Leben mit Aids - Michael Steinbrecher

Inhaltsverzeichnis:
Vorwort von Rita Süssmuth ................................................................................................... 2
Liebesträume und Geburtstagsleid
Jürgen oder:
Zu früh getanzt auf dünnem Eis? ........................................................................................... 4
... und oft im Kreis, und oft im Kreise
Der Lauf des Lebens in 200 Zeilen ...................................................................................... 21
Der Tumor lebt
... aber die Hoffnung auch! .................................................................................................. 24
Das öffentliche Leben mit Aids
Eine Übersicht ..................................................................................................................... 33
Gerührt! Gejubelt! Gelernt!?
Der Alltag zwischen Solidarität und Diskriminierung ........................................................ 34
Sendepause
Von Abstürzen und Einsamkeiten ....................................................................................... 40
Die Piaf wird für mich singen
Die Inszenierung einer Beerdigung ..................................................................................... 47
Das Sterben, der Kraftakt des Lebens
Vom Festhalten-Wollen und Loslassen-Müssen ................................................................. 55
Liedtext Hildegard Knef ...................................................................................................... 59
Sehnsucht nach Stille
Resümee der Turbulenzen ................................................................................................... 60
Und das Leben bleibt Lebenswert
Über Träume, Wünsche, Hoffnungen und Ziele ................................................................. 67
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Vorwort
von Rita Süssmuth
Mein erster Eindruck nach der Lektüre dieses Buches:
Es klärt auf, geht an Grenzen, ist voll Leben und sagt wohl so ziemlich alles darüber aus,
was ein Leben mit Aids schwierig und doch lebenswert macht. Markus Commerçon macht
mich traurig, bringt mich zum Schmunzeln, ist schonungslos offen, macht mich wütend und
zeigt, wie viel Schmerz, Hoffnungen und Träume sein Leben begleiten. Michael Steinbrecher provoziert und tastet sich heran, fordert und hört zugleich sehr genau zu. Aids ist immer ein Thema und doch geht dieses Buch viel weiter.
Mut zum Träumen - Kraft zum Kämpfen zeigt, dass noch lange nicht alles zum Thema Aids
gesagt wurde. Dabei ist zehn Jahre nach bekannt werden der Immunschwächeerkrankung
Aids in Deutschland ein Aufklärungsstand von hohem Niveau erreicht. Die breit gefächerten Kampagnen des Bundes sowie die beispiellose Aufklärungsarbeit der Aids-Hilfen und
anderer Organisationen haben zu einem besseren Verständnis gegenüber Menschen mit
HIV und Aids geführt. Die Ausbreitung der Krankheit hat nicht die Entwicklung genommen, die man zu Beginn ihres Auftretens prognostiziert hat, dennoch ist die Zahl der Menschen, die sich neu mit dem Virus infizieren, immer noch steigend. Die Feststellung, dass
sich Frauen überproportional stark infizieren, lässt deutlich werden, dass Aids uns längst
alle angeht und dass unermüdlich in der Aufklärung weitergearbeitet werden muss.
Resultierend aus der Tatsache, dass sich die meisten Menschen mit HIV und Aids aus
Angst vor Diskriminierung immer noch verstecken, haben viele keine Erfahrung, im Umgang mit den Betroffenen. Dieser Mangel erweist sich in vielen Fällen immer noch als großes Hindernis und führt oft zu irrationalem und diskriminierendem Verhalten den Infizierten gegenüber.
Immer mehr Menschen mit HIV und Aids geben aus unterschiedlichen Motiven ihr Versteckspiel auf und bekennen sich offen zu ihrer Infektion und Krankheit, Markus Commerçon ist einer von ihnen, der Einblicke in ein Leben mit Aids gibt und es dadurch vielen
Menscher ermöglicht, zu erkennen, dass Aids nicht ein anonymes Schreckgespenst ist, sondern eine Krankheit, von der wir begreifen müssen, dass sie uns alle treffen kann. Das, was
massenmediale Aufklärungskampagnen nicht leisten können, erreichen Menschen wie
Markus Commerçon. Indem er in persönlichen Gesprächen oder Publikationen wie diesem
Buch durch seine Offenheit Einblicke ermöglicht schafft er es, eine ganz andere Konfrontationsebene zu dieser schwierigen und sensiblen Thematik herzustellen - wie es zum Beispiel
ein Fernsehspot nie vermag. Diese Arbeit wird im Zuge der sich verändernden Präventionsansätze bei Aids immer wichtiger.
Die Möglichkeit, sich mit Betroffenen selbst auseinander zusetzen, schafft Transparenz
und hilft dabei, Berührungsängste abzubauen. Dieses „Sich-Stellen“ setzt bei Nichtinfizierten die Bereitschaft voraus, sich auf intensive Art mit der Thematik auseinander zusetzen
und dazuzulernen. Für Menschen mit HIV und Aids, die anderen diese Möglichkeit bieten
und sich engagieren, bedeutet es eine enorme Leistung, die mit sehr vielen gesellschaftlichen Risiken verbunden ist. Nicht zuletzt bedeutet es permanente Konfrontation mit dem
eigenen Schicksal und allen damit verbundenen Höhen, Tiefen und Ängsten.
Markus Commerçon hat bislang in über 400 Veranstaltungen versucht klarzumachen,
dass mit Aids nicht nur eine Krankheit und Tod, sondern auch das Leben verbunden ist. In
Anerkennung um seine Verdienste in der Aids-Aufklärung wurde er vom Bundespräsidenten im Oktober 1994 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Das Buch Mut zum Träumen - Kraft zum Kämpfen bietet eine weitere Möglichkeit, sich in
direkter und sehr anschaulicher Form mit Aids auseinander zusetzen. Michael Steinbrecher,
Diplom-Journalist, hat sich im persönlichen Gespräch mit Markus Commerçon an alle
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Themenbereiche eines öffentlichen und privaten Lebens mit Aids herangewagt. Das Einmalige an den folgenden Seiten liegt wohl in der Tatsache, dass von beiden Gesprächspartnern Grenzen angegangen, teilweise sogar überschritten wurden, ohne in einen exhibitionistischen Journalismus zu verfallen. Der Leser erfährt viel Privates und Intimes, ohne dabei jedoch zum Voyeur zu werden. Die Art und Weise der geführten Dialoge sowie die nahezu spürbare Stimmung, die sich während der Gespräche entwickelt hat, ziehen den Leser
hinein in ein Leben mit Aids, führen ihn aber am Ende auch wieder zurück ins Leben. So
bleibt am Schluss - trotz aller an manchen Stellen geradezu erlebbaren Betroffenheit - der
Optimismus. Es siegt der Wille zum Kämpfen und die Hoffnung auf das Leben.
Mut zum Träumen - Kraft zum Kämpfen ist ein Buch, das nicht nur Menschen mit HIV
und Aids sowie deren Angehörige und Freunde lesen sollten. Alle Menschen, die sich mit
den Facetten des Lebens intensiv auseinandersetzen oder dies tun wollen, wird dieses Buch
bereichern.
Prof. Dr. Rita Süssmuth
Präsidentin des Deutschen Bundestages
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Liebesträume
und Geburtstagsleid
Jürgen oder:
Zu früh getanzt auf dünnem Eis?
Ulm, 13. November 1994. Markus hat Geburtstag. Er hat mit Freunden gefeiert, aber seine
Telefonstimme hat mir verraten, dass etwas nicht stimmt. Zu unserem ersten Gespräch treffen wir uns bei ihm zu Hause. Kurze Begrüßung, wir setzen uns, ich schalte das Diktiergerät ein, und wir fangen an zu reden.
Kannst du dich erinnern, mit welchem Gefühl du heute morgen aufgewacht bist? Heute,
an deinem 31.Geburtstag?
Ja, also, es war mehr ein beschissenes Gefühl heute morgen.
Warum?
Weil mein Geburtstag gerade heute überschattet wurde durch so eine blöde Beziehungskiste, die noch keine richtige war, aber eine hätte werden können, und die sich am Virus
entschieden hat, und so eine Erfahrung ist natürlich ein bisschen schmerzlich - und gerade
am Geburtstag dann unpassend.
Weil es eigentlich ein Grund zum Feiern für dich ist?
Ja, weil ich gerne diesen Tag mit Jürgen verbracht hätte, zusammen mit meinen Freunden,
und dem nun nicht so ist.
Hast du das Gefühl, nicht richtig glücklich sein zu dürfen?
Nein! Ich hab nur das Gefühl, immer wieder an Grenzen zu stoßen.
An welche?
Grenzen, die die Situation mir steckt. Dieses Virus begrenzt die allgemeine Lebenssituation. Die Veränderungen des letzten Jahres, die Öffentlichkeit usw., das sind alles Grenzen,
an die man stößt, an manchen Tagen mehr, an manchen Tagen weniger, und an einem Geburtstag eben, bedingt durch die Reflexion des Tages, einfach mehr.
Erzähl doch mal was über die Grenzen, die du heute, an deinem Geburtstag, gespürt hast.
(Pause)... Da waren Gedanken an früher, wie ich früher Geburtstage verbracht habe, wobei ich mit der Zeit früher immer so die Zeit mit Wolfgang meine, weil das eine ganz andere Zeit war, und das war auch sozusagen »früher«, weil das ein anderer Markus war, weil da
Jahre dazwischen liegen, in denen ich mich sehr verändert habe. Da kommt man an Grenzen des gerne Wiederhaben-Wollens, des doch nicht mehr Wiederhaben-Könnens, und
wenn ich heute so die Gäste angeguckt habe, dann waren das zehn Jahre Freunde Markus
Commerçon, und doch haben wesentliche Elemente gefehlt, weil Wolfgang nicht dabei sein
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kann, Hans nicht dabei ist, und der, mit dem ich diesen Tag gerne verbracht hätte (er lacht),
der hat sich aus dem Staub gemacht, sich anders entschieden. Das sind die Grenzen die man
erfährt.
Warum hat er sich anders entschieden? Warum hat er dir dieses Geschenk zum Geburtstag nicht gemacht?
Weil ich glaube, dass ihm genau das zur Falle geworden ist, was ich jeden Abend in meinen Vorträgen sage: Es macht einen Unterschied, ob ich mir einen Referenten mit Aids auf
die Bühne hole, seiner Zivilcourage applaudiere, ihm Standingovations biete, oder ob ich
vier Wochen später in der gleichen Situation stehe, in Form dessen, dass ich meine Eltern
informiere: »Ich habe einen HIV-positiven Freund« und die dann durchdrehen. Und die
Eltern mögen einen HIV-Positiven, der ein Bundesverdienstkreuz kriegt, noch interessant
finden, auch, dass der ein Buch geschrieben hat mögen sie noch toll finden und das, was er
aus seinem Leben macht, aber wenn er dann plötzlich ein (lachend) Schwiegersohn werden
will, dann sieht das schon anders aus.
Heißt das, dass all die Sympathie, all der Applaus, all die Zuwendung und Zuneigung, die
du erfährst, während und nach Lesungen, nach öffentlichen Auftritten, dass die ein Stück
weit nur Illusion ist, die nie auf die Probe gestellt wird, weil all die Leute nie mit dir unter
einem Dach leben müssen und entsprechend gefordert werden?
Applaus und Akzeptanz an diesen Abenden, das ist keine Illusion, das ist ja mein Leben.
Ich erlebe das ja, dass 600 oder 1.000 Leute aufstehen und minutenlang applaudieren, das
ist keine Illusion, das ist Realität. Ist es ein Freiklatschen einer Betroffenheit, ist es ein
Wegapplaudieren von schlechtem Gewissen? Oder ist es einfach nur die Sympathie und der
Respekt, den sie mir durch diesen Applaus zollen? Das kann ich nicht beurteilen. Diese
Leute haben keine Ahnung, wie es dann aussieht, wenn man Aids in den eigenen vier Wänden hat. Das glaub ich ganz bestimmt, und das beste Beispiel ist doch die Geschichte mit
Jürgen; nicht umsonst war ich so kritisch und vorsichtig.
Warum vorsichtig?
Angst vor Verletzung.
Die man dir schon zugefügt hat?
Klar! (Pause) Bei jeder neuen Partnerschaft, die man eingeht oder jedem Menschen, den
man kennen lernt, dem man sich anvertraut, dem man näher kommt, rührt man an alte
Wunden, die da waren. Alte Verletzungen werden wieder sichtbarer.
Angst vor Verletzung, das haben ganz viele Leute, Bindungsschwierigkeiten, Bindungsängste, das ist ja fast soetwas wie eine Zivilisationskrankheit. Hat es bei dir auch was mit
Aids zu tun oder ist es...?
Natürlich hat es was mit Aids zu tun, klar hat es was mit Aids zu tun.
Als Verstärker oder Ursache?
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Also, ich hätte zum Beispiel nie den Anfang gemacht, mit ihm ins Bett zu gehen. Nie!
Und da weiß ich, dass Aids Hemmschuh ist, weil ich niemanden in Verlegenheit bringen
möchte und auch mich nicht in die Situation bringen will, einen Korb zu kriegen.
Macht Aids dann also gleichzeitig offen für Verletzungen und auf der anderen Seite geschlossen durch die Schutzhaut, die man sich anlegt?
Da fällt mir spontan ein: Was ist Aids? - Aids ist eine Immunschwäche-Erkrankung, eine
Abwehr ist geschwächt, wehrlos, verletzbar, (Pause) und obwohl ich mich geistig und körperlich in absoluter Bestform befinde und fühle, habe ich an ganz vielen Tagen oder vielleicht gerade auch heute das Gefühl, ja, ich habe Aids, weil ich mich so wehrlos fühle.
Und was genau hat das gerade heute, an deinem Geburtstag, in dir ausgelöst? Allein die
Tatsache, dass Jürgen sich zurückgezogen hat?
(Pause) Kann ich noch nicht, vielleicht will ich es auch nicht sagen.
Geburtstag ist ja auch eine Zeit, um Bilanz zu ziehen.
Ja.
Hast du das getan?
Ja, natürlich! Jeder Geburtstag ist für mich Bilanzierung, Bestandsaufnahme, Reflexion,
Ausblick. Wie war das letzte Jahr? Wie waren die Jahre davor? Hat sich viel verändert?
Und wie geht’s weiter?
Wie ist deine Bilanz ausgefallen heute, an deinem 31.?
(Pause) Kritisch, ja, kritisch, aber gut. (lacht)
Und wenn du deine Stimmung jetzt mit einem Farbton beschreiben müsstest, welche Farbe würdest du wählen?
Lila!
Warum so spontan?
Lila ist die Farbe des Geistes, und (Pause) ich denke, dass Reflexion und eine zunehmende Sensibilisierung, die ich so für mich empfinde, einfach eine Sache von Geist ist. Und
ohne jetzt arrogant klingen zu wollen, an manchen Tagen habe ich auch das Gefühl, mich
so ein bisschen zu entfernen.
Dass du »abhebst«, nicht im Sinne von Arroganz, sondern im Sinne von Erkenntnis?
Ja! Im Sinne von, wie soll ich sagen, Resultat von Erlebtem, Reflexion aus Erlebtem,
Umsetzung von Erfahrung aus Erfahrenem, das, denke ich, schafft eine andere Ebene.
Bist du 31?
Nein!
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Wie alt dann?
(Pause) Schwer zu sagen! (Pause) 90? 100? (Pause) Und trotzdem fühle ich mich viel
jünger als 31. (lacht).
Das klingt zunächst mal paradox. Erklär’s. Oder versuch’s.
Es ist die geistige und körperliche Vitalität und Sucht nach Wissen, nach Leben, nach
Neuem, die so in dem Kontrast steht zu dem, was ich bereits hinter mir hab an Erfahrungen,
an Tiefen und Höhen, die so ein Leben mit Aids einfach bringt. Und das sind auch die Ambivalenzen, denen man an so einem Geburtstag einfach ausgesetzt ist. 31 Jahre jung zu sein
und sich alt zu fühlen, alt zu sein und doch das Temperament eines 17jährigen Pubertierenden zu haben. Offen sein für Blödsinn, Scheiße bauen, Witze machen, tanzen, wie heute
Mittag mit Freunden hier in der Wohnung. Also richtig infantile dumme Dinge zu machen,
aber gleichzeitig auch zu wissen um die Ernsthaftigkeit der Lage und des Lebens allgemein,
und zu wissen, irgendwo naht auch die Kränkung, die zwölf Stunden vorher dieser Anruf
von Jürgen mit sich gebracht hat.
Wenn du dann als 90jähriger durch die Wohnung tanzt, infantil, wie du sagst, kommst du
dir dann vor wie ein lustiger trauriger Clown?
Nein! (Pause) Ich komme mir vor wie ein Mensch! Der lebt! Und der was erfährt, was
alle Menschen erfahren: Traurigkeit und Glück, weil’s einfach eng beieinander liegt, genau
wie Hass und Liebe eine Gratwanderung
Aber der Narr oder der Clown, der ist ja auch oft näher am Leben als viele, die sich so
ernst geben.
(Pause) Ja, aber irgendwas wehrt sich gegen dieses Wort Clown oder Narr. (Pause) Ich
hab heute auch so gedacht: Meine ganze Familie hat angerufen, mein Papa, meine Mama,
mein älterer Bruder, meine Schwester mit Familie, mein jüngerer Bruder, aber es war niemand da, es war niemand da. Und hab auch so über Familie nachgedacht und alles, und
mich mal kurz an die Vergangenheit erinnert. (Pause) Und ich hatte auch heute an meinem
Geburtstag ein tolles Gefühl, einfach so richtig umrahmt zu sein von einem ganz, ganz tollen Freundeskreis. Wir waren 15 Leute, und das sind alles Menschen, von denen ich weiß,
dass, wenn ich morgens um drei Uhr anrufen und sie um Hilfe bitten würde, dann wären sie
da. Und das macht mich auch unheimlich glücklich an so einem Geburtstag, den man ja
auch zum Ausblick benutzt. Weil ich mich ja auch berechtigterweise frage: »Was wird
kommen?«
Denkst du an nächstes Jahr?
Nein.
13. November ’95?
Nein.
Kürzere Etappen?
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Kürzere Etappen. Das hat mit kürzeren Etappen nichts zu tun, so weit denke ich nicht.
Man wird sehen, was nächstes Jahr am 13. November ist. Heute ist der 13. November ’94,
und ich habe weder die Lust noch die Zeit, noch möchte ich die Kraft darauf verschwenden,
mich mit Dingen zu beschäftigen, die nächstes Jahr sind, weil ich’s weder beeinflussen
kann noch aufhalten kann, noch in irgendeiner Weise wissen oder vermuten möchte. Ich
lebe heute! Hier und jetzt!
Und welchen Einfluss hat es, dass du genau weißt, morgen früh halb sieben heißt es, aufstehen, nach München fahren, Bestrahlung steht an? Ist das dein Hier und Jetzt?
Ja. Das ist das Leben. Heute war der 13. November. Heute habe ich Geburtstag gefeiert,
meinen 31. Und morgen ist der 14. November ’94, und ich fahre nach München und lasse
mir meine Tumore bestrahlen. Morgen ist morgen. Ein anderer Tag, anderer Tagesablauf,
Alltag. (Pause) Hat überhaupt keine Auswirkung auf meine Freude des heutigen Tages!
Nicht die geringste!
Wenn du Bilanz ziehst von so einem Tag und die Momente, wie du sagst, vorbeihuschen,
bestimmte Momente, welche Momente des Glücks sind heute gehuscht?
(Pause) Also einfach die Gewissheit, dass ich wirklich in meinem Leben alles wieder so
machen würde, wie ich’s gemacht habe. Und, das kann ich nicht verheimlichen, auch ein
gewisser Stolz. Stolz, dass ich das draus hab, was ich letztendlich draus gemacht habe. Und
wenn ich mir gerade die Geschichte mit Jürgen heute so angucke, denk ich mir, nee, nee,
also wirklich, das hab ich Gott sei Dank alles hinter mir, also die Geschichte mit meinen
Eltern. Und ich kann heute wirklich sagen mit 31 Jahren: Markus Commerçon, das bin ich!
Mit allen Macken und Ecken und angenehmen Seiten und widerlichen Seiten, aber das bin
ich! Das hat das Leben aus mir gemacht, das hat das Glück aus mir gemacht, das hat die
Gesellschaft aus mir gemacht, und das hab ich aus mir gemacht.
Und welche Momente der Traurigkeit sind vorbeigehuscht?
(Pause) Eigentlich keine.
Keine Traurigkeit in 31 Jahren, die hochkommt, als Gefühl am Geburtstag?
Nein.
Das kann ich mir nicht vorstellen. Gerade Verletzungen kann man doch in dem Sinne
nicht vergessen. Oder kannst du das?
Natürlich vergisst man keine Verletzungen, aber ich glaube kaum, dass dieser Geburtstag
oder der Rahmen heute Mittag für mich die Möglichkeit bot darüber nachzudenken.
Aber es gab ja auch einen Vormittag.
Ja, schon. Es gab ja auch eine Nacht vor diesem Geburtstag und einen Morgen.
Erinnerst du dich auch an die Zeit, in der du alleine warst, nicht nur an die Zeit, in der
hier 15 Leute mit dir gesungen haben.
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Ja, dann möchte ich das vielleicht so ausdrücken, dass die einzige und gravierendste Traurigkeit war, die heute hochkam, (Pause) dass ich eigentlich nicht Markus Commerçon bin.
Sondern?
Sondern Markus Commerçon, der Aidskranke.
Was bedeutet der Zusatz konkret?
Dass sich die Krankheit von meiner Person nicht trenne lässt, dass ich, obwohl ich mich,
verdammt noch mal, dagegen wehre, einer zunehmenden Erwartungshaltung ausgesetzt
sehe, nach dem Motto: Ach, dir geht’s ja immer noch gut? Und dass ich denke, dass der
Kampf härter wird für mich.
Bleiben wir mal bei den Farben. Welche Farbe würdest du, wenn du an die Zukunft
denkst, auswählen? Auch lila oder ... ?
Nein!
Sondern?
Gelb, Orange.
Und kann es sein, dass viele Leute in der Gesellschaft dir einfach ein Tiefschwarz verpassen würden?
Natürlich! Das sehen wir doch überall, an jeder Ecke und Kante, dieses Tiefschwarze des
Todes hingepinselt, weil man einfach mit Aids zum Sterben verurteilt ist. Und ich habe
heute morgen noch zu einer Freundin gesagt: Manchmal hab ich das Gefühl, ja, ich müsste
jetzt auch bald sterben, weil sie’s alle von mir erwarten.
In welchen Situationen erwarten sie das? Wann merkst du es?
Wenn’s in Richtung Zukunft geht, wenn ich plane, wenn ich mir Ziele vor Augen halte,
die es zu erfüllen gilt, dann kommt Skepsis von der Gegenseite, na ja, mal abwarten.
Von wem?
Es kommt subtil, es kommt so verdammt subtil. Vielleicht hör ich’s auch nur raus, weil es
auch meine eigene Angst ist.
Du hast die Nacht vor deinem Geburtstag angesprochen. Ist das auch der Zeitpunkt, wo
Ängste hochkommen?
Nein, Ängste waren keine da! Da waren Enttäuschung und Verletzung und Konsequenzen
und Resultate. Aber Angst? Nein!
Hast du da die Decke angestarrt, oder was machst du in so einer Situation?
Ich schreibe, versetze mich in so eine Stimmung.
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Stehst du nachts auf?
Ja.
Und dann?
Setze ich mich hin.
Wohin?
Meistens hier ins Esszimmer an den Tisch. Kerze, leise Musik.
Welche?
Barbara Streisand.
Streichelmusik?!
Ja, schon.
Holst du dir die Schmerzen eigentlich ran oder schreibst du dir die Schmerzen weg?
Ich hol sie ran und schreib sie auf. Und indem ich sie schreibe, sind sie dann auch ein
Stück wieder weg.
Ist das Überhaupt die Funktion, die diese ganze Öffentlichkeit für dich hat? Ich meine,
Schmerzen ranzuholen und sie wieder wegzugeben?
(Pause) Wenn man will, kann man das so sehen. Öffentlichkeitsarbeit heißt für mich
nichts anderes als all das wieder an andere abzugeben, was ich nicht aushalten kann, was
ich nicht ertragen kann. Vielleicht ist das, was viele als Stärke sehen, eher ein Zeichen von
Schwäche, weil ich’s eben alleine nicht ertragen kann. (Pause)
Und so stützen dich Millionen?
Es stützen mich Millionen, es fordern aber auch Millionen.
Und es können dich verdammt viele von diesen Millionen wieder fallen lassen.
Ja wobei mir auch klar ist, dass zum Schluss, egal, in welchem Alter er kommt. ob er jetzt
mit 31, mit 32 oder tatsächlich erst mit 80 kommt, zum Schluss jeder große Kreis ganz klein
ist. Jeder lebt für sich allein, und jeder stirbt für sich allein!
Das ist aber eine ernüchternde Erkenntnis, nachdem du erzählt hast, dass 15 enge Freunde mit dir hier Geburtstag gefeiert haben.
Das ist keine ernüchternde Erkenntnis, das ist einfach eine Feststellung, weil ich denke,
auch diese 15 Menschen, so sehr ich sie mag und so sehr sie sich auch bemühen, mir in
schweren Zeiten Dinge abzunehmen, und so sehr ich sie auch brauche, abnehmen können
sie mir nichts. Ich muss alleine durch meine Wut, durch meine Verzweiflung, durch meine
Angst, durch meine Trauer, durch meinen Hass, durch meinen Frieden, da muss ich alleine
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durch. Und da können mir keine 15 Freunde, da kann mir auch nicht ein einzelner dabei
helfen.
Jürgen hat dir weh getan.
(Pause) Ja. (Pause) Also vom Gefühl her bin ich heute an meinem Geburtstag echt gekränkt. Gekränkt und verletzt und reduziert.
Auf was?
Ja, auf das Virus.
Von Jürgen?
Auch, ja. Von ihm, von seinen Eltern, die mich ja gar nicht kennen, die nur vom Erzählen
her von mir wissen und mich ja wahrscheinlich auch nie kennen lernen werden. Aber ich
fühl mich von ihm reduziert auf das Virus. Es zählt nichts, außer diesem Virus. Es zählt
kein Charakter, es zählt keine Geschichte, es zählt, ja ... (Pause) Ich schwanke so, schon
den ganzen Tag, zwischen Verstehen-Können auf der einen Seite und zwischen nicht Verstehen-Wollen auf der anderen Seite. Die eine Seite, die es verstehen will, die es verstehen
kann, sagt: Markus wenn du Vater oder Mutter eines Sohnes wärst, der einen infizierten
Freund mit nach Hause bringt, dann hätte ich auch Angst um mein Kind, ich würde auch
um mein Kind kämpfen, ich hätte auch die Angst, es könnte sich infizieren und würde auch
sagen, Mensch, pass auf, muss denn das sein? usw., das ist die eine Seite. Das ist der
Verstand, sag ich mal, die Ratio. Aber auf der anderen Seite, da steh einfach ich, der Markus, der Mensch mit Bedürfnissen, mit Sexualität, mit Gefühlen, mit Sehnsüchten, und der
will’s nicht verstehen, dass man ihn reduziert auf ein Virus, der will’s einfach nicht verstehen. Aber es wird gemacht, und da werd ich sauer, da werd ich stinksauer. Dann bin ich
enttäuscht und verletzt, gekränkt.
Wirst du dann leise oder laut?
(Pause) Bevor ich laut werde, werd ich erst mal g leise, und noch werd ich leise. Aber
das Gefühl, das man so hat, oder das ich so habe, wenn ich diesen Schrei, resultierend aus
all diesen Kränkungen und Verletzungen der vergangenen fünf Jahre, seit ich HIV-positiv
bin, wenn ich den nach außen lassen würde, ich sag’s mal so für mich, den würde man hören bis ans Ende der Welt. (Pause) Jürgens Eltern werfen mir vor, ich sei verantwortungslos, eine Beziehung mit ihrem Sohn einzugehen, der HIV-negativ ist, und diese Beziehung
wäre ja eh auf sterben ausgerichtet.
Er hat’s nicht ausgehalten.
Nein, hat er nicht. Und es war auch gut so. »Es ist kein Schaden so groß«, hat meine
Mutter immer gesagt, »man hat immer einen Vorteil davon.« Klar, der Vorteil ist die Erkenntnis, dass er es mit 33 Jahren nicht geschafft hat, sich von den Einflüssen seiner Eltern
zu befreien
Erzähl doch mal ein bisschen was über ihn. Was ist er für ein Typ?
Ich kenn ihn zu wenig um das zu beurteilen.
Aber du hast einen Eindruck.
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Ich glaub, er hat die Situation unterschätzt. Ich glaube, er hat gedacht, es wäre einfacher,
seine Eltern würden ihn so lieben, wie er sich entwickelt, und das tun sie eben nicht.
Hast du dich verliebt?
Ja, ich glaub schon.
Von Anfang an?
Nein.
Wo bist du ihm begegnet?
Wir haben uns auf einer Lesung kennen gelernt, vor vier oder fünf Wochen.
Wo hat er gesessen?
Erste Reihe.
Zufällig?
Es gibt keine Zufälle. (lacht) Und irgendwie war was da.
Ist er dir aufgefallen?
Ja, natürlich ist er mir aufgefallen.
Das Aussehen oder ... ?
Das Aussehen, sehr gepflegt, unheimlich sympathischen Eindruck gemacht. Tolle Falten
beim Lachen um die Augen. Hat was.
Hast du ihn beobachtet während der Lesung?
Natürlich. Auch während des ganzen Abends hab ich ihn beobachtet und irgendwie...
Hast du schon ein bisschen,»für ihn« gelesen?
Ja, ich lese immer für irgendeinen. (lachend) Also das heißt nicht, dass ich an jedem Abend für einen anderen Mann lese, aber ich glaube, an dem Abend, also zumindestens über
weite Strecken, (schmunzelt) ja, ich glaube, das hat er auch gemerkt, ich weiß nicht, ob er’s
gemerkt ha aber ich glaube ja.
Hat er dich angehimmelt?
(entrüstet) Nein!
Was war’s dann? Respekt?
Ja, es war einfach dieses Gefühl, denn mit Menschen oder mit Männern, die mich anhimmeln, die könnt ich in der Pfeife rauchen, auf die steh ich nicht. Ich brauch keinen Mann,
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der irgendwie unter oder über mir steht, ich brauch einen, der neben mir besteht, der seinen
Beruf hat, der seinen Alltag lebt, ich hab mein Leben, er hat seins, und wenn sich das trifft
und kombinieren lässt, dann ist es gut, und es ist eine tolle Ergänzung. Ich brauche keinen,
der mich anhimmelt, so ein Mann saugt mich aus, das kann ich nicht brauchen. Und das hat
mir bei Jürgen auch gefallen, die Sicherheit, die er ausgestrahlt hat.
Und wie hat es sich weiterentwickelt? Habt ihr nach der Lesung miteinander geredet?
Wir waren zusammen essen, mit ein paar Leuten, haben uns dann auch ohne weiteren
Kommentar voneinander verabschiedet, weil ich da nie den ersten Schritt gemacht hätte
oder auch nie zu ihm gesagt hätte: »Ruf’ doch mal an« oder: »Ich melde mich bei dir«, oder
so, das hätte ich nie gemacht.
Hast du denn bei ihm auch festgestellt, dass da mehr war als nur übliche Sympathie?
Ja, ich glaube das merkt man, das merkt man ja am erwiderten Blickkontakt, am Gespräch
oder an Kleinigkeiten. Ich glaube schon, dass an dem Abend klar war, eine Sympathie ist
einfach da. So ein Draht, den man hat. Dann haben wir uns 14 Tage nicht gesehen, und er
kam nach Ulm, zur Verleihung vom Bundesverdienstkreuz, saß wieder in der ersten Reihe,
und ich hab mich total gefreut, ihn zu sehen.
Er hat sich einfach in die erste Reihe gesetzt?
Nein, ich hab ihm den Platz natürlich angewiesen.
Also schon bevorzugte Behandlung?
Nein, der Platz war frei. Meine Schwester konnte an diesem Abend nicht kommen, also
war ihr Platz zu besetzen, und ich stand oben auf der Galerie, sah ihn unten kommen, und
dachte mir, natürlich, klar, dem gibst du jetzt den Platz.
Bei dieser Veranstaltung hast du auf der Bühne getanzt, Theater gespielt, dein Leben dargestellt und dabei ganz viel von dir gezeigt. War’s da auch so wie bei der Lesung – wieder
nu für ihn?
Nein.
Da war’s für alle?
Da war’s für alle, denn an dem Abend war ich nervlich so angespannt, das war einfach so
eine körperliche und geistige Leistung, dass ich da keine Zeit hatte, mich auf irgend jemanden im Publikum zu konzentrieren und zu sagen, für den mach ich das. An dem Abend hab
ich’s für mich gemacht, nur für mich allein, primär erst mal. Und das hat ihm auch sehr gut
gefallen, glaube ich. Und wir haben auch an dem Abend kaum miteinander gesprochen, er
gab mir nur seine Telefonnummer. Ich hab dann gesagt wir könnten ja mal telefonieren, und
dann haben wir die Telefonnummern ausgetauscht. Vier Tage später war ich bei ihm zu
Hause zum Kaffeetrinken und hab dann so gesehen, wie er wohnt, die Umgebung, die Einrichtung, man kann sich ein besseres Bild machen von einem Menschen. Er war sehr konsequent, er musste an dem Abend noch was arbeiten und hat mich dann auch rausgeschmissen, das war auch so ganz klar, auch das hat mir gut gefallen.
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Das Bild hat gestimmt.
Ja, das Bild hat gestimmt.
War es das Bild einer zärtlichen Romanze?
Zunächst einmal nein. Es war ein Gefühl des Abtastens, wie es alle Beziehungen sind, ob
hetero oder schwule Beziehung, es ist immer dasselbe, man lernt jemanden kennen, man
tastet sich ran, das ist wie eine Eisdecke, auf die man sich begibt: Die wackelt noch, weil
das Eis noch nicht so dick ist und ...
Aber das macht’s ja dann auch spannend.
Ja, klar, natürlich. Die Gefahr des Einbruchs erhöht ja auch eine Spannung, man wird ja
auch risikofreudig und tanzt an manchen Stellen vielleicht etwas heftiger.
Also die Spannung hat sich bei euch auf jeden Fall aufgebaut.
Die Spannung hat sich aufgebaut. Dann war er ein Wochenende bei mir. Wir waren zusammen im Bett. Das war ein Fiasko für mich, weil ich überhaupt nicht das Gefühl entwickeln konnte für ihn und ihn natürlich auch nicht ranlassen wollte und somit auch keinen
Höhepunkt hatte.
Du hast gerade noch vom Abtasten geredet, war das ein harmonischer Übergang, dann
mit ihm ins Bett zu gehen? Hat sich das so ganz selbstverständlich ergeben?
Ja, das war was ganz Schönes als Abschluss eines schönen Abends, mit schönem Essen,
mit Spaziergang, mit Kerzenlicht, das war so richtig romantisch.
Da war sie also da, die zärtliche Romanze.
Ja, da war sie da, die war da. Klar.
Das hört sich auch nicht nach einem Flirt an, sondern nach einer wirklich sich aufbauenden Beziehung.
Ich denke, wenn ich mal mit jemandem in mein Bett gehe, dann verbinde ich damit schon
etwas mehr, als einfach nur irgendwie so einen schnellen Quicky.
Das ist ja nicht bei allen so.
Ja. Aber den Quicky mach ich auch nicht in meinem Bett.
Das ist eine Einstellungssache!
Ja. Also so haben wir uns kennen gelernt und so war die Entwicklung.
Aber das Fiasko, das du erlebt hast, im Bett, wie war das im Nachhinein für dich, hat dich
das zweifeln lassen oder bestärkt?
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Das hat mich bestärkt in dem Gefühl, dass da mehr ist, auf jeden Fall. Es macht einen
Unterschied, ob ich mir irgendwo anonym Sex hole, mit irgend jemand ein sexuelles Abenteuer, einen Orgasmus erlebe, den ich nicht kenne, dessen Namen ich nicht weiß. Da
kann ich mich wunderbar fallen lassen, auf mich konzentrieren, ich kann mich artikulieren,
ich kann mich trauen. Wenn ich mit jemand eine Beziehung eingehen möchte, dann, glaube
ich, versucht man zunächst einmal Bilder, die aufgebaut sind, zu bewahren.
Man hat auch mehr zu verlieren.
Ja, es sind bedingt durch die entstehende Nähe auch mehr Ängste da. Es ist ein Rantasten,
ein Erfolgsdruck, dem man sich aussetzt, weil man ja gut sein will. Und wenn sich das
kompensiert, dann, denke ich, kann man ja gar nicht mehr zum Höhepunkt kommen. Obwohl, die Zweisamkeit, die Hände, die Umarmung, die Zärtlichkeit, das Körpergefühl, das
waren viele Höhepunkte.
Und das ist wahrscheinlich auch das, was ihr mitgenommen habt dann, an diesem
Abend ...
Ja.
... als Stimmung.
Wobei ich da immer noch distanziert war.
Ja?
Schon irgendwo, klar. Ich bin furchtbar misstrauisch, ich bin manchmal so verdammt
misstrauisch.
Aber warum?
Angst. (Pause) Und er hat angerufen. Morgens, mittags, dann am Abend.
Aber Angst wovor?
Angst vor genau dem, was jetzt eingetreten ist. Es ist natürlich auch eine Erfahrungssache, einfach dass ich sage, na ja, Markus-Schätzchen, jetzt mach mal langsam, guck dir
mal an, wie sich’s entwickelt, Bauchlandungen haben wir genug gemacht. Man wird bedächtiger, man wird vorsichtiger, und man hat nicht mehr diese Euphorie eines 16jährigen,
dass man sagt, hurra, und morgen wird geheiratet. Ich glaube, dass, wenn man älter wird wobei sich das blöd anhört, 31 Jahre, älter werden, aber trotzdem -, dass man vorsichtiger
wird, dass man mehr überlegt, realistischer ist und natürlich mehr Ängste hat natürlich, sich
zu verlieren. Und Aids hat mich ja auch verletzlicher werden lassen. (Pause) Und wir haben
uns unterhalten, und ich hab ihn ja auch gefragt: Wie ist das, hältst du das aus mit einem
positiven Freund? Ich stehe in der Öffentlichkeit, du bist von Beruf Innenarchitekt und hast
eine gute Stellung, wir könnten gesehen werden. Und die Eltern und überhaupt. Und er hat
gemeint, das sei kein Problem, ich solle mir da mal keine Sorgen machen.
Hast du ihm dabei in die Augen geschaut?
Ja, schon, klar. Wir haben da oft drüber geredet und uns auch dabei angesehen, klar.
15
Und du hast das Gefühl gehabt es kam auch von innen heraus, aus Überzeugung?
Ja. Schon.
Und da war auch, trotzdem du ein misstrauischer Typ bist, kein Misstrauen in diesem
Moment?
Nein, weil ich einfach dachte, soweit ich ihn bisher kenne, er steht mit beiden Füßen im
Leben, er hat sein Leben im Griff, und ich denke, er ist alt genug, er wird wissen, auf was er
sich einlässt. Dass ich Aids habe, ist ihm bekannt und ist seinem Freundeskreis bekannt.
Und wenn wir zusammen gesehen werden, dann wird er sich den Fragen den Tuscheleien
stellen müssen. Aber ich hielt ihn eigentlich für soweit gereift, glaub ich mal, dass er weiß,
auf was er sich einlässt. Er hat auch erzählt von dem guten Verhältnis zu seinen Eltern, wie
sie alles verstehen und wie sie auch über alles reden und so.
Verstehen, dass er schwul ist?
Auch, dass er schwul ist, ja klar. Und dann kam er ein paar Tage danach und hat gemeint
er hat seinen Eltern erzählt, dass ..., er hat seine Eltern gefragt, was sie denn machen würden, wenn er einen HIV-positiven Freund hätte. Und das müssen sie wohl sehr entsetzt reagiert haben, also einfach auch geschockt, und das können er ihnen nicht antun und ersoll
doch mal an sie denken und was weiß ich alles. Aber er hat dem immer noch keine so große
Bedeutung beigemessen. Und dann hab ich ihn dann jetzt vor zwei Tagen noch mal gefragt:
»Wie ist das Verhältnis jetzt mit deinen Eltern, habt ihr noch mal drüber geredet?« Und
dann hieß es, nein, die Eltern seien wohl sehr distanziert, die würden wohl sehr viel überlegen und da wär halt im Moment nicht so sehr der Draht da. Wir wollten das Wochenende
zusammen verbringen, wir wollten meinen Geburtstag zusammen verbringen, denk ich mal,
er hatte auch schon ein Geburtstagsgeschenk gekauft (lacht), und er fuhr am Samstagmorgen hier weg, nach dem Frühstück, wir hatten einen schönen Abend gehabt und auch eine
schön Nacht. Er fuhr hier weg, in der festen Absicht, abends um halb sieben wieder hier zu
sein, und wir wollten dann zusammen auf einen Ball gehen, wo wir mit Freunden zusammen in meinen Geburtstag reinfeiern, wollten. Und um vier Uhr geht’s Telefon, ja, er war
ziemlich fertig, weil, seine Eltern hätten angerufen, er sei die ganze Nacht nicht zu Hause
gewesen, sie machen sich große Sorgen, und da ist er zu ihnen gefahren und hat ihnen dann
erzählt, dass er mit mir befreundet wäre, zusammen wäre oder auch, was weiß ich auch
immer, und dass sich da was anbahnen würde. Und die Reaktion der Eltern muss wohl katastrophal gewesen sein. Also wie gesagt, ich wäre verantwortungslos, mit einem HIVnegativen Mann eine Beziehung einzugehen, und sie würden an die Öffentlichkeit gehen,
denn. Schwule haben eine Lobby, die Aids-Hilfe hat eine Lobby, aber wo bleiben die Eltern, die haben keine Lobby, darauf müsste man auch mal aufmerksam machen, und sie
würden dann auch alles verkaufen und ins Ausland gehen, ihr Haus, alles würden sie dalassen und... also die haben völlig abgedreht reagiert. Völlig überzogen, find ich. Und er hat
sich dadurch verunsichern lassen und hat wohl die ganze Reaktion unterschätzt und hat mir
dann den Ball abgesagt, und vom Gefühl her muss ich sagen, mit dem Telefonat ist der Zug
abgefahren.
Wie ist das Telefonat gelaufen? Wie hat er sich gemeldet? Wie hat er diesen Umschwung
... wie hat er dir das erzählt?
Vom Gefühl her läuft’s darauf hinaus, was ich immer so aus seinen Argumenten heraushöre, er wäre jetzt ziemlich fertig, er ist ziemlich kopflos, er ist total konfus, er ist leer16
gebrannt, er ist ausgebrannt, er ist einfach fix und fertig. (Pause) Und das glaub ich ihm
auch. (Pause) Und wie es mir dabei geht, das will ich ihm dann auch nicht sagen.
Er signalisiert ja dann auch: »Ich bin so mit mir selbst beschäftigt, dass ich vielleicht gar
nicht mehr hören möchte, was mit dir passiert oder dass mich das überfordern würde«,
kann das nicht sein?
(Pause) Ich denke, es hat auch was damit zu tun, schlechtes Gewissen freizupressen.
Wenn er sagt: »Du, mir geht’s so schlecht, mir geht’s so beschissen«, dann komme ich erst
gar nicht auf die Idee zu sagen, wie schlecht es mir dabei geht. Wobei er mich unterschätzt
hat, ich will ihm gar nicht sagen, wie ich mich fühle, weil ich denke, ich hab schon soviel
investiert und renn jetzt nicht noch einem fahrenden Zug hinterher und ruf ihm nach: Du,
mir geht’s auch beschissen!
Aber du hast diese tolle Perspektive Geburtstag usw. ja schon im Kopf gehabt, das kann
man ja gar nicht abschalten, und dann auf einmal dieses Telefonat, ist dir das direkt in den
Körper reingefahren? Wie hast du physisch reagiert?
Also ich hab mir erst mal einen Cognac eingepfiffen.
Bist du durch die Wohnung gelaufen?
Nein. Ich hab mich wieder ins Bett gelegt erst mal. (Pause) Und dann hab ich gesagt: Ja,
so what? - und dann denk ich mir in solchen Momenten: Ach, Markus, da haben wir ja
schon schlimmeres weggepackt, da werden wir das bisschen auch noch gebacken kriegen.
Konnte das wirklich deinen Schmerz so schnell überlagern, dieses »so what«?
Nein! Das ist natürlich auch ein Schutzmechanismus, das einfach auch nicht zuzulassen,
und ich hab mich schon gekränkt gefühlt und schwanke, wie gesagt, zwischen sauer sein,
wütend sein, Verständnis haben und doch nicht verstehen wollen und überhaupt. Da bin ich
auch noch nicht drüber weg, das ist ja auch Quatsch, (Pause) aber vom Gefühl her muss ich
sagen, er soll mich in Ruhe lassen, aber er soll sich die Dinge in Zukunft vorher überlegen.
Und dann möchte ich den Eltern von Jürgen sagen: Lieben Sie Ihr Kind oder lieben Sie es
nur, wenn es gewisse Dinge erfüllt, die Sie von ihm erwarten, und wenn er sich jetzt für
einen HIV-positiven Freund entscheidet, dann drohen Sie mit Verkauf Ihrer Existenz und
mit Liebesentzug. Ist das Liebe?
Würdest du ihnen gerne was schreiben?
Den Eltern? Ja, aber das kann ich ihnen ja auch sagen in dem Gespräch jetzt, weil ich
denke, das geht vielen anderen Eltern auch so.
Hast du was geschrieben?
Nein, aber im Kopf vorformuliert, das, was ich ihnen schreiben würde, ist für mich klar.
Und wenn du an den Brief denkst, was wäre deine Botschaft? Wie würdest du sie formulieren?
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(Pause) Liebe Eltern von Jürgen,
ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht, und wie die Dinge liegen, werden wir uns
auch nie kennen lernen. Vielleicht werden Sie über diese Zeilen, die Sie lesen, einmal erfahren, wie es mir geht, an meinem Geburtstag, 24 Stunden nach dem Gespräch mit Ihrem
Sohn Jürgen, nachdem Sie ihm vorgeworfen haben, ich sei verantwortungslos, mit einem
HIV-negativen Mann eine Beziehung einzugehen, und diese Beziehung wäre nur auf Tod
und sterben ausgerichtet. (Pause) Ich versuche zu verstehen, dass Sie als Vater und dass Sie
als Mutter von Ihrem einzigen Kind kämpfen, dass Sie Angst haben, Ihr Kind könnte sich
infizieren. Gut. Aber ich möchte Ihnen die Kränkung und den Schmerz, den Sie mir damit
zufügen, nicht verheimlichen. Sie sagen zu Ihrem Sohn, diese Beziehung wäre nur auf sterben ausgerichtet. Ja, ist Ihre Beziehung denn anders? Und Sie sagen, ich sei verantwortungslos. Haben Sie sich schon einmal informiert über Safer Sex? (Pause) Und was mich
kränkt ist die Tatsache, dass Sie mich reduzieren, dass Sie mich nicht wahrnehmen als
Mensch, als Markus, der ich bin, mit allen Ecken und Kanten, dass Sie mich nur als Virus
sehen, als Gefahr für Ihren Sohn, die Unheil bringt über die sonst so gut funktionierende,
eigentlich aber oberflächliche Familienidylle. (Pause) Es kränkt mich, dass Sie mir das Leben absprechen, denn ich lebe noch! Und es verletzt mich auch, wenn Sie sagen, dass unsere Beziehung auf sterben ausgerichtet ist. (Pause) Ich verstehe Sie zum einen, aber ich
möchte Ihnen zum anderen nicht verheimlichen, wie ich mich dabei fühle. Ich fühle mich
dabei (Pause) wie ein Stück Scheiße, abgelegt im Novembermorgen, ganz frisch und warm,
dem man noch dazu verbietet zu dampfen. Und ich frage mich, ob Sie wohl wissen, wie das
ist, wenn man lebt und fühlt und kämpft und hofft und immer wieder anfangen möchte und
sich trauen möchte und wenn immer wieder eins davor geknallt kriegt. Ich frage mich ob
Sie es wissen, wie das ist, beerdigt zu werden mit so viel Leben im Bauch. Und dann werde
ich wütend. Und wissen Sie, was ich Ihnen an dieser Stelle von meiner Couch, an meinem
31. Geburtstag noch sagen möchte? Nein, ich möchte es nicht sagen, sondern entgegenschreien und wenn ich ehrlich bin lieber sogar noch vor ihre Füße kotzen: Auf Ihren Särgen,
da werde ich tanzen!! Weil ich mich mit 31 Jahren noch nicht beerdigen lasse, und dass ich
Ihnen beiden ein langes Leben wünsche, dass sie gemeinsam 90 Jahre alt werden, und am
gleichen Tag zur gleichen Zeit an einem Herzinfarkt sterben, damit ihnen all dieser
Schmerz des Loslassens und die Verletzung, die das Sterben eines Partners hinterlässt, erspart bleiben. Und dir, lieber Jürgen, möchte ich sagen: Klatsche nicht mehr, wenn ein aidskranker Referent auf der Bühne steht, dessen Zivilcourage du bewunderst, Klatsche nicht,
sondern geh lieber nach Hause und arbeite, nicht an deinen Modellen, sondern an dir, denn
ich glaube, jeder Mensch ist für sich das größte Projekt, das es zu bearbeiten gilt. Und lass
die Finger weg von HIV-Positiven, denen du das Gefühl vermittelst, sich fallen lassen zu
können, auf dem Eis zu tanzen, denn der Einbruch ist vorprogrammiert, solange Mama und
Papa in dir was anderes sehen als du sein kannst. (Pause) Und einen gewissen Zynismus
kann ich mir nicht verkneifen: Wenn du wieder el Mann triffst, der dir gefällt und dessen
Ausstrahlung du bewunderst, vergiss nicht, nach dem Test zu fragen, er könnte ja HIVpositiv sein, und Mama und Papa könnten wieder mit Liebesentzug drohen. Das ist gemein,
ich weiß, aber das ist mein Gefühl. (Pause) Es ist dieses Bild, das bleibt, dass der Zug abgefahren ist, wieder mal ohne mich, (erregt, lauter werdend) dass in dem Zug die heile Welt
sitzt, in Form einer Familienidylle, fernab von jeglichen Gefahren und Schwierigkeiten,
fernab von jeglicher Krankheit, von Tod und Aids. Der Zug fährt, und ich laufe mit der Realität hinterher, denn ich habe Aids. Und ich habe das Gefühl, ich rufe: Hey, ich bin da, ich
lebe noch, mich gibt’s noch, verdammte Scheiße, und mich kann man auch anfassen, mit
mir kann man leben, und mich kann man auch lieben. (leiser) Und der Zug fährt immer
schneller. Und ich habe das Gefühl, ich hol ihn nicht mehr ein. (Pause) Soweit zu Jürgen
und Mama und Papa.
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(längere Pause) Und wenn du dir vorstellst, du würdest diesen Brief schreiben, sie würden ihn in der Post finden, den Umschlag aufmachen und all das lesen, was du jetzt gerade
so spontan, ein bisschen nachdenkend, aber ja völlig aus dem Bauch gesagt hast: Wie
stellst du dir die Reaktion vor oder möchtest du gar nicht dran denken, was da passiert?
Das wird nie der Fall sein, weil ich ihnen nicht schreiben werde, weil sie nie was von mir
hören werden, weil auch Jürgen nichts mehr von mir hören wird, weil... der Zug ist mir zu
schnell, und mit diesem Zug würde ich auch nicht fahren.
Heißt das nicht auch, dass du ihnen keine Chance gibst, vielleicht dazuzulernen?
Ja, (erregt) ich bin kein Lernobjekt, ich bin kein Versuchskaninchen für irgend etwas!
Und wenn sie nicht gelernt haben, mit Aids zu leben, sich mit Konsequenzen und Tragweiten auseinander zusetzen, gut, dann ist es zum einen schön, dass sie die Erfahrung jetzt gemacht haben, aber dass ich meinen Hintern hergebe, damit sie das lernen können, dazu hab
ich keinen Bock mehr. Das ist auch eine Tendenz, die ich so an mir merke, gerade im letzten Jahr. Ich habe keine Lust und keine Kraft, um diese Banalitäten zu kämpfen. Ich habe
keine Lust, der Mutter eines Sohnes klarmachen zu müssen: Bitte, bitte, glauben Sie mir,
das Risiko, sich an mir zu infizieren, wenn wir Safer Sex machen ist gering. – Es ist mir zu
müßig, es kostet mich zuviel Kraft.
Kraft, die du für andere Dinge brauchst.
Ja, ich wünschte mir einfach auch mehr Eltern, mehr Menschen, die ihren Kindern oder
mir einfach die Verantwortung und auch die Handlungsfähigkeit zutrauen, bewusst,
selbstbewusst und verantwortungsbewusst mit Aids umzugehen.
Das ist sozusagen dein Geburtstagswunsch?
Ja. Einfach ein bisschen mehr Vertrauen und ein bisschen mehr Optimismus.
Mal was ganz Banales: Als Kind hat man sich auf den Geburtstag gefreut, weil es da Geschenke gibt. Was hast du eigentlich heute bekommen?
Was ich heute bekommen habe’? Also es gab Blumen, es gab Obst, es gab einen tollen
Bademantel, es gab ein schönes Hemd, es gab eine tolle Unterhose, und es gab einen tollen
Schal, und es gab CDs und noch so ein paar Süßigkeiten, Kleinigkeiten einfach. Es gab aber
auch vor allen Dingen das Gefühl des Sein-Könnens. Es war hier so eine Runde, es waren
Freunde da, es waren Schwule da, es waren Ehepaare da, es war mein Vermieterehepaar da,
wir haben Witze gemacht, Männer haben Männer umarmt, Frauen haben Frauen umarmt,
Ehepaare sich umarmt, es war so ein völlig runder Kreis, und keiner hat groß gefragt, keiner
brauchte sich zu erklären, das war eine Gesellschaft, die so rund war wie das Leben und die
einfach rund sein konnte. Das war, denke ich, ein tolles Geburtstagsgeschenk.
Was ist dann dein Fazit aus dem, was du heute erlebt hast? Freundschaft ja, die ist machbar, lebbar - Beziehung vielleicht nicht?
Ich möchte nicht aufhören, daran zu glauben, dass Beziehung lebbar ist. Ich habe das sieben Jahre lang gelebt, mit allen Höhen und Tiefen, die man so haben kann, mit allen Streitereien, Versöhnungen usw. Ich glaube, dass Beziehung lebbar ist. Ich glaube, dass es schwieriger geworden ist für mich, weil ich nicht mehr bereit bin, so viele Kompromisse zu finden,
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weil ich denke, dass ich ein ganz anderer Mensch geworden bin, als der, der ich noch vor
drei, vier Jahren war. Die Öffentlichkeit darf man ja auch nicht vergessen, ein Aspekt, der
eine Beziehung ja auch belastet. Und der Kreis derjenigen, die als Partner in Frage kommen, wird immer kleiner.
Fazit des heutigen Tages ist für mich: Freundschaften sind was Phantastisches, ein wunderbares Gefühl des gut Aufgehoben-Seins, es kann einem nichts passieren. Der Wunsch
wäre gewesen: (lachend) Jetzt, anstatt mit dir hier auf der Couch dieses Interview zu machen, mit meinem Partner hier ein Glas Sekt zu trinken und meinen Geburtstag zu feiern, in
trauter Zweisamkeit. Zusammen ins Bett zu gehen, auch zusammen zu schlafen, diesen Tag
in der bewussten Wahrnehmung meines Körpers abzuschließen. Das ist das Fazit des Tages
und der Wunsch des Tages.
Aber ich möchte auch nicht aufhören, daran zu glauben, dass es im nächsten Jahr vielleicht so sein wird, dass ich wieder so einen tollen Geburtstag habe, mit so vielen Freunden,
mit so vielen Geschenken und soviel Anrufen und soviel Post und dass ich dann ein Schatzimausi habe, mit dem ich, wenn die Bude wieder leer ist, alles noch mal durchgucken
kann, anprobieren kann, drüber erzählen kann, reflektieren kann und nach einem ganz tollen, stürmischen Sex ganz kuschelig und romantisch in das neue Lebensjahr entschlafe
(lacht). Klingt doch gut, oder?
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... und oft im Kreis,
und oft im Kreise
Der Lauf des Lebens
in 200 Zeilen
13. November 1963, 5.10 Uhr
Als drittes von vier Kindern erblicke ich das Licht der Welt. Thomas kam vier, Dorothee
zwei Jahre vorher und Matthias schließlich 17 Monate nach mir. Meine Eltern – Elisabeth
und Egon. Eine ganz normale Familie, in die ich da geraten bin, die, wie viele andere Familien auch stets bemüht ist, nach außen eine Bild zu geben, das sich innerhalb der eigenen
vier Wände aber die meiste Zeit nicht leben lässt – eben eine ganz normale Familie. Das
Leben beginnt.
August 1968
Ich werde eingeschult. Weil ich erst fünf Jahre alt bin, muss ich eine Art »Sonderprüfung« machen.
Ab sofort lerne ich für das leben, wie die Lehrer immer zu betonen wissen. Für eine weiterführende Schule nach der vierten Klasse fehlt das notwendige Geld, und so bleibt mir
nur, den Hauptschulabschluss zu machen.
August 1978
Meine Ausbildung zum Konditor beginnt, und damit auch ein jahrelanger Kampf gegen
das, was ich fühle und was mich immer schneller einzuholen scheint, je mehr ich es verdränge.
August 1981
Mein Vorhaben, doch noch eine weiterführende Schule zu besuchen, um im sozialen Bereich zu arbeiten, wird durch die Argumente meines Vaters vereitelt. Er meint, ich sei dieser
Arbeit nicht gewachsen und Handwerk hätte goldenen Boden – ich beginne noch eine Ausbildung zum Bäcker.
Bei Familie M. werde ich mit den Vorzügen des Berufes vertraut gemacht, erfahre auch
zum ersten Mal Verständnis, menschliche Nähe und lerne so etwas wie Familie kennen.
Saarlandsieger im Bäckerhandwerk 1983 werde ich und schließlich vierter Bundessieger.
Das bestehende private Chaos überschattet die beruflichen Erfolge.
Mai 1984
Ich liebte Anja, danach Heinz, dann Sonja und schließlich wiederum Richard, bekenne
mich dann zu meiner Verlobten Blandine, die ich aber im Mai 1984 wegen Wolfgang verlasse. Er ist 13 Jahre älter als ich und für mich Freund, Vater, Bruder und Liebhaber. Er
hilft mir über den jahrelangen Druck mit meiner Familie hinweg, denn für meine Eltern,
insbesondere für meine Mutter, ist der Prozess einen homosexuellen Sohn zu akzeptieren,
eine langwierige Sache.
21
Januar 1985
Wolfgang und ich ziehen aus beruflichen Gründen ins Allgäu. Ein Jahr später bekommen
wir Familienzuwachs. Eine Tante von Wolfgang zieht bei uns ein. Sie ist nett, zuvorkommend und äußerst liebenswert. Später entpuppt sie sich als hochgradig neurotisch mit Tendenz zum Verfolgungswahn und macht uns beiden das Leben zur Hölle.
Juni 1988
Aids hat Hochkonjunktur. Auflagensteigernde Sensations-, bzw. Horrormeldungen
bestimmen die Tagespresse. Wir fühlen uns sicher und verdrängen das Thema, genau wie
all die anderen Menschen, die glauben, dass es sich nicht treffen kann.
Ich lege die Meisterprüfung im Bäckerhandwerk ab und plane meine berufliche Selbständigkeit. Die Kontinuität meiner Beziehung zu Wolfgang festigt auch das Verhältnis zu meinen Eltern.
Oktober 1988
Wolfgang und ich bauen unser Haus. Träume werden wahr.
Januar 1989
Wir eröffnen die: »Bäckerei Commerçon der kleine Laden mit der großen Auswahl an
Qualität und Frische«. Das Geschäft wird ein voller Erfolg – das Leben ist schön.
Fünf Monate später beginnt der Absturz.
Mai 1989
Wolfgang wird krank. Wir verdrängen, bangen und hoffen. Wir können es nicht fassen,
und doch ist es Realität: Wolfgang hat Aids.
Wenige Tage später lasse ich einen HIV-Test machen: Letzte Hoffnungen werden mit
dem Ergebnis zerschlagen: Ich bin HIV-positiv.
Juli 1989
Wir ziehen in unser neues Zuhause. Wir trennen uns von Tante, die in einem Seniorenheim weiterhin von uns betreut wird. Aids und eine neurotische Tante, das ist einfach zuviel.
Das Versteckspiel beginnt. Wir tarnen Wolfgangs Aids als Leukämie, und außer ein paar
Freunden weiß niemand von der Wahrheit. Die Angst, entdeckt zu werden, wird unser Begleiter – Tag und Nacht, zwei Jahre lang. Eine entwürdigende und kraftraubende Zeit beginnt.
Mai 1991
Wolfgang liegt in der Klinik. Es geht ihm schlecht, und die Ohnmacht des MitansehenMüssens ist an manchen Tagen kaum auszuhalten. Tante ist aufgrund eines Suizidversuchs
infolge ihres Verfolgungswahns in der Psychiatrie. Die Bäckerei läuft mit 12 Angestellten
so gut wie nie, und ich bin an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit. Ich lerne Hans kennen.
22
Juni 1991
Wolfgang stirbt. Ein Ödem im Gehirn beendet seinen zweijährigen geistigen und körperlichen Kampf, und alle meine Hoffnung begrabe ich mit ihm zusammen. Die Kulisse beginnt zu bröckeln.
Januar 1992
Meine Blutwerte sind schlecht, ich werde krankgeschrieben und ziehe die Konsequenzen.
Wut, Verzweiflung, Trauer, Überlebenswille und Hoffnung treiben mich nach draußen. Ich
verkaufe die Bäckerei und das Haus, gehe mit Hans nach Ulm und beginne, über die dortige
Aids-Hilfe Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Die Resonanz ist überwältigend – das sich daraus entwickelnde Behördenchaos ebenfalls.
Oktober 1992
Trotz katastrophaler immunologischer Werte fehlen mir die körperlichen Anzeichen von
Aids. Ich werde nicht mehr krankgeschrieben.
Das Arbeitsamt weigert sich wegen meines Bekanntheitsgrades mich zu vermitteln (Wer
stellt denn einen Bäckermeister ein, der sich einmal die Woche im Radio oder der Zeitung
zu seiner HIV-Infektion bekennt?)!.
Eine Umschulung scheitert zunächst an der geringen statistischen Lebenserwartung, dann,
nach meiner Beschwerde, wegen mangelnder Rehabilitationsfähigkeit aufgrund der Unheilbarkeit von Aids.
Arbeitslosengeld bekomme ich nicht, weil ich vorher selbständig war.
Der Sozialhilfeantrag scheitert an meinen Vermögensverhältnissen, Rente scheidet aus
wegen fehlender körperlicher Symptome von Aids.
Dezember 1992
Die Nachfrage nach Aufklärungsveranstaltungen ist so enorm, dass ich längst nicht mehr
alle Termine wahrnehmen kann.
Ich bewerbe mich beim Sozialministerium Baden-Württemberg, um hauptberuflich AidsAufklärung beim Gesundheitsamt der Stadt Ulm machen zu können. Die Bewerbung wird
abgelehnt wegen fehlender beruflicher Qualifikation. In der Begründung heißt es, ich hätte
als Bäckermeister nicht die erforderliche medizinisch, pädagogische oder physiologische
Ausbildung.
Januar 1993
Ein offener Brief an die Sozialministerin des Landes Baden-Württemberg, den ich an alle
politischen Instanzen sowie an die Presse weiterleitete, sorgte für Aufruhr. Der entstehende
Wirbel in der Presse, daraus resultierende Interviews und damit verbundener Stress sollen
nicht ohne Folgen bleiben.
März 1993
Ich erkranke an Aids. Eine aidstypische Lungenentzündung kostet mich fast das Leben,
beendet aber auch das Chaos in den Instanzen. Nun bin ich an Aids erkrankt und kann
Krankengeld oder Rente bekommen. Jetzt bin ich auch 80 Prozent schwerbehindert, und das
Arbeitsamt zahlt mir »Wiedereingliederungshilfe für Schwerbehinderte«, die meine Stelle
23
beim Landesverband der Aids-Hilfe Baden-Württemberg für die nächsten drei Jahre zu
80 Prozent finanziert.
Juni 1993
Ich entdecke Kaposi-Sarkome an meiner Mundschleimhaut – ein Hauttumor, der bei Aids
auftreten kann. Die Panik ist groß.
September 1993
In nur sechs Wochen schreibe ich meine Autobiographie »Aids – mein Weg ins Leben«.
Oktober 1993
Viele Dinge wurden durch das Schreiben meines Buches geklärt, auch mein Verhältnis zu
Hans. Wir trennen uns. Er war HIV-negativ, als wir uns kennen lernten, und er ist es auch
geblieben.
März 1994
Mein erstes Buch erscheint, eine Lawine gerät ins Rollen: Presserummel, Bestsellerlisten,
Interviews, Fototermine, Lesungen, Fernsehauftritte bei allen Sendern.
April 1994
Eine große Reportage über mich läuft im ZDF: »Für mich soll’s rote Rosen regnen – ein
Aidskranker erobert die Medien.« Ein neues Leben beginnt.
Oktober 1994
Über 300 Veranstaltungen zum Thema Aids, ca. 80 Lesungen aus meinem ersten Buch.
Im Ulmer Stadthaus wird mir wegen meiner Verdienst um die Aids-Aufklärung das Bundesverdienstkreuz verliehen.
November 1994
Ich werde 31 Jahre. Endlich? Gott sei Dank?
Was für ein Leben?!
..... und es geht noch weiter!
24
Der Tumor lebt
... aber die Hoffnung auch!
Wir starten um sechs Uhr früh in Richtung München - Bestrahlungstermin im Schwabinger
Krankenhaus. In regelmäßigen Abständen werden Markus’ Tumore im Mund behandelt,
denn sie dürfen nicht größer werden. 130 Kilometer - es wird kaum geredet. Markus fährt
schnell, manche würden sagen riskant. Was beschäftigt ihn? Jürgen? Der Geburtstag? Oder
holt ihn, so kurz vor dem Bestrahlungstermin, die Krankheit wieder ein?
In zwei Minuten kommen wir an, du stellst dein Auto ab, gehst ins Krankenhaus und bekommst eine Bestrahlung. Sind deine Gedanken auch in dieser Situation noch bei deinem
Geburtstag und bei Jürgen?
Ja!
Was ist passiert in dir?
Ich kämpfe mit mir und auch mit dem Gedanken: Soll ich kämpfen oder nicht, lohnt
sich’s, lohnt sich’s nicht, wäge ab, vermisse ihn und...
Was genau hält dich ab zu kämpfen?
Immer noch dieselbe Angst vor Verletzung. Aber dann denk ich mir auch wieder: Verdammt noch mal, man kriegt nichts geschenkt im Leben, alles will erkämpft sein, alles
muss erkämpft sein und auch eine Beziehung kriegt man nicht geschenkt, auch sie fordert
ihre Tribute, und die muss man einfach bringen, in welcher Form auch immer, und da gilt
es was auszuhalten. Und wenn ich an das gestrige Beispiel mit diesem Zug denke, dann find
ich das einfach passend: ich hab so das Gefühl, da fährt der Zug der heilen Welt, und ich
mit meinem Aids renn auf dem Gleis hinterher. Aber ich möchte mitfahren, weil ich ein
Stück der heilen Welt bin, ich bin ein Stück der Welt! Und frage mich, wie man’s machen
kann, und ich glaube als Resultat meiner Überlegungen: Ich bringe diesen Zug nicht zum
Halten, indem ich auf dem Gleis stehe und hinterher rufe (laut): Ihr alten Schweine, macht
endlich halt, ich bin noch da, nehmt mich zur Kenntnis, ich will mitfahren! - sondern ich
glaube, ich bringe diesen Zug eher zum Stillstand, indem ich sage (leiser werdend): Hey,
ich hab euch was zu sagen, macht doch mal langsam, macht doch mal halt.
Jetzt gehen wir gleich raus und gehen zum Arzt. Mischen sich da jetzt Emotionen,
Gefühle?
Ja.
Welche?
Also gerade heute hab ich so das Gefühl: Ja, lohnt sich das? (Pause) Ich fahre jeden Tag,
was weiß ich, 300 Kilometer, um vier Minuten unterm Bestrahlungsgerät zu liegen, in der
Hoffnung, dass die Tumore zurückgehen und dass ich mir das erhalte, was man Lebensqualität nennt. Manchmal denke ich halt: Ach ja, lohnt sich das wirklich?
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Lohnt sich das Kämpfen oder lass ich’s jetzt einfach mal laufen?
Ja. (nachdenklich) Das ist irgendwo ein starker Kampf. (Pause) Dass man selbst für sich
so sagt, zum einen halt (energisch): Ich habe keinen Bock mehr auf all die Höhen und Tiefen, ich möchte einfach meine Ruhe, und sei’s drum, irgendwie halt, ja, den ewigen Schlaf
(lachend) in Anführungsstrichen.
Ich hab so das Gefühl, wenn du sagst: Lohnt es sich zu kämpfen, und soll ich nicht einfach
so in den Schlaf verfallen? Was ja eigentlich auch heißt...
Sterben!
... sterben, und auf der anderen Seite dieser Gedanke: »Ich kämpfe«, das liegt im Moment
bei dir ganz, ganz nah zusammen.
Ja, das ist schon auch so was, was wohl rauskam jetzt für mich auf der Fahrt hierher: Und,
verdammte Scheiße, ich werd euch schon noch beweisen, wie lange ich noch lebe, wie lange man mit mir leben und glücklich sein kann und wie lange man mit mir auch noch lernen
kann. - Und deswegen fahre ich heute die Kilometer. Mag sein, dass ich sie morgen aus
einem anderen Grund fahre, aber heute, denk ich mir: So, und jetzt erst recht!
Das Schwabinger Krankenhaus. Ein langer, schmaler Flur, zwei weitere besetzte Stühle.
Markus muss zehn Minuten warten. Schließlich wird er reingerufen. Als er das Zimmer
wieder verlässt, bin ich irritiert: Er lacht, ist euphorisch.
Gerade eben wurden deine Tumore bestrahlt, und jetzt stehst du hier vor mir und grinst,
als sei dir was ganz Tolles passiert. Das musst du mir jetzt mal erklären....!
(gelöst) Also, mir geht’s jetzt total gut, weil der Arzt heute zum ersten Mal gesagt hat:
»Ob Sie’s glauben oder nicht, die Dinger gehen weg.« Und das ist doch phantastisch, weil
das Hoffnung macht, und irgendwie geht’s mir deswegen total gut. Denn als wir mit der
Behandlung angefangen haben, da war er ja zunächst noch skeptisch, weil er nicht wusste,
wie aggressiv die Mundschleimhaut auf die Bestrahlung reagiert. Und deswegen haben wir
ja auch ganz sensibel angefangen, und jetzt, wie gesagt, ist es also ganz klar zu sehen, diese
vier Stellen im Mund werden heller, werden kleiner, gehen zurück! Und es ist einfach, es ist
einfach toll. Das Leben rückt näher.
Wie ist denn überhaupt dein Gesundheitszustand?
Der Gesundheitszustand augenblicklich ist so, dass ich seit Juni 1993 orale KaposiSarkome habe. Die sind dann größer geworden, und man hat sie mit einer lokalen Chemotherapie unterspritzt. Die hab ich dann abgebrochen, weil einfach das Zahnfleisch immer
mehr zurückgegangen ist, und das tat verflucht weh. Mitte diesen Jahres hab ich dann versucht, in eine Studie reinzukommen mit einem Medikament, das man in Amerika schon
sehr erfolgreich angewendet hat. In diese Studie wurde ich aber nicht aufgenommen, mit
der Begründung ich hätte keine Tumore auf der Haut, an denen sich der Erfolg der Behandlung sichtbar nachmessen lässt. Und das hat mich damals natürlich erst mal ziemlich
zurückgeworfen. Daraufhin habe ich aber gesagt: Okay Markus, wieder mal am Boden,
nicht die Flinte ins Korn werfen, auf geht’s jetzt, nicht unterkriegen lassen. Ein paar Wochen später habe ich dann einen bläulich-violetten Fleck ganz nahe an meinem Auge entdeckt. Zuerst hab ich noch gehofft und gedacht: Das ist ein Pickel oder so. Dann ging der
aber nicht Weg, und irgendwann war es dann klar: Das ist ein neues Kaposi-Sarkom. Dann
26
habe
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ich durch die Aids-Hilfe von der Bestrahlungstherapie hier im Schwabinger Krankenhaus
erfahren, ja, und das mach ich jetzt.
Hatte die Tumorbehandlung am Auge Erfolg ?
Ja, der Fleck ist weggegangen. Da war kurz so eine verbrannte Hautstelle, das hat sich
dann geschält, wie nach einem, Sonnenbrand, und das ist jetzt weg, das ist einfach weg.
(euphorisch) Und es wird auch keins mehr kommen weil ich keins mehr brauche! Weil ich
einfach viel zuviel vorhabe, um mir neue Tumore leisten zu können, das ist gar nicht drin!
(er lacht)
Nach der Positiven Andeutung des Arztes heute hast du gesagt., »Das Leben rückt näher«
Als du gemerkt hast, die Kaposi werden mehr hattest du da das Gefühl, der Tod rückt näher?
Ganz klar! Jedes Fortschreiten der Krankheit bedeutet irgendwo einen Schritt näher zur
Endlichkeit. Und es ist natürlich klar, dass man sich, wenn’s nach vorne hin enger wird,
automatisch mit anderen Gedanken beschäftigt, Aber ich merke auch, dass man sich gleich
wieder dem Leben zuwenden kann und zuwendet, wenn man dann so einen Satz hört wie
heute vom Arzt. Das ist nur ein Satz: »Ob Sie’s glauben oder nicht, die Dinger gehen weg«,
dafür könnt ich ihn küssen. Und da könnt ich nicht nur ihn küssen, da könnt ich alle Menschen küssen, da könnt ich die ganze Welt umarmen, weil ich einfach denke: Wow, das ist
es doch, das ist doch was! Und da merk ich einfach auch, wie sehr ich am Leben hänge und,
ja, dass ich noch lange nicht aufgehört hab zu kämpfen.
Heute ist ein Tag, da fährst du nach Hause mit einer Euphorie, mit einer tollen Stimmung.
Es gab ja sicherlich auch andere Tage, andere Hinfahrten, andere Rückfahrten, andere
Stimmungen.
Natürlich, das kann auch morgen wieder ganz anders sein, weil ich auch nicht weiß, was
nächste Woche sein, wird, ohne jetzt pessimistisch zu sein. Aber ich möchte auch mal das
Gefühl beschreiben, das man so hat, wenn man hierher fährt: Es ist so das Gefühl, an manchen Tagen, mit jedem Kilometer, den man näher kommt, mit, jedem Kilometer, den man
fährt, um sein Leben zu fahren. Ich mach ja eine Tumorbehandlung hier, die mich ja auch
beeinträchtigt, die ja auch bedrohlich werden kann. Ich fahr ja hier auch um mein Leben.
An manchen Tagen wenn ich auf dieser Bank liege, und mir dieses Rohr da in den Mund
einführen lasse, da empfinde ich nichts dabei, weil ich in Gedanken beim Tagesablauf bin,
was ich machen muss, ob ich zu spät in meinem Zeitplan bin, ob ich zu früh dran bin. Und
an manchen Tagen denke ich: So, jetzt geb ich’s euch Tumoren da, jetzt werdet ihr niedergebügelt, und an manchen Tagen, wenn’s mir dann mal nicht so gut geht, von der Psyche
her, dann denk ich mir: Eigentlich lieg ich hier ja wie auf einer Schlachtbank. - Also, du
musst dich hinlegen, Maul auf, und dann kommt dieses Ding reingeschoben und man merkt
nichts, man spürt nichts, man hört nur dieses Knacken und das Plätschern des Apparates
und trotzdem ist einem bewusst, wenn sie dich nur drei Minuten länger bestrahlen, fällt dir
der Gaumen ab. Diese Ambivalenz, nichts zu spüren, nichts zu merken und trotzdem zu
wissen: Das ist der absolute Hammer, der da in deinen Mund geschossen wird.
Und welche Beziehung, ich sag jetzt mal »Beziehung«, entwickelst du zu den Tumoren,
die in dir sind?
28
Ich habe sie gebraucht im letzten Jahr, um mein erstes Buch in sechs Wochen zu schreiben.
Das hört sich ja zynisch an.
Nein! Das ist nicht zynisch, das ist einfach reflektierend, ich will das Gute aus einer Situation herausholen, sag ich mal. Als ich die Tumore hatte, war ich voller Panik, war verzweifelt, hab geschrieben, Tag und Nacht, an diesem Buch, um es fertig zu bringen, weil ich
Angst hatte, den Herbst oder den Winter 93/94 gar nicht mehr zu erleben.
Also die Tumore als Motor?
Tumore als Motor, klar! Nur unter Druck ist man fähig, Unmögliches zu schaffen! Und
die Tumore haben auf mich einen Druck ausgeübt. Jetzt ist mein Buch da, jetzt mach ich
das zweite Buch, natürlich auch ein Stück weit unter Druck, logisch, ohne Druck geht
nichts, aber ich brauch sie jetzt nicht mehr. (resolut) Sie werden jetzt behandelt, und sie
gehen weg, und sie werden auch nicht wiederkommen, Punkt! Und wenn ich immer sage
»Punkt!«, dann möchte ich das, was ich als letztes gesagt habe, dreimal unterstreichen.
Noch mal zurück zu der Stimmung, mit der du hierher fährst. Wenn du dann im Auto sitzt,
was nimmst du wahr? Siehst du die Autos, siehst du den Himmel, guckst du in dich rein?
Ich sehe den Himmel. Jetzt gerade, in den letzten Novembertagen, hatte ich ja morgens
wunderschöne Sonnenaufgänge, so nebelverhangen, und ich liebe das sowieso, ich nehme
da ganz stark die Stimmung wahr. Dann sind meine Gedanken auch bei früher. Ich war ja
als Bäcker ein Frühaufsteher, musste um halb drei, drei morgens aufstehen, und wenn ich
heute so um Viertel nach sechs morgens oder um halb sieben Richtung München fahre,
dann nehme ich diese Stimmung wahr, dieses Aufgehen eines neuen Tages, das ist was
Tolles. Manchmal bin ich genervt durch die vielen Autos, die herumfahren, die mir den
Weg versperren, die mich am Tagesablauf hindern, die mich hemmen, meinen Terminkalender einzuhalten. Wenn ich im Stau stehe, empfinde ich das als verlorene Zeit. Ich habe
meistens eine Zeitung dabei oder einen Block, wo ich mir Notizen mache, an was ich denken muss, weil ich einen ganz festen Tagesablauf habe, an den ich mich auch halten muss
und möchte. Aber ich sehe diese Wegstrecke auch an vielen Tagen als Chance, auf so einer
Fahrt kann ich einfach bei mir sein. Eine Gelegenheit, die Gedanken kommen und gehen
lassen zu können, mit meinem Hund, der im Kofferraum sitzt, ein paar Worte zu wechseln
und mich einfach auf das einzulassen, was da kommt.
Und irgendwann bist du angekommen, irgendwann steigst du aus, irgendwann gehst du in
diesen langen Flur mit den Bänken auf der linken Seite, und du weißt, all die, die neben dir
sitzen, haben auch Aids. Ist das eine Stimmung der Solidarität? Was passiert während dieser Minuten, die du warten musst?
Man lernt natürlich durch diese immer wiederkehrenden Bestrahlungstermine Menschen
kennen, unterhält sich kurz, aber man weiß den Namen nicht, man weiß eigentlich nichts,
außer, dass sie aus den gleichen Gründen hierher kommen wie ich. Man kann die Geschichten vermuten. Oft frage ich mich: Was hat der für eine Geschichte, wie ist es dem
wohl ergangen? Und es gibt da Menschen, die schon sehr krank aussehen, sehr stark gezeichnet sind von der Krankheit.
29
Achtest du auf die Veränderungen? Achtest du, ob du willst oder nicht, darauf, ob die
Tumore bei dem einen oder anderen zugenommen oder nachgelassen haben, kleiner oder
größer geworden sind? Nimmst du das wahr?
Nein, das nehm ich nicht wahr. Was ich wahrnehme, gerade wenn Menschen im Gesicht
sehr stark mit Kaposi bedeckt sind, dann ist das für mich - das klingt vielleicht etwas pervers, und man möge mir das verzeihen - aber ich nehme für mich so was wie eine Zufriedenheit mit nach Hause.
Das klingt in der Tat eigenartig.
Dass ich sage: Markus Commerçon, beschwere dich nicht um drei, vier Stellen im Mund,
sei zufrieden wie es ist und dankbar für den Tag, für heute, für jetzt.
Heißt das nicht, dass du dich am Leid der anderen hochziehst?
Ich zieh mich nicht hoch, sondern ich mache mir meine Situation bewusst. Ich weide
mich nicht an dem Leid der anderen und sage mir: Gott sei Dank, dem geht’s noch
schlechter als mir, nein! Ich hole mir ein Stück Zufriedenheit wieder zurück, die ich an
vielen Tagen einfach nicht habe, weil man manchmal schon einfach auch dazu neigt, sich
selber leid zu tun, sich in Frage zu stellen, zu sagen: Mensch, du bist ein armes Schwein oder so. Und dann sag ich mir: Also, Markus, du hast gar keinen Grund, dich zu beklagen,
du kannst morgens aufstehen, du bist körperlich nicht beeinträchtigt durch diese Tumore,
und sei zufrieden mit dem, wie es ist.
Stell dir mal vor, es kommen Leute in diesen langen Flur, die sich noch nie mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Sie sehen dort mehrere Menschen hintereinander sitzen und
erfahren: Alle haben Aids. Glaubst du, dass sich bei denen so ein Gedanke einstellen kann:
»Ist das nicht der Flur der Todgeweihten?«
Ja, glaub ich ganz bestimmt. So nach dem Motto: Die armen Menschlein.
Jetzt leben sie noch.
Ja genau, ich denke schon, dass das so kommt. Ach Gott, also wenn man das so geballt
sehen würde? Ich könnte mir gut vorstellen, dass Lieschen Müller dann sagen würde: Was,
die haben alle Aids? Obwohl es nur fünf sind, die da sitzen, weil man sich mit der Thematik
nicht so auseinandergesetzt hat oder auch nicht auseinandersetzen wollte bzw. sich bislang
auch noch keine Gelegenheit dazu bot.
Kannst du dann, in der nüchternen Atmosphäre dieses Flures, immer noch die Stimmung
halten, die du gehabt hast, als du einen schönen aufgehenden Morgen gesehen hast oder ist
das dann der Zeitpunkt, wo du nüchterner wirst, weil du fast auf deine Krankheit gestoßen
wirst?
Natürlich, da ist auch Abhauen nicht mehr möglich, und da ist die Stimmung, die ich
vielleicht noch eine halbe Stunde vorher im Auto hatte, dann weit weg, die Sonne ist dann
längst aufgegangen, jetzt ist dann wieder was anderes angesagt, weil der Tag fortläuft, und
Verdrängung ist dann auf diesen Holzbänken, in diesem »Flur der Todgeweihten«, - todgeweiht sind wir übrigens alle - nicht mehr möglich. Da geht’s um die Fakten, da geht’s um
Aids.
30
Und dann wirst du reingerufen,
Ja, man wird reingerufen.
... legst dich hin.
Legst dich hin und lässt machen.
Mit sich machen.
Lässt mit sich machen, liefert sich aus.
Eine Ohnmacht, die fast alle Menschen empfinden, wenn sie ins Krankenhaus kommen.
Ist das so besonders?
Nein. Es ist ein Gefühl, das, denke ich, jeder Patient hat, sich ein Stück weit in die Hände
anderer zu begeben, weil die die Dinge besser wissen als man selbst, oder Dinge besser zu
wissen glauben als man selbst. Aber mir geht’s immer darum, dennoch Einfluss nehmen zu
können, auch wissen zu dürfen, was mit mir in der Situation passiert.
Fragst du nach?
Ja, natürlich frag ich nach. Was wird gemacht? Welche Konsequenzen ergeben sich für
mich daraus? Nebenwirkungen ja oder nein? Also natürlich frag ich nach.
Möchtest du auch alles Negative, alle möglichen negativen Perspektiven bis ins Letzte
wissen, damit dich nichts mehr überraschen kann?
Natürlich möchte ich das wissen! Ich möchte wissen, woran ich bin, immer, in jeder Situation, weil ich denke, nur so kann man planen und sich darauf einstellen.
Nur so lässt sich mit Ängsten umgehen.
Nur durch ... ja, ich glaube, nur durch die Konfrontation lassen sich Ängste abbauen.
Dann bekommst du dieses, ja, wie willst du’s nennen ... ?
Dieses Rohr.
... dieses Rohr in den Mund gesteckt. Was macht dieses Rohr?
Es knallt mir die Tumore weg.
Möchtest du’s manchmal verstärken und sagen: »Noch eine Ladung drauf?«
(entschieden) Nein! (lachend) Weil ich genau weiß, wenn man’s verstärken würde, hätte
ich keinen Gaumen mehr. Und da ist mir mein Gaumen lieber. Und die Tumore krieg ich
auch so weg, auch das hat seine Zeit.
Empfindest du das als Balanceakt, das Ganze?
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Wie meinst du das jetzt, Balanceakt?
Einfach zu wissen wenn... - zum einen: Ich wünsche mir, dass mir dieses Rohr die Tumore
wegknallt, und dass es sie restlos wegknallt. Zum anderen aber weiß ich auch, dass das
Rohr mir den Gaumen nehmen kann, wenn es zu stark ist. Das alles schwankt zwischen der
Hoffnung, dass sie weggehen, und der Angst, dass sich andere Dinge einstellen, wie ein
Pendel, das immer so und so ausschlagen kann. Insofern vielleicht ein Balanceakt.
Ja, mir fällt da jetzt spontan ein Bild ein. Ich fühle mich wie ein kleiner Tarzan im
Dschungel der Krankheiten, und ich hänge gerade an einer Liane, und da merk ich oben, oh
Gott, sie reißt, und da geh ich wieder an die nächste. Und dann schwing ich ein bisschen hin
und her. Wie lange ich dann schwingen kann, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, die
nächste Liane, die hängt mir gerade vor der Nase, und ich brauch sie nur zu fassen. Und
diese Liane nenne ich Hoffnung.
Obwohl du den Abgrund unter dir fühlst?
Natürlich! Oh ja! Und diese Lianen sind manchmal sehr dünn, an denen man da zappelt
und sich wehrt und kämpft. Aber bisher haben sie immer gehalten.
Und eins ist auch klar: (grinsend) Auch wenn der kleine Tarzan mal abstürzt, er weiß,
dass er unten ganz weich landen wird, da ist ganz viel Moos in Form von Kathrin, Norbert,
Kai, Francis, Uli, ja, allen Menschen, die mich mögen, da ist ganz viel Moos. (lacht)
Lässt du diese Menschen auch an all deinen Stimmungen teilhaben ?
Natürlich, ich finde gerade dieses Bild so toll mit diesem Moos und diesem Dschungel der
Krankheiten, weil ich denke: wenn das Moos irgendwann mit mir ... nein, ich sag anders:
Wenn ich runterfalle, unvorangemeldet, dann wird dieses arme Moos erschlagen, meine
Freunde werden damit vollkommen überfordert sein, wie sollen die’s auch auffangen? Und
nur dadurch, dass ich mich meinen Freunden mitteile, dass ich immer wieder sage: Du, mir
geht’s heute total gut, oder: Heute geht’s mir total beschissen, Mensch, ich brauch dich, ich
möcht heut auch mal traurig sein, nur so, denke ich, schafft es auch das Moos, kräftiger zu
werden und alles aufzufangen, was da kommt in einem Leben mit Aids, in einer Freundschaft mit Aids.
Nun gibt’s ja nicht nur Moos auf der Welt, sondern auch Leute, die einem zusetzen, die
vielleicht pessimistischer sind, und sich fragen: »Wie lange es die wohl noch machen?« und
»Wie es denen da wohl geht?« in diesem Flur der Todgeweihten.
(spontan, energisch) Da werd ich sauer! Ich werd sauer, weil - wir leben in einer Welt der
Todgeweihten. All die, die hier leben, kriechen, fleuchen, gehen, arbeiten, sind todgeweiht,
und keiner hat das Recht dazu, nur weil ich Aids habe, Tumore im Mund habe, mich als
Todgeweihten abzustempeln. Er ist es in dem Moment, in dem er’s macht, schon selbst.
Und deswegen würde ich deine Frage umformulieren wollen: Wie geht es mir im Flur der
Lebenden? Denn die, die da hocken, leben, weil sie sich nämlich mit dem Sterben beschäftigen. Und ich glaube, nur wenn man sich ganz intensiv auch mit dem Tod auseinandergesetzt hat, kann man dem Leben nahe sein.
Du kämpfst um das Leben, indem du hierher fährst? Du kämpfst um dein Leben?
Ja.
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Aber der Tumor lebt auch.
Ja, solange er lebt, lebe ich auch! Und trotzdem werde ich nichts unversucht lassen, um zu
unterbinden, dass er mir Energie abzapft. Also einfach, ich werde nicht zulassen, dass er
mich aussaugt, dass er größer wird.
Wie machst du das?
Indem ich mit dem Kopf dagegen arbeite, indem ich mit Bestrahlungen dagegen arbeiten
lasse, indem ich einfach sage: Ich brauche keine neuen, sie können sich verziehen, die Tumore, ausgetanzt.
Hättest du jetzt, in deiner Euphoriestimmung, die ja ganz anders ist als deine Stimmung
gestern Abend, nicht fast Lust, in eine Telefonzelle zu gehen, und zu sagen: »Jürgen, übrigens ... «?
Ja, ich werde ihn nachher anrufen, das weiß ich, hab ich mir vorhin schon überlegt.
Wirklich!?
Ja, ich werde ihn im Büro anrufen.
Und weißt du schon, was du ihm sagen möchtest?
(Pause) Nicht viel, dass ich an ihn denke. (Pause) Dass ich an ihn denke, dass es mir weh
tut, aber dass ich ihn ein Stück weit auch verstehe.
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Das öffentliche Leben
Mit Aids
Eine Übersicht
Auftritte im Fernsehen
Zeitrum April 1992 – November 1994 (Liveauftritte, Dokumentationen, Reportagen)
ZDF: Doppelpunkt, SAT 1: Regionalreport, RTL: Mittagsmagazin, ZDF: Frühstücksfernsehen, Premiere: 0137, ZDF: Mittagsmagazin, ARD: Monitor, NDR: Regionalmagazin,
SAT 1: Regionalreport, ZDF: Frontal, ZDF: Mittagsmagazin, SAT 1: Regionalreport, ZDF:
Die Reportage: »Für mich soll’s rote Rosen regnen« - ein Aidskranker erobert die Medien,
3 Sat: Wiederholung der Reportage mit anschließender Livediskussion, Saarländischer
Rundfunk: Saarreport, ZDF: Widerholung der Reportage, SAT 1: Regionalreport.
Originalinterviews im Radio
(Mitschnitte, Umschnitte, Verschnitte und Wiederholungen in anderen Radiostationen
nicht inbegriffen)
Radio 7 Baden Württemberg, Radio Bremen, Süddeutscher Rundfunk, Norddeutscher
Rundfunk, Radio FFH Frankfurt, Offener Kanal Hamburg, Radio Donau 1 Ulm, Bayrischer
Rundfunk, Radio Ohr Offenburg, Welle Fidelitas, Radio Regenbogen Mannheim, SDR 3
Leute, Stadtradio Neckar Alb, WDR Köln, Radio Salue Saarbrücken, Radio7 regional.
Berichte und Reportagen in Zeitungen
(ohne Berücksichtigung der Meldungen verschiedener Nachrichtenagenturen mit
Verbreitung in Tageszeitungen der gesamten BRD)
Die zeit, Frankfurter Rundschau, Kölner Express, Schwäbische Zeitung, Südwest Presse,
Saarbrücker Zeitung, Neu Ulmer Zeitung, Stuttgarter Nachrichten, Glücksrevue, Hallesches
Tagblatt, Heidenheimer Zeitung, Stuttgarter Zeitung, Hamburger Morgenpost, DU und
ICH, Magnus, DAH aktuell, Hamburger Abendblatt, Hinnerk, Gay Life, Gay Express, Hohenloher Zeitung, Schwäbische Post, Mannheimer Tagblatt, Recklinghauser Zeitung, etc.
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Gerührt! Gejubelt! Gelernt!
Der Alltag zwischen Solidarität
und Diskriminierung
Fast drei Jahre arbeitet Markus in der Aids-Prävention. Er hat über 400 Vorträge in allen
nur denkbaren Institutionen gehalten. Hinzu kommen über 80 Lesungen aus seinem ersten
Buch. Überall empfängt ihn Zustimmung, Sympathie bis hin zu Applaus und Bewunderung.
Was bleibt an Solidarität, wenn sich die Säle geleert haben, und die Menschen wieder zu
Hause sind?
Hast du Autogrammkarten?
(lacht) Ja.
Gibst du Autogrammstunden?
(lachend) Mitunter ja, wenn das gewünscht wird und ich in einer Buchhandlung am
Nachmittag vor einer Lesung Bücher signiere. Ja, dann würde ich das mal so nennen, dann
gibt’s eine Autogrammstunde mit Markus Commerçon.
Autogrammstunde und Aids, passt das zusammen?
(immer noch amüsiert) Das ist schwierig zu vereinbaren. Wenn mir vor fünf Jahren, als
ich erfahren habe, dass ich HIV-positiv bin, jemand gesagt hätte: »In fünf Jahren gibst du
Autogramme und nach deinen Lesungen stehen die Menschen oft Schlange, um eine Unterschrift zu bekommen«, dann hätte ich gesagt: »Du hast einen Vogel!« Heute gehört das
dazu, und ich kann es auch so für mich ganz gut stehen lassen. Aber es ist schon ein komisches, schlecht definierbares Gefühl dabei: Man ist aidskrank und gibt Autogramme, weil
man Aids hat. Wobei ich da auch sagen möchte: Ich gebe die Autogramme nicht, weil ich
Aids habe, sondern weil ich einfach so bin wie ich bin. Die Botschaft, die in meinen Vorträgen rüberkommt oder auch durch das Buch rüberkommt, geht weit 1 über Aids hinaus
und berechtigt auch zu so was wie Autogrammkarten oder Autogrammstunden.
Wenn 1.000 Leute ein Autogramm von dir irgendwo hängen oder liegen haben, heißt das,
dass auch nur einer beim nächsten mal eventuell ein Kondom benutzt? Glaubst du, dadurch
eine Infektion verhindern zu können?
Nein! Das ist das ernüchternde Resultat meiner zweieinhalbjährigen Arbeit. Als ich damals von Leutkirch aus gestartet bin, dachte ich, ich will die Welt erretten, (lacht) ich
möchte alle Menschen vor einer Infektion bewahren, möchte aufklären, möchte verhindern,
dass sie sich infizieren. Heute, nach zweieinhalb Jahren, denke ich, dass ich das nicht vermag. Aber wenn ich auch nur eine Infektion verhindern konnte, hat sich mein Weg schon
gelohnt.
Das heißt Autogramme ja, Aufklärung nein?
35
Das heißt es nicht, nein! Es heißt Autogramme ja, Aufklärung ja, aber die Aufklärung
kann nur bis zu einem gewissen Grad wirksam sein. Wir alle wissen, dass wir in Situationen
kommen, in denen man sich sagt: Na ja, jetzt wird’s schon nicht passieren. Als bestes Beispiel bedenke man nur die vielen ungewollten Schwangerschaften. Trotz der Pille, Spirale,
Kondome und anderer Empfängnisverhütungsmittel, die es auf dem Markt gibt, kommt es
dazu. Warum? Weil man in der entscheidenden Situation denkt: Ich weiß, ich kann
schwanger werden, aber heute Abend oder heute nacht wird es schon nicht passieren. Und
ich glaube es ist bei Aids genauso. Ich glaube, dass meine Vorträge Betroffenheit erzeugen,
dass sie nachdenklich stimmen, aber dass diese Nachdenklichkeit auch nur bis zu einem
gewissen Bereich vordringt und letztendlich nicht als Schutz vor Aids gesehen werden
kann.
Macht das Fotomodell Markus Commerçon denn den Leuten auch bewusst, dass Aids
nicht nur aus Vierfarbdruck-Fotos besteht?
(Pause) Das Fotomodell Markus Commerçon als Aidskranker will eigentlich nur ein Bild
sprengen. Das ist ja auch das, was ich bei diesen ganzen Vorträgen immer wieder erlebt
habe. Wenn die Menschen erfahren, da kommt ein aidskranker Referent, stellen sie ihn sich
abgemagert vor, dass er im Rollstuhl auf die Bühne geschoben wird und sich kaum artikulieren kann. Und wenn sie kommen und mich erleben, dann erleben sie eigentlich genau das
Gegenteil. Ich will den Menschen klarmachen: Ein Körper mit Aids, ein Mann, eine Frau,
die infiziert sind, müssen nicht körperlich gezeichnet sein. Ich will damit klarmachen, dass
wir uns nicht auf das Auge verlassen dürfen, denn das wäre ein Trugschluss. Wenn wir einem Menschen begegnen, ihn sehen und wahrnehmen, dann denken wir, der sieht so gut
aus, der redet so gut, der Körper ist so athletisch, der ist so schön, der ist so wohlproportioniert, der wird es wohl nicht haben, dieses Virus. Und durch eine Darstellung meines Körpers, zum Beispiel auf Fotos oder so, wird vielen im Unterbewusstsein klar: Da sieht man ja
nichts, und trotzdem hat er das Virus. Es ist eine Sensibilisierung über eine natürlich sehr
massive Form der Selbstdarstellung, das darf man nicht vergessen.
Glaubst du nicht, dass wahrscheinlich manche sogar scharf werden, wenn du irgendwo in
eine Disco gehst und denken: »Oh, ist das nicht der Medienstar, ist ja geil, mit dem möcht
ich mal was haben?«
Ja, es kamen ja schon viele Angebote aus der Richtung, gerade vor zwei Tagen kam noch
mal so ein Brief an. Ich denke schon, dass natürlich dieser ganze Medienrummel um meine
Person auch eine ganz andere Qualität gebracht hat. Ich bin heute vorsichtiger geworden
und überlege natürlich auch, was will derjenige von mir? Will er sich mit mir schmücken,
was durchaus vorkommen kann? Interessiert er sich für meine Person, für mein Leben um
meinetwillen, um der Person Markus Commerçon willen? Das ist natürlich immer schwer
zu differenzieren, und de, wegen bin ich auch neuen Menschen gegenüber sehr vor sichtig.
Diese ganze hochgeschaukelte Präsenz, die du ja hast, kommt die dir nicht manchmal vor
wie eine Traumwelt?
(Pause) Es eine Traumwelt, in der man sich bewegt. Es ist ein Traum, wenn man Lesungen hat, wo 800 oder 1.000 Leute vor einem sitzen und zum Schluss aufstehen und applaudieren. Es kommt mir vor wie ein Traum, und doch ist es bare Realität.
36
Stell dir mal vor, du wärst nicht Markus Commerçon der Star auf dem Autogrammfoto,
sondern ein unbekannter Aidskranker mit dem Tumor auf der Backe, das wär doch komplett
anders, eine komplett andere Welt!
Mit Sicherheit ist es eine ganz andere Welt, (Pause) ab eins dürfen wir auch nicht vergessen, und das möcht ich noch mal ganz klar herausstreichen, dass diese Traumwelt diese
reale Traumwelt, in der ich mich befinde, durch ganze Öffentlichkeits- und Medienarbeit,
auch irgendwann wieder reduziert wird auf den Aidskranken mit dem Tumor auf der Backe.
Aber noch bist du als Aidskranker, der öffentlich ist, ja wie in einen Wattebausch eingewickelt. Wo kriegst du eigentlich noch...
(empört) Wattebausch?!
Ja, Wattebausch!
(sehr schnell, empört) Das halt ich für ein Gerücht oder für einen ausgesprochenen Witz
oder für eine Unterstellung und für unverschämt, denn ich werde noch genau so diskriminiert wie viele andere auch, denn nicht alle Menschen in Deutschland kennen Markus
Commerçon. Wenn ich mich irgendwo in einen Zug setze, kann ich nicht erwarten, dass die
Menschen, mit denen ich mich unterhalte oder denen ich gegenübersitze, dass die mich
kennen, und ich erlebe somit genauso viel Diskriminierung wie jeder andere Aidskranke
auch.
Erzähl doch mal Beispiele!
Ein Beispiel: Zugfahrt Freitagmittag nach Hamburg. Ich fahre im überfüllten Zug. Ich
setze mich ins Schwerbehindertenabteil, weil der Zug eben so voll ist und die Zeit mir keine
Möglichkeit ließ, zu reservieren. Nach einiger Zeit werden Symptome ausgetauscht. Man
fragt mich: »Junger Mann, was haben denn Sie?« Ich sag: »Ich hab Aids.« Eine Dame antwortet: »Ach, Sie haben’s dann wohl schon überwunden, Sie sehen so gut aus.« Ich antworte: »Nein, ich hab’s immer noch.« Zehn Minuten später, kurz vor Stuttgart, sagt die
Frau, ja, sie hätte jetzt ihren Zielbahnhof erreicht, sie müsste aussteigen und so weiter, wünsche uns eine gute Weiterfahrt. Zwischen Stuttgart und Mannheim will ich ins Restaurant
gehen, und da sitzt diese Frau auf ihren Koffern im Flur. Ja, da geht’s mir genauso beschissen, wenn ich da vorbeigehe, wie jedem anderen Aidskranken auch, weil’s nichts anderes
ist als eine Diskriminierung, die da stattfindet. Oder wenn ich Menschen begegne, die sich
einfach ein anderes Bild vorstellen. Wenn ich bereits jetzt Lesetermine für Juni ’95 mache,
da werd ich von manchem erstaunt gefragt: »Machen Sie jetzt schon Termine für Juni ’95?«
oder die Feststellung von einigen: »Ach, Ihnen geht’s immer noch gut?« Da werde ich genauso diskriminiert wie alle anderen auch.
Aber in Ulm genießt du die Wattebauschbehandlung.
(schnell) Ja gut, in Ulm ist es ein Wattebausch, hier hab ich Heimspiele, hier bin ich relativ bekannt und kann das auch leben. Aber man darf auch nicht vergessen, dass dieser
Wattebausch nicht immer da war. Ich war vor zweieinhalb oder drei Jahren genau der anonyme, unbekannte Aidskranke wie jeder andere auch.
Bleiben wir doch mal dabei. Du hast deine Bäckerei aufgegeben, weil du gedacht hast, in
deiner damaligen Situation als unbekannter Aidskranker: »Die kaufen bei mir keine Bröt37
chen«. Jetzt bist du der Star, jetzt hast du eine Lesung gehabt in diesem Ort vor 1.000 Leuten, könntest du heute die Bäckerei wieder eröffnen?
Da schwanke ich zwischen Utopie und Realismus. Und vom träumerischen Aspekt, vom
utopischen Aspekt her würde ich mir zutrauen zu sagen: Ja, geh nach Leutkirch, mach wieder eine Bäckerei auf und guck wer kommt.« (lacht) Aber ich glaube, die Realität, die sich
einstellt, die wäre wohl, ja, die wäre wohl eher ernüchternd. Ich habe im Juni ’94 in Leutkirch eine Lesung gehabt. Es waren über 1.000 Leute da, es gab minutenlange stehende
Ovationen, und ich glaube, ich war verdammt gut an diesem Abend, oh, ich war gut!
Und Brötchen würden sie trotzdem nicht bei dir kaufen?
Ich habe nach dem Abschluss dieser Lesung gesagt, dass, obwohl hier über 1.000 Menschen waren und dass, obwohl über 1.000 Menschen mir minutenlang stehende Ovationen
gegeben haben, ich immer noch große Bedenken hätte, wenn morgen ein Bäcker nach
Leutkirch käme und sagen würde, er ist HIV-positiv und würde versuchen, ein Geschäft
aufzumachen.
Das heißt sie sind gerührt, sie haben gejubelt...
Aber sie haben noch lange nichts gelernt, das ist Fakt! Und ich glaube, man kann den
Menschen auch keinen Vorwurf daraus machen, (eindringlich) denn lernen, richtig lernen,
tut man ... also, ich würde mal so sagen: Man ist gerührt, man jubelt und zeigt Ansätze eines
Lernprozesses. Aber diesen Lernprozess fortführen kann man erst dann, wenn man davon
betroffen ist, so schlimm sich das anhört. Ich glaube, wir können erst dann mit Aidskranken
und mit Aids umgehen, wenn jeder im Freundeskreis, jeder in der Familie einen hat, der es
dann hat.
Das wäre ja grausam!
Das wär grausam, aber ich denke, das ist die Realität! Und das kann ich auch voll so vertreten!
Das heißt, solange es nicht Hunderttausende von Aids kranken gibt, besteht deiner Meinung nach keine Chance, dass sich die Einstellungen wirklich ändern?
Ich glaube, es wird sich was ändern. Ich habe in diesem Jahr durch Vorträge etwa 20.000
Menschen erreicht. Wenn man die ganzen Fernsehsendungen zugrunde legt, dann hatte ich
ein millionenfaches Publikum. Ich glaube, dass man nur in langsamen Schritten etwas bewegt. Es ist eine Politik der kleinen Schritte.
Und auch du kannst nicht der Retter der Nation sein.
Ich kann es nie sein. Ich wollte es mal sein, aber mittlerweile muss ich sagen, ich kann es
nicht sein, und ich will’s auch nicht mehr sein.
Bewegst du dich denn in die richtige Richtung? Du hast Kritiker, sogar in der Aids-Hilfe!
Kritiker sitzen an allen Ecken und Enden, und sie lauern immer dort, wo man es am wenigsten vermutet. So ging es, mir mit Mitarbeitern der Aids-Hilfe in Ulm. Da gab es schon
Aussagen wie: »Ich habe nicht das Glück, HIV-positiv zu sein und täglich in der Zeitung zu
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stehen«, es gab Protokolle, in denen stand, dass man sich Gedanken um meinen Nachfolger
machen müsse, weil ich ja wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hätte. Und so etwas
steht festgeschrieben im Protokoll. So was trifft, so was verletzt. Das ist auch keine inhaltliche Kritik, es ist eine Kritik, die geäußert wird von Menschen, die dumm sind, und die aus
ihrer Dummheit heraus auch noch die Dreistigkeit besitzen, Lebenserwartungsprognosen
für andere Menschen zu stellen. Sie beneiden mich um meinen Erfolg, den ich mit Aids
heute habe. So etwas kann nur Dummheit sein, anders kann ich mir das nicht erklären, anders könnte ich so ein Verhalten nicht verzeihen. Gegen inhaltliche Kritik hätte ich nichts
einzuwenden, wenn man mir sagen würde: »Lege mehr Gewichtung auf die Aids-Hilfe,
mach dies oder jenes«, das wär überhaupt kein Thema. Aber mich totzumachen vor meiner
Zeit, aus den eigenen Reihen, das ist schon mehr als ein Arschtritt.
Und wenn sie sagen, Aids gehört nicht ins Showprogramm?
Dann muss ich sagen, Aids gehört ins Showprogramm, weil jeder seinen Weg geht, und
meinen Weg möchte ich respektiert wissen! Ich respektiere ja auch, wenn Leute in der
Aids-Hilfe mir nur eine statistische Lebenserwartungs-Prognose stellen und sagen: »Na ja,
in zwei Jahren bist du eh nicht mehr hier.«
Aber über Wege lässt es sich ja zumindest streiten.
Klar, natürlich! Ich erwarte ja auch nicht, dass alle Menschen an meinem Wegesrand stehen und applaudieren. Aber ich erwarte Fairness! Und Fairness zeigt sich bei mir in einem
gepflegten Umgang miteinander. Man muss sich ja nicht in die Arme fallen, um Gottes
willen! Aber ich denke, es geht um den Stil und das Niveau der Kritik.
Gerührt, gejubelt, aber nichts gelernt. Was ist das Resultat deiner Arbeit der letzten
Jahre? Was ist geblieben außer 2.000 Autogrammkarten und ein paar Tausend verkauften
Büchern?
Ich glaube, das Ergebnis ist sichtbar. Sichtbar in Form von gut besuchten Lesungen,
sichtbar in Form von 800 Briefen, die auf mein Buch kamen, und in Form von einer erfolgreichen Zunahme zum Beispiel auch der Mitglieder in der Aids-Hilfe Ulm. Die Bekanntheit
meiner Person hat bestimmt dazu beigetragen, dass wir den Mitgliederstand innerhalb der
letzten zwei Jahre fast verdreifachen konnten, Das sind sichtbare Ergebnisse. Es bleibt der
übervolle Terminkalender mit Anfragen von Schulklassen, und es bleiben all die Lesetermine. Es sind kleine Erfolge, und es sind große Erfolge dabei. Aber es sind Erfolge, die
man nicht übersehen kann. Und dass ich mir zweifelsohne noch mehr Erfolge und Effektivität gewünscht hätte, ist jedem klar. Wer möchte das nicht? Und wenn ich diesen Anspruch
an meine Arbeit nicht mehr habe, dann hör ich auf und gehe in Rente.
Apropos Effektivität: Ist für dich als Aids-Star eine Klasse von 20 Schülern noch reizvoll?
Absolut! Ich mache heute noch Interviews mit Schülerzeitschriften, nehme mir die Zeit,
mich eine Stunde mit zwei Schülern hinzusetzen und mach mit ihnen ein Konzept. Gerade
letzte Woche habe ich noch einer Schulklasse angeboten, an dem Abend, an dem die Schülerzeitschrift vorgestellt wird, kostenlos ein Interview mit ihnen in der Aula zu machen. Die
waren ganz happy. Für mich ist heute noch die Vorstellung, mit 20 Schülern zu arbeiten,
genauso interessant wie am Anfang.
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Sitzen sie da nicht auch teilweise mit leuchtenden Augen vor dir, weil sie dich kennen und
dich bewundern und so toll finden?
Das ist ein negativer Aspekt dieser Entwicklung. Die Tatsache, dass ich es durch den ganzen Presserummel und den Medienzirkus zunehmend schwerer habe, in Schulklassen am
Thema Aids zu bleiben. Ganz viele Fragen gehen in die Richtung: »Wie ist es denn beim
Fernsehen? Wie sehen die dort aus? Wie arbeiten die dort? Wie ist das Gefühl, im Fernsehen zu sein?« Und ich habe oft den Eindruck, man widmet sich zu wenig der Thematik
Aids. Es fällt mir schwer, diese Vorträge dann thematisch so auszugestalten, wie ich sie
gerne hätte, das heißt ich habe oft Mühe, die Schüler immer wieder zum Thema Aids zurückzuholen. Aber egal ob Autogrammkarten, egal, ob irgendwelche Autogrammstunden,
Pressegespräche, Fotomodell oder was weiß ich auch immer: Es ist und bleibt Aids, was
Motor ist und Motor war, diesen Weg zu gehen und so zu gehen, wie ich ihn für mich als
richtig empfinde!
Zwischen der Botschaft, die du vermitteln willst, und zwischen den Autogrammkarten und
dem Starsein auf der anderen Seite, liegt ja eine Gratwanderung. Wenn du noch mal beschreiben würdest, auf welchem Grat du wandelst und welche Grenze du nach all deinen
Erkenntnissen nicht überschreiten möchtest, wie würdest du das erklären?
(Pause) Die Grenze setz ich für mich da, dass Menschen mir eine Einleitung verpassen in
Vorträgen und sagen: »Wir begrüßen heute Abend Markus Commerçon, bekannt aus Rundfunk und Fernsehen«, und was weiß ich alles. Da setze ich eine Grenze, denn deswegen bin
ich nicht da. (betont) Ich komme wegen Aids! Ich komme, um den Menschen klarzumachen: Lebt mit der Krankheit und vor allen Dingen stützt die Menschen, die’s getroffen hat!
Ich komme eigentlich, um vielleicht, so hoffe ich, den Boden zu bereiten, dass ein anderer,
der bislang versteckt gelebt hat, in Zukunft besser mit Aids leben kann. Da setze ich meine
Grenze und meine Priorität. Es geht nicht um die Verherrlichung eines einzelnen. Sensibilisieren kann man nur über die Darstellung eines Einzelschicksals. Aber es darf nicht darein
münden, dass man einzelne glorifiziert und all die anderen dabei vergisst! Da leg ich ganz
großer
Es gab schon viele Leute, die im Applaus ihren Weg verloren haben. Warst du auch mal
nah dran?
Das ist ja die eigentliche Gratwanderung in dieser ganzen Rummel. In der Bestätigung
von außen, den Bauchpinseleien, die man erfährt durch irgendwelche Journalisten oder Agenturen, mit denen man zusammen arbeitet, da den eigenen Weg nicht aus den Augen zu
verlieren. Ich möchte das in einem Satz zusammenfassen (nachdrücklich) Ich habe den Geburtsschein noch nicht verloren, und ich halte mich für soweit gefestigt und für soweit reflektierend, dass ich ihn nicht verlieren werde! Ich werde nicht vergessen, wie die zweieinhalb Jahre verstecktes Leben mit Aids waren und was sie für mich bedeutet haben. Ich habe
noch viel zuviel Kontakt zu anderen Infizierten, weiß, wie sie leben, wie sie versteckt leben
und leiden, als dass ich das jemals vergessen wollte!
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Sendepause
Von Abstürzen und Einsamkeiten
Es gibt verschiedene Themen, da fällt es schwer, sich ranzutasten. Nach Scheinwerfern,
Erfolg und Höhenflügen können auch Tiefpunkte nicht ausbleiben. Wann hattest du deinen
letzten Absturz ?
Den richtigen letzten Absturz hatte ich, als ich dieses! Kaposi-Sarkom am Auge entdeckt
habe und dann abends hier saß und traurig war. Ich war allein mit mir und dann kam mein
Hund, der irgendwie die Situation, glaube ich, als solche wahrgenommen hat. Er legte einfach seinen Kopf so zwischen meine Beine, hat mich ganz treu angeguckt, und da hatte ich
einen totalen Absturz, einfach so. Da hab ich auch geheult und war einfach traurig, hab
mich dem aber auch voll hingegeben.
Auch wenn es schwer zu beschreiben ist, wohin stürzt du dann?
(lange Pause, dann sehr ruhig) Das ist so endlos. So ein Absturz ist so endlos und dennoch fördere ich ihn, indem ich mir die Stimmung um mich herum verschaffe. Indem ich
mir auch die richtige Musik dazu anhöre, also leise Musik, zum Beispiel Hermann van
Veen oder andere eher sentimentale, ruhige, tiefe Musik, und dann lass ich meiner Traurigkeit Raum, dann lass ich auch der Verzweiflung ihren Raum, der Tragik meines Lebens. Da
lass ich auch Platz für mein Schicksal, da lass ich mir Raum genug zu erkennen: Das bin ja
ich. Scheiße! Das bin ich. - Und dann falle ich, wohin kann ich gar nicht sagen. Es ist ein
Fallen, verbunden mit dem Wunsch zu landen, ein Sehnen nach ewiger Naivität, ein Zurückwollen einfach. (sehr lange Pause)
Die Tränen, die du dann weinst, woraus sind die? Du hast Tragik gesagt. Ist es auch
Mitleid, ist es Traurigkeit, ist es Schmerz, ist es Verzweiflung? Was liegt in diesen Tränen?
In diesen Tränen liegt ein Erkennen der Situation. Da liegt die ganze Realität. Und ich
glaube, wenn ich weine bin ich ganz nah bei mir, dann bin ich auch ganz nah beim Kind im
Manne, beim Kind im Mensch. In diesen Abstürzen spüre ich ganz klar die Verletzungen,
die mir zugefügt wurden, die Enttäuschung, die damit verbunden war, de Traurigkeit, die
daraus resultiert, da spürt man eigentlich alles. Und alles löst sich durch die Tränen, die
man weint. Und das muss auch von Zeit zu Zeit sein, sonst würde ich kaputtgehen oder gar
platzen. Ich denke, aus diesen Tief heraus, aus diesen Abstürzen heraus wächst ganz viel
Kraft für Neues. Es klärt vieles, macht Mut und gibt Kraft, neue Dinge anzupacken. (Pause)
Es kommen aber auch viel Traurigkeit und Gedanken an die letzten zehn Jahre hoch, und
dann denke ich: Mein Gott, Markus, was hast du alles hinter dich gebracht, was hab ich
alles hinter mich gebracht - und (Pause) ja, dann kommt so was wie Selbstmitleid, Traurigsein über das eigene Erleben. (Pause) Und um das mal so im Beispiel zu sagen, ich glaube,
wenn ich mein Leben verfilmt sehen würde, dann würd ich Rotz und Wasser heulen, weil
mir der arme Junge auf der Leinwand dort leid tut.
Ist das dann so eine Mischung aus: »Das bin ja ich und diesem gleichzeitigen: »Das darf
doch nicht war sein, das darf doch nicht wahr sein!«?
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Absturz heißt Konfrontation! Das heißt ganz klare Auseinandersetzung mit der Realität,
heißt auch Höhe und Tiefe, all das, was ich durch Arbeit oft versuche zu kompensieren.
Und in dem Moment, wo man ganz nah bei sich ist, auf sich zurückgeworfen wird und das
aushalten muss dann wird einem auch klar: Das bin ja ich! - das ist keine One-Man-AidsShow, das ist kein erfolgreicher Buchautor, das ist kein Schauspieler, der auf der Bühne
agieren kann, sich darstellen kann, das ist kein Aids-Darstellungsprofi, sondern das ist Markus Commerçon, ein schwuler, aidskranker Mann in Deutschland, nicht mehr und nicht
weniger, Und das Gefühl gilt es dann auszuhalten.
Ich sag jetzt mal, wie’s mir geht. Ich mein, wir kennen uns jetzt schon eine ganze Zeit, wir
haben über vieles geredet, über dein Leben, über deine Lieben, über deine Hoffnung, auch
über Aids, über Krankheit, und wenn wir zusammen sind, dann überträgt sich die Hoffnung,
die du hast, 80 zu werden, ja auch auf andere Leute und auch auf mich. Und jetzt, wo wir
hier auf dem Sofa sitzen, wird’s mir trotzdem ganz anders, wenn ich mir vorstelle, dass Aids
nun mal nicht ausschließt, dass wir in einem Jahr vielleicht nicht mehr hier sitzen könnten.
Ich merk einfach für mich, das sind so die Punkte, die Fragen, die Tiefen, wo ich es schwer
hab, mich ranzutasten, verstehst du das?
(sehr leise, nachdenklich) Ja, ich denke schon. (dann sehr sachlich) Es ist klar, dass wir
verdrängen und dass Verdrängung auch lebensnotwendig ist, sonst würde man das ja gar
nicht überleben. Wenn ich mir jeden Tag meine Situation so vor Augen führen würde, wie
sie sich medizinisch darstellt, also, ich würde ja verrückt werden. Deswegen halte ich Verdrängung, egal durch was sie passiert, sei es durch Arbeit, sei es durch Urlaub, sei es aber
auch durch Nichtstun... Verdrängung ist lebensnotwendig! Auch Krankheit wird irgendwann Alltag. Auch ein Tumorpatient wird nicht mehr jeden Tag an seinen Tumor denken,
er würde ja durchdrehen. Das schließt aber nicht aus, dass es diese Einbrüche gibt und auch
geben muss. Einbrüche, die ja in völlig unkalkulierbaren Abständen in mein Leben kommen, sind für mich deswegen auch wichtig, und deswegen gebe ich mich ihnen ja auch genauso intensiv hin wie dem Leben. Durch sie bin ich auch auf mich zurückgeworfen, weil
ich mich auch besinnen kann dadurch: Wo stehe ich jetzt im Moment, wie geht es mir ,jetzt
im Moment? Warum ist es so? Warum? Durch was wurde dieser Absturz ausgelöst? - Und
es ist für mich immer wieder ganz deutlich spürbar, dass aus den dann erlebten Tiefen, den
dann gespürten Abstürzen, wieder immense neue Kraft erwächst, völlig neue Dinge in Angriff zu nehmen.
Bist du denn jetzt bereit, auch über die Tiefpunkte im Absturz zu reden?
(lange Pause) Ja, schon. Wobei es schwer zu definieren ist, welche Tiefpunkte man da erreicht, welche da konkret erlebt werden.
Du hast in deinem ersten Buch ein Bild beschrieben. Du hattest das Gefühl, die Wände
rücken näher. Wenn du jetzt wirklich noch mal ganz in dich reinguckst und das noch mal
spürst, was in dir vorgeht, vom Innenleben, von den Bildern die kommen, vom Bauch, welches Empfinden hast du dabei?
Da ist einfach ein Empfinden von Gelassenheit.
Trotz der Tränen und der klassischen Musik und der Verzweiflung und all dem, in das du
dich da reinfallen lässt, bist du gelassen?
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(weiterhin sehr sachlich) Ja, weil ich’s ja nicht ändern kann. Ich kann nur die augenblickliche Situation als solche wahrnehmen und in ihr leben.
Aber ein verzweifelter Mensch, der sagt: »Mensch, ich bin Markus, ich bin 31, warum
hab ich dieses verdammte Aids, und warum muss ich vielleicht sterben, viel früher als viele
andere« und der dann auch einfach in dem Moment nicht sterben will, der ist doch nicht
gelassen, du bist doch dann irgendwann auch mal nicht gelassen!
(zurückhaltend) Ich glaube, es gibt verschiedene Punkte und verschiedene Möglichkeiten,
Verzweiflung zu zeigen. Es gibt Menschen, die gehen auf die Straße und schreien. Es gibt
Menschen, die laufen wirr durch die Gegend und durch den Wald und was weiß ich, was sie
tun. Und es gibt Menschen, die sind zu Hause und leben diese Verzweiflung, wenn sie sie
spüren, sehr introvertiert, sehr in sich zurückgezogen. An manchen Tagen, an denen ich so
eine Verzweiflung spüre, gehe ich auf die Bühne und dreh’ voll auf, und an anderen Tagen
wiederum hab ich die Kraft nicht, dann bleib ich zu Hause und bin einfach traurig. (Pause)
Beides sind Möglichkeiten, Verzweiflung zu leben oder sie zu transportieren, sie zuzulassen. Aber mit Gelassenheit meine ich auch, dass sich danach das Gefühl einstellt: Was soll
ich tun, was kann ich ändern? Und es bedeutet auch, ein Stück weit Vertrauen und auch
Gottvertrauen zu haben, indem ich sage: Na ja, Markus, das wird sich schon alles klären.
Einen Absturz hab ich ja miterlebt. Wir haben zusammen gedreht und während einer Autofahrt über dich und dein öffentliches Leben gestritten. Die Anspannung war auf einem
Höhepunkt. Dann hast du eine Kassette eingelegt und voll aufgedreht. Die Callas sang, und
du hast Rotz und Wasser geheult, und ich hatte das Gefühl: Ja, das war die Mischung, die
du angesprochen hast, aber es war auch wie ein Schrei. Ich weiß nicht, nach was, aber es
war wie ein Schrei.
(bedrückt) Ich glaube, dass mich dieses Virus verletzt hat. Es hat mir zum einen sehr viele
Dinge ermöglicht, zum anderen hat es mich aber auch wesentlicher Dinge beraubt. Aber es
hinterlässt ein Gefühl der Kränkung. Es kränkt nicht nur mein Immunsystem und zeigt sich
durch Symptome, es kränkt mein Ich, es kränkt den Menschen, es kränkt mich als Persönlichkeit. Und manchmal ist es schon wie ein Schrei, den man gerne loslassen möchte, den
man der ganzen Welt entgegenschreien möchte: Ich bin gekränkt! Ich bin einfach so unglaublich verletzt! Aber ich glaube, verstehen würde es niemand. Wie sollte es auch jemand
verstehen, der nicht auf die gleiche Weise gekränkt wurde.
Ist das auch Teil der Kränkung, dieses: »Die wissen ja alle gar nicht, was mit mir wirklich los ist, was in mir wirklich los ist« ?
Nein, ich kann ja den anderen zum einen nicht das Einfühlungsvermögen absprechen, und
mich zum anderen darüber beschweren, dass sie es nicht haben. Ich kann mich auch in das
Gefühl eines anderen Menschen nicht hineinversetzen, der eine völlig andere Kränkung
erfahren hat als ich.
In dieser Situation, als wir im Auto saßen, da hast du gerufen, auch fast als Schrei: »Die
wissen ja gar nicht, was los ist, die wissen ja gar nicht, was das heißt, die wissen’s ja nicht,
und vielleicht sollen sie’s auch nicht wissen, aber die wissen’s ja nicht!« Kannst du dich
erinnern?
(Pause) Ja, natürlich erinnere ich mich, weil ich nämlich auch das Gefühl habe, dass zu
der Kränkung mit diesem Virus auch Kränkungen anderer Art hinzukommen. Gerade auch
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durch den Job, den ich mache. Wenn ich mit Journalisten in der Maske sitze, sie mich zwei
Minuten vor dem Fernseh-Interview fragen, ob mein Buch überhaupt schon erschienen ist,
dann kränkt mich das.
Was kränkt dich noch? Jetzt lass es einfach mal rausfließen. Was kränkt dich noch? Du
hast gesagt, das Virus. Was kränkt dich?
(verhalten gereizt) Was mich kränkt, ist Oberflächlichkeit! Was mich kränkt, ist Dummheit! Was mich kränkt, sind Menschen, die Grenzen überschreiten. Die meine Grenzen überschreiten! Und was mich auch kränkt, ist die Tatsache, dass man heute, wo ich auf dem
Gipfel angekommen bin, wo ich alles erreicht habe, was man als Aidskranker erreichen
kann, dass man da vergisst, wie schwierig der Aufstieg und wie hart und steinig der Weg
nach oben war und was er mich letzten Endes gekostet hat und vielleicht noch kosten wird.
Das zeigt doch, dass die Leute das Dahinter und das Darunter oft nicht mehr sehen.
Eben diese Oberflächlichkeit, von der ich gesprochen habe. (Pause) Es kränkt mich auch
indirekt, nein, es kränkt mich direkt, wenn Menschen sagen, dass sie mein Buch in einem
Rutsch durchgelesen haben. Dann möchte ich ihnen entgegenrufen: Verdammt noch mal,
lies es noch mal! Lies es noch zweimal, lies es dreimal, aber lies es und fühl es. Fühl vor
allen Dingen das, was zwischen den Zeilen steht! Lass dir jedes einzelne Wort zergehen. Es
ist mein Leben! Es ist mein Kampf! Meine Verletzung! Es sind meine Gefühle, es ist mein
Ich, es ist ein Mensch, der schreibt und gehört werden will! Lies jedes einzelne Wort! Es
steckt so verdammt viel drin!
Du hast gesagt, dass es dich kränkt, wenn Leute deine Grenzen verletzen und überschreiten. Sag’s ganz offen, ist die Grenze auch da, wenn jemand versucht, wie ich das jetzt tue,
wirklich zu erfahren, was mit dir in Abstürzen, in Einbrüchen, in deiner tiefen, ganz tiefen
Traurigkeit passiert? Ist da die Grenze überschritten? Sagst du da: »Nein, das ist mir, das
gehört mir allein«?
Nein, dadurch ist die Grenze nicht überschritten, weil dieses Herantasten in sehr sensibler
Weise und auch in einer gewissen Atmosphäre stattfindet. Und das ist ja auch etwas, auf
das ich mich einlassen möchte. (Pause) Grenzüberschreitung erlebe ich eher, wenn andere
Menschen aufgrund ihrer Erwartungshaltung Dinge von mir fordern, die ich nicht geben
kann und nicht geben will. Und wen die das nicht einsehen wollen, dann erlebe ich so was
al grenzüberschreitend.
Du hast gesagt, wenn du deine Geschichte im Kinosehen würdest, würdest du weinen. Du
hast auch gesagt, manchmal, wenn du weinst, dann ist es fast so was wie Mitleid, auch
über die Tragik. Wenn du versuchst, die Tragik deiner Geschichte in Worte zufassen, wie
würdest du das tun?
Da ist, glaub ich, auch ganz viel Wut und ganz viel Bitterkeit, Enttäuschung, dass die
Dinge an vielen Stellen so gelaufen sind, wie sie gelaufen sind.
Welche Dinge meinst du?
(aggressiver werdend) Ja, wenn ich so Abstürze habe, dann denke ich an meine Kritiker,
die mir vorwerfen, ich wäre pressegeil, würde mein Aids vermarkten und wäre narzisstisch
und all die Scheiße. Ja, sie haben recht, okay! Aber die Verzweiflung hat mir ja keine ande44
re Wahl gelassen als mich voranzutreiben. Ich bin sauer auf meinen früheren Freund Hans,
weil er mich enttäuscht hat und weil ich ihn auch enttäuscht habe. Aber in dem Moment, in
dem ich abstürze, hab ich auch keinen Bock darauf, Verständnis für andere zu haben. Da
bin nur ich! In diesen Abstürzen erlebe ich nur mich, erlebe ich den Markus, als Mann, als
Kind, als Mensch, mit all seinen Empfindungen, mit all seinen Wahrnehmungen, mit all
seinen Verletzungen, da erleb ich nur mich, und darauf hab ich auch ein Recht! Und es ist
mein Recht, diese Abstürze zu genießen. Ja, zu genießen!
Das hört sich ja masochistisch an.
(lange Pause, dann hart) Mag sein! Gut! Lassen wir es eine Form von Masochismus sein!
Und wenn es so ist, ist es ein Teil von mir, mit dem ich wunderbar leben kann!
Wirklich?
(Pause) Ja, wirklich! Weil es mir auch hilft, durch dieses bewusste Heranziehen von
Verletzungen diese auch auszuhalten, abzuklären und aufzuarbeiten. Und diese Wut, die ist
ja nicht nur auf andere gerichtet, die ist ja auch auf mich da. Ich bin dann wütend auf Wolfgang, ich bin auch wütend auf mich, weil ich wusste, dass wir keine treue Beziehung haben
und des toleriert habe. Dann bin ich wütend auf meine Eltern, weil sie mich gelehrt haben,
dass Liebe erkämpft werden muss, dass Liebe nicht geschenkt wird. Und dann bin ich sauer
auf meinen Vater, dessen Satz ich im Kopf höre: »Markus, du landest entweder in der Gosse oder du wirst ganz was Großes.« Dann seh ich mich als Kind, als kleinen Markus, und
seh mich heute, mit 31 Jahren, was draus geworden ist und denke: Mein Vater hat recht
behalten. Das sagt er ja übrigens heute immer noch: (ironisch) »Ich hab’s gewusst, Markus,
entweder du landest in der Gosse oder du wirst ganz was Großes.« Er ist heute der Meinung, ich bin was ganz Großes geworden, aber dass ich in der Gosse war und mich ja heute
noch an vielen Tagen als Gosse fühle, das übersieht er. (zornig) Dass ich mich als Gosse
fühle, wenn irgendeine Frau im Kosmetikstudio mir mein Gesicht mit Gummihandschuhen
massiert, da fühl ich mich als Gosse! (ruhiger) Und es ist mein gutes Recht, und lassen wir
es masochistisch sein, diese Verletzungen heranzuholen, mich eine gewisse Zeit auch in
meinem Selbstmitleid zu suhlen, ja, und mich auch zu streicheln und aufzurichten.
Darf ich dich mal was fragen? Selbst deine Abstürze, selbst deine Einbrüche scheinen so,
ich sag’s mal in Anführungsstrichen, »herrlich kontrolliert« zu sein. Du machst es ganz
bewusst, du merkst, wie du fällst, das überrascht dich zwar, dann holst du dir die Verletzungen ran, verarbeitest sie und gehst gestärkt da wieder raus, weil du Verletzung verarbeitet hast. Hat dich denn nicht mal was unvorbereitet erwischt, und du wolltest es eigentlich abgeben, konntest es nicht abgeben, und es hat dich verfolgt, es war immer bei dir, du
bist es nicht los geworden, hast es nicht aufgearbeitet, trägst es mit dir rum als Gefühl im
Magen, das wirkt, das nach oben kommt, das du einfach nicht ablegen kannst, das immer
auftaucht wie ein Gespenst, hast du nicht auch solche Momente, wo du nicht der Markus
bist, der das unter Kontrolle hat und alle Bilder klar vor sich sieht, sondern bei dem es
auch mal kreist im Kopf?
Nenn es Aids, was ich nicht unter Kontrolle habe und was ich 24 Stunden mit mir rumschleppe. Was völlig unkontrollierbar ist, was Druck ausübt, was nicht verarbeitet ist, vielleicht nie verarbeitet werden kann. Lass es uns Aids nennen, dieses Gespenst, das in mir die
Angst auslöst, irgendwann nicht mehr kontrollierbar zu sein, irgendwann sogar die Macht
über meinen Geist zu verlieren! Und es ist mein Überlebensziel, auch Abstürze und Tiefen
zu kontrollieren, weil ich glaube, die wachsende Unkontrolle, oder viel besser gesagt, die an
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manchen Tagen beängstigende Unberechenbarkeit von HIV, die schlepp ich ja mit mir rum.
Und um so größer wird der Wunsch, selbst die Kontrolle zu übernehmen, mit dem Kopf zu
lenken, was ich mache, was ich fühle, was ich denke und was ich tue! Die Kontrolle über
mich und somit auch über das Virus, das ist die einzige Chance, die ich habe. (resigniert)
Das ist die einzige Chance. (Pause)
(niedergeschlagen) Manchmal frage ich mich selbst, was bin ich eigentlich, und warum
bin ich so? (Pause) Warum hab ich das große Bedürfnis, alles zu kontrollieren, und warum
hab ich die ganz enorm große Angst davor, in aller Ruhe etwas außer Kontrolle geraten zu
lassen? (Pause) Manchmal glaube ich, bin ich auf einem guten Weg, eine Antwort darauf
zu finden. Gefunden hab ich sie aber noch nicht.
Und der gute Weg?
(Pause, dann etwas stockend) Der gute Weg heißt vielleicht »loslassen« von Altem, Mut
finden, sich Neuem zu widmen, den Sprung in’s Nichts zu wagen, Fallenlassen, vertrauen
können, Jürgen?
Ich frag mich ja selbst oft, woher kommt dieser Zwang, dieses Muss, dieses absolute
Muss, alles zu kontrollieren, alles perfekt im Griff zu haben? Ich muss wissen, was um
mich herum passiert, ich muss wissen, auf wen ich mich verlassen kann, ich muss wissen,
wo ich mich bewegen kann, ich muss wissen, auf welcher Eisdecke ich tanzen kann, ich
muss wissen, was mich erwartet, wenn ich mit Menschen zu tun habe. Ich muss es einfach
wissen! Irgendwo wird’s verständlicher, wenn ich versuche zu beschreiben, was diese Infektion auch in mir ausgelöst hat, (eindringlich, betont) nämlich eine absolute Unberechenbarkeit, die da in mir tickt, die da in mir permanent vertreten ist. Dieses Gefühl zu haben,
auf einer Zeitbombe zu hocken, die jeden Tag explodieren kann. Dieser Druck, der dadurch
erwächst, dieses Virus, das mir wie ein Insekt im Nacken sitzt, lauert und (mit erhobener
Stimme) Zeit hat, so wahnsinnig viel Zeit hat! Und irgendwann greift’s an! (leiser, zusammensinkend) Sticht dich an, saugt dich aus, nimmt dir wieder was. (wieder lauter, schnell,
bis zur Aggressivität) Lungenentzündung im März ’93, innerhalb von drei Tagen nicht mehr
atmen können, nicht mehr bewegen können, nicht mehr auf’s Klo gehen können. Nichts
mehr machen können! Juni ’93, Tumore im Mund! Endzeitstimmung! Panik! Chaos!
Kampf dagegen! Kontrolle! (Sehr aggressiv) Ich werd dir’s schon zeigen, du Scheiß-Virus,
was du mit mir machst und was nicht!! (ruhiger) Dieses Jahr ging’s gut. Letzte Woche
Gürtelrose, (erregter) innerhalb von einem Tag war der ganze Hintern und der ganze Oberschenkel voll mit Pusteln! Es tut weh! (ruhiger) Und es ist, als würde dieses Virus, wenn
ich mal nicht ganz so die Kontrolle habe, sagen: (drohend) »Ich bin noch da, und ich hol
dich mir!« (ruhig) Und ich sage: Nein, ich habe die Kontrolle, auch über dich. (aggressiv)
Und deswegen hol ich mir auch die kontrollierten Abstürze! Weil ich das Gefühl habe,
wenn ich nicht kontrolliert bin, dass es dann zuschlagen kann! Ich bin da am verletzlichsten, wo ich nicht mit Verletzung rechne. (wie erschöpft) Und in dem Moment, wo ich mich,
mein Leben, meine Gefühle unter Kontrolle habe, hat das Virus keine Chance. (sachlich)
Und es kann mich mal pieksen, hier und da, es soll sich bemerkbar machen, ja, von mir aus,
aber dominieren wird’s mich nicht.
Die größte Angst im Absturz muss doch dann sein, dass das Virus es doch mal schafft zu
dominieren.
Bleiben wir bei diesem Beispiel, dieses Tier, dieses Ungeheuer, als das ich dieses Virus
bezeichne: In dem Moment, wo ich mich ganz bewusst meinen Stimmungen auch hingebe,
auch den schlechten und tiefen, und diese Abstürze erlebe, gebe ich dem Drachen Futter.
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Mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger, aber kontrolliert, und es ist satt, gesättigt.
Würde ich ihm das verweigern, würde es irgendwann so hungrig werden, dass es mich
frisst, ganz schnell. Und das möcht ich nicht. Ich kann dieses Aids nicht verdrängen, ich
kann dieses Ungeheuer nicht kaltstellen, es lebt in mir, es lebt mit mir, Tag und Nacht. Ich
kann es nur füttern und versuchen, mit ihm alt zu werden.
Das heißt, das Virus ist zwar dein Feind, aber du hast nur eine Chance, wenn du es nicht
andauernd als Feind siehst, sondern als Partner akzeptierst.
(Pause) Ich kann, wenn man sich das so als Bild vorstellt, nicht vor einer Mauer ohne Tür
stehen und dagegen rennen. Ich renne mir den Schädel ein, und ich bleibe irgendwann erschöpft davor liegen. Ich kann versuchen die Mauer anzuheben oder sie langsam zu untergraben, mit ihr eins zu werden. Weil bekämpfen und wegkriegen dadurch kann ich sie niemals. (leicht lachend) Das war, glaub ich, mein größter Lernprozess mit Aids.
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Die Piaf wird für mich singen
Die Inszenierung
einer Beerdigung
Wann würdest du gern sterben wollen, in welcher Jahreszeit?
(spontan) Im Frühling! Wenn ich schon sterben muss, (lacht) dann nur im Frühling.
Da beginnt alles.
Richtig! Frühling ist Aufbruch zu Neuem. Wenn alles herausbricht zu neuem Leben. Da
schafft es selbst das zarte grüne Blatt des Krokus’, sich durch die verkrustete, vom Winter
gehärtete und ausgetrocknete Erde durchzudrücken, sie zu sprengen. Es schafft sich seinen
Weg nach oben.
Das ist der Frühling für mich: Neuer Anfang! Neubeginn! Auf zu neuen Ufern!
Hat das nicht etwas Unvollendetes?
Alles, was neu beginnt, hat etwas Unvollendetes! Vollendet ist es erst dann, wenn’s abgeschlossen ist. Ich denke, mit dem Tod ist etwas abgeschlossen, was mit dem Tod auch neu
beginnen kann.
Und wenn dein Tod jetzt mehr wie der Herbst ist oder wie der frühe Winter? Und du doch
trauriger bist als du jetzt denkst?
Lass es mich mal so beschreiben: Das Leben ist wie der Sommer, frisch, manchmal stürmisch, manchmal Gewitter (lacht), aber schön, hell und klar. Dann kommt der Herbst. Da
heißt es Abschied nehmen, da fällt das Laub, man wird viele Dinge lassen müssen, aber es
wird auch farbenfroh sein, und es wird nicht viel bleiben. Dann kommt der Winter. Das
Sterben hat auch was vom Winter, von Kälte, von Zudecken, von Sich-Schließen. So wie
der See sich unter einer Eisdecke verschließt, so schließt sich auch das Leben im Winter.
Aber der Tod selbst, das ist der Frühling. Das ist Herausbrechen und Starten zu neuen Dingen, zu neuen Ufern, da schmilzt das Eis, da fängt was Neues an. Der Kreislauf erwacht zu
neuem Leben!
Und was bleibt von dir hier?
Was von mir bleibt sind, glaub ich, Eindrücke, sind zwei Bücher ... nein, Quatsch - es
werden viele Bücher sein! (lacht) Mehr nicht.
Hast du dir Gedanken über deine Beerdigung gemach
Ja. Angefangen natürlich bei den Gedanken an den Tod, an das Sterben, wie das sein
wird, bis aber auch dahin, wie es danach sein wird. Was gibt es zu regeln? Was ist zu bedenken? Was wünsche ich mir? Über all das hab ich mir Gedanken gemacht.
Hast du dir schon deine Todesanzeige konkret vorgestellt?
Ja!
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Wie soll sie aussehen?
Groß soll sie sein! Mein Abgang soll so wie mein Leben sein: groß und prägnant. So wie
ich in meinem Leben sage: Ich bin da. Ich lebe! (auflachend) Es klingt etwas witzig, aber
das soll auch vielleicht durch meine Todesanzeige signalisiert werden: Er war da! Er hat
gelebt! Überschrift: »Gekämpft, verloren und doch gewonnen! Markus Commerçon ist an
den Folgen von Aids gestorben!« Wenn es dann so sein soll.
Und der Grabstein?
Manchmal, wenn ich bei Wolfgang am Grab bin und über den Friedhof wandere, sehe ich
so kitschige schmiedeeiserne Kreuze, an denen Rosen hochwachsen. (lacht, dann, immer
noch belustigt) Da steh ich manchmal davor und denke mir: So kitschig, wie das aussieht,
ach, aber irgendwo find ich das schön. - Aber wer soll die Rose gießen? Und dann denk ich
mir wieder an manchen Tagen: Praktisch, klein und schlicht, aber hell muss es sein, wie
alles.
Inschrift?
Über die Inschrift habe ich mir noch gar keine so konkreten Gedanken gemacht. Aber
schon in der Richtung: Was bleibt ist die Liebe! Und dann der Name, aber keine Zahlen,
denn das blieb mir von Wolfgang: Wolfgang wollte auf seinem Grabstein keine Jahreszahlen, er hat immer gesagt: »Nicht, dass die Leute irgendwann davor stehen bleiben und sagen, ha, der war aber noch jung!« Und das möcht ich bei mir genauso wenig. Denn ich habe
das Gefühl, auch wenn ich mit 32 sterbe oder mit 33, ich bin nicht mehr jung!
Du sagst das mit so einer Festigkeit, Leichtigkeit würd ich’s nicht nennen, aber mit so einer Festigkeit, mit einer, vielleicht kann man es Fassung nennen. Ist das nicht auch so ein
bisschen wie ein Pfeifen im Walde, sich so konkret darüber Gedanken zu machen und damit
auch Schrecken zu verjagen, weil man sich das Gefühl gibt, auch das im Griff zu haben?
Natürlich macht das Sterben Angst. Klar, es ist zum einen wie ein Pfeifen im Walde. Ein
Verprellen der Angst vor dem Tod, indem man sich das ganze konkret vorstellt, indem man
das ganze auch über den Tod hinaus plant. Viele Menschen mögen es als grausam empfinden, sich Gedanken über die eigene Beerdigung zu machen. Sich zu fragen, welchen Sarg
möchte ich, welche Blumen, welche Musik? Dann denke ich wieder an das Erleben mit
Wolfgang. Ich fand es natürlich schlimm, als er mir sagte, welchen Grabstein er gerne hätte.
Als er aber gestorben war, hat es mir unglaublich viel Trost gegeben, all das so erledigt zu
haben, wie er es sich gewünscht hat. Also mich nach dem Tod nicht fragen zu müssen, will
er jetzt einen roten, einen gelben, einen grünen Grabstein, nein, zu wissen, er will einen
weißen. Ich denke, dass ich es durch die Planung meiner Beerdigung allen Hinterbliebenen
leichter mache.
Ich hab manchmal den Eindruck, so wie du sagst, dafür steht Markus Commerçon im Leben, so soll die Todesanzeige aussehen, groß, das ist der Grabstein, dass du dich manchmal
wie ein Künstler von außen betrachtest, dir das Kunstwerk anschaust, daran feilst, so
Schritt für Schritt, Intuition für Intuition. Verstehst du dabei überhaupt, dass es um dich
geht?
Ich glaube, all diese Überlegungen kann man nur mit einer »künstlerischen Distanz« planen, in Angriff nehmen und sich angucken.
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Würdest du dich gegen den Begriff »inszenieren« wehren?
Nein!
Wie inszenierst du deine Beerdigung?
Ich kann sie nicht inszenieren, ich kann nur meine Wünsche an Menschen weitertragen,
wie ich die Beerdigung gerne hätte. Ob ich sie erlebe, weiß ich ja nicht. (lacht) Ich wünsche
es mir. Aber wie inszeniere ich sie?
Die Dramaturgie, die Details.
Das ist so schwankend. An manchen Tagen wünschte ich mir, in aller Stille beigesetzt zu
werden. So groß wie mein Leben war, so still sollte der Abschied sein. Dann gab es ein Erlebnis in diesem Jahr: Im Oktober ist ein Freund gestorben, (Pause, dann traurig) von dessen Tod ich erst am Tage seiner Beerdigung erfahren habe. Es war mir nicht möglich, auf
seine Beerdigung zu gehen, weil die Verwandten das in aller Stille abgewickelt haben. Ich
bin an diesem Tag durch die Stadt gelaufen und habe mich, gefragt: Wie war sein Sterben?
Wie ist seine Beerdigung? Und ich hatte das unglaublich starke Bedürfnis, an dieser Feier
teilnehmen zu wollen, um Abschied nehmen zu können, um mich auf meine Weise mit dem
Sarg, mit den Umständen, mit den ganzen Begleiterscheinungen, verabschieden zu können.
Es war mir aber nicht möglich, und das empfinde ich immer noch als Defizit: Nicht zu wissen wie war sein Tod, nicht zu wissen, wie war sein Sarg, wie waren die Blumen. Mir fehlt
dieser Abschluss. Und das ist das, was mich dazu verleitet, an vielen Tagen zu sagen, nicht
so groß wie mein Leben, so still soll der Abschied sein, sondern so groß wie mein Leben, so
groß soll auch mein Abschied sein. Man hat mit einem Leben, das man hinterlässt, auch
eine gewisse Verantwortung, und diese Verantwortung sehe ich auch darin, den Menschen,
die mich kennen gelernt haben, auch einen angemessenen Abschied zu ermöglichen, in
Form einer Beerdigung, einer Abschiedsfeier.
Welche Musik wird zur Feier gespielt.
Es wird dramatisch sein. (lacht) Es wird bestimmt dramatisch sein, denn ich möchte den
Menschen die Möglichkeit geben, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen, und das kann man
mit Musik sehr gut.
Welche Musik? An was denkst Du?
Ich denke an die Musik, die mein Leben begleitet hat, an Edith Piaf, an ihr Lied »Non, je
ne regrette rien!« Ich bedaure nichts, ich bereue nichts, non, je ne regrette rien! Dieses Lied
ist toll, denn es spiegelt genau das wider, was mein Leben ausmacht. Ich kann heute sagen,
trotz Aids, trotz aller Höhen und Tiefen, ich bereue nichts! Und wer sollte besser dieses
Lied singen können als Edith Piaf.
Möchtest du eingeäschert oder im Sarg beerdigt sein?
Als Kind hätte ich mir nie vorstellen können, eingeäschert zu werden. Für mich war Feuer
immer etwas Furchtbares. Heute, vielleicht als Quintessenz meines Lebens mit Aids, dem
Körpergefühl, und alldem, was daraus entspringt, sage ich: Ich möchte mich verbrennen
lassen. Das hat auch was damit zu tun, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass mein Körper
unter der Erde vermodert, dass er nach ungefähr sieben Tagen mit einem (angewidert)
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Schimmel überzogen sein wird, (sachlich) dass Maden meinen Körper zerfressen. Eine Einäscherung ist eine saubere Lösung. Wolfgangs Beerdigung war die erste Urnenbestattung
die ich erlebt habe. Ich weiß nicht, ob mir der Abschied von Wolfgang so leicht gefallen
wäre, wenn ich gewusst hätte, da, zweieinhalb Meter unter mir, da fault er vor sich hin. Mit
jedem Nachrutschen der Erde zu wissen, das war’s, wieder ein Stück weg. Und so empfand
ich diese Urne, die da vor mir hergetragen wurde, diese 100, 200 Gramm Asche, die da drin
sind, als sauberen Schluss. Mehr bleibt nach Jahren sowieso nicht, eine Einäscherung ist nur
ein Zeitraffer dessen, was bleibt.
Wenn du dir den Gesichtsausdruck der Menschen, die an dieser Feier teilnehmen, wünschen könntest: Was sollte der ausstrahlen, wie sollte der aussehen?
(Pause) Ich erinnere mich an den Satz, den ich zu meinen Eltern gesagt habe, als ich ihnen mitteilte, dass ich HIV-positiv bin: »Ich möchte nicht, dass ihr irgendwann an meinem
Bett sitzt, traurig seid und euch leid tut. Und so möchte ich auch nicht, dass irgend jemand
an meinem Sarg sitzt und sich selbst bedauert, weil er mich nicht mehr hat. Ich möchte,
dass sie traurig sind, vielleicht, ja, weil ich denke, ein Verlust eines geliebten Menschen,
eines Menschen den man mag hinterlässt Schmerzen, hinterlässt Trauer, hinterlässt eine
Lücke. Und die gilt es auch wahrzunehmen, die gilt es auch zu spüren, die gilt es auch zum
Ausdruck zu bringen durch Tränen.
Die befreien?
Tränen befreien, absolut. Tränen lösen. Aber es gilt es auch dann, nach einer gewissen
Zeit, sich wieder dem Leben zu stellen. Markus Commerçon wird in Gedanken weiterleben,
in Form von Büchern, in Form von dem, was er angerichtet hat, aber er wird Vergangenheit
sein, auch das ist Fakt. Und so wünsche ich mir Momente der Besinnung, die sich widerspiegeln in Gesichtern, nachdenklich. Aber ich wünsche mir auch Menschen, die aus dieser
Friedhofshalle herausgehen, sich von den Frühlingsstrahlen der Sonne küssen lassen und
sagen: »Und weiter geht’s! Das war sein’s, und für uns geht es weiter.« Es gilt, denke ich,
nicht traurig zu sein über das Verlorene, es gilt dankbar zu sein für das, was wir gemeinsam
hatten. Und alles hat seine Zeit. Alles im Leben ist begrenzt!
Welche Farbe hat dein Sarg?
(sehr spontan) Hell! Hell!! Nur hell!!
Weiß?
Nein, weiß ist ja Unschuld! Und unschuldig bin ich ja nicht mehr. (lacht herzlich) Nein,
er sollte hell sein, schlicht und hell, ohne viel Geschnörkel, ohne Palmen drauf oder sonst
irgend etwas.
Kein Gesteck?
Nein, kein Gesteck!
Keine Rosen?
Die Rosen sollten vor dem Sarg stehen, das wünsch ich mir! Der Sarg soll schlicht sein,
ohne Ornamente, er soll hell sein. Auch kein Kreuz drauf. Nein, gar nichts. Vor meinem
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Sarg sollten Rosen stehen, langstielige, schöne tolle rote Rosen! Und die Menschen sollten,
wenn sie an meinem Sarg vorbeigehen, wenn die Feier vorbei ist und ich dann zur Einäscherung weggefahren werde, dann sollten sie sich eine Rose mitnehmen. Was sie damit
machen, (lacht) ist mir egal. Sie sollen sie mitnehmen als Zeichen der Liebe und als Zeichen des Lebens.
Und als ein Stück von dir.
Als ein Stück von mir! Denn mein Wunsch war es, dass es für mich rote Rosen regnet,
und es hat ja auch rote Rosen geregnet. Und in dieser Form möcht ich auch Abschied nehmen, für andere, aber ich möchte es hell, absolut hell! Der Tod ist nichts düsteres, ich
möchte keinen Mahagonisarg, um Gottes willen, ich würd mich ja umdrehn in der Kiste!
Ist der Tod dann anders als das Leben? Denn da ist hell und dunkel bunt gemischt.
Mit dem Tod verbinden sich für mich Wünsche. Ich weiß nicht, ob der Tod dunkel ist. Ich
weiß, dass das Leben dunkel sein kann, ich weiß, dass das Leben auch hell sein kann. Aber
an den Tod kann ich nur Wünsche äußern, und ich wünsche mir, dass er hell ist.
Möchtest du aufgebahrt werden?
(spontan) Nein! Ich möchte, dass der Sarg zu bleibt, wenn ich tot bin! Ich möchte nicht,
dass irgend jemand, der mir begegnet ist, dann noch aus Voyeurismus an meinem Sarg steht
und entsetzt sagt: »Ach, das ist er ja gar nicht mehr!« oder »Oh je, oh je!« oder irgendwie.
Da hat das Knipsen ein Ende.
Da hat das Knipsen ein Ende. Ausgeknipst! Deckel zu! Schluss! Ja, ich würde mal sagen,
dann ist das Bühnenlicht erloschen. (Pause) Ich möchte, dass mich Freunde sehen, wenn sie
das wollen.
Wer soll denn nah sein, welche Menschen?
(Pause) Ich glaube, nah werden alle sein, die da sind an dieser Beerdigung, weil sie alle
mich auf irgendeine Weise kennen gelernt haben, weil sie mir begegnet sind. Ich glaube,
dass mir natürlich die Menschen besonders nahe sind, die diesen letzten Weg mit geprägt
haben, meine Freunde, meine Familie vielleicht. Ich glaube auch, dass die, die mir nah sind,
mich tot gesehen haben werden. Und das reicht. Allen anderen habe ich mein Leben gezeigt. Tod ist Intimsphäre, ist Privatsphäre, die möcht ich nur für mich und meine Freunde.
Du sagst das so fest und hast aber Tränen dabei in den Augen, was ist das für eine gemischte Stimmung, wenn du daran denkst?
(Pause) Es ist dieses Gefühl der Ungewissheit, die Fragen, die mir niemand beantworten
kann.
Welche Fragen hast du?
Ob ich bei meiner Beerdigung dabei sein werde. Werde ich in irgendeiner Ecke sitzen, als
Geistlein, als Lichtlein? Wo werde ich sein? Was werd ich sein? Wie wird das Empfinden
sein? Und nichts stelle ich mir schlimmer vor, als als Geistlein in der Ecke zu sitzen, einen
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mahagonifarbenen Sarg zu sehen, in dem ich drin liege, und mir zu sagen: »Verdammte
Scheiße, was haben die mir denn hier ausgesucht, den wollt ich ja nie!« Und deswegen find
ich es gut und wichtig und für mich beruhigend, auch meine Beerdigung zu planen und zu
inszenieren.
Hast du, dein Testament gemacht?
Im Kopf, ja, in Gedanken ja, aber schriftlich noch nicht.
Warum noch nicht schriftlich?
Ich glaube, wenn die Zeit reif ist, werde ich mein Testament machen. Ich glaube, wenn die
Zeit reif ist, werde ich verteilen. Ich hab im Moment nicht das Gefühl, bald zu sterben und
denke, dass ich deswegen auch kein Testament machen muss.
Denkst du daran, auch die Details deiner Inszenierung schriftlich festzuhalten? Wie willst
du deinen Wunsch hinterlassen?
Wie ich meine Beerdigung möchte, das wird mit Freunden besprochen sein, und es wird
auch durch dieses Buch festgehalten. Lass es uns doch Vermächtnis nennen. Und ich glaube, ich habe das Vertrauen, dass sich meine Eltern, sofern sie mich überleben, (lacht) an
meinen Wunsch halten werden, da bin ich mir sicher.
Denkst du auch daran, dass du dich einsam fühlen könntest?
Nach dem Tod?
Ja.
Nein, habe ich noch nie dran gedacht! (Pause) Im Gegenteil, ich stelle mir das eigentlich
eher als was Geborgenes vor, als ein Gut-aufgehoben-Sein in etwas Größerem.
Wo möchtest du beerdigt werden, in Ulm?
(zögernd) Das ist eben die Frage, die ich noch nicht beantworten kann, weil mein Leben
ja noch nicht beendet ist und ich ja nicht weiß, wo mich mein Leben noch hinführt. Zum
einen sage ich mir, ich möchte nach Ulm, hier hatte ich die schönste Zeit, hier hatte ich die
größten Erfolge, hier bin ich ein Stück weit verwurzelt. Hier weiß ich, dass einige Menschen bestimmt mein Grab besuchen werden, hin und wieder an mich denken, Ulm!
Dann denke ich manchmal, auch in Verantwortung für die Hinterbliebenen, wie wird es
für meine Eltern sein, den Sohn in einer Stadt beerdigt zu wissen, die drei, vier Stunden
entfernt liegt? Dann frage ich mich, ob es nicht besser wäre »nach Hause« beerdigt zu werden. Wenn ich mir das wieder so überlege, wo ist mein Zuhause? Mein Zuhause ist nicht im
Saarland, wo ich groß geworden bin, mein Zuhause ist hier in Ulm, da möcht ich hin, da
möcht ich bleiben. Dann wiederum denke ich mir, es ist so unwichtig, (betont) es ist so unwichtig, wo das kleine Kästchen mit diesen 200 Gramm Markus Commerçon hinkommt!
Weil, das ist es nicht.
Was dann?
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Was bleibt, ist die Nähe, was bleibt, ist die Erinnerung, der Austausch, die Wärme, die
Liebe, die Freundschaft, die Gedanken, die guten Dinge, die man sich getan hat. Was bleibt
ist nicht die Urne mit der Asche! Das ist das Endprodukt eines Kreislaufs, eines Mechanismus, aber es ist nicht das, was mich ausmacht, und es ist bei weitem nicht das, was wichtig
ist. Und daher kann ich nur sagen, ich könnte mir auch vorstellen, irgendwo anonym in einem Gräberfeld beigesetzt zu werden. Aber ich glaube, vielleicht wird es für meine Eltern
einmal wichtig sein, mein Grab aufzusuchen, dort zu trauern. Ich finde es auch wichtig, eine
Anlaufstelle zu haben, wo man trauern kann. Und während wir dann so reden denke ich, da
muss ich ja fast in Ulm beerdigt werden, weil, die Menge der mich unterstützenden und
tragenden Menschen und Gedanken sind in Ulm und Umgebung.
Kränze? Ruhe sanft? Als letzten Gruß?
(lacht) Was soll ich darauf antworten? (Pause) Auch da bin ich so ambivalent in meinen
Gedanken, dass ich mir zum einen vorstelle, total viele Kränze zu haben, wunderschöne
Sträuße mit Frühlingsblumen - um Gottes willen, das möcht ich gleich vermerken, bitte
keine Chrysanthemen und bitte keine roten Nelken! Ich finde das grausam, das sind so die
typischen Friedhofsblumen ... bunt und frisch und frühlingshaft sollen meine Blumen sein.
Als Kranzaufschrift, da denke ich so an die, die ich für Wolfgangs Kranz gewählt habe:
»Danke für die Zeit! Markus!« Solche Sprüche würde ich mir wünschen, zum, einen. Und
die andere Seite dieser Ambivalenz ist die, dass ich denke: »Ach, um Gottes willen, Markus. Kränze? Die sollen das Geld der Aids-Hilfe stiften, da tun sie ein gutes Werk!« - Die
Kränze vermodern, die Kränze verrotten und gehen irgendwann auch wieder ihrem natürlichem Kreislauf entgegen. Ich bin da so im Zweifel zwischen Ästhetik, Eitelkeit, Anspruch...
Da schließt sich der Kreis.
Ja, da schließt sich der Kreis! ... und zum anderen zwischen Praktisch-Sein, Effektivität
und Nutzen für eine gute Sache.
Empfindest du die Form, wie wir hier über deine Beerdigung reden – ich finde gar keine
Worte dafür - findest du das normal?
(sehr sachlich) Das Sterben ist für mich ein Stück Normalität geworden! Für Menschen,
die dieses Kapitel lesen oder für dich hier, im Gespräch, mag das unnormal, pervers klingen.
Ich hab nur nach Normalität gefragt.
Normal ist es bestimmt nicht! Ich war noch nie normal (lacht) und werde es auch nie sein
wollen! Aber ich glaube auch, dass mir dieses Wissen darum, dass ich alles geregelt, alles
erledigt und mein Haus bestellt habe auf dieser Welt, dass mir das vielleicht irgendwann
das Sterben erleichtert.
Aber du hast doch noch soviel vor, jetzt hör doch auf!
(nachdrücklich) Ich sage nicht, und das möchte ich mit aller Vehemenz unterstreichen,
dass wenn ich heute hier meine Beerdigung inszeniere, (empört) dass ich dann ans Sterben
denke. Da bin ich weit davon weg! Aber ich könnte ja auch morgen durch einen Autounfall
sterben, ich könnte über die Straße gehen, überfahren werden. Ich könnte einen Herzinfarkt
kriegen, was bei meinem Stress überhaupt kein Wunder wäre. Ich möchte damit nur un54
terstreichen: Ich denke, wenn ich hier mit dir über meine Beerdigung rede, in keiner Sekunde daran, dass ich nächstes Jahr sterben werde, dazu bin ich energetisch viel zu voll da und
spüre viel zuviel! Aber ich möchte dann, wenn es mich schneller trifft als ich damit rechne,
(eindringlich, erregt) wenn dieses Ungeheuer Aids, dieses Ungeheuer Leben mit dem Tod
plötzlich aufwartet und sagt: »Da bin ich, ich will dich!« dann will ich sagen können:
»Okay, mein Freund, du bist voll einkalkuliert!« - Ich weiß, wie ich’s will, und ich weiß,
wie ich’s arrangiert hab!
Kann man dann sagen, du hoffst, noch möglichst oft an Beerdigung zu denken und wie du
die jetzt ...
(amüsiert) Oh, ja, vielleicht singt in zehn Jahren Milva oder Caterina Valente oder Heino,
(lacht) stell dir das mal vor!
Vielleicht doch ein Mahagonisarg.
Vielleicht dann ein Mahagonisarg, vielleicht ändern sich ja in zehn Jahren auch meine
Wünsche, wer weiß? Heute bin ich 31, und heute stelle ich mir meine Beerdigung so vor.
Und wenn ich nächstes Jahr vielleicht mein drittes oder viertes Buch mache, dann könnte
dieses Kapitel ganz anders lauten. Vielleicht würde ich mich dann sogar einbalsamieren
lassen, würde auf ein Mausoleum bestehen, (lacht herzlich) das ist doch geil! Aber heute
sag ich mir: »Lass mal gut sein, Markus Commerçon, so machen wir das!«
Fassen wir zusammen: Du bist gestorben, deine Beerdigung ist vorbei, die Leute treffen
sich zum Leichenschmaus. Hast du als Bäckermeister schon deine Kuchenauswahl getroffen? Wie sollte der Leichenschmaus sein ?
Ich war immer schon ein Verfechter von frischen Produkten. Infolgedessen erübrigt sich
die Frage, ob die Kuchen schon vorbestellt sind. Aber der Leichenschmaus sollte fröhlich
werden. Er sollte, wenn das Stadthaus frei wäre in Ulm, im Stadthaus stattfinden. Er sollte
dort sein, wo ich die schönsten und stressigsten, aber auch die größten Momente meines
Lebens feiern konnte. Alle Menschen sollten kommen. Sie sollten zurückschauen, vielleicht
sollten ein paar Dias gezeigt werden, schöne Fotos, Lachfotos. Es sollte keine Traurigkeit
da sein, es sollte eine bunte Mischung sein aus Leben, aus gesellschaftlichen Strukturen, aus
Gesichtern und Facetten. Schwule, Heteros, Lesben, Kritiker, Freunde, Feinde, Verwandte,
Exlover, Tunten, Ledermänner, alle sollten da sein! Einfach das Leben um Markus Commerçon noch einmal versammeln. Smalltalk auf der Galerie des Stadthauses und sich daran
erinnern, nach dem Motto: »Oh, zickig war der Alte, bockig war er, er hatte einen Drang
zur Selbstdarstellung, war pressegeil. Kaum ein Mikro in der Hand, konnte man ihn nicht
mehr ertragen, es war grausam – aber schön war’s!« (lacht wieder herzlich)
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Das Sterben,
der Kraftakt des Lebens
Vom Festhalten-Wollen
und Loslassen-Müssen
Beim Sterben, beim Tod, geht es um abschiednehmend, um loslassenmüssen. In welcher
Situation hast du zuletzt ans Sterben gedacht?
(spontan) Heute morgen! Kathrin hat angerufen, dass ihre Schwiegermutter gestorben ist.
Sie hatte Lungenkrebs war 63 oder 64 Jahre alt und ist erstickt. Und der Satz von Kathrin
auf meinem Anrufbeantworter hängt mir noch nach: »Der Tod kommt als Erlösung, aber bis
er kommt ...« Da hab ich an mein Sterben gedacht. Fragen, mit denen ich mich immer wieder, immer wieder mal beschäftige: Wie wird es sein, das bisschen Sterben? Wie lange dauert es, Wo führt es mich hin? Wo wird es enden? Ich habe heute morgen das letzte Mal an
Sterben gedacht. Ich denke jeden Tag irgendwann mal ein bisschen ans Sterben.
Aber wahrscheinlich nicht jeden Tag gleich. Nicht jeden Tag mit dem gleichen Gefühl.
Natürlich nicht jeden Tag mit dem gleichen Gefühl. An manchen Tagen hab ich auch dem
Tod gegenüber eine Gelassenheit. Wenn das Tagesziel erreicht ist, wenn es ein schöner Tag
war, ich zufrieden bin, wirklich zufrieden bin, dann wünsch ich ihn mir auch manchmal.
Jetzt könnt er kommen?
Ja! So eine Todessehnsucht. Zu sagen: Jetzt komm endlich, komm endlich, du kommst ja
sowieso irgendwann! – Und an anderen Tagen denke ich: Bleib mir bloß von der Pelle, du
Scheißtod! Ich brauch dich nicht, ich kann dich nicht brauchen, und du passt mir gar nicht
in meinen Kram!
Man denkt jeden Tag ein bisschen anders über’s Sterben, über den Tod, und wenn ich
höre, dass Kathrins Schwiegermutter, Norberts Mutter, erstickt ist und einen nicht so schönen Tod hatte, dann macht es mir Angst.
Jetzt sehe ich das zum ersten Mal, ich meine, wir haben hier oft gesessen, auf der Couch,
und jetzt wo du über’s Sterben redest, kommt dein Hund und setzt sich zu dir, kuschelt sich
an dich, so als ob er sagen wollte: »Ja, jetzt ,brauchst du mal Trost.«
(lacht) Das ist das Tolle irgendwie an diesem Tier. Irgendwie ist es toll, ist es traumhaft,
aber irgendwo, glaube ich, wird auch er, mein Hund, und die wirklich innig gelebten
Freundschaften, die ich habe, mir das ganze auch vielleicht schwerer machen.
Das Loslassen schwerer machen.
Ich glaube, dass viele Dinge, die einem das Leben schön machen, Freunde, Begegnungen,
dass es die einem ja dann auch schwer machen, das Leben loszulassen, weil man ja gerne
festhalten möchte an all den schönen Dingen, die man erlebt hat, an all den schönen Erinnerungen und Erfahrungen, die man mit Menschen und Tieren gemacht hat, die man einfach
mit Seelen gemacht hat. Ich denke da auch an Wolfgangs Sterben.
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Das war grausam teilweise.
Es war grausam, aber doch auch irgendwo, im Vergleich zu anderen Sterbenden, schön.
Ich sage immer, Wolfgang hat sich gut aus dem Staub gemacht, oh Gott, da hab ich Menschen anders sterben sehen. Länger, qualvoller, festhalten wollend am Leben, weil wenig
geklärt war, weil vielleicht wenig geregelt war. Wolfgang hat mal zu mir gesagt, als Entschuldigung für sein störrisches und widerliches Verhalten: »Vielleicht gelingt es dir ja
dann besser, von mir Abschied zu nehmen.« Und ich frage mich schon selbst oft für mich,
wie wird es sein, dieses Loslassen, weil ich glaube, das ist wahrlich der größte Kraftakt eines Lebens. Nach einem vollendeten Leben von all dem lassen zu müssen, was man sich
erarbeitet, erwirtschaftet (betont) und so oft so mühsam erkämpft hat. Den freien Fall zu
erleben ins Nichts, der für uns alle kommt, irgendwann.
Du hast gesagt, an manchen Tagen, in manchen Momenten, sagst du: »Ja, komm doch,
Tod, komm doch!« Und jetzt hast du vom vollendeten Leben gesprochen. Glaubst du, der du
dir ja auch immer wieder neue Ziele setzt, dass du dein Leben irgendwann mal als vollendet
begreifen kannst?
(lachend) Eine verdammt gute Frage! Wann ist ein Leben vollendet? Das schwankt. Das
schwankt so total, an manchen Tagen einfach zu denken ... (mit unsicherer, brechender
Stimme) und es macht mich jetzt auch total traurig ... lieber Gott, ich bin doch erst 31, ja,
irgendwie zu sagen: Du lieber Gott, ich bin doch erst 3l! (etwas fester) Aber dann auch festzustellen, ich hab ja alles gehabt, was man sonst mit 80 hat! Ich hatte Ehe, ich hatte Beziehung, ich hatte Haus, ich hatte Erfolg, ich hatte Beruf, ich hatte Karriere, ich habe Krankheit, ich hatte Tod des Partners. Es war alles da, es war alles vertreten, in nur 31 Jahren.
Das, was andere mit 80 erleben, hatte ich bereits 50 Jahre vorher, mit genau denselben Tiefen und Qualen und Freuden und Höhen!
Aber du hattest so viel weniger Zeit, zur Ruhe zu kommen und all das auch mal ...
Aber das ist auch das, was ich mir oft so wünsche: (Pause) Ruhe! (leicht lachend) Mein
Gott, manchmal fühl ich mich wie eine ruhelose Seele, die so umherirrt. Ich glaube ganz
fest an Reinkarnation, an ein Wiederkommen (lachend) Aber das, was ich immer wieder
sage, ist: Lieber Gott, lass mir erst mal ein paar Jahre Ruhe! - Ich habe letztens mit einer
Freundin gesprochen, die gemeint hat, sie hätte von einer neuen Reinkarnationstheorie erfahren, dass man bereits nach wenigen Wochen wiedergeboren werden kann. Meine spontane Reaktion war: »Um Gottes willen, also lass mich erst mal ein paar Jahre aussetzen. Ich
hab erst einmal die Schnauze voll!«
Du hast in den letzten Minuten so oft wie noch nie »lieber Gott« gesagt.
(Pause) Weil ich glaube, dass auch Glauben für mich was Existenzielles ist. Ich glaube
nicht an die institutionalisierte Kirche, (sehr betont) ich glaube nicht, und das sag ich mit
allem Nachdruck, ich glaube verdammt noch mal nicht an das, was die institutionalisierte
Kirche aus der Lehre Jesu Christi gemacht hat. Ich betone das Wort »gemacht hat!« (ruhiger) Aber ich glaube, ich wünsche, ich hoffe, (Pause) dass es so was gibt wie göttliche Geborgenheit, Sein-Können, und ich wünsche mir auch dieses Aufgefangenwerden, wenn dieses Erdendasein ein Ende hat.
Das hört sich so an als würdest du dir für nach dem Tod etwas wünschen, was du bisher
noch nie gehabt hast.
57
Ja, es ist vielleicht diese Ruhe. Es ist das, um was ich Wolfgang so beneidet habe, als er
gestorben war. Ich habe Wolfgang beneidet! Und ich beneide viele meiner Freunde, die
schon gestorben sind, weil sie, glaube ich, diese Ruhe haben. (eindringlich) Dieser Gesichtsausdruck, als Wolfgang tot war, als ich andere Freunde tot gesehen habe, diese Ruhe,
diese Gelassenheit in ihren Gesichtern, die entschädigt hat für all die Todesqualen vorher,
das gibt mir auch so was wie Hoffnung und Mut, dass auch ich dann meine Ruhe finden
kann, meine Ruhe habe und nicht mehr diesem Stress ausgesetzt bin, alles immer und fortwährend unter Kontrolle haben zu müssen.
Du hast Todesqualen genannt, die Freunde von dir durchgemacht haben, du hast auch
Sterbebegleitung gemacht, Menschen in den Tod begleitet, welche Qualen sind das?
Es ist diese Frage, die man sich stellt, wenn man an so einem Bett steht: Warum lebt so
etwas noch, warum atmet so etwas noch, was völlig untergewichtig, blau verfärbt, von Tumoren übersät, abgemagert bis zum Skelett vor dir liegt? Was hält ihn noch, verdammt noch
mal, was hält ihn noch zurück? Und das ist es auch, was mir Angst macht. Wie wird mein
Sterben sein, frage ich mich oft. Egal, ob das mit 30, mit 80, mit 100 ist, das ist ja egal! Es
wird kommen, für jeden! Und es ist diese Frage, auf die man einfach keine Antwort findet.
Weil du nicht weißt, was geht in diesem »so etwas« vor.
Ja, ich frage mich oft, was fühlt man, was denkt man, nimmt man wahr? Hört man das,
was gesagt wird? »Herr Doktor, wie lange geht’s denn noch?« Wie fühlt man, wenn man so
was hört? Und auch die Frage, wie wird das sein, dieses Loslassen?
Sprechen wir es doch auch einmal aus: Du, der Kontrolle sucht, du, der alles im Griff haben möchte, der kann schwach werden, der kann ohnmächtig werden, dem kann’s so gehen
wie Wolfgang, dass er ins Bett nässt, dass er selbst den Stuhlgang nicht mehr unter Kontrolle hat, dass er vielleicht sogar seine Gedanken nicht mehr kontrollieren kann.
(verzweifelt, sehr eindringlich) Genau das ist der Punkt: Wenn ich denke, Wolfgang
musste nachts aufs Klo, und er hat sich aus diesem Bett gequält, er ist auf dem Boden gerutscht, um aufs Klo zu kommen, er hat mitten ins Zimmer gemacht, auf dem Weg zum Klo
und saß völlig hilflos in seiner Scheiße. Ich denke, dieses Sterben hat auch so was Würdeloses. Es hat zum einen etwas derart Entwürdigendes, zum andern aber auch so etwas faszinierend Großes, was ja schon eine Perversion in der Aussage als solcher ist! Und dann
komm ich wieder an so einen Punkt, wo ich denke, fünf Jahre bin ich nun schon HIVpositiv, so viele sind schon gestorben, so viele Facetten des Todes habe ich erlebt, dass ich
auch manchmal so was wie Neugier empfinde. Wie wird’s bei mir sein, komm, lass es mich
erleben! Es ist eigentlich pervers. Zum einen diese Sucht nach Leben, (erregt) dieser unglaubliche Drang nach Entwicklung, nach Fortschritt, nach Wachstum, nach Wissen, (ruhiger, zusammensinkend) und zum andern auch das Gefühl: Jetzt lass es in Gottes Namen und
endlich vorbei sein, dieses bisschen Leben.
(betonter) Ich glaube, dass sterben Kraft kostet, es ist genauso ein kraftvoller Akt wie eine
Geburt, genauso wie eine Frau die Schmerzen der Geburt erlebt und erleidet, und genauso
wie ein Kind auch diesen Druck erleidet, aus. der Vagina heraus in dieses grelle, kalte Etwas zu stürzen was wir Leben nennen, was wir Welt nennen, genauso glaube ich, ist das
Sterben ein Kraftakt. Für den, der es durchmacht, und für die, die dabeisitzen und nichts tun
können, als sich ihr eigenes Sterben vor Augen führen zu lassen. Ich glaube, dass die Geburt und der Tod die kraftraubendsten, aber auch kraftgebendsten Momente eines Lebens
darstellen.
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Ich frage mich auch, (lauter) was wird mich halten? (verzweifelt) Und ich habe Angst davor, dass mich zuviel hält, dass es mein Sterben verlängert, dass es meine Schmerzen verlängert, dass es meine Qualen verlängert und auch meine Demenz, die ich vielleicht habe!
(ruhiger) Und ich wünsche mir nichts mehr, ich wünsche mir nichts mehr ... ich möchte es
anders ausdrücken: Als ich vergangenen Montag erfahren habe, Kathrins Schwiegermutter
und Norberts Mutter liegt im Sterben, da sagte ich zu Kathrin: »Fahrt doch hin! Fahrt hin
und macht es ihr schön, seid dabei, bleibt dabei, nehmt es wahr, erlebt es!« Und wenn ich
ehrlich bin, (Pause) dann war es ein Erleben meiner selbst, (tränenerstickt) dass ich mir
wünsche, dass sie kommen und dass sie es mir auch schön machen und dass sie meine Hand
halten und dass sie auch sagen: »Geh, Markus! Geh endlich!« Weil ich dann zum Schluss
nicht möchte, dass mich irgend jemand zurückhält, weil der Weg des Sterbens, wie schon
gesagt, der ist so würdelos. Und dass ich mir wünsche, dass sie sagen: »Flieg, Markus!
Flieg!! Sei frei, und sei endlich ruhig!« (Markus weint)
59
Für mich soll’s rote Rosen regnen...
Hildegard Knef
Mit sechzehn sagte ich still, ich will,
will groß sein, will siegen, will froh sein, nie lügen,
mit sechzehn sagte ich still, ich will,
will alles, oder nichts.
Für mich, soll’s rote Rosen regnen,
mir sollten sämtliche Wunder begegnen.
Die Welt sollte sich umgestalten,
und ihre sorgen für sich behalten.
Und später, sagte ich noch, ich möchte,
verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren,
und später sagte ich noch, ich möcht’,
nicht allein sein, und doch frei sein.
Für mich soll’s rote Rosen regnen,
mir sollten sämtliche Wunder begegnen.
Das Glück sollte sich sanft verhalten,
es soll mein Schicksal mit Liebe verwalten.
Und heute sage ich still, ich sollt,
mich fügen, begnügen, ich kann mich nicht fügen,
kann mich nicht begnügen, will immer noch siegen,
will alles oder nichts.
Für mich soll’s roten Rosen regnen,
mir sollten ganz neue Wunder begegnen.
Mich fern von altem Neu entfalten,
von dem was erwartet, das meiste behalten.
Ich will..., Ich will...!
60
Sehnsucht nach Stille
Resümée der Turbulenzen
Anrufbeantworter Markus Commerçon
im November 1994:
»Wenn ich ein Vogel wär, dann würde ich über alle Wolken entfliegen und mich unsichtbar machen. Wenn ich ein Fisch wäre, dann würde ich mich auf dem Grunde des Meeres
unter all dem San verbuddeln. Wenn ich ein Magier wäre, dann würde ich mich einfach
wegzaubern und unsichtbar machen. Da ich aber nichts von alledem bin, bleibt mir nur ein
Anrufbeantworter, um mich allem zu entziehen. Sprechen Sie mir einfach, wenn Sie wollen,
nach dem Signalton eine Nachricht auf Band, und wenn nicht, dann lassen Sie’s einfach
sein. Piiiep.«
Ulm. Markus sollte heute an einer abendlichen Diskussionsveranstaltung mit Jugendlichen
im Rheinland teilnehmen. Doch sein Körper streikt. Wehrt er sich gegen Hunderte von Kilometern Anreise, gegen die Hektik einer Veranstaltung, gegen die Erwartungshaltung von
außen?
Um 13.00 Uhr ist er zum Essen eingeladen, anschließend übergibt er sich mehrmals. Er
zögert kurz, dann sagt er den Termin ab. Grenzen sind erreicht. Ich schlage vor, auch unsere
Arbeit zu unterbrechen. Doch er möchte reden. Wir fahren zu ihm, er schnappt sich eine
Wolldecke, setzt sich auf sein Sofa. Ich beginne zu verstehen, worüber er reden will.
An Tagen wie diesen, ist da die Sehnsucht nach Stille mehr als nur ein Begriff für dich?
(nachdenklich, stellenweise deprimiert) Also an so Tagen wie heute, wo ich gekotzt hab,
wo ich einfach merke, es sind mir verschiedene Dinge einfach zuviel und auch zuwider, und
der Anrufbeantworter ist voll, und es kommen auch Rückrufe am Wochenende, wo ich eigentlich denke, wann ist mal Feierabend angesagt, da hab ich ein unglaubliches Bedürfnis
nach Stille und Ruhe, wo ich aber auch merke, auch das muss man sich erkämpfen, diesen
Freiraum.
Du wolltest die Gesellschaft erobern. Hat sie jetzt dich erobert?
Ich denke, es bedingt sich gegenseitig. Ich hab die Gesellschaft erobert, ich hab ihnen ein
Bild von Aids gezeigt, also eins von vielen, mein Bild, mein Leben mit Aids, hab ihnen
dadurch Zugriff ermöglicht auf meine Person, also einen scheinbaren Zugriff nur. Durch
dieses sehr intime erste Buch, zum Beispiel, hat man Einblicke zugelassen, die viele Menschen verwechseln mit Eingriffen, die man nehmen kann auf mein Leben, und es fällt mir
zunehmend schwerer, mich mit einer sympathischen, lieben Art dem zu entziehen, weil das
geht nicht, irgendwo muss man knallhart sagen, es reicht jetzt. Punkt! Schluss! Aus!
Entspricht es deinem Naturell, nein sagen zu können?
Nein.
61
Warum nicht?
Das hat wahrscheinlich mit Erziehungsfragen zu tun, immer nett zu sein, lieb zu sein,
nicht aufzufallen und andere Leute nicht vor den Kopf zu stoßen, und in dem Moment, wo
man sagt, nein, ich will nicht, mag nicht, ich kann nicht, verprellt man Menschen, macht
Bilder kaputt, die andere von einem haben, und man ist vielleicht nicht mehr so sympathisch, wie man gerne sein möchte. Aber das muss auch ich lernen in Kauf zu nehmen.
Du sitzt jetzt hier so, die Decke um dich rumgelegt, am Nachmittag, draußen regnets.
Wenn du mal beschreiben würdest, was du jetzt eigentlich gerne hättest, was du suchst,
welche Stimmung, welche Atmosphäre, was ist das?
(müde, nachdenklich, erschöpft) Ich habe im Moment so das Gefühl des Rückblicks, das
Jahr ist gelaufen, und ich glaub, in diesem Jahr war die Hölle los. Ich hab auch die Hölle
losgemacht. Und jetzt, wo das Jahr langsam ausläuft, ausklingt, hab ich so eine Stimmung,
wo ich sage: Es war viel, was ich gemacht habe, aber ich merke auch, dass sich die Kraftreserven erschöpfen, ich fühle mich gut, ich fühle mich wirklich gut.
Muss dieser Zusatz sein?
Dass ich mich gut fühle? Ja, weil es so ist, weil ich mich gesundheitlich und so ganz gut
fühle. Aber ich merke einfach, ich möchte das nicht nur reduzieren auf die Krankheit, das
hat mit Krankheit nichts zu tun, es ist einfach auch ein psychisches Gefühl, das sich da einstellt, es ist weniger körperlich.
Kannst du nicht auch einmal sagen: »Ja, ich hab im Moment keine Power, ja, ich hab im
Moment keine Kraft, ich fühle mich schwach«?
(Pause) Das fällt mir schwer, das zu sagen, weil ich nicht weiß, ob’s den Kern trifft bzw.
ob ich es mir eingestehen kann, hat auch was damit zu tun. Ja, dann lass mich einfach mal
so formulieren: Ich fühle mich im Moment den Anforderungen von außen, die da zunehmend an mich herangetragen werden, nicht gewachsen. Ich kann dem nicht gerecht werden,
energetisch gesehen nicht mehr gerecht werden, weil ich erst mal wieder auftanken möchte,
für mich. Und ich erlebe im Moment so die Welt außerhalb meiner Wohnung zunehmend
als Fremdkörper.
Als Bedrohung?
Auch als Bedrohung an manchen Tagen. Weil es ganz viele Menschen gibt, die einfach
meine Grenzen nicht wahren, die nachts anrufen oder die ganz penetrant sind am Telefon
und in irgendeiner Weise einfach meine Grenzen, die ich setze, nicht wahrnehmen.
Schon mal dran gedacht, den Stecker rauszuziehen?
Ich habe ja als Konsequenz dieser ganzen Öffentlichkeitsarbeit zwei Telefone mittlerweile, eins ist offiziell und für das andere haben nur fünf Leute, sechs Leute die Telefonnummer.
Aber zwei Telefone sind mehr als keins, also dich mal wirklich hier hinzusetzen, die Telefonschnur rauszuziehen, um mal ganz für dich zu sein und dich abzuschotten von der Außenwelt, kannst du dir das vorstellen?
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Ja, kann ich mir vorstellen. Mach ich ja auch, indem ich zum Beispiel die Telefone ganz
leise stelle und einfach nichts wahrnehme.
Brauchst du Schutz im Moment?
Ja, Schutz in Form einer stillen Ecke, einer Burg, auf die man sich zurückziehen kann,
Zugbrücke hoch, und Kraft schöpfen, einfach sein, sich vollkommen frei bewegen hinter
geschützten Mauern. Und im Frühjahr die Brücke wieder runterlassen und sagen: Hallo,
Leute, (verhaltenes Lachen) da bin ich wieder.
Hast du auch Angst vor der Stille und vor dem, was sich dann entwickeln könnte?
Ja. (Pause, dann langsam und nachdenklich) Natürlich hab ich Angst vor Stille und vor
Ruhe, weil ich dann denke, dass viele Dinge zum Tragen kommen, die man das Jahr über
niedergearbeitet hat, vor denen man so davongefahren ist über 40.000 Kilometer. Aber ich
denke, ich fühle mich auch in einer guten Stimmung, mich dem zu stellen, was da kommt,
egal, was auch kommt.
Bist du zum Kämpfen verurteilt, so aus deiner Situation heraus?
Nein, so fühl ich mich nicht. Ich hab nicht das Gefühl, zum Kämpfen verurteilt zu sein, aber ich bin ein Kämpfer, ja. Aber ich habe, wenn ich das Gefühl mal so für mich im Moment beschreiben will, ich hab so das Gefühl eines Hochleistungssportlers, der sich alle
Pokale geholt hat, und jetzt sagen kann: Okay, Leute, ich hab genug getan, ich bin jetzt erst
mal müde und abgekämpft und setz mich in die zweite Reihe und konsumiere mal selbst
und lasse mal machen, guck, was so passiert, guck, was mit mir passiert, was um mich herum passiert, auf der Bühne passiert, guck’s mir einfach an, möchte nicht agieren, möchte
reflektieren und einfach ruhig sein.
Du hast als Lebensmotto des öfteren angegeben: »Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat
keine Kraft zu kämpfen«. Könnte es nicht auch heißen: »Nur wer den Mut zum Träumen
hat, muss nicht immer kämpfen«?
Ich habe Gott sei Dank und immer noch den Anspruch, dass sich Träume realisieren lassen. Und ich glaube, damit sich Träume in die Realität umsetzen, muss man aber auch was
dafür tun, und da muss man auch kämpfen, weil sich auch die Träume, die ich mir dieses
Jahr erfüllt habe, sei es die Lesung vor 1.000 Leuten im Ulmer Stadthaus, sei es der Traum,
dass mein Buch ein Bestseller wird ... diese Träume haben sich nur realisieren lassen aufgrund von einem ganz großen Einsatz an Kraft und Energie - von Leistung.
Träumst du denn nicht manchmal auch von etwas mehr Leichtigkeit?
Ja, ich träume manchmal davon, die Dinge nicht ganz so verbissen zu sehen, wie ich sie
sehe.
Wie sehen denn solche Träume aus?
Ich wünsch mir manchmal mehr Gelassenheit, so eine »göttliche Gelassenheit«, so ein
Laissezfaire, einfach, mir Dinge angucken zu können, über den Dingen stehen zu können,
sie zu belächeln, anstatt tatkräftig mit anzupacken, um sie zu verändern, so wie ich denke,
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dass sie gut laufen. Aber das ist mein Naturell, glaube ich auch: mich eher in der Agitation,
in der Handlung zu erleben, anstatt in der Beobachtungsposition zu sein.
Kannst du dich derzeit an deine Träume erinnern, morgens, wenn du aufwachst?
Nein, ich träume sehr selten bewusst. Aber was ich durch Aids gelernt habe, oder auch
durch dieses Jahr gelernt habe, ist einfach, mich mehr wahrzunehmen. Also einfach auch
auf das einzugehen, was meine Stimmungen sind und was mein Körper mir für Signale
setzt. Und wenn ich, wie an einem Tag wie heute, nach dem Essen dann erbreche, weil ich
nichts mehr aufnehmen kann, so interpretiere ich mein Kotzen...
... als psychosomatisch.
Ja. ... dann nehme ich mir auch raus zu sagen: »Es reicht jetzt!« und ich sage einen Termin ab, weil es nicht geht, weil ich mir nichts bringe, weil ich dem Veranstalter nichts bringe und der Thematik nicht diene damit, dass ich trotzdem hinsehe und deshalb sage ich:
Nee Markus, lass es sein, und das hab ich dieses Jahr gelernt, ohne mir jetzt den Vorwurf
machen zu müssen, ich wäre egoistisch und egozentrisch. Dass ich sagen kann zum einen,
ich hab verdammt viel getan dieses Jahr, aber ich möchte mich auch wahrnehmen, und das
tu ich.
Hast du trotz all der Aktionen in diesem Jahr, trotz all der Bewegung um dich rum, auch
mal Einsamkeit erlebt?
Ja. Öffentlichkeit macht Einsamkeit, so würde ich das mal beschreiben wollen.
Beschreib mal eine Situation, in der sie dir besonders nah war, diese Einsamkeit.
Man hat eine Lesung, man kommt dort hin, hat - in irgendeiner Stadt in Deutschland - am
Nachmittag eine Signierstunde in einer Buchhandlung, Menschen, die dein Buch in die
Hand nehmen, die dich angucken: »Das ist er ja«, die dich auch mitunter was fragen. Man
hat Pressegespräche mit Journalisten, die mich fragen nach meiner Aids-Tingeltangel-Tour,
dann hat man Essen mit Veranstaltern, auch dieselben Fragen: »Wie geht es Ihnen? Die
wievielte Lesung? Werden Sie langsam müde?« usw. Ich geh zur Lesung, 100 Menschen,
200 Menschen, 300, Händeschütteln, Gespräche, Komplimente, Fragen, ich sag die Einleitung, ich lese, ich diskutiere mit den Menschen, ich signiere meine Bücher, und zum
Schluss löst sich alles so auf, der Tag löst sich auf ins Nichts. Und du gehst durch leere
Stuhlreihen, ähnlich einem Künstler, so muss sich ein Künstler fühlen, der nach einer grandiosen Premiere jetzt durch das leere Theater wandert. Und da ist noch soviel da, von dem,
was man hinterlassen hat, von dem, was man auch an diesem Abend ausgestreut hat, soviel
an Schwingung, an Emotionalität, obwohl der Raum leer ist und fast dunkel. (Pause, dann
traurig) Und irgendwo schleicht sich die Einsamkeit herein. Du gehst ins Hotelzimmer, bist
mit dir alleine, und da kommt so was wie Einsamkeit.
Was passiert dann, wenn du die Zimmertür hinter dir zugemacht hast? Wie sieht dann der
Ablauf aus?
Der Ablauf, also an ganz vielen Tagen entledige ich mich aller Dinge, die mich einengen,
und das ist die Armbanduhr als erstes, ich möchte kein Zeitgefühl mehr haben, also nicht
immer auf die Uhr gucken müssen, ob ich im Terminplan bin.
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Legst du die ganz ordentlich auf den Tisch oder feuerst du die irgendwo hin?
Nein, ich leg sie einfach zur Seite, ich feuer sie nicht, oder ich leg sie auch nicht gezielt
irgendwo hin nur schön ordentlich, ich leg sie einfach ab. Und es kann sein, dass sie auf
dem Stuhl liegt, dass sie auf dem Boden liegt oder irgendwo sonst. Ich zieh die Brille ab,
wenn ich einen Ring trage, zieh ich den ab, weil ich nichts Einengendes haben kann. Und
ich dusche meistens heiß, ...
Warum heiß?
... wasche ab, wasche auch die Eindrücke des Tages ab, und - es fällt mir schwer das zu
sagen - ja,... ich wasche auch viele Berührungen ab, von denen ich das Gefühl habe, sie
klammern, sie saugen aus, sie ziehen mir was ab. Und dann erinnere ich mich an die, von
denen ich das Gefühl habe, da krieg ich was, die tanken mich auf, die Blicke, die Berührungen, die Komplimente, die Bestätigung, klar. Ja, und dann lieg ich im Bett und lass den Tag
einfach vorbeiziehen.
Hast du das Licht an, hast du den Fernseher an, ist das Licht aus?
Fernsehen? Überhaupt nicht! Um Gottes willen! Fernsehen ist was Grausames. Also mich
da noch ins Bett zu legen und dann noch Fernsehen zu gucken? Nein! Also ich habe dieses
Jahr, wenn ich das Jahr zusammenzähle, wenn ich fünf Stunden Fernsehen geguckt habe,
dann ist das viel.
Und dann auch nur Sendungen von dir und mit dir.
(lacht) Ja genau, aber nur sehr kritisch. Nein, also Fernsehen, das würde mich überfordern.
Also du liegst da, es ist ruhig, ist das Licht noch an oder aus?
Die Lampe überm Bett ist meistens an. So eine kleine Lampe ist noch an überm Bett.
Was beginnt dann, worum kreisen deine Gedanken?
Das ist unterschiedlich, was an dem Tag auch so lief, über was ich mich geärgert habe vor
allen Dingen, wie ich das verarbeite, wie der morgige Tag sein wird. Das hat dann auch
ganz viel mit Rückblick und Ausblick zu tun. Manchmal würde ich gerne was lesen, aber
merke dann auch, dass ich nicht so bei der Sache bin, nicht so konzentriert.
Stellst du dir auch manchmal die Frage: »Mensch, bin ich hier wirklich noch am richtigen Platz?«
Ja, die stell ich mir ganz oft, die Frage. Ich frag mich also, ja, fast täglich, nach der Arbeit,
nach so einem Abend: War’s das? Ist es das noch, Markus Commerçon? Und ich frage mich
ganz oft: Ist das der Weg, den ich gehen wollte? Ist das den Preis wert, den man zahlt? Dieses Hetzen von Hoteltür zu Hoteltür, von Mensch zu Mensch, von Gesicht zu Gesicht?
Ist das Ziel unter’s Rad gekommen, wie Hildegard Knef gesagt hat?
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(Pause) Nein, unter’s Rad gekommen glaube ich nicht, aber es hat eine andere Dynamik
entwickelt, als ich sie mir vorgestellt habe. Die Dinge haben, bedingt durch meine Öffentlichkeitsarbeit, einen anderen Lauf genommen.
Ist das noch deine Richtung, in die sich diese Dynamik entwickelt?
Es ist die Richtung - da ertapp ich mich bei so ganz kindlichen Gedanken - es ist die
Richtung, die ich mir als Kind geträumt habe, manchmal, ein Star zu sein. Händeschütteln,
Autogramme zu geben, Smalltalk mit einem Sektglas in der Hand, und auch mit dem letzten
Kraftaufwand immer noch eine Bühne zu betreten. Und heute, wenn ich dann manchmal so
im Hotelzimmer liege, dann ertapp ich mich dabei, dass ich heute all das mache, wovon ich
als Kind immer geträumt habe. Aber ich frag mich auch heut als erwachsener Markus: Ist es
das wirklich, ist das so erstrebenswert?
Liegt es vielleicht auch daran, dass an so einem Abend, wenn man daliegt und es ruhig
ist, und man vor allen Dingen wieder mal alleine ist mit all dem, dass man merkt, man hat
den Applaus vielleicht auch im Kopf, aber Applaus braucht man immer wieder, das ist
nichts, was sich über Tage und Wochen hält, und dass einem in dieser Situation dann auffällt, was einem fehlt und was einen wirklich glücklich macht, nämlich irgendein Platz, wo
man sich fallen lassen kann, und das kann kein einsames Hotelzimmer sein? Ist das soweit
weg von dem, was du fühlst?
Nein, das ist ganz nah dabei. Ich lebe seit einem Jahr alleine, ich glaube, es war ein wichtiges Jahr für mich, weil man es auch lernen muss, mit sich alleine so klarzukommen, und
ich glaube, man muss es auch lernen, in diesen Hotelzimmern das aufzufangen, was sich da
so auftut, das ist ja auch wichtig. Aber manchmal, wenn ich Jürgen nicht erreichen kann,
dann vermisse ich oft einfach einen Menschen, dem ich sagen kann: Heute war’s beschissen, heute hatte ich nur Deppen in der ersten Reihe oder in der zweiten Reihe - oder: Heut
war nur so ein blöder Depp dabei, der mich so blöd gefragt hat, - und ich möchte ihm auch
mitteilen: Heut war’s ein toller Abend, es war phantastisch, stell dir vor, ich hatte Standing
ovations und überhaupt, oder: Heute war ich gut - oder: Heute war ich schlecht.
Wir reden die ganze Zeit über bestimmte Dinge, die alle abseits liegen von Hektik, von
Erwartung, von Stress. Schließ doch mal die Augen, und schau mit ganz viel Ruhe in dich
hinein und lass das fließen, was dir zu meinen Worten einfällt. Assoziier einfach.
Stille.
Tiefe. (Pause) Kommen lassen. Aufbruch. Aufbrechen.
Einsam sein.
Ohne Freunde. Ohne Sprungtuch. Ohne Netz. Absturz! Tod!
Müdigkeit.
(Pause) Vergangenes Jahr, (ohne zu zögern) Vorträge, Lesungen, Züge, Autos, Stau, Hotels, Fragen, Antworten, Telefonate, Rechnungen, Interviews. Müdigkeit.
Abendhimmel.
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Zweisamkeit. Händchenhalten. Ohne Worte. Tiefe Blicke. Tiefe Küsse. Romantik.
Sonnenaufgang.
Leben. Kraft. Farben. Licht. Power!
Dunkelheit.
(ohne Pause) Angst. (Pause) Angst, aber auch gleichzeitig Neugier. Unsicherheit. Vertrauen. Fallenlassen. Unsicherheit. Grenzenlose Tiefe.
Langsamkeit.
(ohne Zögern) Unvorstellbar! Grausam! Schlimm! Für mich entsetzlich, für mich unvorstellbar! (lacht) Um Gottes willen!
Und Sehnsucht nach Stille heißt was?
(Pause) Zurückziehen. (nachdenklich-zögernd) zu den Wurzeln einfach, Mutterleib,
Fötus, Wärme, nichts wissen, nicht erwachsen ... kindlich.
Seele.
Aids. Abwehrgeschwächt. Verletzung. Schmerz. Schrei. Aber irgendwo auch Hoffnung.
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Und das Leben bleibt lebenswert
Über Träume, Wünsche,
Hoffnungen und Ziele
Unser letztes Gespräch liegt vor uns. Markus hat sich ein Glas Sekt bereitgestellt. Feierstimmung. Uns beiden geht es so. Wir freuen uns auf diesen Abschluss. Zeit für neue Ziele,
Gedanken und Perspektiven.
Für mich soll’s rote Rosen regnen. Wie ist deine Bilanz des letzten Jahres? Hat’s getröpfelt, war’s ein Nieselregen, war’s ein Schauer, der da runterkam?
Es war kein Nieselregen, es war kein Schauer, es hat nicht geregnet - es hat geprasselt!
Wenn ich das vergangene Jahr Revue passieren lasse, dann denk ich schon: Es war eines
der erfolgreichsten Jahre meines Lebens. Sehr viele Träume haben sich für mich erfüllt, und
es hat in der Tat rote Rosen geregnet.
Welche Glücksmomente sind hängen geblieben?
Die erste Lesung aus meinem ersten Buch im Stadthaus in Ulm, die vielen Eindrücke, die
vielen Menschen, die man erreicht hat, die viele Post, die kam. Glücksmomente sind zwei
schöne Urlaube, die ich machen konnte. Ein Glücksmoment war sicherlich auch die Bundesverdienstkreuzverleihung. Glücksmoment ’94 natürlich jetzt das Kennenlernen von Jürgen und dieser insgesamt optimistische Ausgang des Jahres. Und natürlich das große Glück,
mich gesundheitlich und energetisch durch das ganze Jahr gut gerettet zu haben.
Es gibt Menschen, die orientieren sich an Hoffnungen, es gibt aber auch Menschen, die
diese für sich vielleicht nicht zulassen können, weil sie sich eher an Zahlen und Statistiken
orientieren. Auch du wirst immer mit Statistiken konfrontiert, die eigentlich sagen:
»Mensch, Markus, darfst du hoffen?«
Dass ich mich an die Statistiken nicht halte, sieht man schon alleine daran, dass ich statistisch gesehen seit dem 30. September ’94 tot sein sollte. Heute lebe ich immer noch. Ich
halte mich nicht an Statistiken, und es ist mein fester Wille, dieses auch weiterhin nicht zu
tun. Ich hoffe, dass ich weiterhin die Kraft haben werde, an meinen Hoffnungen festzuhalten. Die Hoffnung, dass ich es schaffe, dass ich dieses Aids überwinde, egal wie, und so
ungläubig mir auch die ganze Welt dann entgegenblicken mag, es ist mir egal. Ich werde
diese Hoffnung nicht begraben, sie wird erst dann zu Ende sein, wenn ich am Ende bin. Erst
dann wird sie mit mir begraben werden. Aber solange ich lebe, werde ich versuchen, an
dieser Hoffnung festzuhalten. Wenn man keine Hoffnungen mehr hat, keine Träume mehr
hat, keine Wünsche und Ziele mehr hat, dann stirbt man.
Wie gehst du dann jetzt die Zukunft an, die nähere und die weitere, kämpferisch, sanft,
nach Ruhe suchend?
(ohne Zögern) Sehr sanft! Sehr sanft! (müde) Ich habe ein ganz, ganz großes Bedürfnis,
mich zurückzuziehen. Auch durch dieses Buch wurde wieder vieles aufgewühlt, vieles nach
außen gekehrt. Ich bin ein sehr waageorientierter Mensch, das heißt, immer wenn man eine
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Zeitlang sehr extrovertiert war, muss man auch gucken, dass man wieder introvertiert wird,
dass sich die Waagschale wieder ausloten kann. So extrovertiert ich jetzt durch die Arbeit
an diesem Buch wieder war und viele Dinge von mir nach außen gegeben habe, so sehr ist
es mir jetzt ein Bedürfnis, dies wieder auszugleichen: durch viel Ruhe, durch Konzentration
auf mich selbst, durch Mich-Pflegen, durch Mir-Aufmerksamkeit-Schenken in Form von
Zurückgezogensein. Ich brauche jetzt Ruhe und Abstand, denn die Zukunft wird wieder mit
einigen Punkten aufwarten, die mit Sicherheit sehr intensiv und stressig werden. Aber ich
gehe alles mit einer Gelassenheit an, die sich mischt mit einem Gefühl der Erschöpfung.
Aber kein unangenehmes Empfinden. Es ist einfach abwartend, neugierig, sanft, ruhig und
zart.
Du hast gesagt, wenn man keine Hoffnungen mehr hat, dann stirbt man, ja?
Ja.
Wenn du’s mal in andere Worte fassen würdest, was genau hält dich am Leben?
Mich hält das am Leben, was mich am Sterben hindert: das Leben! Mit all seinen Facetten, mit all seinen Höhen und Tiefen, mit all seinen Erfolgen und Misserfolgen, mit all seinem Applaus und seiner Kritik. Es ist das Leben, das das Leben lebenswert macht. Und was
mich am Leben hält, ist meine Neugier auf das, was passieren wird. Dieses Buch wird erscheinen, und ich frage mich schon heute: Wie wird es ankommen? Werden die Leser die
Botschaft erkennen, die ich damit zum Ausdruck bringen möchte? Wie werden die Reaktionen sein, und wie wird es sich entwickeln? Es ist dieser Spannungsbogen, den das Leben
beinhaltet, was wird die Zukunft bringen? Was wird mich ärgern? Was wird mich freuen?
All das finde ich außerordentlich spannend, und das bringt auch diesen Kitzel rein.
1994 war’s sicherlich auch der Applaus, den du gesucht hast.
Gesucht ist vielleicht das falsche Wort. Er hat sich ergeben durch den Erfolg. Natürlich
will man ihn beim zweiten Mal wieder, aber er ist nicht mehr so zwingend notwendig, denn
man hat ihn ja gehabt. Und das ist eine ganz tolle Ausgangsposition, die es mir ermöglicht,
viele Dinge sehr viel stressfreier und druckfreier angehen zu können.
Wenn du an Aids denkst, an die Situation von Infizierten, an den politischen Umgang mit
Aids, vielleicht auch an die Intensität, wie geforscht wird oder eben nicht geforscht wird, an
gesellschaftliche Reaktionen, wenn du an all diese Dinge denkst, welche Wünsche hast du
und an wen?
(Pause, dann sehr ruhig) Dann wünsche ich mir, dass die Menschen schneller lernen, mit
Aids umzugehen, mit Aids zu leben. Dass sie anders Lebende, anders Liebende respektieren
und akzeptieren. Gerade bei Aids wird uns die Forschung in den nächsten Jahren nicht den
Durchbruch verschaffen können. Aber die Zahl der Infizierten und Erkrankten wird zunehmen. Ich wünsche mir, dass die Menschen sich nicht nur solidarisch zeigen durch eine verbale Bekundung gegenüber Infizierten und aidserkrankten Menschen. Ich wünsche mir,
dass sie ihre Solidarität auch leben, tagtäglich. Dass sie sich engagieren, dass sie, eintreten,
dass sie Mitglied werden in einer Aids-Hilfe zum Beispiel, und darüber hinaus, ja, einfach
(Pause) einfach ihre Überzeugung leben, die sie hoffentlich im Umgang mit Aids gewonnen haben oder gewinnen werden. (Pause) Und ich wünsch mir natürlich auch, dass viele
infizierte und an Aids erkrankte Menschen den Glauben an sich nicht verlieren. Dass sie auf
das vertrauen, was ihnen ihr eigenes Ich sagt. Dass sie ihr Aids nicht als Bedrohung und
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Belastung erleben, sondern an vielen Tagen einfach als Herausforderung, nicht als Geschenk, nicht als Strafe Gottes oder so was, sondern einfach als Herausforderung. (lange
Pause) Das wären so die Wünsche, die ich hätte.
Es gibt sicher Leute, die sagen: »Der Markus ist 31, der hat Tumore im Mund, er hat
Aids, ich an seiner Stelle könnte ja keinen Tag mehr genießen, fröhlich sein, mit Optimismus erleben«. Wenn du an diese Meinung denkst, was macht das Leben lebenswert?
(überzeugt) Alles! (Pause, dann etwas stockend) Es ist, denke ich, absolute Lebensqualität, die ich habe und die ich auch genieße, morgens aufzustehn, mit meinem Hund einen
Spaziergang zu machen, den Tag wahrzunehmen in all seinen Veränderungen, in seinem
Fluss, mit all seinen Höhen und Tiefen. Es ist die Vorfreude auf all das, was kommt, es ist
die Spannung auf das nächste Jahr, was wird sein? Natürlich sind auch Ängste dabei, auch
Skepsis und Zweifel, aber auch die gehören dazu. Aber unterm Strich kann ich sagen: Mein
Leben ist zur Zeit schmerzfrei, ist ohne Beeinträchtigung, ohne körperliche und geistige
Einschränkung. Ich lebe, und ich spüre nur sehr wenig von diesem Aids. (Pause) Und deswegen möcht ich sagen, trotz Tumore, trotz kaputtem Immunsystem, das Leben, mein Leben ist absolut lebenswert und liebenswert. Es ist es wert, dass es gelebt wird! Man muss
nur die Werte täglich neu suchen und erkennen.
Du hast gesagt, du bist schmerzfrei, du spürst dieses Aids rein körperlich ja kaum, es begleitet dich zwar, aber du hast keine Schmerzen. Für den Fall, dass du Aids mal anders
wahrnehmen wirst, Schmerzen hast, Leid erfahren wirst, was sind denn für diese Situation,
Wünsche, Hoffnungen, Träume?
Es ist schwer, das in Worte zu fassen. Mich mit Schmerzen zu beschäftigen, mit Veränderungen des Geistes und der Seele zu befassen, die man im Moment noch nicht hat, fällt mir
aufgrund des guten gesundheitlichen Zustandes, den ich habe, schwer. Es verbindet sich mit
dieser Vorstellung auch so ein Bild. Wenn ich dann mal Schmerzen habe oder sich mein
Leben dem Ende neigt, dann träume, wünsche und hoffe ich so sehnlichst, dass ich nicht
verzweifelt und ängstlich und wütend und verständnislos durch’s Zimmer sause, unruhig
umherwandere und mich frage: War’s das? War’s das? - sondern dass ich in einem Stuhl
sitzen oder in einem Bett liegen kann, umgeben von Freunden und der Familie und mit einer ganz, ganz großen inneren Ruhe sagen kann: Das war’s! Das war’s!
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