungsgesetze liefern ein Kriterium daf¨
ur, was als ,wahres
Ph¨anomen‘ zu gelten habe und was nicht. Gegen¨
uber dem aristotelischen
Zugang, der sich jeweils sachspezifisch nach Ursachen fragend an eine Sache wendet, ist es f¨
ur die mathematische Physik charakteristisch, mit einer
universellen Methode an die verschiedenen Gegenst¨
ande heranzutreten.
Im Folgenden soll dargestellt werden, wodurch in der neuzeitlichen Naturwissenschaft, insbesondere in der klassischen Mechanik, bedingt durch
den Charakter mathematischer Erkenntnisweise regelm¨
aßig der Schein entsteht, das materiell Einzelne werde als ein sinnliches Dieses-Da erkannt.
7.5.1
Zum Verh¨
altnis von Theorie und Wirklichkeit
Die Wirklichkeit41 als der Inbegriff dessen, was mit Gewissheit ist, existiert
f¨
ur uns keineswegs unabh¨angig von der Art und Weise, wie wir von ihr wissen
k¨onnen. Demnach ist die physikalische Wirklichkeit eine theoretisch konstituierte. Als eine Theorie des Wirklichen erschafft die neuzeitliche Physik
das Wirkliche, und zwar nicht praktisch-handwerklich, sondern theoretisch,
in der Gestalt vorausberechenbarer Zusammenh¨
ange. In diesem Sinne ist
41
Der Begriff des Wirklichen bzw. die Wirklichkeit ist hier nicht im Sinne einer
¨
Ubersetzung
des griechischen ‰n‘rgeia zu verstehen. Wie Heidegger (1953), S. 45,
bemerkt, geht der Begriff des Wirklichen seit dem Beginn der Neuzeit im 17. Jhdt. eine
Verbindung mit dem Begriff der Gewissheit ein. Damit wird aus der Bestimmung des
Wirklichen als desjenigen, das wirkt (werkt), die Bezeichnung desjenigen, was tats¨
achlich
ist. In diesem Sinne ist die von der neuen Physik entworfene Wirklichkeit zu verstehen.
117
die ,reale Außenwelt‘, soweit sie u
ur uns ist, die von der
¨berhaupt etwas f¨
Theorie entworfene Wirklichkeit (All des Wirklichen). Dabei muss sich die
Theorie jeweils einer experimentellen Realisierung ihrer Begriffe als zug¨
anglich erweisen. Beliebige Hypothesen bilden deshalb noch keine physikalische
Theorie.
Wenn die Physik etwas u
¨ber die Wirklichkeit (Natur) aussagen soll, dann
¨
ist die Ubereinstimmung
von Theorie mit der Wirklichkeit zu fordern. Dabei
¨
zeigt die erkenntniskritische Uberlegung,
dass die physikalische Erkenntnis
nicht auf eine von uns unabh¨
angige materielle Außenwelt zugreift, die von
der Theorie nur abgebildet w¨
urde, sondern, dass vielmehr die Theorie die
Wirklichkeit erschließt, weshalb diese auch nicht in ihrer partikularen Individualit¨at Gegenstand der Wissenschaft werden kann. Die Gegenst¨
ande
der Physik sind idealisierte Gegenst¨
ande (Begriffe), niemals empirische Gegenst¨ande. Wer das u
ussen im Sinne Cartwrights42 die Ge¨bersieht, dem m¨
setze der Physik l¨
ugen, weil sie mit dem Empirischen niemals exakt u
¨bereinstimmen k¨onnen.
Obgleich etwa von Bohr, Heisenberg und Einstein im Zusammenhang
mit der Interpretation der Quantenmechanik u
¨ber erkenntnistheoretische
Fragestellungen reflektiert wurde, h¨
alt sich auch in der Quantenphysik die
verbreitete Ansicht, man habe es unmittelbar mit einem Tats¨
achlichen, dem
empirischen Faktum als einer materiellen (tastbaren) Instanz zu tun. So
werden Quarks, Protonen oder das Atom h¨
aufig als etwas Handgreifliches
aufgefasst. Ungeachtet aller philosophischen Kritik an der Auffassung, das
theoretisch Erfasste sei ein materieller Gegenstand, scheint diese Auffassung
dem t¨atigen Physiker ,naturgem¨
aß‘ zu sein. Anstatt diese Einstellung auf
die oftbenannte erkenntnistheoretische Naivit¨
at zur¨
uckzuf¨
uhren, kann hierin
vielmehr eine methodische Vorbedingung empirischer Wissenschaft gesehen
werden.
7.5.2
Verobjektivierte Gegenst¨
andlichkeit und Realit¨
at der Außenwelt als Ausgangspunkte der Naturwissenschaft
Erkenntnistheoretische Erw¨
agungen die Subjekt-Objekt-Relation betreffend
sind im Forschungsbetrieb der Physik ein Fremdk¨
orper. Der t¨
atige Physiker
hat es immer schon mit dem ,Gegenstand‘ zu tun. Er ist gen¨
otigt, seinen
Gegenstand als verobjektivierten, als reale Außenwelt zu denken. Eine Unerl¨asslichkeit, auf die bereits Schelling hinweist:
42
Nancy Cartwright: How the laws of physics lie“, Oxford 1983.
”
118
[Die M¨oglichkeit aller Erfahrung beruht] [...] auf der Annahme,
”
daß die Dinge gerade das sind, was wir an ihnen vorstellen, daß wir
also allerdings die Dinge erkennen, wie sie an sich sind [...] (denn was
w¨are die Erfahrung, und wohin w¨
urde sich z. B. die Physik verirren,
ohne jene Voraussetzung der absoluten Identit¨at des Seins und des
Erscheinens? ) [...]“ (Schelling (1800), Abt. I, Bd. 3, S. 347)
Das erkenntnistheoretische Subjekt als solches kann in der Naturwissenschaft Physik nicht Gegenstand der Betrachtung sein, wenn die Physik sich
nicht ins Beliebige verirren soll. Deshalb bildet die Annahme der realen Außenwelt den Ausgangspunkt naturwissenschaftlicher T¨
atigkeit: Der Glaube
”
an eine vom wahrnehmenden Subjekt unabh¨
angige Außenwelt liegt aller Naturwissenschaft zugrunde.“ (Einstein (1927), S. 263) Die vom Subjekt unabh¨angige reale Außenwelt versteht Erwin Schr¨
odinger (1887-1961) nicht
als etwas Vorgegebenes, sondern durch ,Objektivierung‘ Geschaffenes (vgl.
Schr¨odinger (1947), S. 33f.). F¨
ur Schr¨
odinger ist es eine der Grundeinstellungen des naturwissenschaftlichen Denkens, vom erkennenden Subjekt zu
abstrahieren. Dabei ist jedoch zu beachten, dass durch eine Abstraktion vom
Subjekt keineswegs etwa Gegenst¨
ande als reine Objekte begegnen k¨
onnen.
Das Objekt ist ebensowenig etwas f¨
ur sich Bestehendes wie das Subjekt; das
Objekt ist das dem Subjekt Entgegen-Gestellte. Erst der Bezug des Subjekts
auf ein Objekt ergibt eine erkannte Gegenst¨
andlichkeit. Mit eben jener hat
es die Physik bereits zu tun, wenn sie sich auf die ,reale Außenwelt‘ bezieht.
Allein von der subjektiven Tat wird abstrahiert. Eine mathematische
Rechnung liefert das gleiche Ergebnis unabh¨
angig von demjenigen, der rechnet. Vorausgesetzt er wendet die Rechenregeln ,ordnungsgem¨
aß‘ an. Im Sinne
dieses Beispiels gelangt die mathematisierte Physik zu einer (scheinbaren)
Subjektfreiheit, ohne die ein denkender Zugriff auf das Wirkliche als ein
Eingriff gedacht werden m¨
usste, durch den eine ,objektive‘ Wissenschaft
undenkbar w¨
urde.
7.5.3
Die mathematische Erkenntnisweise und die physikalische
Wirklichkeit des Ortsbewegten
Der Erfahrungshorizont der Physik ergibt sich aus dem je veranschlagten Bewegungsbegriff. Dar¨
uber hinaus kann vermutet werden, dass die Bewegungsauffassung der klassischen Mechanik eine Wirklichkeitsauffassung evoziert,
die es nahelegt anzunehmen, dass ein materiell vorhandenes, individuelles
Einzelding direkt in seinem raum-zeitlichen Verhalten erkannt w¨
urde. Direkt
scheint es insofern erkannt zu werden, als dass der unverzichtbare Beitrag des
Empirischen zur Erkenntnis den Anschein erweckt, als beschr¨
anke sich alle
119
Erfahrung auf das rein empirische Moment. Die Empirie wird auf diese Weise von der notwendigen zur hinreichenden Ursache der Gegenst¨
andlichkeit
selbst erhoben: das Empirische wird als unmittelbar (d. h. ohne Vermittlung
durch Begriffe) als in seinem So-Sein unbedingte Tatsache betrachtet, ohne
zu bemerken, dass die Tatsache nicht der Ausgangspunkt, sondern ein Ergebnis der wissenschaftlichen Bem¨
uhung ist. Wie aber entsteht der Irrtum,
man habe es direkt mit der Erkenntnis des materiell Einzelnen zu tun?
Eine Erkenntnis aus Begriffen kann nicht das Einzelne als ein Einzelnes
erkennen. Sie erkennt das Einzelne als einer Klasse angeh¨
orig. Der Begriff
Tisch l¨
asst mich den vor mir stehenden Tisch als zu den Tischen geh¨
orig
erkennen. Alles begrifflich Gefasste geh¨
ort bereits der Sph¨
are des Allgemeinen an. Im Unterschied zu einer Erkenntnis aus Begriffen und deren Zergliederung, welche Kant die philosophische Erkenntnis nennt, erkl¨
art selbiger die
mathematische Erkenntnis als Erkenntnis durch die Konstruktion von Begriffen in der reinen Anschauung (Raum und Zeit) (vgl. KrV, A 24). Einen
”
Begriff aber k o n s t r u i e r e n heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a
priori darstellen.“ (KrV, B 741) Der Begriff Dreieck wird in der Anschauung als repraesentatio singularis – Vorstellung eines Einzelnen – dargestellt.
In der Anschauung lege ich eine zur Basis des von mir vorgestellten Dreiecks
parallele Gerade durch den der Basis gegeben¨
uberliegenden Eckpunkt. Unter Verwendung des Satzes, dass Stufenwinkel jeweils einander gleich sind,
zeigt sich, dass die Summe der Innenwinkel des ebenen Dreiecks gleich zweier
rechter Winkel ist. Dieses Beispiel gibt Kant f¨
ur die geometrische Erkenntnis durch Konstruktion von Begriffen. (KrV, B 741f.) Obgleich in der reinen
Anschauung zu einer Zeit nur ein Dreieck dargestellt werden kann, ist eine
solche Erkenntnis allgemeing¨
ultig, da die Prinzipien der Konstruktion allgemeing¨
ultig sind (KrV, B 742, 744). Die in der reinen Anschauung erfolgte
repraesentatio singularis stellt ein Einzelnes ohne Beschr¨
ankung der Allgemeinheit dar, da in der reinen Anschauung keinerlei Beschr¨
ankung auf ein
Besonderes vorliegt.43 Der Unterschied zwischen philosophischer und mathematischer Erkenntnis liegt f¨
ur Kant deshalb nicht in einem je verschiedenen
Gegenstandsbereich, sondern darin, dass die Form der Betrachtung eine je
andere ist: Die philosophische Erkenntnis betrachtet also das Besondere nur
”
im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar
im Einzelnen [...]“ (KrV, B 742) Analog dazu ergibt sich aus der mathematischen Konstruktion der Bewegung, aus der Darstellung der Ortsbewegung
im Raum-Zeit-Koordinatensystem, ein individuierter Bewegungsverlauf. Es
43
Außer durch die besondere Form der Anschauung selbst, wenn diese z. B. auf die
euklidische Geometrie festgelegt wird.
120
ist dies die Darstellung einer besonderen Bewegung eines einzelnen durch
die Kontinuit¨at des Bewegungsverlaufs individualisierten und auf den Massen(mittel)punkt reduzierten K¨
orpers. Durch die von Kant gegebenen Charakteristik der mathematischen Erkenntnis wird plausibel, weshalb in der
klassischen Mechanik der Schein entsteht, es handle sich um die Erkenntnis
eines materiellen Einzeldings.
———————————
Mit diesem Kapitel ist die Betrachtung der neuzeitlich klassischen Physik
abgeschlossen. Nunmehr ist der Versuch zu unternehmen, die Quantenmechanik am Leitfaden der Frage nach der Kontinuit¨
at hinsichtlich ihres Bewegungsbegriffs zu untersuchen. Es wird sich zeigen, dass Bewegung gem¨
aß
dem Schema der klassischen Mechanik in der Quantenmechanik nicht mehr
zug¨anglich werden kann. In der Quantenmechanik kommt es zwar zur Aufnahme der mathematischen Bewegungsauffassung der Mechanik, diese wird
jedoch auf eine Weise umgebildet, die die M¨
oglichkeit, eine kontinuierliche Ortsbewegung eines individuierten Bewegten in ihrem Verlauf zu erfas¨
sen, ausschließt. Dar¨
uber hinaus wird durch die Uberwindung
dieses Reduktionismus erstmalig eine andere Bewegungsart in der neuzeitlichen Physik
zug¨anglich: substantieller Wandel im Horizont von Entstehen und Vergehen.44
44
In einem anderen als dem aristotelischen Sinn ist der allgemeine Begriff des Werdens
(becoming) durch Prigogine (1979) in der modernen Physik popul¨
ar geworden. Er bezeichnet damit die Einf¨
uhrung der Irreversibilit¨
at der Zeit (Zeitrichtung) in die Physik.
Damit entdeckt er am Prozess eine ausgezeichnete Richtung. Die von Prigogine gew¨
ahlte
Terminologie, alle umkehrbaren Prozesse mit ,Sein‘ in Beziehung zu setzen und die unumkehrbaren (irreversiblen) mit ,Werden‘ in Verbindung zu bringen (Prigogine (1979), S.
38), ist meines Erachtens unbefriedigend. Zwar erw¨
ahnt er die aristotelische Unterscheidung zwischen Bewegung (k•nhsic) und metabol’, worunter er ,Entstehung und Verfall‘
versteht (Prigogine (1979), S. 257), doch besteht deren Unterscheidungskriterium nicht in
der Reversibilit¨
at jener und der Irreversibilit¨
at dieser. Bei Aristoteles k¨
onnte der Unterschied zwischen irreversiblen und reversiblen Prozessen eher an dem Unterschied zwischen
nat¨
urlichen Prozessen und solchen, die nat¨
urlich und widernat¨
urlich verlaufen k¨
onnen,
fest gemacht werden. Letzteres trifft von den drei Arten der k•nhsic einzig auf die for
zu. (vgl. oben S. 66) (Ich glaube nicht, dass sich Prigogine auf Phys. IV, bes. 221 b 1f.
bezieht, wo Aristoteles an die Zeit als ,Ursache‘ des Verfalls erinnert – vgl. den moderen
Begriff der Entropie.) Der von Prigogine hervorgehobene Aspekt der Prozessrichtung
spielt f¨
ur die vorgelegte Untersuchung der Quantenphysik keine Rolle.
121
Teil III
Die Quantenmechanik als
Aufhebung der klassischen
Mechanik
Vom Standpunkt der klassischen Physik aus besehen ist die Quantenmechanik eine Physik ohne Bewegung und damit ohne Gegenstand. Indes ist sie
keineswegs gegenstandslos. – Geh¨
ort die Quantenmechanik in das Unternehmen der neuzeitlichen Physik? In welchem Sinne kann sie eine physikalische
Theorie sein, wenn Physik dadurch definiert ist, dass sie die Wissenschaft
von der Bewegung ist?
Der folgende Teil der Untersuchung widmet sich dem Problem der Bestimmung der charakteristischen Differenz zwischen klassischer Physik und
Quantenphysik bei gleichzeitiger Betonung der Einheit der neuzeitlichen
Physik. Von zentraler Bedeutung erweist sich die Frage nach dem Bewegungsbegriff. Dieser wird auf der Grundlage der aristotelischen Begriffe untersucht.1 Verschiedene M¨oglichkeiten des Prozesses werden in Augenschein
genommen. Als unverzichtbar erweist sich dabei die Diskussion um den Status der Wellenfunktion innerhalb der quantenmechanischen Erkenntnis. Aus
dieser Er¨orterung heraus wird die Darstellung eines quantenmechanischen
Bewegungsbegriffs vorbereitet, wobei der zugrundegelegte Prozess im Lichte
aristotelischer Begriffe verstanden und ausgelegt wird. Abschließend werden
Konsequenzen aufgezeigt, die sich aus dem Bewegungsbegriff der Quantenmechanik ergeben.
1
Wenngleich in diesem Sinne eine aristotelische Deutung der Quantenmechanik vertreten wird, so heißt dies nicht, dass die Quantenmechanik aristotelische Physik ist. Deshalb
ist es meines Erachtens zu weitgehend, wenn Randall behauptet: Heute haben die Be”
griffe der aristotelischen Physik, jene Vorstellungen, die in seiner Analyse von Prozessen
verwendet werden, die Newtonschen Begriffe aus unserer Theorie vertrieben.“ (Randall
(1960), S. 236) Mit Randall sei jedoch festgehalten, [...] daß die Vorstellungen der ari”
stotelischen Physik der heutigen physikalischen Theorie weit n¨
aher stehen als die des 19.
Jahrhunderts.“ (ebd.)
122
8
Zum Problem der Verh¨
altnisbestimmung zwischen Quantenmechanik und klassischer Physik
W¨ahrend sich die Relativit¨
atstheorie eng an die klassische Physik anschließt,2
scheint es sich bei der Quantenphysik3 gegen¨
uber der klassischen Physik,
um eine v¨ollig neue Physik zu handeln. Die Relativit¨
atstheorie dringt zu
einer neuen Auffassung von Raum und Zeit vor, beh¨
alt dabei jedoch den
Bewegungsbegriff der klassischen Mechanik, die kontinuierliche Ortsbewegung, bei. Anders die Quantenphysik, sie gelangt zu einem gegen¨
uber der
klassischen Physik ver¨anderten Bewegungsbegriff. Indem die Quantenmechanik den Ausgangspunkt der gesamten Quantenphysik bildet, kann sich
die Untersuchung des Bewegungsbegriffs im Wesentlichen auf die Erstere
konzentrieren, ohne Letztere als Ganze aus den Augen zu verlieren. Bevor die
Untersuchung des Bewegungsbegriffs der Quantenmechanik beginnen kann,
sind bisher veranschlagte Kriterien der Verh¨
altnisbestimmung von Quantenphysik und klassischer Physik auf deren Tragf¨
ahigkeit hin zu pr¨
ufen.
8.1
Wodurch unterscheidet sich die Quantenphysik von der
bisherigen Physik?
¨
F¨
ur Heisenberg beginnt mit der Quantentheorie eine ganz neue Ara
der
Naturforschung:
[...] die Ver¨anderungen der Wirklichkeitsvorstellung, die die Grund”
lage zum Verst¨andnis der heutigen Quantentheorie bilden, k¨onnen nicht
einfach eine Fortsetzung der vergangenen Entwicklung genannt werden. Hier scheint es sich um einen wirklichen Bruch in der Struktur
der Naturwissenschaft zu handeln.“ (Heisenberg (1959), S. 15)
2
In diesem Sinne a
atstheorie lassen
¨ußert sich Max Planck: [Die Aussagen der Relativit¨
”
...] sich vortrefflich der klassischen Physik einf¨
ugen [...] Ja, wenn nicht Bedenken historischer Art im Wege st¨
anden, w¨
urde ich f¨
ur meinen Teil keinen Augenblick z¨
ogern, die
Relativit¨
atstheorie noch mit zur klassischen Physik zu rechnen. Denn sie hat dieser Physik erst gewissermaßen die Krone aufgesetzt, indem sie mit der Verschmelzung von Raum
und Zeit auch die Begriffe der Masse und der Energie sowie die der Gravitation und der
Tr¨
agheit unter einem h¨
oheren Gesichtspunkt vereinigt hat.“ (Planck III, S. 167)
3
Quantenphysik umfasst die Quantenmechanik und die Quantenfeldtheorien (Quantenelektrodynamik, Quantenchromodynamik). Die Quantenmechanik kennt verschiedene
Formulierungen, insbesondere die Wellenmechanik und die Matrizenmechanik; sie baut
auf Plancks Quantentheorie (1900) und der bohrschen Quantentheorie des Atoms (1913)
auf. Entgegen einer m¨
oglichen strikt terminologischen Unterscheidung werden in dieser
Untersuchung die Bezeichnungen Quantentheorie, Quantenphysik und Quantenmechanik, wenn nicht anders angegeben bzw. aus dem Kontext ersichtlich, auch synonym
verwendet.
123
Bei aller Differenz, die zwischen klassischer Mechanik und Quantenmechanik
besteht, ist dieser Feststellung gegen¨
uber jedoch zu betonen, dass die Quantenmechanik aus der klassischen Physik heraus entstanden ist und mit zur
Erf¨
ullung des in der Begr¨
undung der neuzeitlichen Physik beschlossenen Programms geh¨ort. Nun schr¨ankt die Quantenphysik den universalen Erkenntnisanspruch der klassischen Physik zwar ein, doch u
¨berwindet sie dabei die
klassische Physik nicht im Sinne einer Falsifikation. Obwohl Quantenmechanik und klassische Mechanik hinsichtlich ihrer Grundlagen als unvereinbar
angesehen werden, ist die Quantenmechanik in jeder Messung (Realisierung
ihrer Vorhersagen) auf die klassische Physik angewiesen. Von einem ,Bruch‘
im Sinne einer Verh¨altnislosigkeit kann demnach nicht gesprochen werden.
Wie l¨asst sich jedoch das Verh¨
altnis von klassischer Physik und Quantenphysik erfassen?
Die Diskussion um ein philosophisches Verst¨
andnis der Quantenmechanik hat ihre eigene Geschichte. In deren Verlauf sind verschiedene Kriterien benannt worden, um den charakteristischen Unterschied zur klassischen
Physik zu bezeichnen. Im Zusammenhang damit sind das Kontinuit¨
atsprinzip, der Kausalit¨atsbegriff (Determinismus versus Indeterminismus) und der
Substanzbegriff untersucht worden. So ist zuerst von Heisenberg (1927) und
Bohr (1928) die Ung¨
ultigkeit bzw. Unanwendbarkeit des Kausalbegriffs in
der Quantenmechanik festgestellt worden. Bereits Cassirer hat jedoch darauf hingewiesen, dass von einer Verabschiedung der Kausalit¨
at durch die
Quantentheorie keine Rede sein kann. Vielmehr werde der Begriff der Kausalit¨at durch die Kritik gest¨
arkt, die dessen Anwendbarkeit auf Sinnlichkeit
durch die Quantentheorie erfahre (Cassirer (1936), S. 274).
Gleichwohl wird die Quantenphysik heute fast einhellig als eine ,indeterministische Theorie‘ bezeichnet, w¨
ahrend die klassische Physik f¨
ur eine
deterministische Theorie gehalten wird.4 In gewissem Sinne ist die klassische statistische Mechanik jedoch ebenfalls eine indeterministische Theorie.
Meiner Auffassung nach ist es indes nicht sinnvoll, die Wahrscheinlichkeitsrechnung selbst als eine indeterministische Theorie zu bezeichnen. Vielmehr
f¨
ugt diese das zuf¨allige Ereignis unter die Ordnung des Gesetzes der großen
Zahl. Mit anderen Worten: ,der Zufall tritt mit Notwendigkeit ein.‘ W¨
ahrend
in der klassischen Mechanik i. Allg. davon ausgegangen wird, dass das Einzelgeschehen nach (mechanischen) Gesetzen determiniert sei, wird beinahe
ebenso oft die Ansicht vertreten, dass die Wahrscheinlichkeit in der Quan4
In diesem Sinne ¨
außert sich z. B. Erhard Scheibe: Die Quantentheorie sieht [...] f¨
ur
”
Mikroobjekte eine wesentlich probabilistische Zustandbeschreibung [vor] und in diesem
Sinne [ist sie] eine indeterministische Theorie [...]“ (Hist. Wb. Philos., Bd. 4, Sp. 796).
124
tenmechanik nicht Ausdruck unserer Unkenntnis sei, sondern dass das Ontische selbst indeterminiert sei.5 Nichtsdestoweniger verweist die bohmsche
Formulierung der Quantentheorie auf die M¨
oglichkeit, die Quantenmechanik
¨
als ,deterministische‘ Theorie zu deuten. Diese Deutung weist Ahnlichkeiten
mit der Theorie des deterministischen Chaos der klassischen Mechanik auf
(vgl. hierzu: Bohm, D., Hiley, B. J., Kaloyerou, P. N. (1987)).
Interessant ist die Vermutung eines erkenntnistheoretischen Unterschieds.
Bohr interpretiert die Unsch¨
arferelationen als Ausdruck daf¨
ur, dass die physikalischen Resultate nicht mehr unabh¨
angig von der Art und Weise, wie
sie erfahren werden, f¨
ur sich bestehend gedacht werden k¨
onnen. Die von
Heisenberg (1927) operationalistisch aufgefasste Beziehung zwischen Beobachtungsmittel und Quantenobjekt wird von Bohr dann im Sinne der
psychologisch-epistemischen Relation von Subjekt und Objekt (Beobachter
und Quantensystem) er¨ortert. W¨
ahrend die klassische Physik demnach subjektunabh¨angige Erkenntnisse gewinnt bzw. zu gewinnen glaubt, w¨
are in
die Quantenmechanik das erkennende Subjekt explizit eingef¨
uhrt, so dass
in dieser erst das zur Erkenntnisgewinnung erforderliche Zusammentreten
von Subjekt und Objekt zustande k¨
ame. Innerhalb der Physik ist die Entdeckung des erkenntnistheoretischen Subjekts bzw. der erkenntnistheoretischen Relation allemal ein Fremdk¨
orper. Von einem erkenntnistheoretischen
Standpunkt aus betrachtet, hat es die Quantenphysik genauso wie die klassische Physik mit dem Gegenstand als Erscheinung zu tun, der bereits unter
der Bedingung des Zusammentretens von Subjekt und Objekt steht. Deshalb besteht auch kein Grund, [... dass] man sich mit der vermeintlichen
”
Subjektabh¨angigkeit der quantenmechanischen Objekte abfinden oder sie
gar als neuen Wissenschaftsstatus feiern m¨
ußte [...]“, wie von Borzeszkowski
und Wahsner (1989), S. 96, festhalten.
Alle behaupteten grundlegenden Differenzen zwischen beiden Theorien
sind mit dem Problem der Verh¨
altnisbestimmung, d. h. mit der Frage nach
¨
¨
dem Ubergang
von einer Theorie zur anderen konfrontiert. Ublicherweise
wird die Quantenmechanik zur Physik des Mikroskopischen und die klassische Physik zur Physik des Meso- und Makrokosmos gerechnet. Wenn in
atomistischer Denkweise das Makroskopische aus dem Mikroskopischen entstehen soll, bleibt es stets ein Problem, wie aus quantenmechanisch unscharfindetermistischer Mikrowelt eine klassisch wohlbestimmt-deterministische
Makrowelt ,zusammengesetzt‘ werden kann.6
5
Die meines Erachtens kaum bedachten Konsequenzen dieser Aussage, k¨
onnen an dieser
Stelle nicht diskutiert werden.
6
Der physikalisch-mathematisch praktizierte ,Grenz¨
ubergang‘, der dadurch bewerkstelligt wird, die Naturkonstante ¯
h gegen Null streben zu lassen, erkl¨
art weder die Differenz
125
Alle Unterschiede zwischen beiden Theorien, die auf der Grundlage der
ontischen Unterscheidung zwischen Mikro und Makro vermittelt werden sollen, unterliegen der gleichen Kritik. Ein denkendes Eindringen in die Dimensionen des Mikrokosmos muss deren strukturelle Verstehbarkeit unterstellen.
Folgte die Welt im Kleinen einer anderen Logik als die Welt im Großen, handelte es sich um zwei unvereinbare Welten, von denen nicht gleichermaßen
gewusst werden kann. Insofern die Quantenphysik nicht eine andere Welt,
wohl aber die Welt anders erschließt als die klassische Physik, kann die unverzichtbare Vermittlung beider Theorien nicht durch die Unterscheidung
zwischen Klein und Groß erreicht werden. In diesem Sinne hat sich auch
Einstein ge¨außert, wie Heisenberg berichtet: Einfach durch Verkleinerung
”
des Raumes, in dem das Elektron sich bewegt, kann doch der Bahnbegriff
nicht außer Kraft gesetzt werden.“ (Heisenberg (1969), S. 83)7 Einen prinzipiellen Unterschied auf denjenigen von Groß und Klein zur¨
uckzuf¨
uhren,
bedeutet das Rationale durch das Empirische bestimmt zu denken und kann
in einer Wissenschaft, die sich rationale Kriterien zugrundelegt, um zu Wissen zu gelangen, nicht akzeptiert werden. Nicht darum, weil etwas Kleiner als
alles Sichtbare wird, ¨andert sich die Logik, mit der das Kleine gedacht wird.
Die Denkfigur des scharf¨augigen Sehers Lynkeus, f¨
ur den es keine Wahrnehmbarkeitsgrenzen gibt, verweist auf die prinzipielle Zweitrangigkeit des
empirischen Kriteriums der Gr¨
oße.
Wenn die Physik als Wissenschaft von der Bewegung begriffen werden
muss, dann ist gegen¨
uber den bisher angef¨
uhrten Kriterien die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Kontinuit¨
at zu lenken. So hat bereits Cassirer
auf die Bedeutung des ,Stetigkeitsbegriffs‘ zur Unterscheidung von klassischer Physik und Quantenphysik hingewiesen (vgl. Cassirer (1936), S. 310;
siehe oben S. 92). Allerdings verbindet er in Anlehnung an Kant die Frage
nach der Kontinuit¨at mit dem Begriff der Kausalit¨
at und nicht, wie in der
vorgelegten Untersuchung, mit dem Begriff der Bewegung.
Als Kriterium der Unterscheidung zwischen klassischer Physik und Quantenphysik erweist sich der Begriff der Kontinuit¨
at f¨
ur sich allein als ebensowenig zureichend, wie die anderen Kriterien. Wird jedoch der Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Begriff der Bewegung bedacht, zeigt sich sogleich, wie der Begriff der Physik als Wissenschaft von der Bewegung in den
Mittelpunkt der Untersuchung r¨
uckt. Erst im Hinblick auf die Frage nach
dem Bewegungsbegriff der Quantenmechanik erh¨
alt neben der Frage nach
der Kontinuit¨at auch diejenige etwa nach dem Substanzbegriff ihren Sinn.
noch das Verh¨
altnis der beiden Theorien.
7
Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Peter Enders, priv. Mitteilung.
126
8.2
Wie atomistisch ist die Quantenphysik?
Um Ver¨anderungen zu erfassen, wird in der neuzeitlichen Physik neben der
Atomhypothese ebenso die Kontinuit¨
at der Materie8 in positiver Weise vorausgesetzt. In diesem Sinne schreibt Planck:
[...] in der Hydrodynamik und in der Elastizit¨atstheorie wird fast
”
immer die Materie als kontinuierlich im Raume angeordnet vorausgesetzt, und niemand findet in den Betrachtungen, die sich auf die stetige
Ver¨anderlichkeit der Dichte, der Deformation und anderer Eigenschaften, im Raume beziehen, einen Widerspruch gegen die allgemein anerkannte atomistische Struktur der K¨orper.“ (Planck II, S. 246)
Erstaunlich genug, dass in einer Physik, die sich nach ihrem Selbstverst¨
andnis auf den Atomismus gr¨
undet, die Kontinuit¨
at der Materie vorausgesetzt
wird, um die Ver¨anderung diverser Gr¨
oßen zu untersuchen. Nichtsdestoweniger m¨
usste im Sinne des angegebenen Zitats die klassische Physik als
Kontinuumstheorie bezeichnet werden, insofern alle Gr¨
oßen kontinuierlich
ver¨anderlich sind. Bekanntlich f¨
uhrt die Quantenhypothese Plancks, die Annahme, dass klassisch kontinuierliche Gr¨
oßen nur in abgezirkelten Vielfachen
einer elementaren Einheit vorkommen k¨
onnen, zur Abweisung der Kontinuit¨atsforderung in der Quantenphysik. Daraus ergibt sich die Vermutung,
dass in der Quantenmechanik der Atomismus endlich konsequent durchgef¨
uhrt wird. Die Quantenmechanik dementsprechend als eine Diskontinuumstheorie zu bezeichnen und sie gegen¨
uber der klassischen Mechanik als
eine Kontinuumstheorie abzugrenzen, schl¨
agt in ihrer Einseitigkeit jedoch
fehl. Handelte es sich bei der Quantenmechanik um eine reine Diskontinuumstheorie, so w¨are alle M¨
oglichkeit zu Bewegung und Ver¨
anderung, in
welcher Weise auch immer, negiert. Indes ist aus der Quantenmechanik keineswegs alle Prozessualit¨at getilgt. Darauf weist bereits der Begriff der Zustands¨anderung als auch die Existenz einer Bewegungsgleichung hin. Diese
Grundgleichung ist eine Differentialgleichung. Als eine solche steht sie unter der Forderung der Kontinuit¨
at (mathematische Stetigkeit der Funktion).
Die mit Hilfe dieser Gleichung beschriebene Gr¨
oße, die Wellenfunktion, ist
kontinuierlich (stetig differenzierbar); des Weiteren sind Raum und Zeit im
8
Innerhalb dieses Teils der Untersuchung ist – wenn nicht anders angegeben – mit
Materie ein neuzeitlicher Begriff physikalischer Materie gemeint. Materie in diesem
Sinne meint in etwa die Widerstand leistende, ausgedehnte Erf¨
ullung des Raumes. Zur
Materie geh¨
oren demnach alle chemischen Elemente und alle Elementarteilchen, aber auch
Photonen, da sie aufgrund ihrer relativistischen Masse Widerstand leisten. Mit dieser
Vorbestimmung verbinde ich nicht den Anspruch, eine Definition des Materiebegriffs zu
bieten.
127
gleichen Sinne kontinuierlich wie in der klassischen Mechanik (ungeachtet
der Versuche eine minimale L¨
ange (Hodon) und eine kleinste Zeit (Chronon)
einzuf¨
uhren). So ist die Quantelung der Energie nicht Ausdruck der Diskontinuit¨at der physikalischen Gr¨
oße9 Energie als solche, sondern – als Resultat
der Grundgleichung – ein Charakteristikum des betrachteten Systems. Energie ist Energie von etwas, dem eine bestimmte Energiemenge zukommt. In
diesem Fall ist sie die Energie des Quantensystems10 . Trotzdem ist es nicht
falsch, in der Quantenmechanik einen konsequenten Atomismus zu vermuten. Dieser Atomismus kann jedoch nicht derjenige eines r¨
aumlich-materiell
Ausgedehnten sein. Vielmehr m¨
usste es sich um einen funktionalen Atomismus handeln, wie er sich etwa in Symmetrieerscheinungen (regelm¨
aßige
Bindungsstrukturen, Kristallgitter usw.) manifestiert.11
9
Bei jeder Messgr¨
oße handelt es sich um eine Einheit von Quantit¨
at und Qualit¨
at.
Es erweist sich als problematisch, in der Quantenmechanik von einem Gegenstand
im traditionellen Sinne zu sprechen, da ein vereinzelt individuelles, in seinen Eigenschaften durchg¨
angig bestimmtes und selbst¨
andiges Objekt nicht vorausgesetzt werden kann.
Aus diesem Grund wird bevorzugt von System gesprochen, auch wenn es sich um ein
Quantenobjekt, z. B. ein freies Elektron, handelt. Mit Cassirer l¨
asst sich festhalten:
10
[Alle Aussagen der Quantentheorie ...] lassen sich nur als System”
Aussagen, nicht als Aussagen u
¨ber das Sein und Verhalten individueller
Atome und Elektronen verstehen. Quantenmechanik handelt von Inbegriffen, deren Aufspaltung in ,Teile‘ nicht mehr in der gleichen Weise wie in der
klassischen Physik m¨
oglich ist.“ (Cassirer (1936), S. 339f.)
Ob damit der Substanzbegriff außer Kraft gesetzt ist, wie Cassirer (1936), S. 346, vermutet, oder der ,traditionelle‘ Substanzbegriff eines ,Tr¨
agers nicht-relationaler Eigenschaften‘,
wie Falkenburg (1993), S. 235, pr¨
azisiert, soll an dieser Stelle nicht er¨
ortert werden. Ein
Novum der Quantenphysik gegen¨
uber der klassischen Physik w¨
are damit kaum entdeckt.
Die K¨
orper der klassischen Mechanik sind ebenfalls keine f¨
ur sich bestehenden Substanzen, wie von Borzeszkowski und Wahsner hervorheben: [Die Gravitation ...] ist nicht die
”
Eigenschaft eines einzelnen K¨
orpers, sondern die K¨
orper sind gegeneinander schwer. [...
Und deshalb kann ohne] das Aufeinandereinwirken der K¨
orper [...] der Begriff der ,Masse‘
gar nicht gebildet werden.“ (von Borzeszkowski und Wahsner (1980), S. 34)
11
Ausgehend von der Bedeutung der Symmetrien ( operationale Invarianz“) in den Na”
turgesetzen der modernen Physik (QCD) versucht Br¨
uckner (1999), die geistesgeschichtlichen Grundlagen f¨
ur das Auftreten von Symmetrien in der Naturkonzeption zu eruieren.
Dabei verweist Br¨
uckner zuerst auf Platons Timaios“ und die darin dargestellten ,plato”
nischen‘ Elementark¨
orper (geometrische Symmetrie). (Diese haben Heisenberg in der Elementarteilchenphysik einen ,Platonismus‘ vermuten lassen: Die Elementarteilchen k¨
onnen
”
mit den regul¨
aren K¨
orpern in Platos >Timaios< verglichen werden. Sie sind die Urbilder,
die Ideen der Materie.“ (Heisenberg (1969), S. 281)) So wertvoll dieser Gedanke ist, wird
mit ihm doch die Intelligibilit¨
at der Natur wiederentdeckt, ist er doch dann problematisch, wenn die Physik damit auf die Betrachtung von abgel¨
osten Formen eingeschr¨
ankt
w¨
urde und somit auf Mathematik reduziert w¨
are. Dann n¨
amlich w¨
are mit Aristoteles die
M¨
oglichkeit, Bewegung zu erfassen, nicht mehr gegeben. F¨
ur eine Physik, die wesentlich
Ver¨
anderung betrachtet, ergibt sich die Forderung nach einer Instanz der Vermittlung,
128
Als Unterscheidungskriterium zwischen klassischer Physik und Quantenmechanik erweist sich der Begriff der Kontinuit¨
at bzw. derjenige der
Diskontinuit¨at f¨
ur sich betrachtet als unzureichend. Wie die Untersuchung
der aristotelischen Bewegungsauffassung gezeigt hat, ist das Bewegte in seiner Struktur sowohl kontinuierlich (Stoff-Moment) als auch diskontinuierlich (Form-Moment). Ebenso finden sich in der Struktur des aristotelischen
Kontinuums die Momente der Kontinuit¨
at und der Diskontinuit¨
at in ein
Verh¨altnis gesetzt (vgl. S. 38). Soll Physik die Bewegung erfassen, so kann
sie sich nicht f¨
ur eine Seite – Kontinuit¨
at oder Diskontinuit¨
at (bzw. Identit¨
at
oder Differenz) – entscheiden, sondern muss beide als Momente zueinander
in Beziehung setzen. Der jeweils veranschlagte Bewegungsbegriff entscheidet
dar¨
uber, wie beide Momente zueinander in Relation stehen.
Bevor thematisiert werden kann, ob und wie es gelingt, Bewegung (Wandel) in der Quantenmechanik zu erfassen, soll untersucht werden, welche
Fragen zur Ausbildung der Quantenmechanik gef¨
uhrt haben und inwiefern
dabei Bewegung eines k¨orperlich Seienden (Physik) in den Blick genommen
wird. Anhand des Nachvollzugs der Entstehungsgeschichte der Quantentheorie m¨ochte ich zeigen, welcher Prozess im Zentrum der Quantenphysik steht.
Eine Ortsbewegung eines individuierten Teilchens im Sinne der klassischen
Mechanik bzw. eine auf die Ortsbewegung reduzierte Bewegungsart wird in
der Quantenphysik indes nicht zum Gegenstand der Untersuchung.
9
9.1
Der Untersuchungsgegenstand der Quantenmechanik
Die Aufgabe der Quantenmechanik aus der Entstehungsgeschichte aufgewiesen
Im Interesse der systematischen Fragestellung ist die Darstellung der Entstehungsgeschichte der Quantenphysik auf das Wesentliche zu beschr¨
anken.12
Es soll gezeigt werden, was die Quantenphysik (insbesondere die Quantenmechanik) untersucht und wor¨
uber sie Auskunft erteilt.
Die Geburtsstunde der Quantenphysik kann auf den 14. Dezember 1900
datiert werden.13 Bis dahin hatte die Untersuchung der spektralen Inten¨
ohne die ein Ubergang
zwischen den Formen nicht gedacht werden kann.
12
Die Darstellung greift unter anderem auf Simonyi (1990) zur¨
uck. Zur Dramatik der
Ereignisse um die Entstehung sowie zur Darstellung mathematischer Details siehe Kangro
(1970).
13
Das ist das Datum des Tages, an welchem Planck die Herleitung seines Strahlungsgesetzes in der Sitzung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vorgetragen hat. Max
129
sit¨atsverteilung der Strahlung eines ideal strahlenden K¨
orpers (schwarzer
K¨orper) gezeigt, dass nur f¨
ur den Bereich kleiner bzw. großer Wellenl¨
angen
¨
Ubereinstimmung zwischen den – zueinander kontroversen – theoretischen
Annahmen (Wien-Plancks bzw. Rayleigh-Jeans’) und der Messung (Lummer und Pringsheim, Rubens und Kurlbaum) besteht. Einen f¨
ur den gesamten experimentell zug¨
anglichen Wellenl¨
angenbereich des untersuchten
Spektrums geeigneten Ausdruck gab es nicht.
Zur theoretischen Herleitung des Strahlungsgesetzes nahm Planck an,
dass die Strahlung von Resonatoren innerhalb der Oberfl¨
ache des strahlenden K¨orpers ausgehe. Auf diese Resonatoren jeweils bestimmter Schwingungsfrequenz ν verteile sich in bestimmter Weise die durch Erhitzen dem
Strahler zugef¨
uhrte Gesamtenergie. F¨
ur die Herleitung des Strahlungsgesetzes war es notwendig, die Anzahl der m¨
oglichen Arten der Energieverteilung
zu berechnen. Um zu diesem Zweck die Gesetze der Kombinatorik anwenden
zu k¨onnen, musste er dabei annehmen, dass die Verteilung der Energie E auf
die Elementaroszillatoren nicht in kontinuierlicher Weise geschieht, sondern
in ganzzahligen Vielfachen einer elementaren Energiemenge ε, so dass gilt:
E = N ε und ε = hν (N : nat¨
urliche Zahl gr¨
oßer Null, h: Wirkungsquan14
tum). Damit ist – um der endlichen Anzahl der m¨
oglichen Energieverteilungen willen und aus mathematischem Pragmatismus heraus – die Energie
quantisiert worden. Genauer: Nicht die Energie schlechthin als Gr¨
oße, sondern diejenige Energiemenge, die ein jeweiliger Resonator aufzunehmen f¨
ahig
ist.
Damit war die Idee der Quantelung alias Quantisierung klassisch kontinuierlicher Gr¨oßen in die Physik eingef¨
uhrt. Einstein (1905) hat die Quantelung der Energie dar¨
uber hinaus zur Erkl¨
arung des a
¨ußeren lichtelektrischen
Effektes herangezogen (Lichtquantenhypothese). Dem Umstand, dass dieser
neue ,Atomismus‘ – nicht der Materie, sondern der Energie – u
¨berhaupt
mit dem Auftauchen einer Elementarkonstanten (h) verbunden ist, geb¨
uhrt
einige Aufmerksamkeit; das Problem kann innerhalb dieser Untersuchung
jedoch nicht thematisiert werden.
Planck: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalenspectrum“, Verh.
”
d. Deutsch. Phys. Ges. 2 (1900), S. 237-245; Nachdruck: Planck I, S. 698-706.
14
Wenn E als unbeschr¨
ankt teilbare Gr¨
osse angesehen wird, ist die Verteilung auf un”
endlich viele Arten m¨
oglich. Wir betrachten aber – und dies ist der wesentlichste Punkt der
ganzen Berechnung – E als zusammengesetzt aus einer ganz bestimmten Anzahl endlicher
gleicher Teile und bedienen uns dazu der Naturconstanten h = 6, 55 . 10−27 (erg × sec).
Diese Constante mit der gemeinsamen Schwingungszahl ν der Resonatoren multiplicirt
ergiebt das Energieelement ε in erg [...]“ (Planck I, S. 700f.)
130
Hatte Planck mit dem Strahlungsgesetz einen Ausdruck f¨
ur die Intensit¨atsverteilung der Strahlung gefunden, so entwickelte Bohr 1913 mit der
Quantentheorie ein Modell des Atoms15 , welches geeignet war, die charakteristische Erscheinung diskreter Linien in den Absorptions- sowie Emissionsspektren zu erkl¨aren. Da die Strahlung von erhitzter Materie ausgesandt
wird, ergab sich die Notwendigkeit, eine Theorie der Materie zu entwickeln,
welche aus der Struktur der Materie die charakteristischen Strahlungserscheinungen erkl¨aren sollte. Dementsprechend kann die Frage, welche die
Quantentheorie Bohrs beantworten sollte, auf folgende Weise formuliert werden: Wie ist der Aufbau der Materie zu denken, so dass daraus innerhalb
eines einheitlichen Modells die Mannigfaltigkeit der Strahlungserscheinungen erkl¨art werden kann? Bereits aus der Problemstellung ergibt sich, dass
in Bohrs Atomtheorie nach einer Ortsbewegung nicht gefragt wird. Allerdings ist sie deshalb noch nicht ausgeschlossen. So ist der Ausgangspunkt
des Atommodells eine mechanische Vorstellung, die als solche jedoch nicht
nach den Gesetzen der klassischen Physik zu behandeln ist, sondern explizit
durch Ad-hoc-Postulate bestimmt wird.
Nach Bohr wird das Atom (des Wasserstoffs) entsprechend eines Planetenmodells gedacht: Die negativ geladenen Elektronen umkreisen in einer
Kepler-Bewegung den positiv geladenen Atomkern. Dabei u
¨bernimmt die
elektrische Anziehung anstelle der Gravitation im Planetensystem die Rolle
der Zentralkraft. Den dabei sich einstellenden Widerspruch zur Elektrodynamik16 (Maxwellgleichungen) versucht Bohr mittels zweier Postulate zu
15
Der Atomismus der Materie wurde als eigentlicher Gegenstand erst durch die neuere
Chemie (Wende 18./19. Jhdt., insbesondere John Dalton zwischen 1803 und 1808) in die
Physik eingef¨
uhrt. F¨
ur eine (funktionale) Unteilbarkeit der Materie sprach die Beobachtung ganzzahliger Umsetzungsverh¨
altnisse von Stoffmengen bei chemischen Reaktionen.
Damit wurde angenommen, dass die Materie aus Atomen besteht, d. h. aus denjenigen
Einheiten, die mittels chemischer Reaktionen nicht geteilt werden k¨
onnen. Die weitere
Entwicklung des Atombegriffs ist untrennbar mit den Namen Joseph John Thompson
(1856 – 1940) und Ernest Rutherford (1871 – 1937) verbunden. Durch verschiedene Experimente und deren Deutung wandelte sich die Vorstellung vom Aufbau der Atome als
Grundbestandteile der physikalischen Materie. Vor der bohrschen Quantentheorie wurde
das Atom gedacht als aus einem sehr kleinen positiv geladenen Kern bestehend, umgeben
von negativ geladenen Elektronen. Angesichts der Gesamtgr¨
oße des Atoms wurde dieses
als in weiten Teilen ohne weitere Materieerf¨
ullung angenommen. (Vgl. Simonyi (1990), S.
376ff.)
16
Gem¨
aß der klassischen Elektrodynamik strahlt eine beschleunigte Ladung Energie in
Form elektromagnetischer Wellen ab. Die kreisf¨
ormige Bewegung des Elektrons ist eine solche beschleunigte Bewegung, weshalb sich die Energie des Elektrons verringern m¨
usste, so
dass es auf einer Spiralbahn innerhalb eines Sekundenbruchteils in den Atomkern st¨
urzen
w¨
urde. Dem widerspricht die erfahrungsm¨
aßige Stabilit¨
at der Materie.
131
entsch¨arfen.17 Das 1. Postulat regelt die Anwendung der Theorie, indem es
den Gegenstandsbereich explizit bestimmt: F¨
ur die ,station¨
aren Zust¨
ande‘18
¨
(Elektronenbahnen fester Radien) gelte die klassische Mechanik. Der ,Ubergang des Systems‘ aber von einem ,station¨
aren Zustand‘ zu einem anderen
kann nicht mit Hilfe der klassischen Mechanik verstanden werden. Wie und
ob dieser ,Prozess‘ zu analysieren ist, wird von Bohr offen gelassen. Das
2. Postulat bringt diesen nicht n¨
aher zu bestimmenden ,Prozess‘ mit der
Emission von Strahlung in Verbindung.
Entgegen der Voraussage der Elektrodynamik soll gem¨
aß dem 2. Postulat keine (kontinuierliche) Emission von Strahlung erfolgen: [...] the energy
”
radiation from an atomic system does not take place in the continous way
assumed in the ordinary electrodynamics [...]“ (Niels Bohr: On the constitution of atoms and molecules I, Phil. Mag. 26 (1913), S. 4, zitiert nach
Meyer-Abich (1965), S. 21)
Die in ihrer Geltung im Wesentlichen auf das Spektrum des Wasserstoffs
beschr¨ankte halbklassische bohrsche Atomtheorie, welche den Widerspruch
zur Elektrodynamik nur durch Postulate entsch¨
arfen konnte, wurde durch
die Entdeckung der Quantenmechanik u
ahrend Heisenberg
¨berwunden. W¨
1925 ausgehend von den Frequenzwerten der Spektrallinien die Matrizenmechanik formulierte, gelangte Schr¨
odinger 1926 auf dem Weg der Suche
nach einer Bewegungsgleichung f¨
ur Materiewellen zur Wellenmechanik. Das
¨
Postulat von Materiewellen geht auf Uberlegungen
de Broglies zur¨
uck. De
Broglie hatte 1923/24 die Hypothese vertreten, dass analog zur dualen Natur des Lichts eine ebensolche Dualit¨
at von Wellen- und Teilcheneigenschaften f¨
ur die Materie anzunehmen sei. Diese Analogie fortsetzend gelangte
¨
Schr¨odinger zur Wellenmechanik, deren Aquivalenz
mit Heisenbergs Matri17
1. That the dynamical equilibrium of the systems in the stationary
”
states can be discussed by help of the ordinary mechanics, while the passing
of the systems between different stationary states cannot be treated on that
basis.
2. That the latter process is followed by the emission of a homogeneous
radiation, for which the relation between the frequency and the amount of
energy emitted is the one given by Planck’s theory.“ (Niels Bohr: On the
”
constitution of atoms and molecules I“, Phil. Mag. 26 (1913) S. 1-25, Zitat:
S. 7, zitiert nach Meyer-Abich (1965), S. 26.)
18
Mit dem Begriff des ,station¨
aren Zustandes‘ ist nicht nur ein Leitgedanke f¨
ur Bohrs
Quantentheorie, sondern auch noch f¨
ur die ab 1925/26 entwickelte Quantenmechanik und
dar¨
uber hinaus formuliert. Aus diesem Grund wird dieser Begriff im Anhang A.2 eingehender untersucht.
132
zenmechanik er wenig sp¨ater nachweisen konnte. Innerhalb der Quantenmechanik (Wellenmechanik bzw. Matrizenmechanik) wird die in der Quantentheorie Bohrs noch m¨ogliche, wenngleich irrelevante Vorstellung einer mechanischen Bewegung des Elektrons problematisch. War deren Berechnung
vordem nicht die Aufgabe der Quantentheorie, so ist sie in der Quantenmechanik von vornherein kein Untersuchungsgegenstand.
Der Zweck der Quantenmechanik erf¨
ullt sich in der Berechnung von
m¨oglichen Zust¨anden, wodurch permanente Eigenschaften der Materie erstmalig quantitativ vorherzusagen sind.19 Obwohl innerhalb der Quantenmechanik eine kontinuierliche Ortsbewegung im Sinne der klassischen Mechanik
nicht zug¨anglich werden kann, ist es m¨
oglich, u
¨ber eine Ortsmessung eine
Ortsbewegung in abgeleiteter Weise zu restituieren. (Zu dieser M¨
oglichkeit
siehe den Exkurs S. 153ff.) Das urspr¨
ungliche Thema der Quantenmechanik
ist die Berechnung der Energieniveaus von Atomen und Molek¨
ulen und der
¨
dazugeh¨origen Ubergangswahrscheinlichkeiten,
mit deren Hilfe das Eintreten von Absorption und Emission von Strahlungsenergie quantitativ erfasst
werden kann.
¨
Der in der Quantenmechanik nur u
¨ber die Berechnung von Ubergangswahrscheinlichkeiten zug¨angliche Prozess der Lichtemission bzw. -absorption, d. h. das Erzeugen und Vernichten von Photonen (ruhemasselose Teilchen) kann erst in der Quantentheorie des elektromagnetischen Feldes, der
Quantenelektrodynamik, konsequent beschrieben werden. Erst in der Quantenelektrodynamik, einer speziellen relativistischen Quantenfeldtheorie, kann
die Wechselwirkung zwischen physikalischer Materie (Atome, Elektronen)
und dem elektromagnetischen Feld (Strahlung, Licht) behandelt werden.
Gem¨aß der zweiten Quantisierung wird das klassisch kontinuierliche Feld in
Feldquanten aufgeteilt. Diese Zust¨
ande des Feldes werden bei der Emission
von Strahlung erzeugt bzw. bei der Absorption von Strahlung vernichtet.
Diese Prozesse der Erzeugung und Vernichtung von Zust¨
anden des Strahlungsfeldes werden mathematisch durch Anwendung entsprechender Operatoren (Erzeuger bzw. Vernichter) auf einen Zustand dargestellt. Bei Ener¨
gien im Bereich des Ruhemasse-Aquivalents
von Elementarteilchen gilt die
Quantenchromodynamik. Innerhalb dieser Formulierung einer Quantenfeldtheorie kann der Prozess der Erzeugung und Vernichtung von Teilchen einer
Ruhemasse ungleich Null konsequent behandelt werden.
19
Die bis dahin als ,Materialkonstanten‘ empirisch zu bestimmenden Eigenschaften der
Stoffe werden berechenbar bzw. erkl¨
arbar; dazu z¨
ahlen: charakteristische Emissionsspektren, Dichte, Elastizit¨
atskonstante, Bruchspannung, Schmelztemperatur, chemische Eigenschaften, Kernzerfall, Leitf¨
ahigkeit, Supraleitung, Suprafluidit¨
at usw.
133
F¨
ur die Analyse des in der Quantenphysik zugrundeliegenden Bewegungsbegriffs ist es meines Erachtens nicht ausschlaggebend, ob es sich um
die Erzeugung von Zust¨anden, von Photonen oder Masseteilchen handelt.
Der theoretische Zugang bleibt prinzipiell stets der gleiche. Alle dieser Arten von Zustands¨anderungen werden hinsichtlich ihres Ausgangs- und
¨
Endzustandes (exakt) berechnet, w¨
ahrend deren Eintreten als Ubergangswahrscheinlichkeit vorausberechnet wird. Aus diesem Grund ist es m¨
oglich,
bereits anhand der Quantenmechanik die zugrundeliegende Bewegungsauffassung der Quantenphysik als Ganzer zu explizieren. Folglich kann, um die
Diskussion physikalischer Details zudem nicht u
¨berproportional ausdehnen
zu m¨
ussen, die Untersuchung auf die Quantenmechanik beschr¨
ankt werden.
In dieser sind die grundlegenden Annahmen und die neue Bewegungsauffassung bereits angelegt, so dass die Beschr¨
ankung wohl in physikalischer
Hinsicht einen Verzicht bedeutet, nicht jedoch hinsichtlich der veranschlagten philosophischen Frage nach der Bewegung.
Die Frage nach dem Prozess in der Quantentheorie f¨
uhrt im Anschluss an
das bohrsche Atommodell auf die Bezeichnung Quantensprung – ein metaphorischer Ausdruck f¨
ur die Atomistik des Geschehens“ (Cassirer (1936),
”
S. 325). Die in dieser Bezeichnung ausgedr¨
uckte Problematik bleibt in veranderter Gestalt auch in der Quantenmechanik bestehen.
¨
9.2
Der Ausdruck Quantensprung als Hinweis auf den quantenmechanischen Prozess
Ausgehend von dem bohrschen Atommodell wurde die Strahlungsemission
mit der Vorstellung verbunden, dass sich ein Elektron von einer h¨
oheren
Umlaufbahn nach der Emission auf einer niedrigeren Umlaufbahn befindet.
Da die Bahnradien quantisiert sind, ist eine kontinuierliche Ortsbewegung
nicht m¨oglich. Der Vorgang m¨
usste in diesem Bild als ein ungeteilt Ganzer
aufgefasst werden, als ein ,Quantensprung‘.
Bereits aus dem Nachvollzug der Entstehungsgeschichte der Quantenphysik ergab sich, dass die Berechnung einer Ortsbewegung, die Betrachtung
eines Orts-Wechsels, nicht die (prim¨
are) Aufgabe der Quantenmechanik ist.
Im Wesentlichen zielt diese auf die Berechnung der Energieniveaus eines
Quantensystems, um dadurch z. B. auf die Wellenl¨
ange emittierter Strahlung zu schließen, welche sich aus der Differenz der Energieniveaus ergibt.
¨
Den Ubergang
zwischen den diskreten Energieniveaus des Atoms als Be¨
wegung zu verstehen, ist problematisch. Mit der Uberwindung
der quantentheoretischen Vorstellung von Elektronen (als Teilchen), die um den Atomkern auf station¨aren Bahnen kreisen, ist zwar der Terminus Quanten134
sprung aus dem Vokabular der Physik verschwunden, das zugrundeliegende Problem ist damit jedoch nicht gel¨
ost. Vielmehr hat es sich im Begriff
¨
¨
Ubergangswahrscheinlichkeit
verfestigt: Der Ubergang
wird als Ereignis
¨
verrechnet, ohne dass der Ubergang erkl¨
art w¨
are.
In Hinblick auf den von Aristoteles aufgewiesenen Zusammenhang von
Kontinuit¨at und Bewegung ist nach der M¨
oglichkeit einer quantenmechanischen Zustands¨anderung zu fragen. Der station¨
are Zustand in der Quantenmechanik dr¨
uckt m¨ogliche Energiewerte aus, die das jeweilige System
(Atom) annehmen kann. Damit w¨
are die Prozessdimension20 der Zustandsanderung die Energie, die gleichwohl als Gr¨
oße kontinuierlich ist. F¨
ur das
¨
betrachtete System, das Atom, ist sie ein Charakteristikum. Die Energiewerte gebundener21 Zust¨ande des Atoms bilden eine diskrete Menge (ein
¨
Spektrum). Ein Ubergang
zwischen den verschiedenen Zust¨
anden im Sinne einer Ver¨anderung erfordert die Kontinuit¨
at der Prozessdimension. Insbesondere gilt das, wenn alle Ver¨
anderungsarten innerhalb der klassischen
Physik auf die Ortsver¨anderung zur¨
uckgef¨
uhrt werden. Die Kontinuit¨
at der
Prozessdimension ist jedoch in der Quantenmechanik nicht mehr gew¨
ahrlei¨
stet. Eine Zustands¨anderung, d. h. der Ubergang
zwischen Energieniveaus
w¨are damit nicht als eine Ver¨
anderung denkbar. Einzig als Ereignis gewisser
Wahrscheinlichkeit gelangt diese in den Blick.
Daraus, dass in der Physik bisher die Kontinuit¨
at der Prozessdimension
ein notwendiges Element aller Betrachtung von Bewegung (Ver¨
anderung)
war, erg¨abe sich, dass alle Erkenntnis von Bewegung, welcher Art auch immer, in der Quantenphysik unm¨
oglich geworden w¨
are. Da indes weiterhin
von Zustands¨anderung gesprochen wird und eine solche auch einen physikalischen Sinn erh¨alt, indem sie mit der Emission und Absorption von
Strahlung verbunden ist, muss untersucht werden, ob es eine Bewegungsart
geben kann, die in der Prozessdimension diskontinuierlich ist und als sol20
Mit Prozessdimension bezeichne ich dasjenige, in Bezug worauf sich der Prozess
vollzieht. Bei Aristoteles handelte es sich entsprechend den Arten des Prozesses um den
Ort, die Gr¨
oße und die Qualit¨
at bzw. um die Substanz, bei der jedoch keine Kontinuit¨
at
in der Prozessdimension vorliegt. – Den Hinweis darauf verdanke ich Sven M¨
uller, private
Mitteilung.
21
Bei Elektronenenergien innerhalb des Bereichs eines anziehenden Potentials des Systems handelt es sich um gebundene Zust¨
ande des Systems. Die berechneten Energiewerte
dieses Systems bilden ein diskretes Spektrum. Nimmt man indes Elektronenenergien oberhalb der Energie des bindenden Potentials des Atomkerns an, so f¨
uhrt das Elektron eine
freie ,Bewegung‘ aus, die nichtsdestoweniger quantenmechanisch verstanden werden muss
(Unsch¨
arferelation und statistische Deutung), obgleich die Erwartungswerte der Energie
ein kontinuierliches Spektrum (im Sinne der reellen Zahl) bilden.
135
che in der Quantenmechanik zum Untersuchungsgegenstand wird, ohne die
bisher g¨angige Reduktion auf das Schema der Ortsbewegung.
10
,Bewegung‘ in der Quantenmechanik und die
Bedeutung der Wellenfunktion
Um zu sehen, in welchem Sinne die Quantenmechanik Physik, d. h. eine
Wissenschaft der Bewegung ist, muss gefragt werden, auf welche Weise in
ihr Bewegung im weitesten Sinne zug¨
anglich werden kann. Der zu diesem
Zweck in das Zentrum der Betrachtung zu r¨
uckende Begriff ist derjenige
der Zustands¨anderung. Ohne vorherige Kl¨
arung des Begriffs Zustand ist
die Untersuchung des Begriffs der Zustands¨
anderung nicht durchzuf¨
uhren.
Wie sich zeigen wird, ergeben sich aufgrund einer zweifachen Bedeutung des
Begriffs Zustand mehrere M¨
oglichkeiten, was in der Quantenmechanik
unter Bewegung verstanden werden kann.
Von grundlegender Bedeutung erweist sich zudem das Verst¨
andnis des
Messprozesses. Um dieses vorzubereiten, wird die Deutung der Wellenfunktion untersucht werden.
10.1
Zustand
Die Verwendung des Begriffs Zustand ist in der Quantenphysik uneinheitlich (siehe dazu Anhang A.3).
• Einmal wird damit die Repr¨
asentation eines Quantensystems im mathematischen Darstellungsraum22 , dem n-dimensionalen Hilbertraum
verstanden. In diesem Fall ist mit dem Begriff Zustand im eigentlichen Sinne der Hilbertraum-Vektor, n¨
amlich der Zustandsvektor |Ψi
bzw. die Zustandsfunktion gemeint. (In der Darstellung nach Schr¨
odinger entspricht diesem die Wellenfunktion Ψ.) Dieser Zustandsvektor
repr¨asentiert zwar alle physikalischen Eigenschaften des Quantensystems, ist aber einer Messung nicht direkt zug¨
anglich.
• Die andere Verwendung von Zustand meint einen physikalisch realen,
d. h. messbaren Zustand. Dieser entspricht folglich dem Messwert einer
Messgr¨oße (Observable) im dreidimensionalen Erfahrungsraum22 .
22
Die Begriffe Darstellungsraum sowie
zeszkowski/Wahsner (1989).
136
Erfahrungsraum entnehme ich: von Bor-
Diesem letztgenannten Sinn von Zustand entsprechen die elektronischen
Zust¨ande des Atoms, die diskreten Energieniveaus eines gebundenen Systems. W¨ahrend das Spektrum der Zust¨
ande und deren Besetzungswahrscheinlichkeit im Voraus berechenbar ist, erteilt erst eine tats¨
achliche Messung dar¨
uber Auskunft, in welchem dieser Zust¨
ande sich das Atom befindet
bzw. welcher Zustand von einem Elektron ,besetzt‘ ist und welcher nicht.
10.2
Zustands¨
anderung
Entsprechend der zweifachen Redeweise von Zustand, einmal als Zustandsvektor, der ein System repr¨
asentiert, ein andermal als Zustand, der den
Messwert einer Messgr¨oße repr¨
asentiert, ergeben sich rein kombinatorisch
vier m¨ogliche Arten von Zustands¨
anderungen:
a) innerhalb des Darstellungsraumes:
Der Zustandsvektor ¨
andert sich (sogenannte Evolution des Zustandsvektors |Ψit bzw. der Wellenfunktion Ψt ),
b) innerhalb des Erfahrungsraumes:
Der (elektronische) Zustand ¨
andert sich (z. B.: En −→ Em , verbunden
mit der Emission bzw. Absorption von Strahlungsenergie),
c) vom Erfahrungsraum zum Darstellungsraum:
Die Messung eines Zustandes bestimmt den vorliegenden Zustandsvektor des Systems (Pr¨
aparation eines Systemzustandes),
d) vom Darstellungsraum zum Erfahrungsraum:
Der Zustandsvektor geht u
¨ber in einen Zustand ( |Ψi −→ En , sogenannte ,unstetige‘ Zustandsreduktion, auch ,Kollaps der Wellenfunktion‘ genannt).
Diese vier Varianten von ,Zustands¨
anderung‘ und deren Charakteristik
sollen im Folgenden diskutiert werden.
a) Evolution des Zustandsvektors
Entsprechend der Bewegungsgleichung der Quantenmechanik (Schr¨
odingergleichung) ¨andert sich der Zustandsvektor im Hilbertraum (entsprechend
Schr¨odingerbild) kontinuierlich sowohl im station¨
aren Fall des abgeschlossenen Systems als auch im nichtstation¨
aren Fall unter dem Einfluss einer
außeren Wechselwirkung. Wird der Zustandsvektor nach Born als Wahr¨
scheinlichkeitsamplitude interpretiert, so dr¨
uckt die sogenannte ,Evolution
137
des Zustandsvektors‘ die Verschiebung der Wahrscheinlichkeiten aus, die bestimmen, welches Resultat bei einer Messung mit welcher relativen H¨
aufigkeit zu erwarten ist. Damit ist die Bewegung und ihre Berechnung in den
abstrakten Hilbertraum (Darstellungsraum) verlegt worden. Die Evolution
des Zustandsvektors erfolgt im Sinne der klassischen Mechanik deterministisch kontinuierlich mit dem Parameter Zeit. Prinzipiell handelt es sich dabei analog zur klassischen Physik um die Beschreibung eines raum-zeitlich
kontinuierlichen Vorgangs der Ausbreitung von Wellen, die grunds¨
atzlich
miteinander interferieren k¨onnen (vgl. Superposition von Zust¨
anden). Diese
Wellenfunktion (Zustandsvektor) und ihre Bewegung bleibt der Erfahrung
jedoch grunds¨atzlich verschlossen. Der abstrakte n-dimensionale Hilbertraum muss auf den Erfahrungsraum der klassischen Mechanik abgebildet
werden. Eine Messung erfolgt nach der klassischen Theorie.
b) Zustands¨
anderung als Emission oder Absorption
¨
Der Ubergang
des Quantensystems von einem elektronischen Zustand zu ei¨
nem anderen kann quantenmechanisch nur als Ubergangswahrscheinlichkeit
angegeben werden. Als Prozess in seinem kontinuierlichen Verlauf bleibt er
unzug¨anglich.23
Die Ver¨anderung zwischen einer Messung z.B. des Ortes und der n¨
achsten
Messung des Ortes wird in der Quantenmechanik nicht als klassische Ortsbewegung eines vereinzelten Teilchens im Erfahrungsraum betrachtet. Zwischen den Messungen wird die Ver¨
anderung des Systems allein durch die
Evolution des Zustandsvektors beschrieben, die im Darstellungsraum verbleibt. Allerdings sollte ein Ortswechsel vorliegen, wenn ein Elektron aus einer Quelle ausgesandt nach einer Zeit auf einem entfernt stehenden Schirm
nachgewiesen wird oder ein Elektronenstrahl im Magnetfeld eine Kreisbahn
beschreibt.
c) Pr¨
aparation eines reinen Zustandes
Durch eine Messung am Quantensystem wird ein Zustand realisiert, d.h. aus
einem Spektrum von m¨oglichen Zust¨
anden bzw. aus einem statistischen Ge23
Das geht soweit, dass der Versuch, durch Spektroskopie eines elektronischen Zustandes
bekannter Lebensdauer den Zeitpunkt des Zerfalls desselben zu ermitteln, in der Weise
fehlschl¨
agt, dass der Zustand, solange er ,beobachtet‘ wird, nicht zerfallen kann. Dieser Sachverhalt wird als Quanten-Zeno-Effekt bezeichnet, siehe: D. Giulini et. al. (1996),
S. 96ff. Experimentell kann zumindest die Dynamik der Zustandsevolution durch entsprechend wiederholte Messungen am System beschleunigt bzw. gebremst werden. (Den
Hinweis darauf verdanke ich Klaus Morawetz, priv. Mitteilung.)
138
misch von Zust¨anden wird ein (reiner) Zustand ausgew¨
ahlt. Dieser liegt der
folgenden quantenmechanischen Systementwicklung (Evolution der Wellenfunktion) zugrunde, die gem¨
aß der Schr¨
odingergleichung erfolgt. Im Grunde
handelt es sich um das inverse Problem der Messung, welches unter d) besprochen wird.
d) Der Messprozess
¨
Eine Messung bedeutet den Ubergang
vom Darstellungsraum zum Erfahrungsraum. Aus einem Spektrum m¨
oglicher Messwerte wird einer tats¨
achlich
¨
gemessen. Mittels Ubergangswahrscheinlichkeiten
kann angegeben werden,
mit welcher relativen H¨aufigkeit ein Messwert aus einem Spektrum von
Messwerten nachgewiesen wird. Wenn der quantenmechanische Zustandsvektor eine Vielzahl von m¨
oglichen Messresultaten beschreibt und in der
Messung nur einer davon gemessen (realisiert) wird, so liegt es nahe, den
Messprozess als ,Reduktion des Zustandsvektors‘ zu verstehen. Das dahin¨
terliegende Problem, welches erkl¨
art werden muss, ist dasjenige des Ubergangs von der quantenmechanischen Systembeschreibung zu klassisch physikalischen Messwerten. Im Grunde setzt die Erkl¨
arung des Messprozesses das
Verst¨andnis des Verh¨altnisses von Quantenmechanik und klassischer Physik
voraus.
Es gibt grunds¨atzlich zwei Varianten der physikalischen Erkl¨
arung des
Messprozesses:
i) Sowohl das Messger¨at als auch das Quantensystem werden quantenmechanisch betrachtet.
Eine Messung beinhaltet eine physikalische Wechselwirkung von Messsystem und Quantensystem. Beide Systeme bilden ein neues Gesamtsystem; nach der Messung separieren beide Systeme wieder und es liegt
in der Regel ein anderes Quantensystem vor. Offen bleibt bei dieser
Erkl¨arung, wie es u
¨berhaupt zu einem (klassischen) Messwert kommt,
wenn auch das Messger¨
at quantenmechanisch beschrieben wird.
ii) Das Messger¨at wird klassisch beschrieben.
Die Messung am Quantensystem wird als instantane, unstetige Reduktion des Zustandsvektors verstanden. Weshalb sich Heisenberg veranlasst sieht, hierf¨
ur den aufgegebenen Begriff des ,Quantensprungs‘
wieder aufzunehmen: Da sich durch die Beobachtung unsere Kenntnis
”
des Systems ge¨andert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig ge¨andert, und wir sprechen daher von einem Quantensprung.“ (Heisenberg (1959), S. 37)
139
Was die physikalische Erkl¨
arung des Messprozesses betrifft, ist der Dekoh¨arenzansatz vielversprechender.24 Die quantenmechanische Vielfalt
¨
von m¨oglichen Messresultaten, welche sich in der Uberlagerung
von
Zust¨anden zeigt, gehe gem¨
aß Dekoh¨
arenzansatz durch die Kopplung
an die Umgebung (Messger¨
at) verloren. Der Eindruck der Unstetigkeit der Messung wird durch die K¨
urze der Dekoh¨
arenzzeit erkl¨
art.
Dabei bleibt der indeterministische Charakter der Messung insofern
bestehen, als dass nicht erkl¨
art werden kann, welcher Wert einer Observablen (Messgr¨oße) letzlich gemessen werden wird.
Meines Erachtens h¨angt jede der gegebenen Erkl¨
arungen des Messprozesses, d. h. jede Deutung des Messproblems, von der jeweils veranschlagten
Interpretation des Zustandsvektors ab. Ausgangspunkt ist die von Born gegebene statistische Deutung der Wellenfunktion (Zustandsvektor). Sie ist
im Lichte philosophischer Kategorien zu diskutieren. Erst daraufhin kann
entschieden werden, inwiefern der Messprozess als physikalischer Vorgang
betrachtet werden kann.
10.3
10.3.1
Die Bedeutung der Wellenfunktion
Statistische Deutung
In der Quantenmechanik wird der Zustand eines Systems durch eine Wellenfunktion beschrieben. Diese Wellenfunktion ist eine L¨
osung der Schr¨
odingergleichung, d. i. eine spezielle Darstellung der quantenmechanischen Bewegungsgleichung (vgl. Anhang A.3). Da es nicht gelingt, die Wellenfunktion
direkt als eine physikalische Messgr¨
oße zu interpretieren, deutet Max Born
1926 die Wellenfunktion im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsangabe.25 Somit
24
Tats¨
achlich ist die Erkl¨
arung, die David Bohm dem Messprozess gibt, der Erkl¨
arung
mittels des Dekoh¨
arenzansatzes verwandt. Bei Bohm entsteht das Messresultat jedoch
bereits auf der Quantenebene. Die vom nichtlokalen Quantenfeld determinierten Trajektorien h¨
angen gem¨
aß Bohm sensitiv von den Anfangsbedingungen (Quantenfeld) ab (vgl.
klassisch deterministisches Chaos). Die Auswahl des Messresultates sei bereits dadurch
bedingt und werde bis zum klassischen Messergebnis hin nur verst¨
arkt (vgl. Bohm et. al.
(1987), S. 332-337).
25
Born deutet in einer Fußnote seines Aufsatzes von 1926: Zur Quantenmechanik der
”
Stoßvorg¨
ange“, die Wellenfunktion als eine Wahrscheinlichkeitsamplitude; entsprechend
ist das Quadrat der Wellenfunktion proportional zur Wahrscheinlichkeit. Genau besehen
hat die Wellenfunktion in statistischer Deutung die Eigenschaft der Amplitude einer Wahrscheinlichkeitsdichte. Das Quadrat der (auf eins normierten) Wellenfunktion in Ort und
Zeit Ψ(r, t) bezogen auf ein Volumenelement dV , ergibt das Maß f¨
ur die Wahrscheinlichkeit P mit der bei einer Ortsmessung das Quantenteilchen zu einem Zeitpunkt
innerhalb
R
des Volumenelements angetroffen wird. Mathematisch formuliert: P = V |Ψ(r, t)|2 dV .
140
ist mittels der Bewegungsgleichung der Quantenmechanik die zeitabh¨
angige
Wahrscheinlichkeit berechenbar, mit der ein jeweiliger Erwartungswert aus
dem Spektrum m¨oglicher Erwartungswerte einer Messgr¨
oße (z. B. der Energie) tats¨achlich als Messwert auftritt (unter Beachtung der klassischen Messunsicherheit). (Zur Theorie der Messung siehe Anhang A.3.) Ob ein Quan¨
tensystem Licht emittiert, kann dementsprechend nur als Ubergangswahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Die Wahrscheinlichkeit selbst ¨
andert sich
mit der Zeit prinzipiell kontinuierlich, w¨
ahrend der einzelne Emissionsakt
nur als statistisches Ereignis erfahrbar ist. Sein Zeitpunkt ist somit nicht
exakt vorausberechenbar.
Die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit wird indes nicht im Sinne
der klassischen Statistik verstanden. In der klassischen statistischen Mechanik wird von einer objektiven Determinierheit des Geschehens ausgegangen.
Die Statistik ist nur Ausdruck des subjektiven Unverm¨
ogens eine komplexe
Wechselwirkung einer sehr großen Zahl von Teilchen im Detail zu analysieren. In diesem Sinne wird dieses Verst¨
andnis der Statistik auch als Ignoranzinterpretation bezeichnet. In der weithin akzeptierten Auffassung (eine
Ausnahme bildet die u. a. von David Bohm vertretene Theorie verborgener Parameter) der Quantenmechanik wird ein objektiver Indeterminismus
des quantenmechanischen Geschehens angenommen. Im Besonderen ist es
¨
die M¨oglichkeit zur Uberlagerung
der Wellenfunktionen, die ein Verst¨
andnis
der quantenmechanischen Statistik im Sinne einer Ignoranzinterpretation
verhindert. Wenn die Wellenfunktionen als Wahrscheinlichkeitsamplituden
¨
gedeutet werden und Wellen sich typischerweise durch Uberlagerung
gegenseitig verst¨arken bzw. abschw¨
achen k¨
onnen, m¨
ussten sich die Wahrscheinlichkeiten ebenfalls gegenseitig beeinflussen k¨
onnen. Dies best¨
atigen experimentelle Ergebnisse der Quantenmechanik. Klassische Wahrscheinlichkeiten k¨onnen sich nicht gegenseitig beeinflussen, weshalb ein Verst¨
andnis der
quantenmechanischen Statistik im Rahmen der Ignoranzinterpretation nicht
gelingt. (Vgl. hierzu die Diskussion im Anhang A.4.)
10.3.2
Die Wellenfunktion und der ontologische Begriff der M¨
oglichkeit
Weder gelingt es, die Wellenfunktion als nur subjektiven Ausdruck unseres
Wissens zu deuten, noch kann diese objektiv im Sinne einer physikalischen
Realit¨at (Messbarkeit) verstanden werden. Bereits Heisenberg visierte deshalb eine Deutung der Wellenfunktion in Richtung ontologischer M¨
oglichkeit an. Hierzu erinnert er an die Einf¨
uhrung von Wahrscheinlichkeitswel-
141
len durch Bohr, Kramers und Slater gegen 1924, um jene dann im Sinne
der ontologischen M¨oglichkeit unter Hinweis auf Aristoteles zu deuten:26
Die Wahrscheinlichkeitswelle [d. i. die Wellenfunktion in bestimm”
ter Darstellung, Anm. M. V.] [...] bedeutete so etwas wie eine Tendenz
zu einem bestimmten Geschehen. Sie bedeutete die quantitative Fassung des alten Begriffs der d–namic oder Potentia in der Philosophie
des Aristoteles. Sie f¨
uhrte eine merkw¨
urdige Art von physikalischer
Realit¨at ein, die etwa in der Mitte zwischen M¨oglichkeit [im logischen
Sinne] und Wirklichkeit steht.“ (Heisenberg (1959), S. 25)
F¨
ur Heisenberg dr¨
uckt die Wellenfunktion (Zustandsvektor) einerseits
,mehr‘ aus als nur die logische M¨
oglichkeit des widerspruchsfrei Denkbaren andererseits aber auch weniger als die ,Wirklichkeit‘ eines physikalisch
messbaren Zustandes.
Die wenigen Andeutungen, die Heisenberg in Richtung der aristotelischen
Deutung der Wellenfunktion als M¨
oglichkeit gibt, sind wiederholt aufgegriffen worden, zuletzt etwa von Sfendoni-Mentzou (2000). Letztere verweist
auf den aristotelischen Begriff der Materie, insbesondere der Ersten Materie (pr”th ¦lh), und dessen Verbindung zum Begriff der M¨
oglichkeit. Systematisch gelangt Sfendoni-Mentzou jedoch nicht u
ber
die
Antizipationen
¨
¨
Heisenbergs hinaus, vor allem weil u
¨ber die Bemerkung von Ahnlichkeiten
hinaus keine Interpretation der modernen Physik mittels aristotelischer Begriffe versucht wird.
Anders James Robert Brown, dieser untersucht die Leistungsf¨
ahigkeit
des Versuchs mittels Deutung der Wellenfunktion durch den Begriff der Potentialit¨at die Probleme der Quantenphysik (wie das Gedankenexperiment
mit Schr¨odingers Katze und die Bellschen EPR-Korrelationen) zu verstehen.
Mit Brown ist festzuhalten, dass eine Namens¨
anderung der Wellenfunktion
in Potentialit¨
at ,die Probleme keineswegs in befriedigender Weise l¨
ost‘ (vgl.
Brown (2000), S. 161). Insbesondere gilt dies, wenn der Messprozess im Sinne der Kopenhagener Deutung als Reduktion der Wellenfunktion verstanden
wird. Das Resultat des EPR-Experiments zieht Brown heran, um zu zeigen,
dass die Deutung der Wellenfunktion im Sinne einer M¨
oglichkeit mit der
quantenmechanischen Beschreibung inkompatibel ist. Meines Daf¨
urhaltens
hat Brown damit allerdings nicht gezeigt, dass die Deutung des Zustandsvektors im Sinne einer ontologischen M¨
oglichkeit im Anschluss an Aristoteles
versagt, sondern nur, dass der in Anschlag zu bringende Begriff der M¨
oglichkeit eben nicht derjenige der logischen M¨
oglichkeit sein kann. Dieser ist zwar
26
Inwiefern Heisenberg damit den aristotelischen Begriff der M¨
oglichkeit ad¨
aquat wiedergibt, soll an dieser Stelle nicht interessieren.
142
mit der Ignoranzinterpretation der klassischen Statistik kompatibel, nicht
jedoch mit der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, die bekanntlich nicht im Sinne der Ignoranzinterpretation verstanden werden kann
(vgl. Anhang A.4).
Ebenfalls kritisch gegen¨
uber dem Ansatz, mittels des aristotelischen Begriffs der M¨oglichkeit zu tieferer Einsicht in die Quantentheorie zu gelangen,
¨außert sich Falkenburg: Aus [...] der modalen Ausdrucksweise, die vor al”
lem Heisenberg unter Ankn¨
upfung an Aristoteles verwendete, lernt man u
¨ber
die Referenzobjekte der Quantentheorie nichts Neues.“ (Falkenburg (1993),
S. 239) Wenngleich auf diese Weise u
¨ber das Was-Sein der ,Referenzobjekte‘, die Gegenst¨ande der Quantenmechanik, direkt wenig zu erfahren sein
wird, kann indes klar werden, wie die Quantenmechanik zu ihren ,Referenzobjekten‘ gelangt. Die Instanz, die dar¨
uber Auskunft erteilt, was z. B. ein
Elektron ist, ist die Physik. Durch die Untersuchung, auf welche Weise die
Physik zu ihren ,Referenzobjekten‘ gelangt, kann folglich etwas u
¨ber deren Struktur ausgemacht werden. Die Wellenfunktion geh¨
ort nun zweifellos
zu den Mitteln, mit denen das quantenphysikalisch Wirkliche erschlossen
wird. Insofern vermittelt deren Deutung durchaus eine Erkenntnis u
¨ber die
Verfasstheit der Quantenobjekte. In diesem Sinne verspricht auch die Untersuchung des Bewegungsbegriffs als desjenigen, wodurch und woraufhin
physikalische Wirklichkeit angesprochen (kategorisiert) wird, eine Einsicht
in die Struktur physikalischer ,K¨
orper‘.
Der Versuch, die Wellenfunktion im Sinne einer M¨
oglichkeit zu deuten,
bleibt indes solange unzureichend, wie der Zusammenhang der Wellenfunktion mit dem quantenmechanischen Prozess unbedacht bleibt. Erst im Horizont des quantenmechanischen Bewegungsbegriffs wird deutlich, welchen
Beitrag die Begriffe Stoff (žlh), Form (e~
>idoc), M¨
oglichkeit (d–namic) und
Wirklichkeit (‰n‘rgeia) zur Deutung der quantenmechanischen Erkenntnis
leisten k¨onnen.
Wenn die Wellenfunktion (Zustandsvektor) als Ausdruck nicht einer Wirklichkeit, sondern einer M¨oglichkeit zu bestimmten Formen, Strukturen27 und
Ver¨anderungen verstanden werden kann, dann zeigt die Wellenfunktion Ψ
bzw. der Zustandsvektor |Ψi eine Erkenntnis des Stoff-Moments an. Welche Form den vorliegenden Stoff (das Quantensystem) pr¨
agen wird, kann
erst nach einer Messung entschieden werden. Mittels der Quantenmechanik
lassen sich f¨
ur ein bestimmtes System, d. h. f¨
ur eine als vorliegend angenom27
Dabei sei z. B. an die Berechnung von Bindungswinkeln und elektronischen Bandstrukturen gedacht sowie an die geometrisch in verschiedenen Symmetrien ausgebildeten Veranschaulichungen der Atomorbitale (Aufenthaltswahrscheinlichkeiten verschiedener Zust¨
ande).
143
mene Strukturiertheit, die weiteren Struktur- und Ver¨
anderungsm¨
oglichkeiten vorhersagen. Die statistische Interpretation der Wellenfunktion schl¨
agt
dabei die Br¨
ucke von der Allgemeinheit quantenmechanischer Systemaussagen zu empirisch nachweisbaren Strukturen und Ver¨
anderungen. Damit
vermittelt sie auf mathematische Weise die quantenmechanische Systembeschreibung mit der klassisch physikalischen Messrealit¨
at. Innerhalb der
Quantenmechanik wird die stoffliche Bedingtheit von Strukturen und Bewegungen untersucht. Es wird nach der causa materialis gefragt. In dieser
¨
Hinsicht bedeutet die kontinuierliche Anderung
der Wellenfunktion gem¨
aß
¨
der Schr¨odingergleichung (Evolution des Zustandsvektors) eine Anderung
der Bedingungen zu Strukturen und Prozessen. Die Ver¨
anderung in diesen
Bedingungen zeigt sich in einer Ver¨
anderung der Wahrscheinlichkeit, m¨
ogliche Strukturen verwirklicht zu finden.
Gemeinsam mit der Bewegungsgleichung entspricht die Wellenfunktion
der Forderung nach dem Zugrundeliegenden des quantenmechanischen Prozesses. Die Wellenfunktion ist der mathematische Ausdruck f¨
ur die zeitlich kontinuierlich ver¨anderliche Vermittlungsinstanz zwischen den zeitlosen
(station¨aren) quantisierten Zust¨
anden. Zudem dr¨
uckt sie die Disposition zu
spezifischen Zust¨anden und Zustands¨
anderungen quantitativ aus.
Hinsichtlich der aristotelischen Differenzierung zwischen Stoff und Form
l¨asst sich Folgendes festhalten. Im Unterschied zur Quantenphysik betrachtet die klassische Physik stets allein das Wirkliche (das Form-Moment).
Wenn sie es mit der Materie zu tun haben meinte, hat sie im aristotelischen
Sinne nichts anderes als die Formen, die Wirksamkeiten untersucht (jedoch
unter Ausklammerung des Zweck-Begriffs). Als solches kann das M¨
ogliche
einer Beobachtung, einem Experiment nicht zug¨
anglich werden; das M¨
ogliche, aristotelisch gedacht, ist im urspr¨
unglichen Sinne die Materie, der Stoff.
Wenn die Wellenfunktion ein Ausdruck der M¨
oglichkeit ist, dann leitet sich
daraus die Vermutung ab, dass es die Quantenmechanik weniger mit der
Materie als eines Anfassbaren, Widerstand Leistenden zu tun hat, sondern
mit dem Stoff-Moment, mit der Materie als einem Prinzip. Gleichwohl handelt es sich nicht um die Erste Materie. Indem die Wellenfunktion stets
bestimmte M¨oglichkeiten zu etwas ausdr¨
uckt, ist sie schon strukturiert. Als
formal gefasste Materie-Ursache ist sie bereits in Abh¨
angigkeit vom jeweiligen Quantensystem und dem wirksamen Kraftfeld (Potential) spezifiziert.
Damit scheint die Physik unversehens von der Betrachtung der Widerstand leistenden Materie zur Untersuchung der Materie als Begriff gelangt zu
sein. Innerhalb der Untersuchung des quantenmechanischen Prozesses wird
diese Vermutung deutlicher an Kontur gewinnen. Gleichzeitig mit der Betrachtung des Stoff-Moments m¨
usste auch dessen Relat, das Form-Moment,
144
deutlich hervortreten. Das in der klassischen Physik auf den Massenpunkt
reduzierte und bis zur Bedeutungslosigkeit vernachl¨
assigte Zugrundeliegende
der Bewegung wird im quantenmechanischen Prozess wiederentdeckt und als
ein dem Prozess wesentliches Moment in die begrifflichen Relate von Form
und Stoff differenziert.
Bevor der quantenmechanische Prozess analysiert wird, m¨
ochte ich zeigen, aus welchem Grund der Messprozess nicht als ein Prozess im physikalischen Sinne zu betrachten ist und deshalb in der Diskussion um den
quantenmechanischen Bewegungsbegriff nicht ber¨
ucksichtigt wird.
10.4
¨
Der Messprozess als Ubergang
von quantenmechanischer Systembeschreibung zum klassischen Messergebnis
Ein Quantensystem wird durch die Angabe der Wellenfunktion (Zustandsvektor) charakterisiert. Diese ist in der vorgeschlagenen Deutung der Ausdruck f¨
ur die reale M¨oglichkeit eines Systemverhaltens, nicht f¨
ur eine Wirklichkeit, dem Vorliegen bestimmter Strukturen. Vom Standpunkt der Quantenmechanik besehen, beinhaltet die Messung insofern eine ,Wechselwirkung‘ zwischen dem Messger¨
at und dem Quantensystem, als dass sich aus
quantenmechanisch beschriebenem Messger¨
at und Quantensystem ein neues Gesamtsystem bildet, dessen gemeinsame Wellenfunktion wiederum die
M¨oglichkeiten des Gesamtsystems zu Ver¨
anderungen und Strukturen be28
schreibt. Das tats¨achliche Resultat einer Messung am System ist jedoch
nicht das Ergebnis einer physikalischen Wechselwirkung zwischen Wellen¨
funktion und Messger¨at, da dieses wesentlich den ,Ubergang‘
vom quantenmechanischen Formalismus zur klassischen Physik beinhaltet. Indem dieser
¨
,Ubergang‘
von der statistischen Deutung der Wellenfunktion erkl¨
art ist,
kommt dieser die Rolle einer Projektionsvorschrift zu, die den abstrakt mathematischen Darstellungsraum der Quantenmechanik auf den konkreten
Erfahrungsraum projiziert.
Wenn die Wellenfunktion ein Spektrum m¨
oglicher Resultate einer Messung beinhaltet, in der Messung je ein bestimmtes Resultat aus dem Spektrum ,ausgew¨ahlt‘ wird, d. h. ein Zustand als am System vorliegende Wirk¨
samkeit nachgewiesen wird, liegt es nahe, die Messung als den ,Ubergang
28
Meines Erachtens ist in der Bildung eines gemeinsamen Systems aus Messger¨
at und
Quantensystem der Grund der Kontextabh¨
angigkeit quantenmechanischer Messresultate
zu suchen. Je nach experimenteller Anordnung wird am gleich pr¨
aparierten Quantensystem
(z. B. Elektron) einmal der Teilchen- ein andermal der Wellencharakter nachgewiesen.
145
vom Potentiellen zum Faktischen‘ zu verstehen.29 Diese Auffassung erinnert
an die aristotelische Definition der Bewegung, dergem¨
aß ein M¨
oglichseiendes
¨
als ein solches verwirklicht wird. Der Ubergang vom logischen Modalbegriff
der M¨oglichkeit zu demjenigen der Wirklichkeit ist jedoch keine (k¨
orperli¨
che) Bewegung im aristotelischen Sinne. Es mangelt diesem ,Ubergang‘
an
dem vermittelnden Zugrundeliegenden, dem Stoff-Moment. Im Falle einer
physikalischen Bewegung w¨
are dieses durch den bewegten K¨
orper gew¨
ahrleistet. Gem¨aß Aristoteles ist die physikalische Bewegung aber nicht als eine Reduktion der (vor einer Messung) vorliegenden M¨
oglichkeiten zu einer
Wirklichkeit zu betrachten, sondern als Verwirklichung des M¨
oglichseienden
als eines solchen.
Im Vorhergehenden ist die Wellenfunktion indes auch nicht als Ausdruck
einer logischen M¨oglichkeit gedeutet worden, sondern als Ausdruck einer real
ontologischen M¨oglichkeit (welche die logische einschließt). Auf diese Wei¨
se sollte die M¨oglichkeit der Uberlagerung
der Wellenfunktion und somit
die gegenseitige Beeinflussung der Wahrscheinlichkeiten erfasst werden. Das
Moment der ontologischen M¨
oglichkeit, welches das Stoff-Moment tr¨
agt, ist
indes kein M¨oglichseiendes, welches einer Ver¨
anderung unterzogen werden
kann. Ein Seiendes ist (aristotelisch gedacht) stets ein aus Stoff- und FormMoment Zusammengesetztes. Wenn die Wellenfunktion ein Ausdruck f¨
ur die
Materie (Stoffmoment) in ihren strukturalen Ver¨
anderungsm¨
oglichkeiten ist
und eine gelungene Messung als der Nachweis einer Wirksamkeit, das Anzeigen einer den Stoff pr¨agenden Form gedacht werden kann, dann m¨
usste,
wenn der Messprozess ein (rein) physikalischer Vorgang – eine Bewegung –
w¨are, durch die Messung der Stoff zur Form geworden sein. Eine Ver¨
anderung im aristotelischen Sinne ist das nicht, diese erfordert eine Pr¨
agung des
Stoffes durch die Form. Der Messprozess kann in diesem Sinne nicht als eine
physikalische Ver¨anderung angesehen werden.
Wenn die Quantenmechanik und die klassische Mechanik zwei m¨
ogliche,
je andersartige Erkl¨arungsweisen der physikalischen Wirklichkeit sind, ist
¨
es verfehlt, den Ubergang
von einer Theorie zur anderen als eine physikalische Ver¨anderung verstehen zu wollen. Schließlich bleibt zu beachten, dass
die Quantenmechanik zur Erkl¨
arung der physikalischen Wirklichkeit stets
der klassischen Physik bedarf, und zwar nicht in Gestalt des ,klassischen
Grenzfalles hoher Quantenzahlen‘, sondern als einer eigenst¨
andigen Theo29
In diesem Sinne deutet Heisenberg den Akt der Beobachtung, den er jedoch nicht als
¨
physikalischen Vorgang verstanden wissen will, sondern als [...] die unstetige Anderung
”
¨
unserer Kenntnis im Moment der Registrierung, die durch die unstetige Anderung
der
Wahrscheinlichkeitsfunktion abgebildet wird.“ (Heisenberg (1959), S. 37f.)
146
rie, welche die Konkretisierung des quantenmechanischen Formalismus hin
zu klassischen Messgr¨oßen erm¨
oglicht.
Der quantenmechanische Messprozess ist keine Bewegung, sondern ein
¨
Ubertritt
von der Sph¨are der theoretischen Vorhersage materieller Disposition (zu Form und Ver¨anderung) zur Sph¨
are des nachweislichen Vorliegens
eines durch eine bestimmte Form und ein bestimmtes Verhalten gepr¨
agten
Stoffs. Dieser Sprung von einer Kategorie in die andere, den Heisenberg als
Quantensprung bezeichnet (Heisenberg (1959), S. 37; s. o. S. 136, sowie
zur urspr¨
unglichen Verwendung des Ausdrucks: S. 131), ist weit zutreffender
mit Szilasi als eine metbasic ec llo g‘noc, als eine Grenz¨
uberschreitung,
zu kennzeichnen:
Das Experiment hat in ihr [sc. der Quantenphysik] eine grund”
legend andere Rolle als in der klassischen Physik. Es bezeichnet den
¨
Wechsel des Erfahrungsbereiches, eine metbasic, einen Ubertritt
(R¨
uckkehr) in das andere Genos, in den anderen Zusammenhang.“ (Szilasi
(1949), S. 40)
Die beiden verschiedenen Erfahrungsbereiche, von denen Szilasi im Zitat
spricht, sind derjenige der ontologischen und derjenige der ontischen Erfahrung. W¨ahrend die ontologische Erfahrung der Physik die theoretische
Grundlegung betrifft, welche festlegt, in welcher Weise das Ontische ist und
erfahrbar gemacht werden kann, wird in der ontischen Erfahrung auf den
physikalischen Gegenstand selbst zugegangen. Diese Deutung der modernen
Physik im Lichte der Unterscheidung jener beiden Erfahrungsbereiche wird
in Kapitel 12.1 n¨aher diskutiert.
11
Der quantenmechanische Bewegungsbegriff
Ausgehend von der Deutung der Wellenfunktion als ein Mittel der Erkenntnis ontischer Strukturm¨oglichkeiten der Materie und der Materie hinsichtlich ihrer strukturalen Disposition zu Ver¨
anderungsm¨
oglichkeiten ergibt sich,
dass die Evolution der Wellenfunktion (s. o. S. 134) nicht als die Bewegung
eines Seienden verstanden werden kann. Sie ist weder eine Ortsbewegung
noch eine Ver¨anderung einer physikalischen Gr¨
oße (Wirksamkeit), da sie
den Wandel von Strukturm¨
oglichkeiten, nicht denjenigen von Strukturen,
betrifft. Wie im vorigen Kapitel dargelegt, kann der Messprozess (s. o. S.
¨
136), d. i. der ,Ubergang‘
von der quantenmechanischen Systembeschreibung zu einem konkreten Messresultat, ebensowenig als ein physikalischer
Vorgang verstanden werden.
147
Wenn von einem Fortschritt innerhalb der neuzeitlichen Physik gesprochen werden kann, so besteht dieser weniger in der Erschließung neuer
Ph¨anomenbereiche, als vielmehr in der Aufdeckung der Bedingtheit physikalischer Erfahrung. Relativit¨
atstheorie und Quantenmechanik versuchen die
Bedingungen einzuholen, unter denen ontische Bewegungszusammenh¨
ange
erst erfahrbar werden. W¨ahrend die Relativit¨
atstheorie dies bez¨
uglich des
klassischen Schemas der Ortsbewegung leistet, u
¨bersteigt die Quantenmechanik diese Restriktion auf die Ortsbewegung und kl¨
art die Bedingtheit
einer anderen Bewegungsart.
¨
Die Quantenmechanik gelangt durch die Uberwindung
der Reduktion
auf mechanische Ortsbewegungen zur Erfahrung substantiellen Wandels, der
im Schema von Entstehen und Vergehen begriffen werden muss. Mit der
Erschließung des substantiellen Wandels (metabol’) dringt die Physik in
das Gebiet der Chemie vor. Entsprechend ¨
außerte sich Planck bereits 1911:
Ich bin gegenw¨artig geneigt, [...] einen prinzipiellen Gegensatz an”
zunehmen zwischen den Vorg¨angen, welche nach Wirkungsquanten erfolgen, und solchen, welche vollkommen stetig, nach den Gesetzen der
klassischen Dynamik, verlaufen, und zwar suche ich die Grenzlinie an
derselben Stelle, wo die Scheidung zwischen physikalischen und chemischen Vorg¨angen anzunehmen ist [...]“ (Planck II, S. 285)
Zehn Jahre nach Entdeckung der bohrschen Atomtheorie spricht Planck gar
davon, [...] daß die Bohrsche Theorie [...] schließlich sogar die Grenze zwi”
schen Physik und Chemie prinzipiell vollkommen beseitigt hat.“ (Planck II,
S. 543) In diesem Sinne wird die Chemie h¨
aufig als die ,Physik der Elektronenh¨
ulle‘ bezeichnet. Diese Reduktion der Chemie auf die Physik ist meines
Erachtens wenigstens insoweit zutreffend, als dass die heutige Quantenchemie die Natur chemischer Bindungen erkl¨
art (Bindungskr¨
afte, Bindungsgeometrie, Bindungsenergie etc.) und somit die M¨
oglichkeiten zu chemischen
Stoffumwandlungen.
ˇ
Auch Capek
(1979) vermutet einen grundlegenden Wandel im Bewegungskonzept der Physik mit Einf¨
uhrung der Quantenmechanik.
[... In] the physical sciences at least, the concept of [local] displa”
cement gradually and apparently definitively has been superseded by
ˇ
the Heraclitean or Aristotelian concept of qualitative change.“ (Capek
(1979), S. 341)
ˇ
Diesen programmatischen Gedankens f¨
uhrt Capek
jedoch nicht systematisch aus. Zwar legt er dar, dass in der modernen Physik das atomistische
Erkl¨arungsmodell der Ortsbewegung von Teilchen (,kinetic model‘) nicht
mehr anwendbar ist (vgl. ebd., S. 342-344), doch f¨
uhrt er nicht aus, was
148
unter ,qualitative change‘ zu verstehen ist und inwiefern dieser sich in der
modernen Physik zeigt.
Anders Leclerc (1981), dieser untersucht insbesondere die Wandlung des
Materie-Begriffs, die er untrennbar mit einer Wandlung der Bewegungskonzeption verbindet. Im Hinblick auf die f¨
ur eine Physik unverzichtbare
M¨oglichkeit zur Wechselwirkung der physikalischen Materie stellt Leclerc
heraus, dass die ,physikalischen Entit¨
aten‘ (Materie) nicht nur als passiv,
sondern auch als aktiv gedacht werden m¨
ussen. Aktivit¨
at k¨
onne der physikalischen Materie jedoch nur aus einem inneren Prozess heraus zukommen,
der sich durch das Werden des Potentiellen zum Aktualen auszeichne (vgl.
Leclerc (1981), S. 23). Aus diesem inneren Prozess heraus erkl¨
art Leclerc die
M¨oglichkeit, dass physikalische K¨
orper aufeinander einwirken und Ortsbewegungen ausf¨
uhren k¨onnen. Abschließend stellt er fest, dass die Physik seit
dem 17. Jhdt. die Naturerscheinungen auf Ortsbewegungen von elementaren Entit¨aten zur¨
uckgef¨
uhrt hat und dass es eine immer noch weitverbreitete
Auffassung ist, dass sich bis heute daran nichts ge¨
andert habe. (vgl. Leclerc
(1981), S. 27)
But if the elementary entities be seen as basically ‘active’ – as
”
opposed to being inert, as formerly conceived – then the science of
nature is faced with a very different situation. For locomotive change
must be seen as but one aspect of the change involved in the process of
acting of physical entities, and not the most fundamental one at that.“
(ebd.)
Nachdem im Folgenden der Bewegungsbegriff der Quantenmechanik mittels aristotelischer Begriffe dargestellt worden ist, soll untersucht werden,
inwiefern die Physik mit dem Vorstoß in Richtung Chemie zugleich den materiellen Atomismus u
¨berwindet.
11.1
Quantenmechanik und Entstehen und Vergehen
Wie die Darstellung der Entstehungsgeschichte der Quantenphysik gezeigt
hat, ist, was in Bohrs Theorie des Atoms als Quantensprung bezeichnet
worden war, n¨amlich der Strahlungs¨
ubergang im Atom, der in der Quantenmechanik eigentlich aufzuschließende Prozess (siehe Kap. 9). Das Atom als
das Zugundeliegende der quantenmechanischen Zustands¨
anderung wird dabei nicht hinsichtlich einer Lagever¨
anderung betrachtet, sondern hinsichtlich
m¨oglicher Ver¨anderungen in seiner ,inneren Struktur‘. Von der Berechnung
außerer Zust¨ande gelangt man zur Berechnung innerer Zust¨
ande, die nicht
¨
wiederum auf die Berechnung a
ußerer
Zust¨
a
nde
zugrundeliegender
Bestand¨
teile zur¨
uckgef¨
uhrt wird.
149
Eine Analyse des quantenmechanischen Prozesses in einer streng aristotelischen Terminologie st¨
oßt indes auf Schwierigkeiten, die im Rahmen
dieser Untersuchung nicht ausf¨
uhrlich er¨
ortert werden k¨
onnen. Insbesondere m¨ochte ich jedoch auf die aristotelische Verwendung des Begriffs der
Qualit¨at hinweisen. Der Begriff ist so aufzufassen, dass zwischen einer qualitativen Ver¨anderung und einem qualitativen Wandel differenziert werden
kann.
In der aristotelischen Bewegungslehre involvieren zwei Prozesse eine qua¨
litative Anderung.
Wobei Aristoteles vor allem an die Ver¨
anderung grundlegender Qualit¨aten, die mittels der Sinne differenziert werden k¨
onnen, denkt.30
Eine qualitative Ver¨anderung (ˆllo•wsic) beinhaltet eine kontinuierliche Zuoder Abnahme der jeweiligen Qualit¨
at. Beim substantiellen Wandel (g‘nesic
ka• fjor) hingegen liegt entweder eine Qualit¨
at vor oder nicht – das Haben
oder nicht-Haben einer Qualit¨
at ist nicht teilbar. W¨
ahrend also eine qualitative Ver¨anderung in der Prozessdimension in ¨
ahnlicher Weise kontinuierlich
ist wie die Ortsbewegung, ist die Prozessdimension eines substantiellen Wandels diskret (vgl. oben S. 44). Mit der Einf¨
uhrung der Diskontinuit¨
at in die
Prozessdimension liefert die Quantenmechanik folglich ein Kriterium, um
¨
einen substantiellen Wandel von einer nur kontinuierlichen Anderung
der
31
Qualit¨at unterscheiden zu k¨
onnen.
Insofern der energetische Zustand des Quantensystems ,Atom‘ betrachtet
wird, k¨onnte eine nur quantitative Ver¨
anderung vermutet werden. Als Gr¨
oße
ist die Energie kontinuierlich ver¨
anderbar. Dem gebundenen Quantensystem ist indes die Quantisierung der Energie in Stufen charakteristisch, was
durch eine geometrisch andere Orientierung der Elektronendynamik veranschaulicht wird. Je andere Zust¨
ande des Atoms entsprechen anderen Orbitalen, visualisiert als Gebiete der jeweiligen Aufenthaltswahrscheinlichkeiten.
Verschiedene Zust¨ande korrespondieren zu unterschiedlichen geometrischen
Symmetrien (s-, p-, d- und f-Orbitale). Daheraus l¨
asst sich die Quantisierung
der Energie und insbesondere des Drehimpulses verstehen, welche mathematisch der L¨osung eines Eigenwertproblems entspricht. Indem die quantisierten Energieniveaus voneinander unterschiedenen Geometrien der Zust¨
ande
entsprechen, k¨onnen diese als qualitativ verschiedene Zust¨
ande aufgefasst
werden.
30
Als grundlegenden Sinn nennt Aristoteles den Tastsinn. Von den kontr¨
aren Qualit¨
aten
des Tastsinnes: warm/kalt, trocken/fl¨
ussig, schwer/leicht, hart/weich, klebrig/spr¨
od,
rauh/glatt, dick/fein bewahrt er f¨
ur die Prinzipienanalyse nur die ersten drei Paare auf,
f¨
ur die Elemente gar nur die ersten beiden (vgl. De gen. et corr. B 2).
31
Ich danke Sven M¨
uller f¨
ur den Hinweis auf diesen Punkt sowie f¨
ur die erhellenden
Gespr¨
ache zum Dialog zwischen aristotelischer Physik und Quantenmechanik.
150
In diesem Sinne ist der Prozess der Emission von Licht, der selbst im
Schema von Entstehen und Vergehen zu begreifen ist, mit einer qualitativen Wandlung des Atoms verbunden. Das ausgesandte Photon ist durch
ein bestimmtes Energiequantum und einen Spin (Polarisation) charakterisiert. Es kann als eine vom Atom sich abl¨
osende neue Gestalt verstanden
werden. In der Quantenelektrodynamik werden die Photonen als Zust¨
ande
des Strahlungsfeldes betrachtet, weshalb die Emission als Erzeugen und die
Absorption als Vernichten eines Feldzustandes erkl¨
art werden kann. Dieses
Schema von Entstehen und Vergehen findet in der Quantenchromodynamik
Anwendung auf Massenteilchen wie die Atomkernbestandteile (Nukleonen)
Proton und Neutron. Ein Neutron wandelt sich in ein Proton um unter Aussendung eines Elektrons und eines Elektron-Neutrinos (n → p + e− + ν¯e ),
wodurch die Erhaltungss¨atze (Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltungssatz) gewahrt bleiben. Dieser Prozess ist nur ein Beispiel f¨
ur die Erzeugung
und Vernichtung von Elementarteilchen und deren Umwandlung ineinander.
Es handelt sich dabei grunds¨
atzlich um eine Verallgemeinerung der Theorie
quantenmechanischer Zustands¨
anderungen f¨
ur h¨
ohere Energien und relativistische Geschwindigkeiten. Das Vergehen einer gewesenen Gestalt und das
Entstehen einer neuen erfolgt als jeweils Ganzes, da die qualitativ verschiedenen Zust¨ande nicht als solche kontinuierlich ineinander u
onnen.
¨bergehen k¨
Damit dieser substantielle Wandel denkbar ist, bedarf es insbesondere einer
vermittelnden Instanz, die als Zugrundeliegende bei dem Wandel erhalten
bleibt.
Am quantenmechanischen Prozess der Emission von Strahlung wird deutlich, dass das Vergehen einer alten und das Entstehen einer qualitativ neuen Struktur je mit einer Ortsbewegung beginnt und mit einer solchen endet. Das Vergehen eines angeregten Zustandes des Atoms ist verbunden mit
dem Entstehen eines Photons, das die Energiedifferenz zwischen angeregtem Zustand und Grundzustand in einer Ortsbewegung vom Atom hinweg
transportiert. Beim gegenl¨aufigen Prozess wird in Gestalt eines Photons eine
Energiemenge an das Atom herantransportiert und kann dort unter Bildung
eines angeregten Zustandes absorbiert werden. In diesem Sinne zeigt sich
die Terminierung der Ortsbewegung durch Entstehen und Vergehen neuer
Gestalten. Das Entstehen einer neuen Substanz setzt damit einerseits einer
kontinuierlichen Ortsbewegung das Ziel und ist andererseits der Ausgangspunkt einer anderen kontinuierlichen Ortsbewegung.
Ganz ¨ahnlich der aristotelischen Betrachtung wird der quantenmechanische Prozess des Entstehens und Vergehens hinsichtlich seiner ,Parameter‘,
d. h. seines Anfangs, seines Endes, der notwendigen Bedingungen seines Eintretens (Ursache) und deren Wahrscheinlichkeit betrachtet. Was sich damit
151
andeutet, ist weniger die Erfahrung eines Verlusts in Anbetracht des Fehlens
eines raum-zeitlichen Bewegungsverlaufs, als vielmehr die Erschließung einer
g¨anzlich anderen Bewegungsauffassung. Diese erinnert an die aristotelische
Auffassung der Bewegung, bei der eine Bewegung als Prozessganzheit aus
deren Momenten heraus verstanden wird: ,Etwas wird von etwas zu etwas in
einer Zeit durch Etwas‘. Eine Bewegung l¨
asst sich gem¨
aß Aristoteles nur aus
ihrer Zielgerichtetheit erschließen, ihrer Abgeschlossenheit, ihrer Ganzheit.
¨
Die Ahnlichkeiten
im Verst¨
andnis von Prozesshaftigkeit bei Aristoteles
und in der modernen Physik k¨
onnen indes u
atzlichen Dif¨ber die grunds¨
ferenzen nicht hinwegt¨auschen, die seit der neuzeitlichen Begr¨
undung der
Naturwissenschaft zwischen dem aristotelischen Konzept von Physik und
dem neuzeitlichen bestehen (vgl. Kapitel 4, S. 58ff.). Nichtsdestoweniger
erm¨oglicht der Versuch, den quantenmechanischen Prozess im Lichte des
aristotelischen Bewegungsverst¨
andnisses zu deuten, einen naturphilosophischen Einblick in die quantenphysikalische Erkenntnis des Wirklichen.
Wie Aristoteles herausstellt, zeigt sich beim Wandel im Bereich des Kontr¨aren, bei dem die Prozessdimension nicht bereits als kontinuierliche Gr¨
oße
¨
den Ubergang
selbst erkennbar werden l¨
asst, die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Vermittlungsinstanz, die dem Wandel zugrunde liegt, am deutlichsten. (siehe S. 44). Im Falle von Entstehen und Vergehen ergab sich,
dass das Zugrundeliegende ein nicht-sinnlich Wahrnehmbares sein m¨
usse
(vgl. oben S. 28). Insofern wahrnehmbar nur das ist, was formgestaltet ist,
m¨
usste es etwas sein, das nicht mehr nachweisbar w¨
are. In der modernen
Physik erinnert die Forderung nach der G¨
ultigkeit von Erhaltungss¨
atzen
an das Postulat eines beharrlich Zugrundeliegenden, ohne das kein Wandel
denkbar ist. Dasjenige, was dabei erhalten bleibt, z.B. die Energie, ist als solche nicht sinnlich wahrnehmbar. Das Kriterium der nicht-sinnlichen Wahrnehmbarkeit kann meines Erachtens in der modernen Physik jedoch nicht
sinnvoll angewendet werden. Obgleich also die Energie(menge) in gewissem
Sinne die Funktion des Zugrundeliegenden erf¨
ullt, ist es meiner Auffassung
nach verfehlt, jene mit demjenigen zu identifizieren, was bei Aristoteles Materie heißt.
¨
Der Ubergang
zwischen den diskreten Zust¨
anden kann durch das kontinuierliche Stoff-Moment vermittelt werden. Was leistet diesbez¨
uglich die
Bewegungsgleichung, mit der immerhin eine kontinuierliche Entwicklung der
Wellenfunktion beschrieben wird? – Im Folgenden soll dargelegt werden, wie
es in der Quantenmechanik gelingt, die Wellenfunktion als Vermittlungsinstanz des diskreten Prozesses von Entstehen und Vergehen einzusetzen.
152
11.2
Zwischen diskontinuierlichem Ereignis und zugrundeliegendem Prozess: Die kontinuierliche Wellenfunktion
als Vermittlungsinstanz
Der quantenmechanische Prozess wird u
o¨ber die Bewegungsgleichung (Schr¨
dingergleichung) zug¨anglich. Diese beschreibt die zeitlich kontinuierliche Verare Zust¨
ande entsprechen dabei in sich
¨anderung der Wellenfunktion. Station¨
zur¨
ucklaufenden Wellenfunktionen, d. h. Wellenfunktionen die sich w¨
ahrend
der zeitlichen Evolution gem¨
aß der Bewegungsgleichung in ihrer Gestalt
selbst reproduzieren. Alle Evolution der Wellenfunktion ist kontinuierlich;
ein Sprung tritt nicht ein. Dennoch gelingt es, qualitativ neue Zust¨
ande zu
¨
erfassen und deren Ubergang zu vermitteln.
Insofern aus der Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit berechnet wird,
mit der eine neue Gestalt auftaucht, ist mit der kontinuierlichen Ver¨
anderung
der Wellenfunktion eine ebensolche der Wahrscheinlichkeitsangabe gegeben.
Das Ergreifen einer neuen Gestalt terminiert die kontinuierliche Entwicklung
der Wellenfunktion in dem Sinne, dass ein neues System mit einer anderen
Wellenfunktion beschrieben wird. Von da an beginnt wiederum eine kontinuierliche Entwicklung der Wellenfunktion.
W¨ahrend die stabilen Zust¨
ande diskret sind, ist die Evolution der Wellenfunktion ein zeitlich kontinuierlicher Vorgang, der die zeitliche Ver¨
anderung
¨
der Wahrscheinlichkeiten angibt, dergem¨
aß mit einem Ubergang
von einer
Gestalt zur anderen – das Vergehen der einen Gestalt (z. B. ein Elektron im
Zustand 2p) und das Entstehen einer anderen Gestalt (z. B. ein Elektron im
Zustand 1s) – zu rechnen ist. Auf der einen Seite entwickelt sich die Wahrscheinlichkeit f¨
ur das Ereignis Zustands¨
anderung kontinuierlich, auf der
anderen tritt das Ereignis der Zustands¨
anderung als Ganzes je ein, dessen
Zeitpunkt jedoch nicht vorausberechenbar ist. Die Wellenfunktion beinhaltet
die Information u
oglichen Zust¨
ande, w¨
ahrend am quantenmecha¨ber alle m¨
nischen System ein Zustand entweder als Ganzer verwirklicht ist oder nicht.
¨
Der Ubergang
von einer diskreten Form zur anderen kann ohne ein kontinuierlich Zugrundeliegendes nicht verstanden werden. Dies wird in der Quantenmechanik von der kontinuierlich ver¨
anderlichen Wellenfunktion geleistet.
Sie u
ur die
¨bernimmt die Rolle des Stoff-Moments, welches als Ausdruck f¨
ontologische M¨oglichkeit weder etwas wirklich Vorliegendes noch schlechthin
nichts ist. Gleichwohl handelt es sich bei der durch die Wellenfunktion und
die Bewegungsgleichung geleisteten Vermittlung des Entstehens und Vergehens neuer Gestalten um eine dualistische. Auf der einen Seite steht die
kontinuierliche Ver¨anderung der Wellenfunktion, auf der anderen Seite wird
das Entstehen einer neuen Qualit¨
at (Strahlungsquant) nur u
¨ber die statisti153
sche Deutung der Wellenfunktion zug¨
anglich. Mathematische Physik kann
die Ver¨anderung nur im Sinne kontinuierlicher Ver¨
anderung der Gr¨
oße erfassen. Sie erschließt sich dennoch das Entstehen und Vergehen qualitativ neuer Gestalten, indem sie die kontinuierliche Ver¨
anderung in einen abstrakten
Darstellungsraum verweist, das Auftauchen einer qualitativ neuen Struktur
jedoch innerhalb der Wahrscheinlichkeitsangabe als Ereignis im Erfahrungsraum der Messung zug¨anglich macht.
11.3
¨
Uberwindung
der klassischen Reduktion auf die kontinuierliche Ortsbewegung
Gegen¨
uber der Betonung der quantenmechanischen Novit¨
at substantiellen
Wandels (Entstehen und Vergehen) gegen¨
uber der klassischen Physik ist einzuwenden, dass auch in dieser bereits ,qualitative‘ Ver¨
anderungen, wie z. B.
Phasenumwandlungen von fest u
ussig zu gasf¨
ormig betrachtet werden,
¨ber fl¨
die aristotelisch ebenfalls in den Bereich substantiellen Wandels geh¨
oren.32
Innerhalb des atomistischen Erkl¨
arungsschemas wird etwa die Phasenumwandlungen von fest zu fl¨
ussig u
¨ber eine Zunahme an Ortsbewegung (unregelm¨aßige Zitterbewegung) der im Kristall gebundenen Teilchen erkl¨
art.
An einem gewissen Punkt wird die Bewegung der Bestandteile so stark,
dass der Kristall aufbricht und dessen Bestandteile sich (relativ) unabh¨
angig
voneinander im Raum bewegen k¨
onnen. Inwiefern es zu neuen Eigenschaften kommt, kann durch den kontinuierlichen Zuwachs an Ortsbewegung der
Bestandteile nicht erkl¨art werden.
W¨ahrend in der klassischen Physik aller qualitative Umschlag auf das
Schema kontinuierlicher (Orts-)Bewegung zur¨
uckgef¨
uhrt wird, erschließt die
Quantenmechanik durch den Dualismus einer kontinuierlichen Ver¨
anderung
¨
der Wellenfunktion und der Verrechnung von Ubergangswahrscheinlichkeiten in der Messung den ,qualitativen‘ Prozess, der gem¨
aß aristotelischer Terminologie als substantieller Wandel zu verstehen ist. Damit nimmt sie die
in der klassischen Physik entwickelte M¨
oglichkeit zur mathematischen Behandlung der kontinuierlichen Bewegung auf, um jedoch u
¨ber diese hinaus
zu gelangen. Zugleich liegt darin eine Beschr¨
ankung des Satzes ,natura non
facit saltus‘. Daraus folgt nun keineswegs, dass die Natur u
¨berhaupt nichts
anderes als nur Spr¨
unge mache, sondern dass es neben der kontinuierlich
quantitativen Ver¨anderung ebenso das Entstehen und Vergehen qualitativ
32
Dabei soll einmal davon abgesehen werden, dass es f¨
ur die klassische Physik u
¨berhaupt
keine Festk¨
orper und Fl¨
ussigkeiten ,gibt‘. Deren Bestehen und deren Eigenschaften k¨
onnen
erst in der Quantenmechanik erkl¨
art werden. Zuvor ist die ,Widerstand leistende‘ Materie
als das den (akzidentellen) Ver¨
anderungen Zugrundeliegende nur postuliert worden.
154
neuer Gestalten gibt, welches als pl¨
otzlicher Umschlag zu denken ist. Eine
neue Qualit¨at, eine neu entstandene Struktur, kann als Grenze einer kontinuierlichen Ver¨anderung (Bewegung) gedacht werden.
In diesem Sinne h¨alt auch Hegel gegen die alte Maxime der Naturforschung an der Irreduzibilit¨
at von Entstehen und Vergehen fest:
Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt; und die gew¨ohn”
liche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll,
meint [...] es damit begriffen zu haben, daß sie es als ein allm¨ahliches
Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt.“ (WdL1 , Bd. 1, S. 440)
Wenn Entstehen und Vergehen aber als allm¨
ahliche Ver¨
anderungen vorgestellt werden, dann ist bereits das Entstehende schon als Vorhandenes angenommen, das etwa nur der Kleinheit wegen nicht sinnlich wahrnehmbar ist,
so Hegel. Die Grenze von Entstehen und Vergehen ist jedoch nicht durch die
Grenze der Wahrnehmung bedingt, sondern beim Entstehen tritt Etwas, das
vordem nicht da war, ins Dasein. Eine neue Qualit¨
at entstehe somit nicht
aus einer vorhergehenden kontinuierlichen Ver¨
anderung eines Quantums:
Es hat sich aber gezeigt, daß die Ver¨anderungen des Seins u
¨ber”
¨
haupt nicht nur das Ubergehen
einer Gr¨oße in eine andere Gr¨oße, son¨
dern der Ubergang
vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allm¨ahlichen und
ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist.“ (ebd.)
In der Natur gibt es sowohl den Sprung wie die kontinuierliche Bewegung,
d. h. indes nicht, dass es sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche
Ver¨
anderung g¨abe, vielmehr ist eine Differenzierung kategorial verschiedener Arten von Wandel, wie sie Aristoteles erarbeitet hat, zur¨
uckgewonnen.
Zugleich sollte damit deutlich werden, dass der in der Physik zu denkende
Atomismus kein materieller Atomismus einer Extension sein kann – Gr¨
oßen
wie die Energie sind f¨
ur sich stets kontinuierlich –, sondern ein qualitativer,
ein Atomismus der Form, wie etwa Leibniz ihn in Abweisung des materiellen Atomismus vertreten hat (vgl. oben S. 88 sowie zur Ausf¨
uhrung des
Gedankens siehe Kapitel 11.4, S. 157ff.).
Durch den Vorstoß der modernen Physik in die neue Dimension von Entstehen und Vergehen ist mit der Wellenfunktion und deren Bewegungsgleichung die Wiederentdeckung der Materie markiert und zwar in der Bedeutung des aristotelischen Stoffprinzips als Vermittlung zwischen Gegens¨
atzen.
Inwiefern der Versuch, die Quantenmechanik mittels aristotelischer Begriffe
zu deuten, plausibel, gar tragf¨
ahig, ist, kann an dieser Stelle jedoch nicht
155
vollst¨andig gepr¨
uft werden. Eine umfassende Behandlung aller in der Quantenmechanik vorfindlichen Bewegungsprobleme kann nicht angestrebt werden – zu vielf¨altig sind die Anwendungsbereiche, zu verschieden die Zug¨
ange.
Insbesondere w¨are es wohl lohnend, die Theorie des quantenmechanischen
Stoßes (Streuproblem) zu untersuchen, auf die ich nur ansatzweise im folgenden Exkurs eingehen kann. Meines Erachtens werfen die dortigen Bewegungsprobleme jedoch keine prinzipiell neuartigen Aspekte auf, die sich nicht
in das grundlegende Bewegungskonzept von Entstehen und Vergehen einordnen ließen. Aus diesem Grund kann die Diskussion der Erkenntnissituation
¨
bereits aus den bisher entwickelten Uberlegungen
zum quantenmechanischen
Bewegungbegriff gef¨
uhrt werden.
Zwar verl¨asst die Quantenphysik die vormalige Einschr¨
ankung auf die
Ortsbewegung zugunsten der Erfassung des Wandels, so dass jene nicht mehr
der eigentliche Gegenstand der Quantenphysik ist. Indes gelingt es doch,
die Ortsbewegung, nun allerdings in abgeleiteter Weise, zu erfassen. Diese
M¨oglichkeit soll im folgenden Exkurs vorgestellt werden.
Exkurs: Die Ortsbewegung im Horizont von Entstehen und Vergehen als Beispiel einer erneuten Reduktion
W¨ahrend eine Ortsbewegung zun¨
achst nicht der Gegenstand der Quantenmechanik ist, kann sie doch mit deren Mitteln erschlossen werden. Dies gelingt indes nicht gem¨aß der klassischen Vorstellung einer kontinuierlichen
Ortsbewegung eines dynamisch wohlbestimmten Teilchens. Zum einen ist
die quantenmechanische Beschreibung mittels der Wellenfunktion und insbesondere deren statistischer Deutung inkompatibel mit der Vorstellung einer
raum-zeitlich kontinuierlichen Ortsbewegung. Zum anderen ist es aufgrund
der Unsch¨arferelationen nicht m¨
oglich, von einem dynamisch wohlbestimmten vereinzelten Teilchen als Bewegtem auszugehen.
Aus der Theorie ergeben sich charakteristische Verkn¨
upfungen sogenannter nichtvertauschbarer Observablen (physikalische Messgr¨
oßen). Die bekanntesten davon sind diejenigen von Ort und Impuls. Zumeist sind sie gemeint, wenn von der Heisenbergschen Unsch¨
arferelation33 gesprochen wird.
33
Der mathematische Ausdruck der Unsch¨
arferelation – ∆x∆p ≥ ¯
h/2 mit ¯
h = h/(2π),
h: pPlancksches Wirkungsquantum, ∆x: Ortsabweichung und ∆p: Impulsabweichung –
ergibt sich als Konsequenz sowohl aus der Matrizenmechanik (Matrizenmultiplikation ist
nicht-kommutativ) als auch aus der Wellenmechanik (Ort und Impuls sind u
¨ber Fouriertransformation verkn¨
upft). Damit ist die Unsch¨
arferelation keine Folge der statistischen
Interpretation. Diese liegt deren Herleitung nicht zugrunde. Meines Erachtens betrifft die
quantenmechanische Unsch¨
arfe ein Quantensystem (ein Elektron) und nicht ein Ensemble
von nacheinander kumulierten Messwerten. Darauf deutet das in den Formulierungen der
156
Diese besagt: je genauer die Ortsangabe eines Quantenobjekts (z.B. ein Elektron oder ein Atom) ist, desto ungenauer die zum gleichen Zeitpunkt geh¨
orige Impulsangabe und vice versa. Diese Relationen verhindern ein Verst¨
andnis der Quantenmechanik im Sinne der klassischen Mechanik, da sie die
dynamisch exakte Festlegung eines K¨
orpers explizit ausschließen. Zu einer
solchen muss einem In-Bewegung-Seienden (Massenpunkt) zu jedem momentanen Zeitpunkt die Ortskoordinate und die dynamische Gr¨
oße Geschwindigkeit bzw. Impulskoordinate zugeschrieben werden k¨
onnen.
Die bisher vor allem bez¨
uglich der Messung der Observablen Energie erl¨auterte statistische Deutung der Wellenfunktion (siehe Kapitel 10.3.1,
S. 137ff.) trifft auf die Messung aller Observablen zu. Dazu z¨
ahlt insbesondere auch der Ort. Gem¨aß der statistischen Deutung ist z. B. der Ort eines
Elektrons als Aufenthaltswahrscheinlichkeit berechenbar. Bei wiederholten
Messungen am gleichen (gleich pr¨
aparierten) Quantensystem wird das Elektron an einem jeweiligen Ort mit einer H¨
aufigkeit nachgewiesen, die sich der
berechneten Wahrscheinlichkeit zunehmend n¨
ahert. Wo das Elektron letztlich nachgewiesen wird, ist nur innerhalb einer statistischen Verteilung vorausberechenbar. Im Rahmen der statistischen Deutung der Wellenfunktion
ist eine deterministische, raum-zeitlich kontinuierliche Bewegungsbahn eines
einzelnen Objekts somit nicht mehr vorausberechenbar. Ohne die Vorstellung einer kontinuierlierlichen Bahn wird die Identit¨
at des Bewegten jedoch
problematisch.
Mit den Mitteln der Quantenmechanik wird die Ortsbewegung im Schema von Entstehen und Vergehen gedacht. In ¨
ahnlicher Weise hatte Leibniz im Bewegungsbegriff der Transkreation die Ortsbewegung auf Entstehen und Vergehen reduziert (vgl. Kapitel 6.2.1, S. 94ff.). W¨
ahrend bei der
Transkreation der Ort des vernichteten und der Ort des erzeugten K¨
orpers
im Verh¨altnis der infinitesimalen ,Ber¨
uhrung‘ stehen sollten, wird in der
Quantenmechanik das Verh¨
altnis der Orte durch die Reihenfolge einzelner
Messungen bestimmt. Demgem¨
aß entspricht die Teilchenspur in der Blasenkammer einem kontingenten Stakkato von Wechselwirkungsprozessen, die
als Kondensationstropfen in der Nebelkammer sichtbar werden.34 Die beUnsch¨
arferelation zu verwendende Attribut gleichzeitig hin.
34
In Hinblick auf die Fragw¨
urdigkeit des klassischen Teilchenbegriffs in der Hochenergiephysik stellt Falkenburg (1995), S. 260, fest: Die von den Teilchendetektoren registrierten
”
mikroskopischen Teilchen sind nach alledem nichts anderes als die quasi-klassische Ausbreitung einer quantentheoretisch beschriebenen Wirkung auf eine klassische Umgebung;
und Teilchenspuren stellen nichts anderes als das im eben beschriebenen Sinne [infolge indeterministischen Messprozesses, M. V.] emergente Ph¨
anomen der durch diese Wirkungsausbreitung verursachten Ereignisfolgen in Teilchendetektoren dar.“
157
reits bei Leibniz hochproblematische Frage nach der bei der Transkreation
zu wahrenden Identit¨at der ,bewegten‘ Substanz, ist bei der quantenmechanischen Darstellung der Ortsbewegung keineswegs einfacher zu beantworten.
Die Erfassung einer Teilchenspur gelingt nur durch klassisch kontinuierliche
Interpolation der Messwerte, was gem¨
aß der Quantenmechanik im Grunde
nicht gerechtfertigt ist.
Konnte in der klassischen Physik mit Hilfe des allgemeinen Bewegungsgesetzes unter Angabe der speziellen Anfangs- und Randwerte, d. h. der Zuweisung einer Ortskoordinate und der dazugeh¨
origen Bewegungsgr¨
oße zur
jeweiligen Zeitkoordinate, die Kontinuit¨
at des individuellen Einzeldings unterstellt werden, so ist in der Quantenmechanik dieser Schein von Individualit¨at und Kontinuit¨at nicht mehr aufrecht zu erhalten. Aus dem Verlust der klassischen Ortsbewegung und damit der M¨
oglichkeit, mittels einer kontinuierlichen Bahnkurve das Bewegte zu individuieren, entf¨
allt das
zur Erkenntnis einer Ortsbewegung erforderliche Moment der Identit¨
at des
¨
Zugrundeliegenden, dessen Kontinuit¨
at den Ubergang erst denkbar werden
l¨asst. Auf welche Weise dar¨
uber hinaus von einem Zugrundeliegenden des
quantenmechanischen Prozesses gesprochen werden kann, ist in Kapitel 11.2
er¨ortert worden.
Diese Darstellung erg¨anzend sollen im Folgenden zwei Ans¨
atze erw¨
ahnt
werden, die an der Vorstellung von Bewegungsbahnen (Trajektorien) festhalten. Dabei zeigen sich gegen¨
uber der klassischen Mechanik ver¨
anderte
Eigenschaften, so dass diese Vorstellungen geeignet sind, die Einsicht in den
Charakter der quantenmechanischen Erfahrungsweise zu vertiefen.
David Bohm (1987) geht von dynamisch wohlbestimmt existierenden
Teilchen aus. Deren Bewegung folgt jedoch nicht den newtonschen Gesetzen,
da insbesondere ein Quantenfeld mit nichtklassischen Eigenschaften deren
Bewegung beeinflusst. Dieses Quantenfeld ist nicht-lokal, d. h. es kann sich
ohne Zeitverz¨ogerung (instantan) im Ganzen ¨
andern, wodurch der unaufgel¨oste Systemcharakter der quantenmechanischen Erfahrungsweise deutlich
wird. Durch die sensitive Abh¨
angigkeit des Quantenfeldes von den Anfangsbedingungen werde die Bewegung der Quantenteilchen nicht anders als nach
den Vorgaben der statistischen Deutung erfahrbar. Bohm kann diese Statistik jedoch epistemisch im Rahmen der Ignoranzinterpretation deuten.
Eine zu den Eigenschaften des bohmschen Quantenfeldes ganz analoge Vorstellung ergibt sich aus der feynmanschen Pfadintegralmethode (vgl.
dazu die popul¨are Darstellung in Feynman (1985), S. 66ff.). Die quantenmechanische ,Bahn‘ ist nicht die klassische Bahn der kleinsten Wirkung,
sondern wird durch alle m¨oglichen Bahnen, die ein ,Teilchen‘ nehmen kann,
um von A nach B zu gelangen, bestimmt: It is not that just the particular
”
158
path of extreme action contributes; rather, it is that all the path contribute.“ (Feynman und Hibbs (1965), S. 28) Wird das einzelne Elektron im
Doppelspaltexperiment als klassisches Teilchen gedacht, m¨
usste sich dieses
bewegen, als ob es von den anderen Bahnen, die es h¨
atte nehmen k¨
onnen,
in seiner tats¨achlichen ,Bahn‘ real abh¨
angig w¨
are. Weder bilden f¨
ur sich
bestimmte Einzeldinge das System noch l¨
asst sich eine kontinuierliche Bewegungsbahn aus dem Zusammenhang herausl¨
osen. Die aus allen m¨
oglichen
Quanten-Bahnen resultierende Bahn hat ,fraktalen‘ Charakter. Sie ist deshalb keine kontinuierliche Bahn im Sinne der mathematischen Stetigkeit der
Funktion – eine Momentangeschwindigkeit ist nicht berechenbar (vgl. Feynman und Hibbs (1965), S. 176f.).
———————————
Wird der voranstehende Exkurs u
¨ber die quantenmechanische Erfassung
¨
von Ortsbewegung in die bisherigen Uberlegungen
zum quantenmechanischen Bewegungsbegriff einbezogen, l¨
asst sich festhalten: W¨
ahrend in der
klassischen Physik alle Bewegungsarten auf das Schema der Ortsbewegung
zur¨
uckgef¨
uhrt wurden, wird in der Quantenmechanik jede Bewegungsart im
Horizont von Entstehen und Vergehen erfasst.35 Am deutlichsten wird das
bei f¨
ur das jeweilige Schema am weitesten abgelegenen Prozessen.
So gelingt es in der klassischen Physik im Grunde nicht, den Prozess
des Entstehens und Vergehens zu erschließen. Aggregatzustands¨
anderungen
von fest zu fl¨
ussig, die Aristoteles als substantielle Wandlungen versteht, denen qualitative Ver¨anderungen zugrunde liegen, werden als nur quantitative
¨
Ver¨anderungen analog zur kontinuierlichen Ortsbewegung erkl¨
art. Der Ubergang steht allerdings unter der Forderung der Kontinuit¨
at. Jeder Sprung
m¨
usste in einer idealen Zeitlupenaufnahme als kontinuierlich aufgel¨
ost werden k¨onnen. Diese Kontinuit¨
at ist jedoch ein Schein der Wahrnehmung,
insofern vom Verstand aufgrund der Wahrscheinlichkeit bereits unreflektiert
geschlossen wird, dass es sich um ein Identisches handelt, was sich ver¨
andert,
35
Eine ¨
ahnliche Auffassung vertritt Sfendoni-Mentzou (1990). Sie spricht von einem
atomistischen Modell, in dem aller Wandel als Ortsbewegung erkl¨
art werde, und einem
dynamischen Modell, demgem¨
aß Wandel als qualitativer Wandel erkl¨
art werde. Letzteres
Modell assoziiert sie mit Aristoteles. (vgl. Sfendoni-Mentzou (1990), S. 152) In der klassischen Physik regiere das atomistische Ver¨
anderungsmodell der ,Qualit¨
aten‘, so SfendoniMentzou unter Hinweis auf Gassendi, Descartes, Newton, Locke und Boyle (ebd., S. 157).
Anders jedoch in der Quantenmechanik: We may [...] say that the recent discoveries in
”
the sub-atomic area point to the direction of the Aristotelian dynamic, qualitative model
of explanation of physical phenomena taking at the same time a distance from the quantitative mechanistic Democritean model, which is shown to be insufficient to explain all
the richness and diversity of physical reality.“ (Sfendoni-Mentzou (1990), S. 159f.)
159
und nicht um ein Vergehen und Entstehen von Verschiedenem nacheinander
in unterschiedlichen Gegenden des Raumes.
Demgegen¨
uber ist die Erfassung der kontinuierlichen Ortsbewegung das
f¨
ur den quantenmechanischen Bewegungsbegriff des Entstehens und Vergehens am schwierigsten Zug¨angliche. Die Lagever¨
anderung eines K¨
orpers hat
wenig mit dem Auftauchen qualitativ neuer Gestalten einer ,quantisierten‘
Geometrie zu tun.
Inwieweit die konsequente Durchf¨
uhrung des Atomismus in der Quan¨
tenmechanik gewissermaßen zu dessen eigener Uberwindung
f¨
uhrt, soll im
Folgenden dargelegt werden.
11.4
Der quantenphysikalische Atomismus kann kein materieller sein – eine naturphilosophische Schlussfolgerung
Der Atomismus wird von Aristoteles als L¨
osung des Bewegungsproblems
abgewiesen: einerseits, da sich etwas an sich Unteilbares im eigentlichen
Sinne nicht bewegen kann, andererseits, weil es f¨
ur den Atomismus einzig
nur die Ortsbewegung geben kann. Aristoteles h¨
alt hingegen an der auf
vier Arten reduzierten ph¨anomenalen Vielfalt der Bewegungserscheinungen
fest. Um substantiellen Wandel und qualitative Metamorphosen plausibel
erkl¨aren zu k¨onnen, reicht der materielle Atomismus nicht aus.
Indem mit der Quantenmechanik der restriktive Horizont kontinuierlicher Ver¨anderung gem¨aß dem quantitativen Schema der Ortsbewegung in
Richtung des Entstehens und Vergehens qualitativ differenzierter Gestalten
¨
verlassen wird, liegt darin eine Uberwindung
des ,Atomismus‘ beschlossen.
In diesem Sinne verbindet Sfendoni-Mentzou die klassische Physik mit
der atomistischen Auffassung quantitativer Ver¨
anderung und die Quantenmechanik mit der aristotelischen Auffassung substantiellen Wandels (,qualitative change‘), was freilich nicht bedeuten soll, dass die Quantenmechanik
aristotelische Physik ist: What I am only suggesting is that a new perspec”
tive is now added by recent developments in Q.M. [Quantum Mechanics] and
micro-physics; this new perspective contributes to a dynamical explanation
of the phenomenon of change and also displays substantial analogies to the
Aristotelean model.“ (Sfendoni-Mentzou (1990), S. 162)
Mit Hilfe der aristotelischen Differenzierung der Bewegungsarten kann
es gelingen, den Wandel von der klassischen Physik zur Quantenmechanik
als durchaus folgerichtig darzustellen. Im Grunde liegt auch der klassischen
Physik kein atomistischer Bewegungsbegriff zugrunde, da die Betrachtung
einer Bewegung das Zugrundeliegende stets als kontinuierlich voraussetzen
muss. Die Berufung auf den Atomismus ist in der klassischen Physik dem160
nach inkonsequent, da sie je nach Erfordernis das Bewegte doch als kontinuierlich unterstellt (siehe Kapitel 8.2, S. 124ff.). Indem die Quantenmechanik
von der Betrachtung ¨außerer Zust¨
ande der physikalischen Materie zu der
Untersuchung der inneren Zust¨
ande dieser Materie u
¨bergeht und damit das
klassische Atom selbst zum Untersuchungsgegenstand macht, musste sich
die Vorstellung materiell unteilbarer Atome als unhaltbar erweisen. Zun¨
achst
zeigte sich, dass an der reinen Kontinuit¨
at der Materie nicht festzuhalten ist.
W¨are die physikalische Materie bis ins Unendliche teilbar, h¨
atte sie dadurch
unendlich viele Freiheitsgrade und w¨
are f¨
ahig, unendlich viel Energie aufzunehmen (vgl. von Weizs¨acker (1990), S. 341). Dieses im Zusammenhang
mit der Schwarzk¨orperstrahlung auftretende Problem hat Planck mittels der
Quantisierung der Energie erfolgreich bearbeitet. Mit der dadurch verbun¨
denen Uberwindung
der einseitigen Vorstellung der reinen Kontinuit¨
at der
physikalischen Materie war zugleich der Weg gewiesen, um den materiellen
Atomismus, die reine Diskontinuit¨
at der Materie als ebenso einseitig auszuweisen. W¨ahrend Planck die von ihm eingef¨
uhrte Quantenhypothese als
einen Sprengk¨orper versteht, der die klassische Physik bedroht,36 weist diese
meiner Auffassung nach vor allem den Weg, um die immanente Inkonsistenz
der klassischen Physik zu beseitigen.37 Die physikalische Materie kann weder als nur diskret noch als nur kontinuierlich angenommen werden. F¨
ur die
Belange der modernen Physik (und nicht nur f¨
ur diese) ist ein Begriff physikalischer Materie erforderlich, der gem¨
aß der aristotelischen Vorstellung
das K¨orperliche als eine komplexe Relation aus diskontinuierlichem FormMoment und kontinuierlichem Stoff-Moment auffasst.
Bei der Feststellung, [dass ...] im Rahmen der heutigen Physik eine un”
erwartete Mischform von Atomismus und Kontinuumstheorie der Materie
realisiert ist [...]“ (Falkenburg (1995), S. 267), muss eben deshalb nicht stehengeblieben werden. W¨ahrend in der Quantenphysik mittels geometrisch
verschiedener Gestalten verschiedene Qualit¨
aten erfasst werden k¨
onnen, gelingt es zugleich u
¨ber die kontinuierliche Evolution der Wellenfunktion den
¨
Ubergang
zwischen diesen diskontinuierlichen Zust¨
anden zu vermitteln. Insofern der Gedanke eines strukturalen Atomismus herangezogen wird, um
36
Diesem imposanten Aufbau von wunderbarer Harmonie und Sch¨
onheit [d. i. die klas”
sische Physik] steht nun gegen¨
uber die Quantenhypothese, als ein fremdartiger bedrohlicher
Sprengk¨
orper, welcher schon heute einen klaffenden Riß, von unten bis oben, durch das
ganze Geb¨
aude gezogen hat.“ (Planck III, S. 167)
37
Diese hat von Weizs¨
acker insbesondere im Ungen¨
ugen der ,mathematischen Beschreibung des Kontinuums‘ ausgemacht. Mit Bezug auf die physikalische Deutung der Antinomie der Teilung ¨
außert von Weizs¨
acker: Nach meiner pers¨
onlichen Ansicht werden diese
”
Probleme nicht endg¨
ultig gekl¨
art, wenn wir nicht eine v¨
ollig neue Kontinuit¨
atstheorie in
der Physik finden.“ (von Weizs¨
acker (1990), S. 342; vgl. S. 402f.)
161
qualitative Unterschiede zu erkl¨
aren, ist der materielle Atomismus auf den
qualitativen, den formellen zur¨
uckgef¨
uhrt worden. Damit zeichnet sich ein
Denkweg ab, der demjenigen Leibniz’ ganz ¨
ahnlich ist.
Leibniz erkl¨art, sich vom ,Joche des Aristoteles befreit‘ zu haben, indem
er sich ,dem Leeren und den Atomen‘ zuwendete.
Als ich aber – nach vielem Nachdenken – davon abgekomen war,
”
sah ich ein, daß es unm¨oglich ist, die Prinzipien einer wahrhaften
E i n h e i t bloß in der Materie oder in dem, was sich passiv verh¨alt, zu
finden.“ (PS, Bd. 1, S. 203f., zitiert nach Leibniz: F¨
unf Schriften zur
Logik und Metaphysik, Stuttgart 1999, S. 22.)
Aus diesem Grund wendet sich Leibniz erneut den Begriffen und Argumenten des Aristoteles zu:
Ich mußte also d i e s u b s t i e l l e n F o r m e n, die heutzutage
”
so verschrien sind, zur¨
uckrufen und gleichsam rehabilitieren; das aber
mußte in einer Weise geschehen, die sie verst¨andlich machte und die
den Gebrauch, den man von ihnen machen soll, von dem Mißbrauch
unterschied, den man damit betrieben hat.“ (ebd., S. 23)
Der neue Begriff der ,Bewegung‘ in Verbindung mit der Art und Weise, wie Entstehen und Vergehen in der mathematisierten Physik zug¨
anglich
werden, zeitigt un¨
ubersehbare Folgen f¨
ur die Erkenntnissituation in der modernen Physik. An dieser Stelle soll ein Deutungsvorschlag diskutiert werden, mit dessen Hilfe die Quantenmechanik sich vor der klassischen Physik
hinsichtlich der Erfahrungsweise auszeichnen l¨
asst. Neben dem Hervortreten der ontologischen Erfahrung deutet sich an, wie es in der Physik gelingt,
den universalistischen (axiomatischen) Ansatz mit einer je sachverwandten
Zugangsweise zu verbinden.
12
12.1
Die Wandlung im Bewegungsbegriff und deren Konsequenzen fu
¨ r die Erkenntnissituation
in der Quantenmechanik
Das Hervortreten der ontologischen Erfahrungsweise
Im Geschehen des Erkennens hat der Begriff eine zweifach Funktion. Zum
einen wird das zu Erkennende mittels des Begriffs zug¨
anglich, indem der
Begriff die Ber¨
uhrung zwischen dem Erkennenden und dem zu Erkennenden erm¨oglicht. Dabei hat der Begriff die Funktion des Erkenntnismittels.
162
Zum anderen dr¨
uckt sich das zu Erkennende, insofern es das f¨
ur uns Erkannte ist, im Begriff aus. Im Begriff ist unser Wissen vom zu erkennenden
Seienden versammelt. Begriff und Begriffenes sind erkenntnistheoretisch zu
unterscheiden, im Erkennen fallen sie jedoch zusammen. Nichtsdestoweniger
tritt in der Quantenphysik die Differenz zwischen dem Begriff als Resultat
des Erkennens und dem Begriff als Erkenntnismittel deutlich hervor. Dies
zeigt sich darin, dass das Empirische in der Quantenmechanik gerade nicht
unabh¨angig von der Weise erfahren wird, wie von ihm gewusst werden kann.
Zum ersten Mal wird in der Physik selbst der Entwurfscharakter der Theorie
deutlich, wenn zunehmend die Vorg¨
angigkeit der Theorie vor der Messung
konstatiert wird. Damit zeigt sich, dass sich die Erfahrung der Physik nicht
nur als empirische Erfahrung des Ontischen, sondern ebenso als theoretische
Erfahrung manifestiert. Innerhalb dieser werden die Bedingungen erfahren,
unter denen ontische Erfahrungen erst m¨
oglich sind.
Die theoretische Erfahrung, in der sich der Fortschritt der Physik als die
Aufdeckung der Bedingheit ontischer Erfahrung erweist, interpretiert Szilasi als ,ontologische Erfahrung‘.38 Um dies zu plausibilisieren, versucht er zu
zeigen, [...] daß die moderne Physik sich auf Seinsweisen der nat¨
urlichen
”
Ph¨anomene richtet und nicht auf die Ph¨
anomene selbst.“ (Szilasi (1949), S.
28) Ausgehend von der Beobachtung, dass die Erfahrungen der modernen
Physik zwar [...] von außen, von der Objektseite herkommend [...]“ zugleich
”
jedoch in [...] ihrer Ungegenst¨
andlichkeit die Berufung auf dinglich kate”
goriale Bedingtheit [...]“ verweigerten, konstatiert Szilasi in der modernen
Physik eine Wendung hin zur ,Naturontologie‘. (Szilasi (1949), S. 30)
[... Die] Physik, wie schon bei Aristoteles, [installiert] sich in ihrer
”
neuesten Entwicklung auf ihre Weise als Naturontologie [...]“ (ebd.)
Dies kann nicht bedeuten, dass die Physik als Quantenmechanik zur
Philosophie geworden w¨are. Die Quantenmechanik geh¨
ort in das neuzeitliche Programm einer technisch mathematischen Naturwissenschaft und setzt
sich als diese von der aristotelischen Physik ab. Allerdings zeigt sich in der
Quantenmechanik, was in der klassischen Physik verdeckt war, n¨
amlich dass
die Naturwissenschaft Physik stets philosophischer Grundlagen bedarf, die
erst ihren Gegenstand festlegen und die sie aus diesem Grund auch nicht
ablegen kann.
38
Im Anschluss an Heideggers ,ontologische Differenz‘ ist f¨
ur Szilasi unter ontisch eine
dingliche Existenz, ein Seiendes, zu verstehen. Ontologisch betrifft demgegen¨
uber das
Sein des Seienden. Die Ontologie kl¨
art die Bedingungen unter denen ein Seiendes erst als
solches begegnen kann.
163
So l¨ost sich f¨
ur Szilasi keineswegs alle dingliche Existenz auf. Vielmehr
hat es die Physik mit einer zweifachen Erfahrungsweise zu tun. In der ontischen Erfahrung sind ihr die Atome als wirkliche, materielle Gegenst¨
ande
gegeben; in der ontologischen Erfahrung, die stets die ontische einschließt,
werden hingegen die Bedingungen erfahrbar, unter denen ontische Erfahrungen erst m¨oglich sind (vgl. Szilasi (1949), S. 33).
W¨ahrend in der neuzeitlichen Philosophie die erfahrungs- wie seinsm¨
aßige Bedingtheit aus der (transzendentalen) Subjektivit¨
at heraus deduziert
werde, wende sich die Physik an das Objektive des Naturgeschehens selbst:
Die Theorie erf¨ahrt [...] als ihr Grundgegebenes Atome, Proto”
nen usw. entkleidet von allen sinnlichen bzw. gegenst¨andlichen Qualit¨aten, als reine Strukturformeln, d. h. als den Ausdruck f¨
ur Gef¨
ugeStruktur des Naturlaufes. In dieser Erfahrung kommt nichts Subjektives vor, auch nichts subjektiv-transzendental Verstandenes. Die ontologische Erfahrung erf¨ahrt die transzendental objektive Realit¨at.“
(Szilasi (1949), S. 34)
Das Charakteristische der Quantenphysik (Quantenmechanik) sieht auch
Szilasi in der grunds¨atzlich begrenzten Objektivierbarkeit des Geschehens:
[Das Thema der Quantenphysik ...] ist der Prozeßcharakter der Natur, und
”
ihre grundlegendste Erfahrung dabei ist, daß dieser Prozeß u
¨berhaupt nicht
objektivierbar ist.“ (Szilasi (1949), S. 37) Den Grund der begrenzten Objektivierbarkeit erkennt Szilasi weniger in der ,quantenhaften Unstetigkeit der
Prozesse‘ auch nicht im Systemcharakter der Quantenmechanik, sondern in
der Unabtrennbarkeit von ,ontologischer Prozesserfahrung‘ und ,ontischer
Gegenstandserfahrung‘ (vgl. ebd.) Weder der ontologische Gef¨
ugezusam”
menhang ist die Realit¨at, denn er ist nicht trennbar von den dinglich verlaufenden Ph¨anomenen, noch die dinglichen Ph¨
anomene in ihrem gesetzm¨
aßigen kategorial-verst¨andlichen Ablauf, weil sie ohne ihre genetische Grundlage
reine Zuf¨alligkeiten w¨aren.“ (Szilasi (1949), S. 38)
Die Wellenfunktion als quantitativer Ausdruck der stofflichen Bedingtheit von Struktur und Ver¨anderung wird bei Szilasi zur ontologischen Grundlage, die ohne Bezug auf das in der Messung vergegenw¨
artigte Ontische
bedeutungslos bliebe. Dar¨
uber hinaus verhindert die Relationalit¨
at von Bedingung und Bedingtem, Begriff und Begriffenem, Ontologischem und Ontischem das Missverst¨andnis, die Gegenst¨
ande der modernen Physik, wie
Atome, Protonen und Elektronen w¨
aren zu ,bloßen Universalien‘ geworden.
Allerdings ergeben sich ebenso Schwierigkeiten, raum-zeitlich individuierte
Einzeldinge ontisch zu erfahren. N¨
amlich wenn versucht wird, die Gegenstandserfahrung, die ontische Erfahrung, von der ontologischen abzutrennen
164
und den Horizont der ontologischen Erfahrung, die Grenzen der Theorie, zu
u
¨berschreiten:
Ein experimentell nachgewiesenes Elektron oder Photon ist an”
scheinend weder immer Einzelding noch immer bloße Universalie: es
verh¨alt sich manchmal wie ein ,ordentliches Einzelding‘ und manchmal nicht.“ (Falkenburg (1993), S. 240)
Die in dieser Aussage bezeichnete Kontingenzerfahrung des Empirischen ist
mit Szilasi nicht in der Willk¨
ur des Objekts zu vermuten – es verh¨
alt sich
”
manchmal ...“ –, vielmehr ist der Grund im Zusammentreffen von zwei unterschiedlichen Erfahrungsweisen zu suchen. Zum einen ist das diejenige, die
das Ontische selbst betrifft, zum anderen die ontologische Erfahrung, welche das So-sein des Ontischen bedingt und deshalb die ontische Erfahrung
u
¨bersteigt.
Die Erkenntnis in der modernen Physik erf¨
ullt sich somit nicht im Zugriff
auf ein materielles Einzelding. Es ist gerade nicht die empirische Erfahrung,
die sich in der Quantenmechanik vornehmlich zeigt, sondern die theoretische
Erfahrung, in der die M¨oglichkeit zu empirisch-dinglicher Erfahrung dargelegt wird. Deshalb kann die Erkenntnis der Quantenmechanik nicht als die
unmittelbare eines materiellen Gegenstandes aufgefasst werden. Vielmehr
richtet sich die Aufmerksamkeit gerade auf das Erkenntnisvermittelnde: den
Begriff.
Damit verweist die Quantenmechanik erneut und in charakteristischer
Weise darauf, dass Erkenntnis durch Begriffe erfolgt. Weder Gegenst¨
ande als
individuell Einzelne noch Bewegungen sind direkt erfahrbar. Beides versagt
in der Quantenmechanik auf eklatante Weise. Gem¨
aß der quantenmechanischen Theorie k¨onnen individuelle Einzelobjekte und deren Ortsbewegungen nicht zum Gegenstand werden. Einzeldinge gelangen nur insoweit in den
Blick, als sie unter Klassen von Eigenschaften und Verhaltensweisen fallen,39
nicht jedoch als raum-zeitlich individuierte Einzeldinge. Dieser Umstand ist
durch den Bewegungsbegriff, d. i. die Art und Weise wie Bewegung erfahrbar
gemacht wird, bedingt.
Allein mit der Feststellung, dass in der modernen Physik eine ontischontologische Erfahrung am Werke ist, kann der Unterschied zwischen klassischer Mechanik und Quantenmechanik noch nicht hinreichend gekennzeichnet werden. Die Theorie hat in der klassischen Physik prinzipiell die gleiche
Funktion wie in der modernen Physik. Auch in jener dr¨
uckt sich die ontologische Erfahrung aus, welche das Seiende in seinem So-Sein hinsichtlich seiner
39
Es sei gedacht an Masse, Ladung, Spin und die entprechenden Statistiken (BoseEinstein bzw. Fermi-Dirac).
165
Ortsver¨anderlichkeit aufdeckt. Die Feststellung, dass dabei die klassische
Mechanik auf die Ortsbewegung beschr¨
ankt ist und die Quantenmechanik
zu Entstehen und Vergehen vordringt bzw. dieses Vordringen, welches sich
erst in den Quantenfeldtheorien entfaltet, vorbereitet, gen¨
ugt nicht, um den
charakteristischen Unterschied beider Theorien zu bezeichnen.
Gewandelt hat sich wesentlich der Bewegungsbegriff, durch den es erst
m¨oglich wird, andere Arten von Bewegungen zu erfassen. Die Fragw¨
urdigkeit einer atomistisch gedachten Bewegung (Quantensprung) verweist auf eine Wandlung des Bewegungsbegriffs. Die Bewegungsart des Entstehens und
Vergehens macht die Wiederentdeckung der Materie (žlh) erforderlich. Und
zwar nicht als das Anfassbare, sondern als das dem Prozess zugrundeliegende
Moment quantifizierter M¨oglichkeiten. In diesem Sinne wurde die zentrale
Gr¨oße der Theorie, die Wellenfunktion, als Ausdruck der Bedingungen von
Struktur- und Ver¨anderungsm¨
oglichkeiten gedeutet. Damit wird dasjenige
eingeholt, wof¨
ur bei Aristoteles das Stoff-Moment steht. Zur Erkenntnis des
quantenmechanischen Prozesses wird die im Massenpunkt verdeckte Relation von Stoff- und Form-Moment, wenngleich nicht als solche, so doch in
ihrer systematischen Funktion in Anschlag gebracht. Mit der wiedergewonnenen begrifflichen Differenzierung wird zugleich der ontologische Teil der
physikalischen Erfahrung hervorgehoben.
Wenn sich f¨
ur Szilasi die Physik durch eine ontisch-ontologische Erfahrung auszeichnet, zeigt sich das Neue der modernen Physik im Vorrang des
Ontologischen und zwar gerade in dessen Prozesshaftigkeit. Der starre Entwurf des Seienden wird in die Prozessualit¨
at selbst hinein verlegt:
[...] [F]¨
ur die Quantenphysik ist die ontologische Erfahrung die
”
entscheidende; nicht die Produkte in ihrem isolierten Geschehen, sondern der Prozeß und dieser in so betonter Weise, daß die ontischen
Ph¨anomene, die von der ontologischen Erfahrung nicht zu trennen
sind, gleichsam ontologisiert werden, d. h. nicht ihre Produktm¨aßigkeit ist thematisch, sondern die Prozeßm¨aßigkeit ihrer M¨oglichkeiten.“
(Szilasi (1949), S. 39)
Mittels der Wellenfunktion gelingt es einerseits, die M¨
oglichkeit der Produktm¨aßigkeit (vgl. natura naturata) vorauszuberechnen, andererseits wird
u
aßigkeit, das Werden der
¨ber die Evolution der Wellenfunktion die Prozessm¨
Produkte, erschlossen (vgl. natura naturans). In diesem Sinne wird in der
Quantenphysik der Prozess des Entstehens und Vergehens qualitativ neuer Gestalten gerade hinsichtlich der Ver¨
anderung der Bedingungen seines
Eintretens betrachtet.
166
12.2
Die Aufl¨
osung starrer Begrifflichkeit
Zur Erkenntnis sind Begriff und zu Begreifendes (Gegenstand) in Entsprechung zu bringen. Wenn das zu Begreifende ein Werdendes, ein In-BewegungSeiendes ist, dann muss diese Beweglichkeit in dessen Begriff aufgenommen werden. Mit starr fixierten Begriffen, die nur Unver¨
anderliches erfassen
k¨onnen, ist eine ad¨aquate Erkenntnis der Bewegung des Bewegten nicht
m¨oglich. Das bedeutet: Mit im strengen Sinne mathematischen Begriffen ist
eine Physik als Wissenschaft der Bewegung nicht zu bestreiten. Nimmt man
die Bewegung des Seienden ernst, dann kann es vom Seienden nur ad¨
aquate
Erkenntnis geben, wenn die Begriffe selbst sich der Bewegung nicht verschließen: Die von der Bewegung abstrahierenden mathematischen Begriffe
”
werden gerade damit dem Seienden nicht gerecht.“ (von Weizs¨
acker (1992),
S. 867) Diesen Gedanken fortsetzend notiert von Weizs¨
acker: Wenigstens
”
der mathematische Begriff w¨
are demnach zur Erfassung der bewegten Wirklichkeit inad¨aquat. Freilich heißt dies hier nur, daß er nicht der Begriff des
wahren Eidos der Naturdinge ist, denn dieses Eidos ist Eidos von Bewegtem
als Bewegtem.“ (ebd.)
Wird die L¨osung mittels der Infinitesimalrechnung akzeptiert, kann darin das Mittel gesehen werden, mit dem es in der Quantenmechanik gelingt,
die fixierte Starrheit der mathematischen Begriffe zur Disposition zu stellen.
Die kontinuierliche Ver¨anderung, wie sie in der klassischen Mechanik durch
Differentialgleichungen wiedergegeben wird, beschreibt eine kontinuierliche
Bewegung der Wellenfunktion (Evolution des Zustandsvektors). Da die Wellenfunktion nicht als physikalische Messgr¨
oße interpretiert werden kann, sondern u
oglichkeit von
¨ber die statistische Deutung zu einem Ausdruck der M¨
Messresultaten wird, u
¨bernimmt die Wellenfunktion in gewissem Sinne die
systematische Funktion, zu einer empirischen Erkenntnis des Quantensystems erst anzuleiten. Sie erm¨
oglicht im Zusammenspiel mit den Operatoren die Ableitung von Erwartungswerten, welche je nach statistischer Wichtung im Experiment zu Messwerten konkretisiert werden k¨
onnen. Insofern
k¨ame der Wellenfunktion die Rolle eines Begriffs zu. In der Weise, wie sich
die Wellenfunktion gem¨aß der Schr¨
odingergleichung a
¨ndert, a
¨ndern sich die
M¨oglichkeiten der Systemerkenntnis. Der ,Begriff‘ selbst wird der Ver¨
anderlichkeit unterworfen.
Diese Bewegung im Begriff ¨
außert sich innerhalb der Quantenmechanik als eine charakteristische Bewegung der Begriffe selbst – eine Bewegung
des Denkens. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die Quantenmechanik als eine auf Universalit¨
at dringende Systemphysik. Der Bezug auf
das Empirische erfordert die Vereinzelung der in der Systembeschreibung
167
aufgegangenen Konstituenten. Diese jeweilige Konkretisierung erweist sich
vom Kontext, den experimentellen Bedingungen, abh¨
angig, weshalb nicht
von vornherein das Resultat einer Messung festgelegt ist. F¨
ur Heisenberg
zeigt sich darin die Abh¨angigkeit des untersuchten Gegenstandes von der je
veranschlagten Untersuchungsmethode:
Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erkl¨arens und
”
Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind,
daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand ver¨andert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren
kann.“ (Heisenberg (1955), S. 21)
Was Heisenberg in dem Zitat negativ ausspricht, ist im Hinblick auf eine
hermeneutische Situation des Erkennens die condicio sine qua non des Erkennens selbst. Wir veranschlagen einen Begriff, der uns die Erkenntnis des
zu Begreifenden erm¨oglicht und zugleich das Erkennen auf den veranschlagten Begriff einschr¨ankt. Was angesichts des hermeneutischen Szenarios abgewiesen werden muss, ist eine unvermittelte Erkenntnis der Dinge wie sie an
sich selbst sind. Ohne eine imagin¨
are Wirklichkeit hinter den Dingen annehmen zu m¨
ussen, kann innerhalb der hermeneutischen Erkenntnisweise die
M¨oglichkeit eines Erkenntnisfortschritts eingesehen werden. Dieser ereignet
sich weniger im Fortgang der empirischen Erfahrung als in der theoretischen
Erfahrung des Begriffs. Erst wenn deren ontologische Leistung erkannt ist,
wird deutlich, weshalb es sich bei den Erkenntnissen der modernen Physik
nicht um bloße Modellbildungen handelt (vgl. Szilasi (1949), S. 41).
168
Zusammenfassung
Die Wandlung der Physik als Wissenschaft von der Bewegung des Bewegten,
kann auf die Wandlung des physikalischen Bewegungsbegriffs zur¨
uckgef¨
uhrt
werden. Dies motiviert die Untersuchung der Wandlung des Bewegungsbegriffs von der aristotelischen Physik bis zur Quantenphysik. Dabei wurden
insbesondere der Wandel von der aristotelischen zur neuzeitlichen Physik
und der sich innerhalb der neuzeitlichen Physik vollziehende Wandel von
der klassischen Physik zur Quantenphysik betrachtet. In drei Teilen wurden
drei Stufen der Physik untersucht: Zum ersten die Physik nach Aristoteles,
zum zweiten die neuzeitliche Physik in ihrer klassischen Periode und zum
dritten die Quantenmechanik als Teil der modernen Physik.
Der ontologische Bewegungsbegriff des Aristoteles erlaubt die Differenzierung von vier irreduziblen Bewegungsarten, welche Aristoteles in drei
Arten von Bewegung im terminologischen Sinne unterscheidet – Ortsbewegung, quantitative Ver¨anderung und qualitative Ver¨
anderung –, von denen
er den substantiellen Wandel, d. i. Entstehen und Vergehen abgrenzt. Diese
Abgrenzung erfolgt mittels zweier Kriterien. Zum einen ist das Zugrundeliegende der Bewegung ein Seiendes als sinnlich Wahrnehmbares, w¨
ahrend
beim substantiellen Wandel das bestimmte Seiende sich als solches wandelt
und nur ein ,sinnlich nicht Wahrnehmbares‘ erhalten bleibt. Zum anderen ist
die Prozessdimension als dasjenige, worin sich der Wandel vollzieht, bei allen
Bewegungsarten kontinuierlich, bei Entstehen und Vergehen jedoch nicht.
¨
Die vergangene Gestalt ist zur entstandenen Gestalt kontr¨
ar. Der Ubergang
ist durch eine Diskontinuit¨at setzende Grenze bezeichnet.
Wie herausgearbeitet wurde, wird der Wandel von der aristotelischen
Physik zur neuzeitlichen Physik durch zwei Grundmotive angetrieben. Das
eine Grundmotiv ist das der Mathematisierung der Wissenschaft, wodurch
im neuzeitlichen Verst¨andnis die Gewissheit des Wissens sichergestellt werden soll, das andere ist das der Technik bzw. Mechanisierung. Damit wird
das neue Wissen von vornherein in einen hervorbringenden Zusammenhang
gestellt und ist deshalb bereits vor aller Anwendung auf einen u
¨ber das Wissen hinausweisenden Anspruch auf Nutzen ausgerichtet. W¨
ahrend sich die
aristotelische Physik durch einen ph¨
anomenologisch-hermeneutischen Zugang zu den beweglichen Naturdingen auszeichnet, erschließt sich die neuzeitliche Physik die Bewegung als Zustand des K¨
orpers auf axiomatischexperimentelle Weise.
Nicht nur im Wandel zur neuzeitlichen Physik, sondern auch innerhalb
der Begr¨
undung derselben bilden Mathematik und Mechanik zwei wesentliche Motive. Im Bewegungsbegriff vollzieht sich eine Einschr¨
ankung von
169
den vier irreduziblen Arten des Wandels auf die Ortsbewegung. Vor allem
weil die Ortsbewegung als einzige planm¨
aßig herstellbar ist, empfiehlt sich
diese zur Begr¨
undung der neuzeitlichen Physik als theoretische Mechanik.
Der R¨
uckgriff auf atomistische Motive beinhaltet ebenfalls eine Reduktion
auf die Ortsbewegung als einziger Bewegungsart, auf die alle anderen Arten
zur¨
uckgef¨
uhrt werden.
Das Grundproblem, welches sich durch das neuzeitliche Verst¨
andnis von
Wissenschaft einstellt, ist das einer mathematischen Betrachtung der Bewegung. Traditionell sind die vom Stoff losgel¨
osten Formen die Gegenst¨
ande
der Mathematik. Deren diskrete und starre Begriffe gew¨
ahrleisten zwar die
M¨oglichkeit zu wahrem Wissen (bzw. Gewissheit), sind zun¨
achst allerdings
ungeeignet, die Bewegung zu erfassen, da sie diese stets in Zust¨
ande ver¨
wandelt. Der Ubergang
zwischen den Zust¨
anden jedoch, der die Bewegung
ist, kann nicht erkl¨art werden. Diese ,Quadratur des Kreises‘, welche darin
besteht, eine Mathematik zu entwickeln, die der Bewegungsbetrachtung angemessen ist, gipfelt in der Erfindung der Differentialrechnung durch Newton
und Leibniz.
Anders als Newton, der die Bewegung (den Fluss) in die Mathematik selbst einf¨
uhrt, versucht Leibniz in die diskrete mathematische Form
selbst das zur Bewegungsbetrachtung fehlende Moment der Kontinuit¨
at einzuf¨
uhren. Das Kontinuum muss f¨
ur ihn aus dem Diskreten heraus erschaffen
werden. Entsprechend dem mathematischen Konzept der Infinitesimalien
gelangt er zu einem Bewegungsbegriff (Transkreation), der das Moment der
Kontinuit¨at des Zugrundeliegenden nur mangelhaft bewahren kann.
Vom kinematischen Gesichtspunkt aus betrachtet, herrscht in der klassischen Mechanik eine der Bewegungsauffassung der Transkreation ganz
ahnliche Vorstellung der Ortsbewegung, n¨
amlich das sukzessive Erzeugen
¨
und Vernichten des Massenpunktes im je unmittelbar anschließenden Raumpunkt. Daraus ergibt sich im Anschluss an Leibniz die Forderung nach einer
kontinuierlichen Bewegungsbahn (natura non facit saltus), ohne die das Moment der Identit¨at, der Kontinuit¨
at des Zugrundeliegenden nicht zu gew¨
ahrleisten w¨are. Diese in ihrem umfassenden Geltungsanspruch einseitige Forderung nach Kontinuit¨at der Prozessdimension, die alle sprunghafte und
damit qualitative Wandlung (Umschlag) als nur scheinbar verwirft, erf¨
ahrt
durch die Quantenmechanik ihr Korrektiv.
Im Begriff der Quantenmechanik ist die Quantisierung, d. i. die Diskretisierung klassisch kontinuierlicher dynamischer Gr¨
oßen, ein wesentliches
Element. Ein umfassender Verzicht auf den Begriff der Kontinuit¨
at kann indes nicht geleistet werden. Einerseits w¨
urde die Unanwendbarkeit des Kontinuit¨atsprinzips mit Leibniz einem Erkenntnisverzicht gleichkommen. An170
dererseits w¨are mit der Leugnung der Diskontinuit¨
at auf alle M¨
oglichkeit
verzichtet, zu substantiellen Unterschieden zu gelangen. Insbesondere, so
zeigte die Untersuchung des aristotelischen Bewegungsbegriffs, kann Bewegung nicht zu einem Erkenntnisgegenstand werden, ohne dass die Momente
der Kontinuit¨at und der Diskontinuit¨
at in ein Verh¨
altnis gesetzt w¨
aren.
Der mit Einf¨
uhrung der Quantenmechanik geleistete Verzicht auf die
Kontinuit¨at des Bewegungsverlaufs verhindert die Betrachtung der Ortsbewegung gem¨aß klassischer Mechanik und aller auf dieser Grundlage entwickelten Betrachtung kontinuierlicher Ver¨
anderungen von Gr¨
oßen. Der Verlust dieser Reduktion bedeutet jedoch zugleich eine Beschr¨
ankung der Einseitigkeit, insofern die Vermittlung von Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨
at auf
neue Weise m¨oglich wird. Dies zeigt sich in einem gewandelten Bewegungsbegriff. Der in seiner Prozessdimension diskontinuierliche quantenmechanische Prozess der Zustands¨anderung kann im aristotelischen Horizont des
substantiellen Wandels als Entstehen und Vergehen qualitativ neuer Ge¨
stalten verstanden werden. Der Ubergang
bedarf nichtsdestoweniger einer
¨
vermittelnden Instanz. Es ist versucht worden, den Ubergang
zwischen den
quantenmechanischen Zust¨
anden auf Grundlage der sich (im Sinne der klassischen Mechanik) kontinuierlich ver¨
andernden Wellenfunktion zu deuten.
Im Unterschied zur klassischen Mechanik, bei der die Struktur der physikalischen Materie im Wesentlichen indifferent gegen¨
uber der Ver¨
anderung
ihrer Lage als ¨außerer Zust¨
ande ist, zeigt sich in der Quantenmechanik der
untrennbare Zusammenhang zwischen dem Wandel und demjenigen, das
dem Wandel zugrunde liegt. Die physikalische Materie wird in einer Struktur gedacht, die den Wandel zu erfassen erlaubt. Dazu werden nicht wiederum selbst¨andige (materiell unteilbare) Teile der Materie angenommen,
sondern vielmehr erfolgt analog der aristotelischen Relation von Stoff- und
Form-Prinzip eine Aufteilung in Zustand und Zustandsvektor (Eigenwert
und Eigenfunktion). Die quantenphysikalische Materie hat eine Binnenstruktur innerer Zust¨ande, die der Prozessualit¨
at (Evolution der Wellenfunktion)
unterliegen.
Der Wandel zur Quantenphysik ist gekennzeichnet durch den Wandel
von der Betrachtung des selbst¨
andigen Einzeldings zu derjenigen einer kontextabh¨angigen Systemallgemeinheit und damit durch den Wandel von der
Bewegung eines Einzelnen zum Prozess, der die Einzelbewegungen hinsichtlich ihrer M¨oglichkeit erst erschließt. Indem eine zugrundeliegende kontinuierliche Ver¨anderung eines Systems betrachtet wird (Zustandsvektor), wel¨
che die M¨oglichkeit zum Prozess darstellt (Ubergangswahrscheinlichkeit),
er¨offnet sich die M¨oglichkeit zur Betrachtung von Entstehen und Vergehen, ohne diese auf eine Ortsbewegung kleinster Teilchen zur¨
uckf¨
uhren zu
171
m¨
ussen. Damit verl¨asst die Quantenphysik ausdr¨
ucklich den Horizont des
materiellen Atomismus.
W¨ahrend in der klassischen Physik alle Bewegung schematisch auf eine
kontinuierliche Ver¨anderung analog der Ortsbewegung reduziert wird, ergibt
sich in der Quantenmechanik eine Reduktion auf das Schema von Entstehen
und Vergehen. Damit wird deutlich, dass der Unterschied der klassischen
Physik von der Quantenphysik nur unzureichend mit dem Unterschied zwischen Makro- und Mikrophysik erkl¨
art werden kann. Vielmehr zeigt sich,
¨
dass Prozessualit¨at auf jeweils andere Weise erfahrbar wird. Der Ubergang
von der einen Theorie zur anderen impliziert deshalb einen Wechsel der Erfahrungsweise.
Innerhalb der aristotelischen Physik bleibt entsprechend dem ontologisch-hermeneutischen Bewegungsbegriff ein Einzelnes als solches stets verdeckt. Darin ist jedoch kein Mangel zu erkennen, weil das anfassbare Einzelding in seiner Kontingenz ohnehin nicht das Desiderat wissenschaftlicher
Bem¨
uhung ist. Ein Einzelding als materieller Gegenstand kann als solcher
nicht gewusst werden. Mit der Ver¨
anderung des Bewegungsbegriffs in der
Quantenmechanik geht die Erinnerung an die im universalistischen Ansatz
der klassischen Physik scheinbar vergessene Voraussetzung aller Wissenschaft einher: Alles Wissen als ein Allgemeines ist Begriff. Zugleich erweist
sich der in der klassischen Physik als universell veranschlagte methodische
Zugang auf das zu Erkennende aufgrund seiner Einseitigkeit als begrenzt. Er
wird zugunsten einer je sach- bzw. kontextabh¨
angigen Erkenntnis in einen
sachvarianten Begriffsgebrauch umgewandelt. Die Wirklichkeit wird in einer vielschichtigen und je vorl¨
aufigen Weise ergriffen, die nur noch wenige
Differenzen zu einer Auslegung des Wirklichen zeigt, wie sie in den hermeneutisch vorgehenden Wissenschaften u
aquater Weise
¨blich ist und in ad¨
reflektiert werden sollte.
172
A
A.1
Anhang
Hegels Bewegungsbegriff
Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, Zeit und Raum allein aus Zeitund Raumpunkten bestehend zu denken, wusste Zenon geschickt zu nutzen,
um damit die Unm¨oglichkeit des wahrhaften Seins von Bewegung aufzuzeigen. Indem Zenon annimmt, dass die Zeit aus unteilbaren Zeitpunkten
besteht, folgert er daraus Unm¨
ogliches: der fortbewegte Gegenstand kann
sein Ziel nie erreichen, das Langsamste kann vom Schnellsten niemals eingeholt werden, der fliegende Pfeil ruht (vgl. Phys. Z 9). Wenn die Bewegung
solche Widerspr¨
uche in sich tr¨
agt, kann Wahres von ihr nicht ausgesagt
werden. Daraus schließt Zenon, dass es weder Bewegung noch Ruhe wirklich gibt. Aristoteles l¨ost die Aporien der Bewegung, indem er die Falschheit
der Pr¨amissen aufzeigt. Zeit und Raum (Erstreckungsgr¨
oße) sind nicht aus
unendlich vielen Punkten zusammengesetzt – wohl sind sie aber bis ins Unendliche teilbar. Dies war das Resultat der Kontinuit¨
atslehre. Damit hat
Aristoteles gezeigt, dass Bewegung unter der Pr¨
amisse einer rein diskontinuierlichen Zeit und Erstreckungsgr¨
oße nicht verstanden werden kann.
Da Hegel die Aufl¨osung der Aporien durch Aristoteles als hoch zu
”
r¨
uhmen“ (WdL, 2. Anm. zum Kap.: A. Die reine Quantit¨
at“; S. 188)
”
w¨
urdigt, stimmt er Aristoteles in der Ansicht zu, dass Zenon von falschen
Pr¨amissen ausgeht. Indes insistiert Hegel jedoch auf die G¨
ultigkeit des Argumentes des Zenon, demgem¨
aß das Denken der Bewegung in den Widerspruch f¨
uhre. Den daraus folgenden Schluss des Zenon, dass es Bewegung
dann nicht wirklich gibt, akzeptiert er freilich nicht, sondern erkennt eben
im Widerspruch das Wesen der Bewegung: Man muß den alten Dialekti”
kern die Widerspr¨
uche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber
daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr daß
die Bewegung der d a s e y e n d e Widerspruch selbst ist.“ (WdL, Anm. 3
¨
zum Kap.: C. Der Widerspruch“; S. # 287) Solche Außerungen
Hegels sind
”
geeignet, missverstanden zu werden, indem darin ausschließlich ein Verstoß
gegen das Widerspruchsaxiom gesehen wird. Sowohl Platon (Politeia 436 b
ff.) als auch Aristoteles (Met. G 3 u. 4) hatten jedoch den Satz vom Widerspruch als die oberste Pr¨amisse allen vern¨
unftigen Redens, Denkens, ja des
Seins u
achlich aber h¨
alt auch Hegel in seiner
¨berhaupt hervorgehoben. Tats¨
Logik an der G¨
ultigkeit der formalen Logik fest: In der speculativen Logik
”
ist die bloße V e r s t a n d e s-Logik enthalten und kann aus jener sogleich
gemacht werden [...]“ (Enc., §82). Was Hegel seinen Lesern zumutet, ist,
so Wolff, [d]ie anscheinend unl¨
osbare Schwierigkeit, [...] [die darin besteht,]
”
173
daß Hegels Aussagen sinnvoll nur dann sein k¨
onnen, wenn sie trotz ihrer kontradiktorischen Form wahr sind.“ (Wolff (1981), S. 33) Hegel meint, wenn
er sagt ,Bewegung ist der daseiende Widerspruch‘, nun gewiss nicht, dass
die Bewegung ein logischer Widerspruch sei, der ohnehin nur in Urteilen
vorkommen kann, nicht jedoch an Dingen oder Sachverhalten. Der Widerspruch, den Hegel hier konstatiert, findet sich nicht prim¨
ar in der Form
des Urteils, sondern in seinem Inhalt. Allerdings, und darin gr¨
unden wohl
die meisten Missverst¨andnisse, ist die Aussage eines Realwiderspruchs auf
die Form des logischen Widerspruchs angewiesen, wie Wolff im Anschluss
an Fulda (1973), S. 261 f., feststellt: [...] [D]ie sprachliche Repr¨
asentation
”
eines bestimmten dialektischen Widerspruchs [setzt] anscheinend einen Verstoß gegen das Prinzip der logischen Widerspruchsfreiheit voraus.“ (Wolff
(1981), S. 35, Anm. 51)
In den Vorlesungen u
autert He¨ber die Geschichte der Philosophie“ erl¨
”
gel seine Auffassung von Bewegung, vornehmlich Bewegung im Sinne der
Ortsbewegung, im Anschluss an die Darstellung der zenonischen Aporie:
,Der Achilles‘.
Wenn wir von der Bewegung u
¨berhaupt sprechen, so sagen wir,
”
der K¨orper ist an einem Ort; bewegt er sich weiter, dann ist er wieder
an einem anderen Ort. Wo ist er, indem er sich bewegt? Indem er sich
bewegt ist er nicht mehr am ersten, aber auch noch nicht am zweiten
Ort. Wenn er am ersten w¨are, so ruhte er; wenn er am zweiten w¨are,
so ruhte er auch. Sagen wir, er ist zwischen diesen beiden Orten, so ist
dies nichts gesagt, kenolege~in (Aristoteles), denn zwischen beiden ist
er auch an einem Ort“. (Hegel (1825/26), Teil 2, S. 66)
Hegel geht mithin davon aus, dass es sinnvoll ist, dem in Bewegung seienden K¨orper eine Ortsbestimmung zuzusprechen. Diese kann aber nicht so
ausfallen, dass dem Bewegten das Sein an je einem Ort, wo es sich gerade
befindet, zugesprochen werden kann. Eine solche Bestimmung w¨
urde sich in
nichts von der Pr¨adikation der Ruhe (im Sinne mindestens des Bewegungsmangels) unterscheiden. An dem wesentlichen Unterschied von Bewegung
und Ruhe, der f¨
ur den philosophischen Bewegungbegriff konstitutiv ist, kann
dann nicht weiter festgehalten werden.1 Kategorial kommt dem Bewegten
immer die Ortsbestimmung zu, jedoch ist diese zugleich zur¨
uckzunehmen,
um nicht die Bestimmung des Bewegten als eines In-Bewegung-Seienden unbegreiflich werden zu lassen. So bestimmt Hegel im obenstehenden Zitat, die
1
Tats¨
achlich wird in der neuzeitlichen Physik nicht kategorial zwischen Ruhe und Bewegung unterschieden. Ruhe wird als Bewegung mit der Geschwindigkeit = 0 aufgefasst.
Die kategoriale Differenz wird neu gezogen. Es wird zwischen kr¨
aftefreier Bewegung und
durch Kr¨
afte bewirkter Bewegung unterschieden.
174
Bewegtheit des K¨orpers damit, dass dieser nicht mehr am ersten und noch
nicht am zweiten Ort ist – der Begriff der Bewegung kann damit auf die
Formel gebracht werden: vom nicht-mehr zum noch-nicht. Dies dr¨
uckt Hegel des Weiteren in der Form des logischen Widerspruchs aus: Sich bewe”
gen heißt, an einem Ort sein und zugleich nicht an einem Ort sein.“ (Hegel
(1825/26), Teil 2, S. 66) In dieser Bestimmung ist das In-Bewegung-Seiende
als etwas benannt, das an einem Ort x1 und zugleich an einem anderen davon
verschiedenen Ort x2 ist. Die Formulierung der Bewegung als Widerspruch
findet sich in Einklang mit der Formulierung in Hegels Enzyklop¨
adie“:
”
[...] die Bewegung ist nur so zu fassen, daß Raum und Zeit in sich
”
continuirlich ist, und der sich bewegende K¨orper in d e m s e l b e n Orte
zugleich ist und n i c h t, d. i. zugleich in e i n e m A n d e r n ist, und
ebenso derselbe Zeitpunkt zugleich ist und nicht, d. i. ein A n d e r e r,
zugleich ist.“ (Enc. §298)
Dieses Zitat birgt einige Schwierigkeiten (ungeachtet des ,Problems mit dem
Widerspruch‘), die hier nur teilweise angezeigt werden k¨
onnen. Es ist hilfreich den Satz zu strukturieren und die Teils¨
atze gesondert zu kommentieren:
Die Bewegung ist nur so zu fassen,
α) dass Raum und Zeit in sich continuirlich ist,
β) und der sich bewegende K¨orper in d e m s e l b e n Orte zugleich ist
und n i c h t,
d. i. zugleich in e i n e m A n d e r n ist,
γ) und ebenso derselbe Zeitpunkt zugleich ist und nicht – d. i. ein
A n d e r e r – zugleich ist.
Der Teilsatz α) bed¨
urfte einer weitl¨
aufigen Er¨
orterung. Generell formuliert
er eine Bedingung der M¨oglichkeit von (Orts-)Bewegung. Da an dieser Stelle nicht tiefgr¨
undig auf Raum und Zeit einzugehen ist, zudem Hegel nicht
ausf¨
uhrlich dargestellt werden soll, sei nur soviel gesagt: Raum und Zeit sind
bei Hegel von vornherein nicht unabh¨
angig, d. h. ihr Bezug stellt sich durch
sie selbst her und nicht etwa erst durch Bewegung.
Teilsatz β) und γ) sind gleichrangig: W¨
ahrend β) eine Aussage u
¨ber
den bewegten K¨orper, das Bewegte, enth¨
alt, wird in der dazu parallelen
Konstruktion im Teilsatz γ) eine Aussage u
¨ber die Zeit getroffen, insofern
sie, wie die Bewegung, ihr Sein im Werden hat. Meines Erachtens bezieht
sich das ebenso in Teilsatz γ) nicht auf die in vorigen Teilsatz β) gegebene
Struktur, sondern auf das Satzsubjekt der sich bewegende K¨
orper. Das
Satzsubjekt in Teilsatz γ) ist nicht der sich bewegende K¨
orper aus dem
vorigen Teilsatz β), sondern der Zeitpunkt! Hinsichtlich der Er¨
orterung
175
von Bewegung eines Bewegten kann der Teilsatz γ) insofern als redundant
angesehen werden, weshalb eine gesonderte Erl¨
auterung dieses Teilsatzes
unterlassen werden kann.
Von einiger Bedeutung ist die Auslegung des Terminus zugleich, worauf Wandschneider (1982), S. 125, zurecht hinweist. Grunds¨
atzlich l¨
asst sich
am Terminus zugleich ein temporaler Sinn (vgl. gleichzeitig ) und ein
topischer Sinn (vgl. gleichermaßen) unterscheiden. Je nach Kontext implizieren sich einmal diese Bedeutungen ein andermal nicht. Wenn Wandschneider dem Terminus zugleich, der in dem Zitat immerhin viermal
auftaucht, definitiv allen zeitlichen Sinn abspricht, scheint mir das allerdings problematisch. Dies m¨
usste f¨
ur jede der vier Stellen gesondert gezeigt
werden. Wandschneider erkl¨
art in Bezug auf den Teilsatz γ), [...] daß das
”
,zugleich‘ hier offenbar nicht als ,gleichzeitig‘ zu nehmen ist: Verschiedene
Zeitpunkte k¨onnen nicht gleichzeitig sein.“ (Wandschneider (1982), S. 125)
Nimmt man jedoch ernst, dass Teilsatz γ) in einer parallelen Konstruktion
etwas Kongruentes u
¨ber den Zeitpunkt sagt, was zuvor im Teilsatz β) u
¨ber
das Bewegte, den bewegten K¨
orper, gesagt worden ist, so verbietet sich jede
vorschnelle Aufl¨osung der Paradoxie. Wenn meine Vermutung richtig ist,
ließe sich Teilsatz γ) des hegelschen Zitats folgendermaßen erg¨
anzen: [...]
”
und ebenso [sc. wie f¨
ur den bewegten K¨
orper, so gilt auch f¨
ur den Zeitpunkt,
dass] derselbe Zeitpunkt zugleich ist und nicht [...]“. Bedeutet zugleich in
diesem Zitat nun gleichzeitig oder gleichermaßen?
Um zu sehen, wodurch die wandschneidersche Deutung problematisch
bleibt, sei deren Gang kurz nachgezeichnet. Das topische zugleich verschiedener Zeitpunkte scheint Wandschneider in Analogie zum Problem der
Verschiedenheit gleicher Orte zu denken. Daraus erkl¨
art sich der Verweis auf
die hegelsche Aussage u
¨ber die Mehrdeutigkeit der Ortsangabe wie sie im
m¨
undlichen Zusatz2 zu §261 der Enzyklop¨
adie“ erl¨
autert ist:
”
¨
Es sind drei unterschiedene Orter:
der jetzt ist, der nachher ein”
zunehmende, und der verlassene [...] Aber es ist zugleich nur ein Ort,
¨
ein Allgemeines jener Orter,
ein Unver¨andertes in aller Ver¨anderung
[...]“ (Enz., Teil II, Bd. 9, S. 58)
Mit Ort w¨are demnach einmal der einzelne jeweils bestimmte Ort gemeint
(der vergangene, der gegenw¨
artige und der zuk¨
unftige) und einmal der all2
Die ,m¨
undlichen Zus¨
atze‘ stammen aus verschiedenen Quellen. Hegel hat nach Verlesung eines der knappen Paragraphen diesen jeweils in freier Rede er¨
ortert. Diese Erl¨
auterungen sind als m¨
undliche Zus¨
atze zum ersten Mal der Ausgabe der Enzyklop¨
adie durch
den Verein der Freunde des Verewigten“ beigegeben worden. Vgl. Enz., Bd. 10, S. 423f.
”
Obgleich diese Zus¨
atze unter Vorbehalt zu rezipieren sind, entsprechen sie sicher hegelschem Gedankengut.
176
gemeine Ort als Ortsbestimmtheit u
¨berhaupt. Damit legt Wandschneider
auseinander, dass das Bewegte sowohl in demselben allgemeinen Ort ist
(beharrt), insofern dem K¨orper u
¨berhaupt Ortsbestimmtheit zukommt, als
auch nicht, n¨amlich in je einem andern Ort ist als einem Unterwegs-Seienden.
Somit w¨are der Widerspruch durch eine Aufteilung in Hinsichten aufgel¨
ost.
Zugleich aber auch die Bewegung, die doch gerade erkl¨
art werden sollte.
Denn die Bestimmung, das etwas sowohl am jeweiligen Ort als auch gleichermaßen in seinem Ort ist, etwas am je verschiedenen Ort und zugleich
¨
im allgemeinen Ort (Ortlichkeit)
ist, gilt gleichermaßen f¨
ur das Ruhende
und das Bewegte als Bewegliches. In Bewegung aber ist etwas nach Hegel
nur, sofern es in einem bestimmten Ort und gleichzeitig in einem anderen
bestimmten Ort ist.
Das in Teilsatz β) u
¨ber das Bewegte Ausgesagte fordert geradezu den
temporalen Sinn von zugleich. Ansonsten bliebe ja die M¨
oglichkeit, durch
Veranschlagung des nur topischen Sinns von zugleich den Widerspruch dahingehend aufzul¨osen, dass der K¨
orper jetzt hier und sp¨
ater dort sei. Gerade
diese Formel kennzeichnet Hegel aber als zum Verst¨
andnis der Bewegung
unzureichend (vgl. die Hegel-Zitate oben S. 171 und unten S. 174). Insofern die Formulierung des dialektischen Bewegungsbegriffs auf die Aussage
eines logischen Widerspruchs angewiesen ist, muss der topische Sinn von
zugleich (sc. gleichermaßen) den temporalen Sinn (sc. gleichzeitig)
implizieren. Erst wenn gesagt wird, dass das Bewegte hier ist und gleichzeitig nicht hier, ist etwas u
¨ber das Bewegte als In-Bewegung-Seiendes gesagt,
denn etwas, das als Bewegliches ruht, ist entweder hier oder nicht hier und
dies f¨
ur eine Zeitspanne.
Ich verstehe die Aussage also im Sinne von: das Bewegte ist gleichzeitig
sowohl in einem bestimmten Ort als auch nicht in demselben bestimmten
Ort, sondern an einem anderen Ort. Das Bewegte greift demnach u
¨ber das
Sein an einem Ort hinaus und ist immer schon bestimmt durch den Bezug
auf einen anderen Ort. Die Auslegung des Bewegungsbegriffs der Enzy”
klop¨adie“, insbesondere, was den Sinn des Terminus zugleich betrifft,
wird von dem entsprechenden Satz in Hegels Logik“ unterst¨
utzt:
”
Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Itzt hier ist,
”
und in einem andern Itzt dort, sondern indem es in einem und demselben Itzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und
nicht ist.“ (WdL, S. # 287)
Indem Hegel eben jene M¨
oglichkeit ausschließen will, Bewegung als das
Nacheinander verschiedener Orte zu denken, muss der Terminus zugleich
neben dem topischen Sinn von gleichermaßen insbesondere den tempora177
len Sinn von gleichzeitig tragen. Nur durch den Bezug auf zwei verschiedene Punkte, die nicht zugleich vom Bewegten eingenommen werden k¨
onnen,
gelingt es, die Bewegung zu denken. Das Bewegte ist in dem betrachteten
Punkt seiner Bewegungsbahn nur insofern, als es Bezug auf einen anderen
Punkt nimmt, es folglich im Punkt ist und nicht ist.
Diese von Hegel gegebene Bestimmung des bewegten K¨
orpers soll verdeutlichen, dass das In-Bewegung-Seiende nicht nur irgendwo ist, sondern
u
¨ber den jeweiligen Ort bereits hinaus, und an dem Ort schon nicht mehr.
Dadurch, dass der Widerspruch ,Sein an einem Ort und zugleich nicht‘ nicht
bestehen bleiben kann, sondern ,aufgel¨
ost‘ werden muss, wird er zum Prinzip der Bewegung. Dieses Prinzip k¨
onnte nicht Prinzip der realen Bewegung
sein, wenn der Widerspruch sich allein im Reden u
ande und
¨ber die Sache f¨
nicht in der Sache selbst w¨are, als realer, objektiver Widerspruch.
¨
Hegel betont die Kontinuit¨
at von Raum und Zeit als die Außerung
und
zugleich als die Voraussetzung der Bewegung als Widerspruch. Die als diskret voneinander wohl unterschiedenen Orte und Zeiten sind nur Grenzen,
die in der Bewegung gerade als solche u
¨berwunden werden. Indem die Grenzen als trennende u
ungliche Zusammen¨berwunden werden, wird der urspr¨
hang von Raum und Zeit, d. i. ihre Kontinuit¨
at, begr¨
undet. Ohne jedoch die
Grenzen vorauszusetzen, w¨
are niemals Verschiedenheit gegeben. Die Diskontinuit¨at ist damit ebenso gefordert, wie das sie u
¨berwindende Prinzip der
reinen Kontinuit¨at, der Identit¨
at aller Raum- und Zeitpunkte. Diese sind als
diskrete Grenzen nur wieder Grenzen von etwas, Grenzen der identischen
Einheit des Raumes bzw. der Zeit.
A.2
Zum Ursprung der quantenmechanischen Begriffe von
Zustand und System
Schon Cassirer hebt in seiner Studie Zur moderne Physik“ die Bedeutung
”
der Wandlung des Zustandsbegriffs“ hervor: Der neue ,Zustandsbegriff‘
”
”
der Quantenmechanik muß in der Tat zun¨
achst f¨
ur jeden, der von der klassischen Physik herkommt, den eigentlichen Stein des Anstoßes bieten.“ (Cassirer (1936), S. 348) Diese Bemerkung wird zum Anlass genommen, sich u
¨ber
den Wandel des Zustandsbegriffs zu verst¨
andigen. Dabei wird deutlich, in
welcher Weise sich der Begriff des Zustandes in der Quantentheorie auf den
des (thermodynamischen) Systems bezieht.
Mit Zustand eines K¨orpers (z. B. eines Teilchens) bezeichnet man in der
klassischen Mechanik dessen dynamische Bestimmtheit in Abh¨
angigkeit von
der Zeit.3 Dynamisch bestimmt ist ein solcher Zustand Z(t), durch die An3
Bei der gel¨
aufigen Rede von der ,Abh¨
angigkeit einer Gr¨
oße von der Zeit‘ ist keine
178
gabe von Ortskoordinate x und Impulskoordinate p. Da diese wiederum von
der Zeit abh¨angen, kann der Zustand eines Teilchens geschrieben werden
als Z(x(t), p(t)). Einem mechanischen K¨
orper ist auf diese Weise zu jedem
Zeitpunkt die Angabe des Ortes und der Bewegungsgr¨
oße (Impuls bzw. Geschwindigkeit) zugeordnet. Dadurch ist seine Bewegungsbahn auf eindeutige
Weise bestimmt. Der Zustandsbegriff der bohrschen Theorie ist von dem beschriebenen mechanischen Zustand zu unterscheiden. Es ist zu untersuchen,
was gemeint ist, wenn Bohr im 1. Postulat (s.o. S. 128) von dem ,station¨
aren
Zustand eines Systems‘ spricht.
Mit Meyer-Abich l¨asst sich feststellen, dass Bohr [...] f¨
ur das betrachtete
”
System keine weiteren unabh¨
angigen Zustandsgr¨
oßen einf¨
uhrte als eben die
Energie.“ (Meyer-Abich (1965), S. 23) Der bohrsche Begriff des Zustandes
ist demnach verschieden vom Zustandsbegriff in der klassischen Mechanik.
Obwohl Bohr ein mechanisches Zweik¨
orperproblem behandelt (Atomkern
und Elektron), beinhaltet sein Zustandsbegriff keine dynamische Bestimmung. Es handelt sich also von vornherein nicht um Zust¨
ande im Sinne der
”
klassischen Mechanik oder Elektrodynamik – zeitbehaftete Angaben u
¨ber
einen Gegenstand, aus denen mit Hilfe der Regeln der daf¨
ur zust¨
andigen
Theorie entsprechende Angaben f¨
ur einen sp¨
ateren Zeitpunkt vorhergesagt
werden k¨onnten.“ (Meyer-Abich (1965), S. 23) Unter der alleinigen Angabe der Energie w¨are ein mechanisches System unterbestimmt. Die Angabe
der Energie ließe offen, welche Bewegung ein Teilchen ausf¨
uhrt. Der im 2.
¨
Postulat (s. o. S. 128) benannte Prozess des Ubergangs
ist nur durch den
Energiewert von Anfangs- und Endzustand bestimmt. Ein mechanischer Bewegungsverlauf w¨are damit nicht eindeutig bestimmt. Wenn bei der Ortsbewegung eines mechanischen K¨
orpers Anfangs- und Endzustand der Bewegung nur durch die Angabe der Werte der potentiellen Energie gegeben
ist, dann ist der Bewegungsverlauf weder hinsichtlich Richtung noch Dauer
festgelegt. Dies w¨are der Fall, wenn ein K¨
orper im Schwerefeld der Erde von
einer H¨ohenlinie eines Berges zu einer anderen bewegt wird. Die Angabe der
beiden H¨ohen legt den Weg, auf dem die H¨
ohendifferenz u
¨berwunden wird,
nicht fest. In ¨ahnlicher Weise unbestimmt ist die Bewegung unter der Angabe nur der kinetischen Energie. Solange sich der Betrag des Impulses bzw.
der Geschwindigkeit des Teilchens nicht ¨
andert, ist kein Bewegungsverlauf
ausgezeichnet. Jede Bewegungsrichtung ist denkbar, bei welcher der Betrag
der kinetischen Energie erhalten bleibt.
Kausalit¨
at unterstellt. Die ,Zeit‘ ist in der klassischen Mechanik wie in der Quantenmechanik ein Parameter, dessen Charakteristikum ist, dass er als fließende Gr¨
oße gedacht
wird (Newton). Zeit ist damit eine Gr¨
oße, die an ihr selbst Ver¨
anderung ist.
179
Die Bezeichnung ,station¨
arer Zustand’ entstammt der Thermodynamik
und wurde bereits von Planck in die Quantenphysik eingef¨
uhrt (vgl. MeyerAbich (1965), 23f.). Planck spricht vom station¨
aren Zustand der W¨
armestrahlung. In diesem Fall gleichen sich die Raten der Emission und der
Absorption gegenseitig aus (dynamisches Gleichgewicht). Dies ist der wahrscheinlichste Zustand maximaler Gleichverteilung, dabei ver¨
andern sich die
Zustandsgr¨oßen (Energie) nicht mehr; sie sind von der Zeit unabh¨
angig.
Der ,station¨are Zustand’ eines Resonators wird also als ein Dauerzustand
”
bestimmter Energie eingef¨
uhrt.“ (Meyer-Abich (1965), S. 24) Bohr bezeichnet mit station¨arem Zustand die strahlungsfreie Keplerbewegung des Elektrons um den Kern: “[The] electron will describe stationary elliptical orbits“
(Niels Bohr: On the constitution of atoms and molecules I“, Phil. Mag. 26
”
(1913) S. 1-25, Zitat: S. 3, zitiert nach Meyer-Abich (1965), S. 24). Jedoch
stellt Bohr von vornherein keine Verbindung zwischen der Umlauffrequenz
(Rotation des Elektrons um den Kern) und der Frequenz der ausgesandten
Strahlung her.
Damit l¨asst sich mit Meyer-Abich feststellen: Station¨
are Zust¨
ande sind
”
Zust¨ande konstanter Energie.“ (Meyer-Abich (1965), S. 25) Der Begriff Zustand meint bei Bohr folglich keinen Momentanzustand Z(t), dessen Angabe
zur dynamischen Bestimmung eines System erforderlich w¨
are, sondern einen
zeitfreien Zustand, der von vornherin nicht als ver¨
anderlich anzusehen ist.
¨
Indem solch ein Zustand keiner zeitlichen Anderung
unterliegt, ist er zeitlos
und nicht, wie Meyer-Abich meint, ein Zustand eines Zeitintervalls Z(∆t),
[...] ein Inbegriff von verschiedenzeitigen Momentanzust¨
anden des Systems,
”
der essentiell nur f¨
ur Zeitintervalle definiert ist.“ (Meyer-Abich (1965), S.
23). Damit zeigt sich sofort die Schwierigkeit, die sich einstellt, wenn etwas
zeitlos Konstantes dennoch eine Ver¨
anderung erfahren soll. Der Zustand
betrifft also erstens die Angabe der Energie und er ist zweitens ein zeitfreier, ein station¨arer Zustand. Da ein anderer Zustand in der Quantentheorie
nicht relevant ist, ist das Attribut ,station¨
ar’ entbehrlich. Doch wovon ist
der Zustand u
¨berhaupt Zustand? Der Zustand ist Zustand eines Systems.
Was aber ist mit dem Begriff ,System‘ gemeint?
Die physikalische Verwendung des Begriffs System entstammt ebenfalls der Thermodynamik. In der thermodynamischen Zustandsbeschreibung
wird der Zustand eines Kollektivs von Elementen (Teilchen) beschrieben. Die
mechanischen Zust¨ande der einzelnen Elemente geraten dabei als je besondere nicht in den Blick. [Demgegen¨
uber ...] betrachten Planck und Bohr
”
nicht den Zustand eines Kollektivs, sondern ein Kollektiv von Zust¨
anden.“
(Meyer-Abich (1965), S. 25) Diese treffende Bemerkung Meyer-Abichs kann
gleichwohl Anlass zu Missverst¨
andnissen bieten, wenn der hier benannte
180
Zustand mit dem Zustandsbegriff der Quantentheorie verwechselt wird. Das
Planetenmodell des (Wasserstoff-)Atoms geht immerhin von sich auf Bahnen
fester Radien mechanisch fortbewegenden Elektronen aus. Diese Bewegung
wird aber nicht mehr hinsichtlich ihrer dynamischen Bestimmung betrachtet,
sondern nur insofern sie einem Energiewert entspricht. Dieser Energiewert
bezeichnet einen Zustand des Atoms. Infolgedessen f¨
uhrt die Quantisierung
der Energiewerte eines Atoms im Planetenmodell zu diskreten Bahnradien
der Elektronen mit endlichem Abstand voneinander. Diese gem¨
aß der Quantisierung m¨oglichen Energiewerte bilden ein Kollektiv von Zust¨
anden. Es
sind [...] Zust¨ande eines Einzelsystems [des Atoms], n¨
amlich die Gesamt”
heit aller derjenigen Bewegungsabl¨
aufe des Systems, die unabh¨
angig von
aller Verschiedenheit [...] den gleichen Wert der Gesamtenergie gemeinsam
haben.“ (Meyer-Abich (1965), S. 25) Nur diese Energie interessiert, denn
nur zu dieser ist ein Zusammenhang mit der Frequenz der ausgesandten
Strahlung herstellbar. In der Gleichung E1 − E2 = hν (E1 , E2 : Energieniveaus, h: plancksches Wirkungsquantum, ν Strahlungfrequenz) findet dieser
Zusammenhang seinen quantitativen Ausdruck.
Abschließend sollen die herausgearbeiteten Charakteristika des quantentheoretischen Zustandsbegriffs noch einmal benannt werden:
a) Der Zustand bezeichnet nicht die dynamische Bestimmung eines Teilchens (statt Z(x, p), gilt Z(E)).
b) Die Stationarit¨at des Zustandes schließt prinzipiell eine (kontinuierliche) Ver¨anderung desselben aus.
c) Der Begriff System bezeichnet eine Einheit (unter Umst¨
anden ein
einzelnes Teilchen), dessen innere Struktur einem Kollektiv von Zust¨anden entspricht.
Mit Einf¨
uhrung der Quantenmechanik erf¨
ahrt der Begriff des Zustandes
einen weiteren Wandel. In der Schr¨
odingerschen Wellenmechanik wird der
Zustand des Quantensystems durch eine Wellenfunktion beschrieben. Aus
der G¨
ultigkeit des Superpositionsprinzips f¨
ur Wellen ergibt sich, dass ein
¨
Systemzustand aus der Uberlagerung
von zwei oder mehr Zust¨
anden konstruiert werden kann. Damit ist der mechanische Zustandsbegriff deutlich
verlassen und die feldtheoretische Formulierung des Zustandes vorbereitet.
Sie soll in dieser Untersuchung jedoch nicht betrachtet werden.
181
A.3
Der Formalismus der Quantenmechanik und die Messung
Im Formalismus der Quantenmechanik spielen zwei mathematische Objekte
eine wesentliche Rolle: Zustandsvektoren |Ψi und Operatoren, z. B. der Haˆ zur Darstellung der Gesamtenergie eines Systems. Nun
miltonoperator H
heißt es: Die Wellenfunktion Ψ bestimmt den Zustand eines physikalischen
”
Systems in der Quantenmechanik vollst¨
andig.“ (Landau und Lifschitz, Bd.
III, S. 24) Die Wellenfunktion Ψ bzw. der Zustandsvektor |Ψi werden damit
als Zustand des Systems angesprochen. Eine Merkw¨
urdigkeit dieser Sprechweise f¨allt zumindest dann auf, wenn gesagt wird, dass diese Zust¨
ande nicht
dasjenige sind, was gemessen werden kann. In diesem Sinne betont Nolting:
Der Zustand |ψi [...] hat keine reale Bedeutung im Sinne von Meßbarkeit.“
”
(Nolting (1992), Bd. V, Teil 1, S. 120) Gegenstand der Messung sind die
sogenannten Erwartungswerte (bzw. Eigenwerte) einer Messgr¨
oße.
Im Formalismus der Quantenmechanik entspricht der Messung die Anwendung des zur jeweiligen Messgr¨
oße (Observable) zugeordneten Differentialoperators auf den Zustandsvektor. Diese Anwendung erst liefert einen
mit einer realen Messung korrespondierenden quantitativen Ausdruck (bzw.
ein Spektrum von Erwartungs- bzw. Eigenwerten). Befindet sich das System
in einem reinen Zustand |Ψn i, der zudem noch ein Eigenzustand |Ψn i des
ˆ ist, dann ergeben sich die m¨
Operators H
oglichen Messwerte als Spektrum
von Eigenwerten En der Eigenwertgleichung:
ˆ n i = En |Ψn i.
H|Ψ
Die Wahrscheinlichkeit, einen Messwert des Spektrums von Eigenwerten tat¯ der Obs¨achlich als Messwert zu finden, ergibt sich als Erwartungswert E
ˆ
servablen H gem¨aß:
¯ = hΨ|H|Ψi.
ˆ
E
Befindet sich das System in einem gemischten Zustand, so kann nur die
Wahrscheinlichkeit angegeben werden, mit der sich das System in einem
reinen Zustand befindet. Der Messwert der Observablen Aˆ ergibt sich als
Erwartungswert:
X
ˆ n i.
hAi =
pn hψn |A|ψ
n
Von den verschiedenen Observablen (Messgr¨
oßen) ist nun diejenige der
Energie auszuzeichnen. Zum einen ist damit der Anschluss an die ¨
altere
Quantentheorie sowie an Bohrs Quantentheorie des Atoms hergestellt, zum
anderen ist damit die Vergleichbarkeit mit der klassischen Mechanik geschaffen, wodurch erst deren charakteristische Differenz zur Quantenmechanik in
182
¨
den Blick kommen kann. Ersteres zeigt sich an der zwanglosen Ubernahme
des Begriffs station¨arer Zustand in die Quantenmechanik. Damit wird die
Behauptung vertreten, dass diejenige Gr¨
oße, die im klassischen Sinne als Zustand angesprochen werden sollte, die Energie ist. Daf¨
ur spricht ebenfalls,
[dass die Energie ...] zu jedem Zeitpunkt im Prinzip exakt meßbar [ist].“
”
(Nolting (1992), S. 201)
Ein mit experimentellen Messresultaten in Kongruenz zu bringender
theoretischer Wert entsteht aus dem Zusammenspiel von Operator und Zustandsvektor. Bei der Betrachtung der Dynamik in der Quantenmechanik
kommt es deshalb nur auf die Relation dieser beiden Objekte zueinander
an:
Erwartungswerte [...] werden aber letztlich aus Operatoren und
”
Zustandsvektoren gebildet. Man kann sich also durchaus vorstellen, daß
es f¨
ur solche Meßgr¨oßen eigentlich nur auf die relative Lage von Operatoren und Zust¨anden im Hilbert-Raum ankommt.“ (Nolting (1992),
S. 192f.)
Dies hat Konsequenzen f¨
ur die Darstellung einer Dynamik des Quantensystems. Die entsprechende Bewegungsgleichung kann auf unterschiedliche
Weise formuliert werden. Man unterscheidet drei F¨
alle, je nach dem, ob die
Zeitabh¨angigkeit in den Zustandsvektor verlegt wird oder in den Operator
oder auch anteilig in beide Objekte:
• Schr¨odinger-Bild (nur Zustandsvektor zeitabh¨
angig),
• Heisenberg-Bild (nur Operator zeitabh¨
angig),
• Dirac-Bild (Operator und Zustandsvektor zeitabh¨
angig).
Die Unterschiede in den Darstellungsm¨
oglichkeiten der Bewegungsgleichung sprechen gegen jede einseitige Deutung, die nicht die Relationalit¨
at
von Zustandsvektor und Operator als wesentlich erkennt. Damit im Zusammenhang wird deutlich, weshalb die verk¨
urzte Sprechweise von Zustand,
wenn der Zustandsvektor gemeint ist, aufgrund der Verwechslungsgefahr
mit einem physikalisch realen Zustand (einem Zustand der gemessen werden kann) vermieden werden sollte. Eine Zustands¨
anderung ist im Allge¨
meinen n¨amlich nicht identisch mit der Anderung
des Zustandsvektors |Ψi,
sondern ergibt sich stets erst aus der Relation zwischen Zustandsvektor und
Operator.
Wenn im Anschluss an die bohrsche Quantentheorie in der Quantenmechanik unter Zustand der elektronische Zustand eines Atoms verstanden
183
wird, der durch die Angabe eines Energiewertes4 gekennzeichnet ist, erfolgt
die Vorhersage von Messwerten in zweierlei Hinsicht:
• Angabe der m¨oglichen Energiewerte (Energieniveaus) eines bestimmten Systems (Atom, Molek¨
ul, chemische Verbindung),
• Angabe der Wahrscheinlichkeit, mit der ein m¨
oglicher Energiewert (zu
einer bestimmten Zeit) gemessen wird.
A.4
Zur Interpretation der Wellenfunktion als Wahrscheinlichkeit
Die auf Max Born 1926 zur¨
uckgehende physikalische Deutung der Schr¨
odingerschen Wellenfunktion Ψ als Wahrscheinlichkeit P ∼ |Ψ|2 ist an dieser
Stelle nicht in Frage zu stellen. Dar¨
uber hinaus sollen weder mathematische Details dieser Interpretation noch die Frage nach Indeterminismus versus Determinismus der physikalischen Wirklichkeit betrachtet werden. Vielmehr sind die Ver¨anderungen zu untersuchen, die der Begriff der Statistik
bzw. derjenige der Wahrscheinlichkeit erfahren, wenn diese in das Gebiet der
Quantenmechanik u
anderten
¨bertragen werden. Aus den Merkmalen des ver¨
Wahrscheinlichkeitsbegriffs lassen sich R¨
uckschl¨
usse auf die (Be)deutung der
Wellenfunktion ziehen.
A.4.1
Subjektive versus objektive Wahrscheinlichkeit
Die klassische statistische Mechanik geht von der Vorstellung vollst¨
andig determinierter Bewegungen kleinster Teilchen aus. Aufgrund von deren Vielzahl und der daraus resultierenden Komplexit¨
at der Bewegung der Gesamtheit der Teilchen (statistisches Ensemble) sind die Einzelbewegungen im
Detail nicht mehr zu berechnen. Obgleich das Systemverhalten durch deterministische Gleichungen beschrieben wird, ist es als Ganzes nur innerhalb
statistischer Vorhersagen (Wahrscheinlichkeit) zug¨
anglich. Diese Statistik
dr¨
uckt demnach nicht ein indeterministisches Verhalten der Systembestandteile aus, sondern wird als Beschr¨
ankung unserer Kenntnis des Verhaltens
aller Systembestandteile betrachtet. In diesem Sinne wird jene Deutung der
4
Dies trifft nicht f¨
ur entartete Energieniveaus zu, da in diesem Fall verschiedene
Zust¨
ande den gleichen Energiewert haben. Ein quantenmechanischer Zustand ist erst durch
Angabe eines vollst¨
andigen Satzes von ,Eigenschaften‘ eindeutig bestimmt; f¨
ur ein Atom
sind deshalb neben der Energie (Hauptquantenzahl n) auch Nebenquantenzahl l, Magnetquantenzahl m und Spinquantenzahl s anzugeben, was durch eine Indizierung des
Zustandsvektors gekennzeichnet wird (|Ψn,l,m,s i).
184
klassischen Statistik auch Ignoranzinterpretation genannt. W¨
ahrend ,objektiv‘ das Systemverhalten vollst¨
andig bestimmt gedacht ist, wird unsere ,subjektive‘ Beschreibung des Systems vom Zufall5 (Indeterminismus) regiert.
Die quantenmechanische Statistik6 (Wahrscheinlichkeitsinterpretation)
entwirft demgegen¨
uber ein anderes Bild. Dies zeigt sich zun¨
achst im Versagen der Interpretation des Absolutquadrats der Wellenfunktion als ,subjektive‘ Wahrscheinlichkeit. Meines Erachtens ist das am deutlichsten erkennbar
am Ph¨anomen der Superposition quantenmechanischer Zust¨
ande.7 Um das
Absolutquadrat der Wellenfunktion Ψ als eine Wahrscheinlichkeit deuten
zu k¨onnen, m¨
ussten diese Wahrscheinlichkeiten sich gegenseitig verst¨
arken
bzw. ausl¨oschen k¨onnen. Bei im klassischen Sinne als ,subjektiv‘ interpretierten Wahrscheinlichkeiten (Ignoranzinterpretation) ist eine solche Wechselwirkung nicht denkbar. Deshalb wird die ,subjektive‘ Deutung der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten abgewiesen und eine ,objektive‘ angestrebt. Bei ,objektiven‘ oder auch prim¨
aren Wahrscheinlichkeiten ist eine
gegenseitige Beeinflussung derselben denkbar. Solche Wahrscheinlichkeiten
implizieren jedoch die Annahme eines ,objektiven‘ bzw. absoluten Zufalls des
Naturgeschehens selbst. Paradigmatisch wird daf¨
ur h¨
aufig auf den radioaktiven Zerfall des Atomkerns verwiesen. Obwohl das einzelne Ereignis nicht
vorhersehbar ist, gehorcht es doch dem Zerfallsgesetz, das bei einer großen
5
W¨
ahrend bei Aristoteles der Zufall als eine akzidentelle Zweckursache herausgestellt
wird: ein zuf¨
alliges Ereignis tritt ein, als ob es bezweckt worden w¨
are, geh¨
ort der
neuzeitliche Zufallsbegriff in die Klasse der Wirkursache, und zwar als deren Negation:
zuf¨
allig heißt, ohne Ursache. Der Zufall ist Ausdruck des Indeterminismus. Mit anderen
Worten, er ist Ausdruck des Unerkannten oder des Unerkennbaren, je nach dem, ob der
Zufall subjektiv oder objektiv genannt wird.
6
Neben der statistischen Deutung der Wellenfunktion gibt es eine weitere quantenmechanische Statistik, die hier nicht problematisiert wird. In der Diskussion werden nur Systeme in einem reinen Zustand betrachtet. Diese entsprechen direkt einem Hilbertraumvektor |Ψi. Im Allgemeinen befindet sich das Quantensystem jedoch in einem gemischten
Zustand (nicht vollst¨
andig pr¨
aparierte Systeme). Es l¨
asst sich die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der sich das System in einem reinen Zustand befindet. Diese Quantenstatistik ist
im traditionellen Sinne Ausdruck f¨
ur die Unkenntnis dar¨
uber, in welchem reinen Zustand
sich das Quantensystem befindet, und ist deshalb von der statistischen Interpretation der
Wellenfunktion zu unterscheiden. Vgl. auch Anhang A.3, S. 179.
7
Es zeigt sich n¨
amlich, dass, wenn zwei Wellenfunktionen Ψ1 und Ψ2 L¨
osungen der
¨
Schr¨
odingergleichung sind, deren Superposition (Uberlagerung
im Sinne der Interferenz)
Ψ1⊕2 = Ψ1 + Ψ2 (Normierung vernachl¨
assigt) ebenfalls eine L¨
osung der Schr¨
odingergleichung ist. Wenn die Wahrscheinlichkeit P als Absolutquadrat der Wellenfunktion gegeben
ist: P ∼ |Ψ|2 , so folgt f¨
ur die Wahrscheinlichkeit des superponierten Zustandes Ψ1⊕2 :
P1⊕2 ∼ |Ψ1 + Ψ2 |2 = |Ψ1 |2 + |Ψ2 |2 + 2|Ψ1 Ψ2 |2 . Der letzte Term ist ein Interferenz-Term,
der f¨
ur klassische Wahrscheinlichkeiten unverst¨
andlich ist. Klassische Wahrscheinlichkeiten addieren sich wie P1+2 = P1 + P2 , demnach m¨
usste f¨
ur die Wellenfunktion gelten:
|Ψ1+2 |2 = |Ψ1 |2 + |Ψ2 |2 , was im Widerspruch zum quantenmechanischen Resultat steht.
185
Anzahl von Zerf¨allen zunehmend genauer widergegeben wird. Mit einem absoluten Zufall des Naturgeschehens hat das somit nichts zu tun, sonst k¨
onnte
etwa auch ein instabiler Atomkern gefunden werden, der doch nicht zerf¨
allt,
und etwa Blei, das Ende der drei nat¨
urlichen Zerfallsreihen, spontan weiter
zerfallen. Sobald eine Regel unterstellt wird, die festlegt, welches Ereignis
zuf¨allig und welches regelm¨
aßig eintritt, kann an einem absoluten Zufall
nicht mehr festgehalten werden. Sobald der Begriff der Wahrscheinlichkeit
eingef¨
uhrt ist, wird der absolute Zufall zu einem gesetzm¨
aßigen Zufall: das
Zuf¨allige tritt mit Notwendigkeit ein. Aus diesem Grund verbleibt, wie Axel
Pitt bemerkt, auch bei den ,prim¨
aren‘ Wahrscheinlichkeiten der Quantenmechanik ein Moment des Subjektiven: Die Wahrscheinlichkeiten behalten
[...] nat¨
urlich – das liegt im Begriff der Wahrscheinlichkeit u
¨berhaupt –
”
ihren subjektiv-informatorischen Charakter.“ (Pitt (1971), S. 110) Weder
eine ,subjektive‘ noch eine ,objektive‘ Deutung der Wahrscheinlichkeit kann
demnach befriedigen.
Die Wellenfunktion selbst als eine ,Wahrscheinlichkeit‘ zu verstehen, ruft
meines Erachtens die benannten Schwierigkeiten hervor. Wird die Wahrscheinlichkeit im u
¨blichen Sinne der Ignoranzinterpretation verstanden, so
sollte sie von der Deutung der Wellenfunktion unterschieden werden, denn eine Ignoranzinterpretation der Wellenfunktion w¨
urde eine An-sich-Bestimmtheit des Systemverhaltens unterstellen. Mithin erweist es sich als sinnvoll,
unabh¨angig von der statistischen Deutung der Wellenfunktion, die physikalisch unverzichtbar ist, nach der Bedeutung der Wellenfunktion zu fragen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Erkenntnis, dass sich weder eine
subjektive (epistemische) noch eine objektive (ontische) Interpretation der
Statistik als befriedigend herausstellte.
A.4.2
Ensemble- versus Einzelfallwahrscheinlichkeit
Eine andere Schwierigkeit der statistischen Deutung wird sichtbar, wenn
nach der von der quantenmechanischen Statistik vorausgesetzten Grundgesamtheit gefragt wird. Wie sich zeigen wird, ist es sinnvoll, die Wahrscheinlichkeitsangabe nicht als diejenige eines Einzelnen, sondern als diejenige eines Allgemeinen anzusetzten.
Die Angabe einer statistischen Wahrscheinlichkeit in der klassischen Mechanik (statistische Mechanik) bezieht sich auf das Vorliegen einer Vielzahl von gleichartigen Massenteilchen (statistisches Ensemble). Ein solches
Ensemble liegt jedoch der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsangabe
¨
(Ubergangswahrscheinlichkeit)
nicht zugrunde. Kann sich die Wahrscheinlichkeitsangabe auf den Einzelfall beziehen?
186
Die Quantenmechanik gibt z. B. an, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei
einer Ortsmessung das Elektron zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgefunden werden kann. Das betrachtete quantenmechanische System kann dabei ohne weiteres aus nur einem Elektron bestehen. Damit m¨
usste es sich in der Quantenmechanik um die Angabe einer EinzelfallWahrscheinlichkeit handeln, das statistische Ensemble (Grundgesamtheit)
best¨
unde nur aus einem einzigen Objekt. Die Angabe einer Wahrscheinlichkeit ist ohne Bezug auf ein Ensemble von F¨
allen jedoch sinnlos. Es bleibt zu
fragen, auf welche Gesamtheit von Ereignissen (Ensemble) sich die Angabe der Wahrscheinlichkeit bezieht, wenn die Wellenfunktion als statistische
Wahrscheinlichkeit gedeutet wird. Vorderhand kann die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit weder als Ensemble- noch als Einzelfallwahrscheinlichkeit aufgefasst werden. Zum einen liegt das statistische Ensemble nicht
gleichzeitig vor: Erst die wiederholte Ausf¨
uhrung von Messungen konstituiert so etwas wie ein Ensemble von Messresultaten. Zum anderen sind
die einzelnen F¨alle nicht streng unabh¨
angig voneinander: Im Doppelspaltexperiment ergibt sich ein Interferenzmuster, als ob die einzelnen Elektronen, die nacheinander den Doppelspalt passieren, miteinander in Verbindung
st¨
unden.
Die Angabe der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten wird vermutlich plausibler, wenn angenommen wird, dass die Wellenfunktion nicht
auf die Berechnung eines einzelnen Individuums zielt, sondern die Vorhersage allgemeiner Struktur- und Prozessm¨
oglichkeiten leistet. Dann aber wird
die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit zu einer Hilfkonstruktion, die
den Zugriff auf eine in der Messung verobjektivierte Einzelerscheinung vermittelt, w¨ahrend das Quantenobjekt als solches nicht selbst¨
andig bestimmt
ist, sondern in einem System aufgegangen ist.
187
B
Siglenverzeichnis
Folgende Siglen sind zu einer verk¨
urzten Zitierweise verwendet worden:
Kat.
Anal. post.
Top.
Phys.
De gen. et corr.
De anima
Met.
Mech.
Aristoteles: Kategorien
ders.: Lehre vom Beweis oder zweite Analytik
ders.: Topik
ders.: Physik
¨
ders.: Uber
Entstehen und Vergehen
¨
ders.: Uber
die Seele
ders.: Metaphysik
ders. (?): Problemata Mechanica
PdG
WdL
WdL1
Enz
Hegel: Ph¨
anomenologie des Geistes
ders.: Wissenschaft der Logik, Ausgabe Darmstadt 1999
ders.: Wissenschaft der Logik, Ausgabe Frankfurt/M. 1986
ders.: Enzyklop¨
adie der philosophischen Wissenschaften,
Ausgabe Frankfurt/M. 3 1996
ders.: Enzyklop¨
adie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse, Ausgabe Darmstadt 1999
Enc
Hist. Wb. Philos.
Historisches W¨
orterbuch der Philosophie
KrV
MAdN
Kant: Kritik der reinen Vernunft (1 1781 = A, 2 1787 = B)
ders.: Metaphysische Anfangsgr¨
unde der Naturwissenschaft
Kluge
Etymologisches W¨
orterbuch der deutschen Sprache
GM
GP
LSB
Pac. Phil.
Fragm.
PS
Leibniz: Leibnizens mathematische Schriften
ders.: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz
ders.: S¨
amtliche Schriften und Briefe, Akademieausgabe
ders.: Pacidius an Philalethes
ders.: Fragmente zur Logik, eine Auswahl
ders.: Philosophische Schriften, Ausgabe Frankfurt/M.
1996
De Grav.
PM
PM, Genf 1739
¨
Newton: Uber
die Gravitation ...
ders.: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie
ders.: Philosophiae naturalis principia mathematica, Ausgabe Genf 1739
Sonstige Monographien, Aufs¨
atze usw. werden mit Verfassernamen und
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199
Lebenslauf
Angaben zur Person:
Name:
Geburtsdatum:
Geburtsort:
Familienstand:
Michael Vogt
31. Juli 1970
Warnem¨
unde
ledig
Schulbildung:
1977 – 1987
Polytechnische Oberschule Heinrich-Heine“ in Warnem¨
unde
”
Berufsausbildung und Berufst¨
atigkeit:
1987 – 1989
1989 – 1990
Ausbildung zum Elektromonteur im Starkstromanlagenbau Rostock
Elektromonteur auf Baustellen des Ausbildungsbetriebes
Abitur:
1990 – 1991
1991 – 1992
Juli 1992
Volkshochschule Rostock
Gymnasium Evershagen (Rostock)
Abitur
Studium:
1992 – 1997
1993 – 2000
1994 – 1995
Dezember 1997
1998 – 1999
April 2000
2000 –
Physik-Studium an der Universit¨
at Rostock
Zweitstudium Philosophie
Physik-Studium (Bsc) an der University of St. Andrews, Schottland
Physik Diplom
Wehrersatzdienst an der Werner-Lindemann-Grundschule in Rostock
Magister Philosophie/Physik
Promotionsstudium Philosophie
Erkl¨
arung
Hiermit erkl¨are ich, Michael Vogt, die vorliegende Arbeit selbst verfasst
und dazu keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendet zu haben.
Rostock, den 24. Januar 2003
Michael Vogt
Thesen
1. Alle Physik ist Wissenschaft von der Bewegung. – Die Art und Weise,
wie eine physikalische Theorie sich ihren Gegenstand, die Bewegung,
erschließt, bestimmt deren realen Begriff. Dementsprechend l¨
asst sich
das Neuartige der quantenmechanischen Wirklichkeitserfahrung auf eine Wandlung des Bewegungsbegriffs zur¨
uckf¨
uhren.
2. F¨
ur die Naturwissenschaft Physik muss Bewegung gedacht werden
k¨onnen. Dies erm¨oglicht der physikalische Bewegungsbegriff. Dieser
bildet die Grundlage zur Erkenntnis des Beweglich-Seienden.
3. Der von Aristoteles entwickelte Bewegungsbegriff weist aller Bewegung
die gleiche Struktur zu. Das Bewegliche ist als ein Gef¨
uge aus kontinuierlichem Stoff-Relat und diskontinuierlichem Form-Relat aufzufassen.
Die Bewegung des Beweglichen vollzieht sich zwischen dem Entzug
und dem Haben des Form-Relates (Gegens¨
atze) bei gleichzeitiger Beharrlichkeit des Stoff-Relates (Zugrundeliegendes).
4. Aristoteles unterscheidet vier Arten von Bewegung (Wandel): Ortsbewegung – quantitative Ver¨
anderung – qualitative Ver¨
anderung – Entstehen und Vergehen. Die Vermittlung von Kontinuit¨
at und Diskontinuit¨at erfolgt auf je unterschiedliche Weise.
5. Die Begr¨
undung der neuzeitlichen Physik bestimmt sich aus den Motiven der Mechanisierung und der Mathematisierung. Das Motiv der Mechanisierung gehorcht der externen Zwecksetzung (N¨
utzlichkeit) des
bisher spekulativ theoretischen Wissens von der Natur. Durch die Mathematisierung soll die Gewissheit des Wissens sichergestellt werden.
6. Mathematisierung beruht auf Abstraktion. Damit wird das diskontinuierliche Form-Relat vom kontinuierlichen Stoff-Relat abgetrennt
und verselbst¨andigt. Es kommt zur dualistischen Scheidung von Kontinuit¨at und Diskontinuit¨
at. Gem¨
aß Aristoteles ist deshalb eine mathematische Erkenntnis der Bewegung des Bewegten nicht m¨
oglich. Die
sowohl von Newton als auch von Leibniz entwickelte Differentialrechnung ist der mathematische Versuch zu einer L¨
osung des Problems.
7. Mit den beiden Grundmotiven der neuzeitlichen Naturwissenschaft
geht eine Engf¨
uhrung aller Bewegungsarten auf Ortsbewegung einher.
Alle von der klassischen Physik untersuchten Ver¨
anderungen werden
auf das Schema kontinuierlicher Ortsbewegungen zur¨
uckgef¨
uhrt.
8. In der klassischen Mechanik erweist sich die Struktur des Bewegten
als indifferent gegen¨
uber dessen Bewegung. Die Forderung nach der
Kontinuit¨at der Bewegung erstreckt sich allein auf den Bewegungsverlauf (Trajektorie). Dieser gew¨
ahrleistet die Identit¨
at des bewegten
Massenpunktes, ohne die neben der Verschiedenheit der Zust¨
ande (Orte, Geschwindigkeiten bzw. Impulse) keine Bewegung erkannt werden
k¨onnte.
9. Indem sich die Quantenphysik der Konstitution der physikalischen Materie zuwendet, kann deren Struktur nicht mehr unabh¨
angig von ihren
Bewegungsm¨oglichkeiten gedacht werden. Damit wird die Frage nach
der Kontinuit¨at des Zugrundeliegenden virulent.
10. Die Quantenphysik ist die Wissenschaft vom Entstehen und Vergehen
(Erzeugen und Vernichten von Zust¨
anden). – In diesem Sinne kann
auch die Quantenphysik als eine Wissenschaft von der Bewegung bezeichnet werden.
11. W¨ahrend in der klassischen Physik alle Bewegung auf Lagever¨
anderung reduziert wird, erfolgt in der Quantenphysik eine erneute Reduktion aller Bewegungen auf den Horizont von Entstehen und Vergehen.
¨
12. Die M¨oglichkeit des Ubergangs
zwischen diskret-quantisierten Zust¨
anden wird durch die kontinuierliche Evolution des Zustandsvektors gem¨aß Schr¨odingergleichung gew¨
ahrleistet. Die Quanten-Materie (z. B.
das Atom als Quantensystem) wird mathematisch in einer Dualit¨
at
von Form-Relat (elektronische Zust¨
ande) und Stoff-Relat (kontinuierlich evolvierende Wellenfunktion) erfasst.
13. Der Atomismus der physikalischen Materie wird mit der Einf¨
uhrung
der Quantisierung auf einen qualitativen Atomismus des Form-Relats
(atomon eidos) zur¨
uckgef¨
uhrt bei gleichzeitiger Kontinuit¨
at des StoffRelats (das Zugrundeliegende).
14. Indem der physikalische Bewegungsbegriff den Zugang zur Bewegung
als Gegenstand der Physik er¨
offnet, erf¨
ullt jener eine ontologische Funktion. Obwohl sich eine Identifikation von Theorie und Wirklichkeit in
der Quantenphysik nicht nahe legt, handelt es sich deshalb bei dieser
keineswegs um eine bloß instrumentalistische Modellbildung.
15. Die Erfahrung in der modernen Physik ereignet sich weniger in Bezug
auf ein Widerstand leistendes St¨
uck Materie als in der theoretischen
Erfahrung neuer Begriffsbildungen.