Sozialistische HochschulZeitung

V o r t r a g & D i sk u ss i o n
Sozialistische
HochschulZeitung
4/15
#86 . Sozi a li st i sche Gruppe (SG) . Hochschu lgruppe Er l angen/Nür nberg
w w w . s o z i a l i s t i s c h e g r u p p e . d e . sg @ s o z i a l i s t i s c h e g r u p p e . d e
Der Krisenfall Griechenland:
vom Euro ruiniert, um Euro-Kredit kämpfend,
am Euro-Regime scheiternd
Ein Lehrstück über Kredit und Macht
in Europa
Seit dem Wahlsieg der linken Syriza eskaliert der
Streit um die „Rettung Griechenlands“. Der dreht
sich, so heißt es, vor allem um die Frage, wie die
„wirtschaftliche Konsolidierung“ dieses südeuropäischen Landes am besten zu erreichen sei: Eher
durch „Haushaltskonsolidierung“, also gnadenloses Zusammenstreichen von allen als überflüssig definierten Staatsausgaben insbesondere für
den Unterhalt des Volkes? Oder doch eher durch
„kreditfinanzierte Wachstumsanreize“, also eine
Politik, die für den Dienst des Volkes am Wachs-
tum sorgen soll? Eigentliches Sorgeobjekt der Politik, so heißt es weiter, seien die „kleinen Leute“:
Wo die griechische Regierung darauf verweist,
dass griechische Angestellte, Rentner, Arbeitslose, Kranke... schon jetzt Opfer bis weit über jede
Schmerzgrenze hinaus erbracht hätten, da zitiert
z.B. Schäuble den hart arbeitenden deutschen
Steuerzahler, der bereits vor Jahren die scharfen
Einschnitte als notwendig eingesehen habe, die
man darum jetzt auch von den Griechen erwarten
dürfe.
Ob nun Objekt ernster Sorge oder bloßer Berufungstitel: Gestritten wird jedenfalls zwischen
den Regierungen nicht um die Ansprüche →
Anschläge in Paris
Ein Hochamt des abendländischen Nationalismus –
alle sind Charlie
von Terroristen in einem Aufwasch die Beleidigungen des Propheten rächen, Angriffe auf ihre
Glaubensbrüder von IS und Al Kaida vergelten
und gleich noch ein paar von ihren jüdischen Erzfeinden umbringen sollte.
Der terroristische Feind trifft – auf eine
kämpferische Einheit von Volk und Führung
Was wie ein grausam schlechter Witz klingt, bekommt durch die öffentlichen Reaktionen auf das
Ereignis eine ganz andere Bedeutung: Präsidenten und Regierungschefs, regierende und kommentierende Franzosen, Europäer, Amis und die
UN erklären unisono auf allen Kanälen, der Anschlag habe „uns allen“ gegolten, unserer Freiheit
und Zivilisation. Teile der Bevölkerung haben das
offenbar genau so verstanden und eilen zu spontanen Solidaritätsbekundungen auf öffentliche
Plätze. Erregte Journalisten und politische Analysten bekräftigen es immer aufs Neue: Der Terror richtet sich „gegen den Westen, die Demokratie
und die Pressefreiheit“ (Ein Sprecher der Stiftung
Wissenschaft und Politik im ZDF, 18.1.15), was
widerspruchslos geteilt wird und die europaweite
Inszenierung kollektiver Betroffenheit mittels eindrucksvoller Großdemonstrationen gegen Gewalt
und für die Pressefreiheit zu einem gewaltigen
Erfolg macht. Der liegt für die Veranstalter nicht
zuletzt darin, dass die Massen der Teilnehmer mit
ihnen darin übereinstimmen, spontan oder unter
Anleitung, dass ein Ereignis wie das Pariser →
Stellvertreterkrieg
in der Ukraine
Donnerstag, 23. April 2015, 20 Uhr
Haus Eckstein, Burgstraße 1, Nürnberg
Längst haben die westlichen Großmächte und
Russland den Bürgerkrieg in der Ukraine zu ihrer
Sache gemacht: Russland – davon handeln die
westlichen Medien täglich – unterstützt die Separatisten im Osten mit Waffen und Freiwilligen und
den nötigen Ressourcen, damit sie sich gegen
die Zentralregierung behaupten können. Dass die
westlichen Mächte dem Kiewer Staat die Mittel
verschaffen, mit denen er seinen Krieg gegen die
prorussischen Landesteile führt, bringen die Zeitungen an nicht ganz so prominenter Stelle, sie
verheimlichen es aber auch nicht: Die EU und
der IWF spendieren die Milliarden, die Kiew für
Waffen und den Krieg und den Staatsapparat
braucht. Polen, Briten und Amerikaner trainieren
ukrainische Truppen, steuern militärische Aufklärung und, wie sie betonen, ausgerechnet „nichttödliche“ Waffen bei. Kongress und Administration in Washington erwägen öffentlich, demnächst
auch weniger nutzlose Waffen zu liefern, also
hochoffiziell als Partei in diesem Stellvertreterkrieg aufzutreten.
Was die ukrainischen Bürgerkriegsparteien
gegeneinander vermögen, hängt somit davon ab,
was ihre auswärtigen Ausstatter ihnen an Kriegsmacht in die Hand geben. Das heißt dann aber
auch, dass es um das, was diese lokalen Parteien
gegeneinander erreichen wollen, gar nicht mehr
geht. Die fanatischen westlich orientierten Nationalisten und die nicht weniger fanatischen Verteidiger einer russischen Identität sind nützliche Idioten im Kampf fremder, weiterreichender Zwecke
ihrer Sponsoren. Von diesen Zwecken erfährt das
deutsche Publikum nichts.
*
Wenigstens nichts von den politischen Zielen der
eigenen Seite. Die russische Seite hat schon Interessen – böse und ungerechtfertigte nämlich:
Putin will die überkommene russische Einflusszone erhalten, verfolgt imperiale Ambitionen, mischt
sich in innere Angelegenheiten des Nachbarstaates ein, stiehlt ihm per Volksabstimmung einen Teil
von seinem Territorium, kurz: er verletzt immerfort
das Völkerrecht. Die westlichen Mächte dagegen
haben nur Pflichten: Sie verhelfen der Ukraine zur
legitimen Freiheit ihrer Bündniswahl, zur Integrität
ihres Territoriums und verteidigen mit ihrer Einmischung in den Bürgerkrieg nichts als das Völkerrecht. Dem Publikum liefert man nicht die Gründe
für das eigene Eingreifen in den Krieg, sondern
lauter gute Gründe dafür: Mit Erwägungen über
den gerechten Krieg und das Unrecht der anderen Seite wird es für das westliche Schüren des
Blutvergießens eingenommen: Dürfen die Russen, was sie tun; müssen „Wir“ ihnen nicht Einhalt
gebieten – mit solchen Gesichtspunkten soll sich
der Zeitgenosse den Krieg verständlich machen.
Dabei ist eines ganz klar: Russland unterstützt
seine Kriegspartei nicht deshalb, weil es das darf
oder nicht darf; und die Westmächte stärken die
Kiewer Regierung nicht deshalb, weil das Völkerrecht das von ihnen verlangt. Was sich die
→
In Paris verdienen sich seit Jahren ein paar Schreiber und Zeichner einen bescheidenen Lebensunterhalt mit der Produktion eines satirischen
Blattes – Charlie Hebdo –, das sich auf Respektlosigkeiten gegenüber großen Religionsgemeinschaften und ein wenig Blasphemie deren Götter betreffend spezialisiert hat. Das wird in einer
kleinen Nische der bürgerlichen Meinungsvielfalt
von ein paar Freunden laizistischer Lebensart und
anderen, die die gottgläubigen Reaktionäre aller
Couleurs für einen beleidigungswürdigen Gegner
halten, gern genommen. Empörte Reaktionen der
Betroffenen bestätigen den Blattmachern, dass sie
richtig liegen, und Todesdrohungen aus Kreisen
radikaler Moslems, die schon einmal ihre Redaktionsräume angreifen und Polizeischutz erforderlich machen, lassen sie in den eigenen Augen als
veritable Helden des freien Meinens erscheinen,
denen es erlaubt sein muss, gerade dem weltpolitisch gefährlichen und sittlich grundfalschen
„Islamismus“ den Spiegel vorzuhalten. Ein Leben
ohne ihre gemalten Injurien, vor allem gegen Allah und Mohammed, aber auch gegen deren jenseitige Kollegen, erschiene den Leuten von Charlie wie eine traurige Existenz „auf den Knien“,
der sie ein „aufrechtes Sterben“ vorzögen, wie der
Chefredakteur gelegentlich kundtut.
Die blutige Tat dreier islamischer Attentäter
hat sie Mitte Januar ganz unfreiwillig beim Wort
genommen und neben zwölf Redaktionsmitgliedern einen Polizisten und vier jüdische Supermarktkunden das Leben gekostet, als eine Attacke
Lauter gute westliche und böse russische
Gründe für den
→
Sponsoren von einem Erfolg in diesem Stellvertreterkrieg versprechen und warum sie diesen
Erfolg brauchen – das ist mit den Rechtfertigungen ihres Eingreifens, die beide Seiten gleich gut
beherrschen, noch nicht einmal angesprochen.
*
Die deutsche Kanzlerin präsentiert sich in diesem Krieg als letzte Vertreterin von Vernunft und
Friedenswillen, die ihre liebe Mühe hat, zwischen
Putin, der einen Sieg auf dem Schlachtfeld will,
und den Amerikanern, die kein Problem mit der
Eskalation des Krieges haben, zu vermitteln. Sie
fordert von allen Seiten die Einsicht in ihre Linie,
derzufolge „dieser Konflikt keine militärische Lösung finden kann“. Zusammen mit dem französischen Präsidenten handelt sie den Parteien den
Minsker Waffenstillstand ab und ernennt sich
selbst gleich zur der höheren Instanz, die seine
Einhaltung überwacht. Was an dieser Friedensliebe der Chefin, die immerhin ein gewichtiges
NATO und EU-Land vertritt, verlogen und was
daran politisches Kalkül und deutsches Interesse
ist, will noch ermittelt sein.
YouTube: http://video.sozialistischegruppe.de
→ „Krisenfall Griechenland“ des
jeweiligen
Volks, sondern um die der Regierungen, um deren ökonomische Mittel und Anrechte – und über
die gibt der Streit damit ein paar bemerkenswerte
Auskünfte:
– über den Kredit, um den sie streiten
Die Schäuble-Fraktion besteht mit ihrer Forderung nach ausschließlicher Verwendung europäischer Kredite zur Schuldenbedienung und nach
gleichzeitiger Streichung aller „unproduktiven“
griechischen Ausgaben darauf: Kredit ist ein ökonomisches Unterwerfungsverhältnis. Weil sich
Geldwirtschaft und Staat des Kredits bedienen,
hat das nationale Geschäftswachstum und der
Staat mit seinen Schulden auch den Rechnungen
der Krediteure zu genügen, nur so und nur dafür
vergeben sie ihn. Alles produktive Treiben der
Gesellschaft ist dem mit Rechtsgewalt verbürgten
Geldvermehrungsinteresse des kreditgebenden
Finanzkapitals untergeordnet. Kredit ist kein universell einsetzbares Mittel für beliebige Zwecke,
sondern für das Wachstum des Kapitals, dem das
→ „Alle sind Charlie“
Massaker kein Anlass
ist, Sachen auseinanderzuhalten, die nicht zusammengehören: Da fallen dann, so wie es sein soll,
menschliches Entsetzen über die Opfer in eins mit
der Empörung über den Angriff auf ein Gemeinwesen, das mit seiner Gewalttätigkeit nach innen
und außen seit vielen Jahren viel Feindschaft auf
sich zieht und seine Bürger mancher Feindschaft
aussetzt; was die dann eben, wenn alles durcheinandergeht, nicht daran hindert, massenhaft ihre
allerabstrakteste Gemeinsamkeit mit den Opfern –
ungefragt Angehörige desselben Staatswesens zu
sein – als persönliche Betroffenheit und Mitleid zu
empfinden. So wird einmal mehr – und in krisenhafter Lage – die unverbrüchliche Identität von
staatlichem Zwangskollektiv und menschlichem
Individuum „bewiesen“, jenseits aller Gegensätze,
die es im wirklichen Leben der Nation zwischen
ihnen geben mag.
*
Bei dem großartigen Gefühl der Zusammengehörigkeit von Volk und Führung in der Not soll es
nicht bleiben. Den Kundgebungen von Millionen
gesellschaftliche Leben dient – oder es hat sein
Lebensrecht verloren. Und das anerkennt die Tsipras-Mannschaft auf ihre Weise auch, wenn sie die
Sache umgekehrt buchstabiert und um neuen Kredit als unbedingt nötiges nationales Lebens- und
Wachstumsmittel streitet. Dann – nur dann – verspricht sie ja, dass auch ihr Dienst für die „Geldgeber“, also deren Zweck wieder gelingen kann.
– über ihr ganzes famoses „Projekt Europa“
und sich wieder „für den europäischen Wettbewerb fit macht“, das heißt weiter rücksichtslos alles zusammenstreicht, was sich an Griechenland
nicht lohnt. Ihre Konkurrenzerfolge, und ihre Euro-Kreditmacht dürfen mit dem Ruin von Konkurrenzverlierern einfach nicht Schaden leiden.
Und mit dem ökonomischen Erfolg haben sie im
gemeinschaftlichen Euro auch das politökonomische Machtmittel, das in ihrer ‚Gemeinschaft‘ als
gültige ökonomische ‚Vernunft‘ durchzusetzen.
Im laufenden Streit um Griechenland und seine
Pleite fordert Schäuble allen voran im Namen
der Euro-Gemeinschaft, dass Griechenland seine
Schulden gefälligst weiter zu bedienen hat, damit
der Euro stark bleibt, den nicht Griechenland,
sondern Deutschland, d.h. mit dem sein Kapital
so prima nicht zuletzt an Griechenland verdient
hat und noch verdient. Syriza umgekehrt ruft in
Richtung Troika: „finanzpolitisches Waterboarding!“, fordert von der Gemeinschaft weiter Geld
vom ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus),
damit das Land, wenn es schon keinen Schuldenschnitt zugestanden bekommt, seine Kreditforderungen von europäischen Institutionen, Nationen und Banken bedienen kann und so wieder
geschäftsfähig wird. Die neue Regierung verweist
darauf, dass die anderen Euro-Staaten einen griechischen Exitus finanzpolitisch selber nicht aushalten, weil der den Euro gefährdet. So führen
die lieben europäischen Partner vor, was der feine
Euro-Club mit seinem Gemeinschaftsgeld ist, in
dem Griechenland Mitglied ist und gerne bleiben
will: Europa ist institutionalisierte Standortkonkurrenz. Die Euro-Nationen wirtschaften mit
einem Geld, aber sie konkurrieren dabei um das
gemeinsame Geld, um Euro-Kredit, der das Lebensmittel ihrer Marktwirtschaften ist und sein
soll, erbittert gegeneinander. Sie brauchen und
gebrauchen den Kredit dafür, sich in dieser Konkurrenz zu erfolgreichen Geschäftsstandorten zu
machen, um Geldreichtum bei sich zu akkumulieren. Und da scheiden sich Gewinner und Verlierer daran, wer mit seinen Erfolgen in dieser Konkurrenz den Zuspruch der Finanzmärkte genießt,
und wer nicht. Griechenland jedenfalls nicht! Das
Urteil fällen nicht bloß die Finanzmärkte, das unterschreiben und exekutieren die politischen Herren über den Euro-Kredit. Die deutschen Politiker
bestehen als Konkurrenzsieger darauf, dass Griechenland als Verlierer für seine Schulden einsteht
– über die Rolle ihre Völker, auf die sie sich
so gern berufen
von Demonstranten mit geschwungenen Zeichenstiften, die alle behaupten, Charlie zu sein,
entnehmen die europäischen Regierungen ganz
souverän den Auftrag, die Freiheit, speziell die
moderne Meinungs- und Pressefreiheit, die sie
ihren dankbaren Völkern spendiert haben und zu
deren Betreuung nur sie allein befugt sind, gegen
mittelalterlich denkende Glaubensfanatiker zu
verteidigen, die den Primat der weltlichen Herrschaft und ihrer Werte gegenüber ihrer privaten
muslimischen Überzeugung nicht verstehen wollen. Charlie soll jetzt der Vorname jedes patriotischen Europäers gegen islamischen Terror sein,
und die regierenden Europäer übernehmen zuständigkeitshalber den Verteidigungsauftrag, so
wie sie ihn verstehen wollen. Von ihren Schutzbefohlenen ernten sie keinen Widerspruch in dieser
schweren Stunde: Die verstehen sich eben gerade
umstandslos als Anhänger der Freiheit im Allgemeinen, ungeachtet dessen, wie die sich in Gestalt
der ihnen aktuell zudiktierten Lebensumstände
tagtäglich darstellt, und der Meinungsfreiheit im
Besonderen, ohne die den Demonstranten das
Leben offenbar kaum mehr lebenswert erscheint,
auch wenn deren Gebrauch nicht eben zu den
Hauptbeschäftigungen eines gewöhnlichen Werktags in der kapitalistischen Gesellschaft gehört.
Von der Abstraktion einer höchstwertigen Lizenz
zur Äußerung von gleichgültigen Ansichten, deren praktische Umsetzung stets unter dem Vorbehalt obrigkeitlicher Genehmigung steht, soll bei
den Feierlichkeiten im Angesicht des Anschlages
nur ein leuchtendes freiheitliches Dürfen stehen
bleiben.1 Dem wird zu seiner Veredelung sogar
noch der Tod des von den Attentätern erschossenen Polizisten als Opfertod für die Pressefreiheit
zugeordnet, indem ihm ein einfühlsamer Interpret posthum die Worte in den Mund legt:
„Ich bin nicht Charlie, ich bin Ahmed der tote
Wenn die deutsche Politik stolz auf die von ihr
– abwechselnd in Rot-Grün-Schwarz-Gelb – gesetzlich erzwungenen Leistungen der Deutschen
beim Arbeiten für immer weniger Geld als Grund
für deutsche Wirtschaftserfolge verweist; wenn
die griechische Politik zu bedenken gibt, dass ein
ruiniertes Volk auch in Zukunft für keinen Wirtschaftsaufschwung mehr zu gebrauchen ist – dann
geben konservative wie linke Euro-Politiker zu
verstehen: „Die Menschen“ sind dafür da, dass
die kapitalistischen Rechnungen mit ihnen
vorankommen. Sie haben sich in Fabriken, Büros
und sonstwo nützlich dafür zu machen, dass mit
ihren Arbeitsdiensten möglichst viel Geld verdient
wird. Darum ist ihr wichtigster Dienst über alle
Konjunkturen und Krisen hinweg, in allen großen und kleinen Standorten immer der eine: Sie
haben billig zu sein, ihr Lebensunterhalt hat sich
entsprechend zu beschränken, verschwenderisch
dürfen sie ja schon beim Arbeiten genug sein. So
ist ihre Armut nützlich – gerade in den GewinnerNationen Europas. Und nach der gleichen Logik
kennt ihre Verarmung überhaupt keine Grenzen
mehr, wenn sich die Armut als unnütz erweist,
weil das nationale Kapital – wie in Griechenland
– sie wegen seiner Konkurrenzniederlagen nicht
zu nutzen versteht. Und wenn die griechische Regierung darum kämpft, Land und Volk irgendwie
lebensfähig zu halten, um die wieder produktiv zu
machen, dann heißt es aus der europäischen Zentrale, dass sich Griechenland das bisherige Leben
des Volkes nach den Erfolgsmaßstäben des EuroKapitals und -Kredits endgültig nicht mehr leisten
kann. So streiten beide Seiten um den nationalen
Nutzen ihrer Massen.
Es scheint, dass sich die europäischen Massen
●
das alles eigentlich nicht leisten können.
1) Dazu empfehlenswert in GegenStandpunkt 1-06
den Artikel „Ein Kreuzzug für die Meinungsfreiheit“
nachzulesen, in dem es schon einmal um die Aufregung über – damals dänische – „Mohammed-Karikaturen“ ging, dort auch der kleine Exkurs zum Höchstwert Meinungsfreiheit: http://bit.ly/1Gfo5d3
Polizist. Charlie hat meinen Glauben und meine
Kultur lächerlich gemacht, und ich starb in Verteidigung seines Rechts, das zu tun.“ (SZ,14.1.15)
Damit bei der öffentlich animierten, demonstrativen Identität von oben und unten unter dem
Motto „Je suis Charlie“ nichts im Ungefähren
bleibt, bemüht man sich um die Verdeutlichung
und Vereinheitlichung dessen, was einer meint,
wenn er sich dieser Parole anschließt:
„Der Dreiwortsatz, ans Revers geheftet oder als
Schild auf einer Demonstration getragen, meint:
Ich protestiere gegen die Gewalt als Antwort auf
Karikaturen. Ich bin mit gemeint, wenn das Recht
auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird. Und
wenn der Satz, wie bei der Demonstration in Paris
am vergangenen Sonntag, auf den Arc de Triomphe
projiziert wird oder öffentliche Gebäude schmückt,
bekräftigt er indirekt auch das Gewaltmonopol des
modernen Staates.“ (SZ, ebd.)
In dem famosen „Dreiwortsatz“ äußert sich
also – gefälligst! – die hinter der angegriffenen
Staatsgewalt versammelte Einheit der Nation, wie
sie in der Konfrontation mit dem Feind eben nur
der Krieg kennt. Und dementsprechend über-
führen die Chefs der europäischen Nationen und
ihre öffentlichen Interpreten den Terroranschlag
in eine Schlacht in einem Krieg, der – wie stets –
●
zwischen Gut und Böse stattfindet.
Im neuen GegenStandpunkt 1-15 findet sich
die Fortsetzung:
•• Die Leistung des islamischen Feindbildes
für die Erklärung der Feindschaft
•• Westlich Höchstwerte in der Defensive –
das kostet
p o l i t i s c h e v i e r t e l j a h r e sZ e i t s c h r i f t —
In Deutschland hat der Anti-Amerikanismus Konjunktur. Wichtigster Anlass ist die sogenannte
Ukraine-Krise. Bei der gemeinsamen Einmischung des Westens ins politische Schicksal der
Ukraine kollidieren deutsche und amerikanische
Interessen; dabei geht es um nichts Geringeres
als eine Frage von Krieg und Frieden. Was mit
aller Zurückhaltung aus den USA an militanter
Kriegsbereitschaft berichtet wird, gefällt nicht
einmal den deutschen Meinungsbildnern, für die
der ganze Konflikt in nichts anderem als einem
keinesfalls hinnehmbaren aggressiven Übergriff
des Machtmenschen Putin auf ein unschuldig unter die „sanften Fittiche der Brüsseler Bürokratie“
strebendes Nachbarland besteht. Auch Berichte
über Amerikas Innenleben lassen ein deutliches
Missfallen erkennen: Der Rassismus ist in dem
angeblichen Heimatland der Menschenrechte
einfach nicht totzukriegen!
Diesen abschätzigen Umgang der Deutschen
mit ihrem transatlantischen Hauptfreund mögen
wir nicht unkommentiert lassen. In seinen verschiedenen Facetten zeugt er ja doch allein von
der Richtigkeit unseres alten Dogmas, dass AntiAmerikanismus kein Anti-Imperialismus ist.
Westlich-russischer Stellvertreterkrieg
in der Ukraine: Herausforderung und Haltbarkeitstest für das NATO-Kriegsbündnis
Das „Revival“ der Militärallianz der Europäer mit der amerikanischen Weltmacht, der Nato,
aus Anlass des Kriegs in der Ukraine, für den die
Verbündeten in fest entschlossener Einseitigkeit
Russlands Präsidenten verantwortlich machen,
konfrontiert das „Führungsduo“ der EU und speziell die Berliner Regierung mit dem Widerspruch
ihrer ausgreifenden Weltordnungspolitik. Mit
der Eskalation der Gewalt gerät Deutschlands
weltpolitischer Weg – keineswegs zum ersten
Mal, aber erneut und verschärft – in den Widerspruch zwischen der Freiheit, die zivile Konkurrenzmacht der Nation im Rahmen der globalen
Geschäftsordnung zum Einsatz zu bringen, und
der gar nicht zivilen Geschäftsgrundlage dieser
Ordnung, der abschreckenden Militärmacht der
USA. Der Konflikt um die Ukrainepolitik zwischen
den Deutschen und der amerikanischen Führungsmacht beschert dem Bündnis damit eine
neue Zerreißprobe: die Alternative zwischen „Revival“ und Exitus.
„Amerika reicht dem kubanischen Volk die
Hand zur Freundschaft“ (Obama): Die USA
besinnen sich auf ihren Dollar-Imperialismus
Der Artikel zu Obamas neuem politischen Deal
mit Kuba erläutert den Stellenwert dieser Initiative im Zuge des – in Heft 3-14 abgehandelten
– Dollar-Imperialismus, der ausgerechnet mit sei-
ner Manier der vereinnahmenden Unterwerfung
der Welt unter die Sachzwänge des Geschäfts
friedliebenden Europäern immerzu vergleichsweise gut gefällt.
Zum Beispiel Ferguson: Rassismus in den
USA – woher er kommt und warum er nicht
weggeht
Die Auskünfte über die innere Verfassung der
USA beantworten die Frage, warum die Diskriminierung der Amerikaner mit dem Afro- davor,
die hierzulande vom Standpunkt moralischer
Überlegenheit mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wird, zur US-Heimstatt von Freiheit und
(Chancen-)Gleichheit einfach dazugehört.
Das Abendland marschiert:
Praktische Klarstellungen zur Logik empörter
Heimatliebe aus verschiedenen europäischen Kapitalstandorten
Wir steuern in mehreren Artikeln einen Vergleich mit ähnlich liebenswürdigen, ähnlich zählebigen und ähnlich populären politischen Gesinnungen bei, die im europäischen Abendland
zu Hause sind. Die nationale Abgrenzung eines
nationalen ‚Wir‘ von den ‚anderen‘, die grundsätzlich stören und nicht ‚dazu‘ gehören, gehört auch
und gerade zu einem ‚Europa ohne Grenzen‘
offensichtlich unausrottbar dazu. Die kritische
Würdigung von Pegida, Österreichs Freiheitlicher Partei, Italiens „Grillini“, dem MoVimento 5
Stelle, und der runderneuerten Lega erläutert das
gelebte politische Weltbild national gesonnener
Bürger: Deren Anpassungsbereitschaft an ihre
wenig zufriedenstellenden Verhältnisse geht einher mit der Deutung aller Lebensverhältnisse als
Chance und Anrecht, auf das der einheimische
Bürger einen Anspruch hat, andere aber nicht.
Erziehungsdiktatur in Thailand
Das Militär richtet sich sein Volk zurecht
Um den Streit, wer das eigentliche Volk ist,
geht es auch in Thailand. den Streit nämlich zwi-
i n h a lt d e r n u mm e r 1 -15
schen einer kopfstarken Minderheit, die ökonomisch und politisch maßgebend war und sich als
eigentliches Staatsvolk aufgeführt hat, und einer
Mehrheit von Underdogs, die von einem ziemlich radikalen reichen Reformpolitiker für Staat
und Wirtschaft anders als zuvor in Anspruch genommen und mit einem Rechtsbewusstsein als
gleichberechtigte Thai-Bürger versorgt worden
sind und prompt dessen Partei mehrfach an die
Regierung gewählt haben. Das hat erst einmal
das Establishment mithilfe des Militärs unterbunden; das übt jetzt nach eigener Auffassung eine
Art Erziehungsdiktatur für die falsch politisierten
Massen aus.
Der erste LINKE-Ministerpräsident Deutschlands wird gewählt:
Drei Botschaften über Wählen und Regieren
im demokratischen Rechtsstaat
Anschläge in Paris:
Ein Hochamt des abendländischen Nationalismus – alle sind Charlie
GegenStandpunkt 1-15
0941-5831
128 Seiten
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Streit um das Gesetz zum Mindestlohn
Das Gesetz verordnet ihn, Unternehmer unterlaufen ihn, Gewerkschaften betreuen ihn,
Politiker korrigieren ihn – Arbeiter erfahren
dann schon, ob sie ihn bekommen
Auf der Grundlage langjähriger sozialpolitischer
Umbauarbeiten am deutschen Standort von Seiten des Gesetzgebers haben Deutschlands Unternehmen derzeit an die 25 Prozent ihrer Belegschaften widerstandslos im Niedriglohn verstaut.
Bekanntlich reicht da oft das Verdiente nicht mehr
zum Leben, was zahlreiche Betroffene zur Inanspruchnahme der staatlichen Grundsicherung nötigt. Das geht auf die Dauer ins Geld, in das der
staatlichen Kassen nämlich; weshalb die sozialdemokratische Arbeitsministerin aus Gerechtigkeitsgründen und trotz Protesten aus dem Lager
der Unternehmer der Meinung, der florierende
deutsche Kapitalismus könne das aushalten, einen
Mindeststundenlohn von 8,50 Euro durch- →
D i sk u ss i o n sv e r a n s ta lt u n g e n
Meinungsfreiheit –
ein demokratischer
Höchstwert
Dass der Staat seinen Bürgern Meinungsfreiheit
gewährt, gilt als eines der Gütesiegel der Demokratie: hier darf man seine Meinung frei äußern!
Merkwürdig ist dieses Lob einer Erlaubnis schon.
Denn eine Meinung hat man so oder so, und wem
etwas daran liegt, sie zu verbreiten, der äußert sie
auch öffentlich. Eine staatliche Erlaubnis braucht
es dazu nicht. Um der Meinungsfreiheit etwas abgewinnen zu können, scheint schon ein Vergleich
mit Zuständen nötig, in denen bereits die bloße
Meinungsäußerung verboten ist. Dieser Vergleich
hat es in sich: Weiß man sich doch – Demokratie oder nicht - einer Instanz unterworfen, die die
eigenen Ansichten auf sich bezieht und über ihre
Zulassung befindet. Für sich betrachtet beweist
das Recht auf Meinungsfreiheit nur, dass auch
der demokratische Staat das freie Meinen seiner
Bürger zum Gegenstand seiner Aufsicht macht.
Wie die aussieht, was die Meinungsfreiheit für die
→ „Mindestlohn ...“
gesetzt hat. Den sollen
– grundsätzlich – fast zehn Millionen Mini-Jobber und Vollzeitbeschäftigte künftig bekommen,
wobei das Gesetz mit umfänglichen Ausnahmeund Übergangsregelungen viel Verständnis für
das Geschäftsinteresse demonstriert, das für diese
Hungerlöhne sorgt. Am Ende schneit einigen aus
der untersten Abteilung der Schlechterverdienenden ganz ohne Klassenkampf ein gesetzlicher Anspruch auf Lohnerhöhung ins Haus.
*
„Darüber dürfen wir uns alle freuen“, meint die
Ministerin. Dürfen schon. Bloß: Die Kapitalisten, die den neuen Mindestlohn zahlen sollen,
sind gar nicht amüsiert, sondern halten ihn für
eine Zumutung, weil sie der Lebensunterhalt ihrer Angestellten eigentlich nichts angeht, wenn
sie sich um ihre Probleme in der Konkurrenz mit
ihresgleichen kümmern, wo dringend die Kosten
niedrig gehalten werden müssen. Mit diesem täglichen unternehmerischen Bemühen verträgt sich
keine Lohnerhöhung, auch nicht, wenn sie „Mindestlohn“ heißt. Deshalb sind die Steuermänner
des gemeinnützigen privaten Wachstums einigermaßen verstimmt: Wenn ihnen die Regierung, die
doch eigentlich als ihr herrschender Ausschuss
im Dienst kapitalistischer Gemeinnützigkeit zu
fungieren hätte, ohne Not – die vorgesehenen
Empfänger des neuen Mindestlohns haben ja von
sich aus gar keine derartigen Ansprüche gestellt –
mittels gesetzlicher Lohnerhöhung das Recht auf
Gewinn streitig macht, wird der Widerstand im
Namen des eigenen Interesses zur Pflicht. Dieser
Widerstand, der immerhin über alle Umstände
der Anwendung stets zu teurer Arbeitskraft als
sein Eigentum verfügt, hat da so seine Mittel, die
von einer interessiert beobachtenden Öffentlichkeit notiert werden:
„Und schon zeigt sich, wie erfinderisch die Unternehmen sind, wenn es darum geht, den Mindestlohn
zu umgehen … In ganz Deutschland wird deshalb
getrickst, gekürzt und getäuscht.“ (Die Zeit, 15.1.15)
Die Möglichkeiten „reichen von unbezahlten
Überstunden über die Veränderung von Arbeitstakten bis zur Beschäftigung von Scheinselbständigen
(Der Spiegel, 2/15) und hören bei „schlichtem,
Macht leistet, die sie gewährt, und was demzufolge der Höchstwert Meinungsfreiheit wirklich wert
ist, soll auf unseren Diskussionsveranstaltungen
geklärt werden.
Dabei wird sich auch einer gewissen Absurdität demokratischer Diskussionskultur zu widmen
sein, nämlich der Betonung des Persönlichen
an der Meinung. Da versichert einer, nachdem
er ausführlich seine Urteile zu einer Sache oder
einer Person dargelegt hat, dass das bloß seine
Meinung sei – als ob damit das Gesagte schon
vor aller und jenseits einer inhaltlichen Überprüfung anerkennungswürdig wäre. Ein anderer
weist seinen Gesprächspartner darauf hin, dass
dessen Darlegungen doch bloß dessen Meinung
seien, und will sie damit zurückweisen, als ob er
schon so etwas wie eine Kritik geäußert hätte.
nürnberg
Dienstag, 21. April 2015, 20:15 Uhr,
Desi, Brückenstr. 23, Nürnberg
Erlangen
Montag, 27. April 2015, 19:15 Uhr,
Sprecherrat, Turnstr. 7, Erlangen
brutalem Betrug“ noch nicht auf: „Der Bauunternehmer lässt seine Leute 60 Stunden arbeiten,
schreibt aber nur 40 Stunden auf. Der Spediteur
überweist 2000 Euro, aber später muss der Angestellte ihm 400 Euro in bar zurückgeben.“ Dabei
können die Unternehmer sich auf die Kooperationsbereitschaft ihrer Leute verlassen: „Oft lügen
sie mich an, aus Angst, ihren Job zu verlieren,“ weiß
etwa ein Zollfahnder zu berichten. (Die Zeit, ebd.)
So regeln die Betriebe in Sachen Mindestlohn,
was sie zu ihren Gunsten regeln können, üben auf
ihre anspruchsberechtigten Mindestlöhner den
nötigen Druck aus und wenden sich ansonsten
auch weiterhin an die Regierung mit Anträgen
auf weitere Ausnahmen von der Zahlungspflicht.
Besonders über die gesetzlichen Dokumentationspflichten zu geleisteten Arbeitsstunden, die
das Unterlaufen des Mindestlohns unbequemer
machen sollen, führen sie anrührend Klage: Die
Erfinder von Stechuhren, Stundenzetteln und
hochkomplizierten lebenslangen Arbeitszeitkonten, die von jeher dafür sorgen, dass ja nicht eine
Minute zu viel bezahlt wird, sehen sich jetzt von
einem „Bürokratiemonster“ gewürgt und das Gemeinwesen auf direktem Weg „vom Mindestlohn
in den Überwachungsstaat.“ (Ein Unternehmervertreter im Bayernkurier) Das können die doch
nicht ernst meinen, die Politiker!
*
Während die Betriebe ihre Mindestlohnkandidaten einzeln in die Mangel nehmen und sie mit dem
Verlust ihrer Jobs bedrohen, ist für die Kollektivvertretung der Beschäftigten, die Gewerkschaft,
mit dem Inkrafttreten des Gesetzes die Frage des
Mindestlohns eigentlich erledigt. Den hat sie sich
schon lange gewünscht, haben ihn die „Mitarbeiter“ in den Unternehmen doch schon lange verdient – und der Gesetzgeber hat nun endlich den
Wunsch kampflos erfüllt. Das ist sehr schön.
Die Anträge der Kapitalisten auf Ausnahmen,
allerlei Erleichterungen beim Beschiss und deren
Umgehungsversuche beobachtet die Gewerkschaft allerdings mit großem Missfallen. Das ist
gar nicht schön. Aber sie wäre keine moderne
Gewerkschaft, wüsste sie keine Abhilfe: Für ihre
Mitglieder – und nur für sie – schaltet sie eine
„Hotline“ frei, auf der sich der einzelne Betroffene Rechtsberatung gegen die Erpressungen und
Betrugsmanöver der Firmen holen kann. Ob
er sich gegenüber seinen Chefs auf den Rechtsstandpunkt stellen und darüber auch noch seine
unrechtmäßige Minderbezahlung verlieren will,
das muss dann jeder gewerkschaftlich organisierte Kunde der Telefonberatung wieder selbst entscheiden. Ganz allein gelassen wird er aber von
seiner Gewerkschaft doch nicht: Die legt nämlich
im Namen des schönen neuen Gesetzes Protest
beim Staat ein, appelliert machtvoll an die Zuständigen, nicht zu viele Ausnahmen vom Mindestlohn zuzulassen, vor allem aber darauf zu
achten, dass ihr eigenes Recht auch wirklich angewendet wird! Einfach zuzulassen, dass die Bosse
dem Staat auf der Nase herumtanzen und „wie in
einer Bananenrepublik“ (DGB-Chef Hoffmann)
geltende Regelungen nicht zur Anwendung kommen – das kann der Gesetzgeber doch nicht ernst
meinen!
*
Der Angesprochene lässt erkennen, dass er die
Geltung seines Rechts einerseits schon irgendwie
ziemlich ernst meint, auch wenn es Unternehmer
sind, die es möglicherweise an ausreichender
Rechtstreue fehlen lassen. So sollen angeblich
um die 1600 Kontrolleure die Aufsicht über die
betroffenen Arbeitsverhältnisse führen und die
genannten Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten für einschlägige Unterlagen die
Verfahrensweisen der Firmen nachvollziehbar
machen. Andererseits: So ernst, dass man sich
in Fragen der Anpassung der Rechtslage an die
Rechtswirklichkeit verweigern würde, darf man
seine eigenen Gesetze dann auch nicht nehmen.
Schließlich soll der Bedarf der Unternehmen
nach weniger Bürokratie nicht unberücksichtigt
bleiben, wenn sie damit Probleme haben und dadurch am Wachsen gehindert werden. Und der
Aufwand bei der Kontrolle des Mindestlohns soll
auch nicht übertrieben werden, gerade nicht in
einer „aktuellen Lage“, wo man eigentlich mehr
Kontrolleure gegen Terroristen als gegen Lohndrücker brauchen könnte (Schäuble). Also will
die Kanzlerin nach einer gewissen Beobachtungszeit „überlegen, wo wir gegebenenfalls Bürokratie
wegnehmen“. Und das zuständige Ministerium
verspricht auch, je nach „Entwicklung … faktenbasiert eine Abwägung zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Zwängen in der Arbeitswelt vorzunehmen.“ (Homepage BMAS)
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So ist also die Lage, wenn die Klasse der Lohnempfänger nicht kollektiv für ihren Lebensunterhalt einsteht und die Gewerkschaften die Fragen der „sozialen Gerechtigkeit“ – so wird hier
vornehm die aktuelle Zumessung der Armut im
Niedriglohnsektor umschrieben – an den Gesetzgeber delegiert haben. Der nimmt sich dann ganz
folgerichtig die Freiheit, das was ehedem Gegenstand von Klassenkämpfen war, ganz beiläufig
als ministerielle „Abwägung“ zu erledigen, in der
die Frage, wie man in den untersten Rängen der
Lohnhierarchie sein Leben bestreitet, gar nicht
mehr vorkommt.
Sind derlei Fragen ausgemischt, geht es vielmehr darum, wie demokratische Politiker verständnisvoll und zugleich souverän mit dem
kämpferischen Korrekturbedarf der Unternehmer
am Mindestlohn zurechtkommen und zugleich
dafür sorgen, dass staatlich verfügtes Recht auch
Recht bleibt. Damit sind sie gut beschäftigt, auch
wenn sich an dieser Art von modernem Klassenkampf nur mehr eine Klasse beteiligt.
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Sozialistische Gruppe (SG) Hochschulgruppe Erlangen/Nürnberg — c/o Studierendenvertretung Turnstr. 7, Erlangen. [email protected] — EiS; ViSdP: W. Schweikert c/o Turnstr. 7, Erlangen